Archiv des Autors: Rüdiger Winter

GLANZVOLL AUFPOLIERT

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Am 23. September 1958 saßen zu nächtlicher Stunde der Decca-Produzent John Culshaw und der Dirigent Georg Solti in der Bar des Wiener Hotels Imperial beisammen. Plötzlich spazierte Culshaws EMI-Kollege Walter Legge herein und wollte wissen: „Was machen Sie hier?“ Solti entgegnete: „Wir nehmen Rheingold auf.“ Darauf Legge: „Sehr hübsch, aber Sie werden nicht einmal fünfzig Schallplatten verkaufen.“ Die Anekdote wird dieser Tage oft und gern erzählt. Und das aus gutem Grund. Rheingold, der Vorabend zu Richard Wagners Ring des Nibelungen ist in einem bislang einzigartigen Remastering neu aufgelegt worden. Nicht nur als SACD (485 315-9). In Referenz an das Original, das erstmals 1959 in den Handel gekommen ist, gibt es auch eine Vinyl-Ausgabe (SXL 2101/03-B). Walküre folgt noch 2022, Siegfried und Götterdämmerung dann im nächsten Jahr. Nachzulesen ist die Geschichte im Buch „Ausgespielt – Aufstieg und Fall der Klassikindustrie“ des englischen Musikkritikers Norman Lebrecht, verlegt 2007 bei Schott. Die Aufnahme selbst begann am Tag nach der nächtlichen Begegnung in den wegen ihrer Akustik geschätzten Sofiensälen. Erste Sitzung war eine Klavierprobe mit der dreiundsechzigjährigen Kirsten Flagstad, die die Fricka sang und damit nochmals in einer neuen Rolle debütierte. Sie hatte ihre Bühnenkarriere bereits beendet, blieb gelegentlich aber in Studios tätig. Culshaw, der ihr Sohn hätte sein können, verehrte sie sehr und wollte sie ursprünglich sogar als Brünnhilde besetzen, was sich aber nicht realisieren ließ. Ihren Zenit deutlich überschritten, verbreitet sie stimmlich aber noch immer majestätische Würde, die für Wotans göttliche Gemahlin genau richtig schien. Mit ihrem legendären Ruf drückte sie der Produktion ein Gütesigel der besonderen Art auf.

Als Fricka hinterließ die einst weltweit gefeierte Wagnerheroine eine letzte leuchtende Spur auf dem internationalen Musikmarkt. Sie starb 1962. Eine Decca-Platte zu ihrem Gedenken wurde denn auch mit einer großen Szene aus dem neuen Rheingold bestückt. Die Flagstad was das mit Abstand älteste Ensemblemitglied, gefolgt von dem neun Jahre jüngeren Set Svanholm, der als Loge mitwirkte. 1908 wurde Kurt Böhme (Fafner) geboren, 1910 Paul Kuën (Mime) und Gustav Neidlinger, der mit dem Alberich seine Glanzrollen gefundene hatte. Jahrgang 1918 war die Altistin Jean Madeira (Erda), 1919 Hetty Plümacher (Wellgunde) und Ira Malaniuk (Floßhilde). Nesthäkchen ist die erst vierundzwanzigjährige Dänin Oda Balsborg (Wellgunde) gewesen. Wotan George London (1920), Fasolt Walter Kreppel (1923), Freia Claire Watson (1927) sowie Froh Waldemar Kmentt und Donner Eberhard Waechter (beide 1929) lagen dem Alter nach dazwischen. Mit der Rheingold-Besetzung standen drei Sängergenerationen vor den Mikrophonen in den Sofiensälen. Nur Neidlinger und Böhme behielten ihre Rollen auch in den folgen Teilen bei, während die Watson zur Gutrune wechselte. Für Kontinuität im Großen und Ganzen standen Solti, die Wiener Philharmoniker und die Aufnahmeleitung. Der Dirigent war 1912 in Budapest geboren worden. Obwohl bereits seit 1947 bei Decca unter Vertrag, begann sein Aufstieg zum Weltruhm erst mit dem Ring.

Legge, der gewöhnlich als weitsichtig galt und mit den von ihm betreuten Aufnahmen kräftige Akzente setzte, die bis in die Gegenwart nachwirken, hatte sich diesmal geirrt – und zwar gewaltig. Mehrfach preisgekrönt, entpuppte sich dieser Ring als eine der erfolgreichsten Produktionen der Schallplattengeschichte. Endlich konnte Wagners Bühnenweihfestspiel auch in den eigenen vier Wänden gehört werden, immer und immer wieder, bei Tag und bei Nacht. Es bedurfte keiner Notenkenntnisse, um das Werk in seiner Kühnheit und Genialität kennenzulernen. Wer wissen wollte, wie Wagner klingen kann, kam daran nicht vorbei. Selbst Skeptiker griffen irgendwann danach. In kaum einer Sammlung dürfte er fehlen. Die erste Studioaufnahme, die erst 1965 vollendet wurde, war nie von Markt verschwunden, war immer griffbereit und landete auf keinem Wühltisch in Kaufhäusern. Vor diesem Schicksal bewahrte sie auch ein angemessener Preis. Von 1967 an trat Herbert von Karajan bei Deutsche Grammophon mit seinem Ring als der große Decca-Herausforderer auf, indem er neue ästhetische Klangvorstellungen entwickelte. Das Decca-Produkt ließ sich dadurch nicht verdrängen. Rüdiger Winter

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„Die größte aller Errungenschaften in der Geschichte der Schallplattenaufzeichnung.“ Mit Superlativen sollte man bekanntlich behutsam umgehen. Und doch ist die Zuschreibung des berühmten britischen Klassikmagazins Gramophone letzten Endes zutreffend. Die bald als Goldener Ring bezeichnete Produktion, die sich über nicht weniger als sieben Jahre erstrecken sollte, war zunächst gar nicht als Gesamteinspielung der Operntetralogie Richard Wagners geplant. Verantwortlich zeichneten der visionäre englische Produzent John Culshaw (1924-1980) und der ambitionierte aus Ungarn stammende Dirigent Georg Solti (1912-1997). Chronologisch korrekt, stand das Rheingold im Herbst 1958 am Anfang. Die Reihenfolge des Nibelungenrings wurde später indes nicht eingehalten, was auch daran lag, dass Decca 1961 die Walküre zunächst unter Erich Leinsdorf vorlegte und man insofern zunächst Siegfried (1962) und Götterdämmerung (1964) unter Solti den Vorrang gab. Erst 1965 produzierte Decca dann als Abschluss des Wiener Ring-Projektes nach gerade einmal vier Jahren eine weitere Einspielung der Walküre.

Die wegen ihrer Akustik geschätzten Sofiensälen in Wien wurden zum Aufnahmestudio / Decca

Was rechtfertigt nun diese Neuausgabe? Dazu ist zunächst ein kurzer Rückblick vonnöten. Nachdem die Stereo-Langspielplatten von 1959 bis 1966 sukzessive erstmals auf den Markt kamen, erfolgte im Jahre 1984 – sicherlich angeregt durch das Wagner-Jubiläum anlässlich des 100. Todestages des Komponisten 1983 – die CD-Premiere des Culshaw/Solti-Rings. Der Produzent hat dies nicht mehr erlebt; von der Decca hatte er sich bereits 1967 getrennt und arbeitete danach einige Zeit für die BBC. Das Remastering für diese CD-Erstauflage erfolgte im seinerzeit durchaus adäquaten 16 Bit/48 kHz-Standard, galt allerdings landläufig als misslungen und dem Potential der Einspielung nur unzureichend gerecht werdend. 1997 schließlich – wohl eher zufälligerweise in Soltis Todesjahr – nahm sich Culshaws ehemaliger Assistent James Lock neuerlich der Gesamtaufnahme an. Diese Neuauflage wurde technisch verbessert in 24 Bit/48 kHz durchgeführt. Sie wurde zur Grundlage für alle weiteren Auflagen des letzten Vierteljahrhunderts und erzielte eine deutliche klangliche Verbesserung, die zumindest erahnen ließ, was Culshaw seinerzeit vorgeschwebt war. 2012 schließlich, am Vorabend eines weiteren Wagner-Jahres (200. Geburtstag), entschied sich Decca für eine Generalüberholung des 1997er Remasterings. Nach den damaligen offiziellen Angaben des Labels befanden sich die originalen Tonbänder zu diesem Zeitpunkt bereits in einem zu suboptimalen Zustand, um ein komplettes neues Remastering anzugehen.

Dies wurde von Musikkritikern verschiedentlich bereits damals in Zweifel gezogen und ein bloßer Vorwand vermutet. Aus heutiger Sicht erhärtet sich freilich der Verdacht, dass man 2012 die nicht unerheblichen Mühen scheute, die man ein Jahrzehnt später nun eben doch in Kauf nahm. Decca gibt als Grund für die Umsetzung des kaum mehr für möglich gehaltenen Unterfangens den 25. Todestag von Sir Georg Solti an. Wie dem auch sei, bleibt als Faktum, dass man nach zweieinhalb Jahrzehnten nun ein drittes Mal die Originaltonbänder heranzog und im sog. DSD-Verfahren (Direct Stream Digital) ein komplett neues Remastering in der sagenhaften Qualität von 24 Bit/192 kHz (sog. Hi-Res alias High Resolution) auf den Weg brachte.

Die Bandbreite der Dynamik der Einspielung ist nun nicht nur mittels Klangspektren nachweislich ins Unermessliche gesteigert, sondern auch hörbar noch einmal deutlich verbessert worden. John Culshaws Vision von einer audiophilen Produktion, die auch noch Generationen danach als die Referenzeinspielung gelten kann, hat sich nun, nach über einem halben Jahrhundert, womöglich doch noch bewahrheitet. Den Beweis für den wirklichen Qualitätszuwachs lieferte kürzlich bereits eine als The Golden Ring bezeichnete SACD (485 336-4) mit insgesamt klug ausgewählten Höhepunkten aus dem Ring des Nibelungen, wobei alle vier Opern gleichmäßig bedacht wurden. Bereits auf dieser Grundlage ließ sich sagen, dass es den Tontechnikern nun zum ersten Mal spektakulär gelungen ist, das in den bisherigen Ausgaben klanglich ein wenig abfallende, da am frühesten entstandene Rheingold in derselben Klanggewalt erklingen zu lassen wie den später eingespielten Rest. Geringfügige Abstriche, die man hier bisher machen musste, gehören somit der Vergangenheit an.

Dirigent Georg Solti und Decca-Produzent John Culshaw während der Aufnahmen zum „Ring“/ Foto Decca

Das nunmehr vollständig aufgelegte Rheingold (485 315-9) macht logischerweise den Anfang bei dieser hochauflösenden Edition, die bis Mai 2023 abgeschlossen sein soll. Dass sich Decca dazu entschloss, als zweites die Walküre zu berücksichtigen und somit der eigentlichen Reihung der Ring-Opern treu zu bleiben, ist ausdrücklich zu begrüßen. Es lässt sich jedenfalls festhalten, dass auch die Rheingold-Gesamtaufnahme den hohen Erwartungen, welche durch die Highlights-Disc geweckt wurden, vollumfänglich gerecht wird. Etwaige Befürchtungen, eine über die Jahrzehnte fortgeschrittene Abnutzung der Bänder könnte das Hörerlebnis beeinträchtigen, sind glücklicherweise nicht eingetreten. Die ganz wenigen Momente, wo man bei hyperkritischer Hörsitzung so etwas wie eine gewisse Bandabnutzung wähnen könnte, dürften schlicht und ergreifend an der jetzt bis ins kleinste Detail durchhörbaren Tontechnik liegen. Und selbst, wenn man in Rechnung stellte, dass die Bänder eben nicht mehr im selben Zustand vorliegen wie 1997, gilt es ohne Übertreibung hinzuzufügen, dass keine spätere Einspielung des Rheingold klanglich üppiger daherkommt als diejenige Soltis. Auch die vor einigen Jahren als Blu-ray-Audio remasterte Neuauflage der Deutsche-Grammophon-Einspielung unter Herbert von Karajan von 1967, die für sich genommen jetzt ebenfalls vorzüglich klingt, erreicht nicht ganz die Opulenz des von der Decca forcierten Klangbildes. Ganz zu schweigen von späteren Aufnahmen, wobei die unter Live-Bedingungen entstandenen wie diejenige von den Bayreuther Festspielen unter Karl Böhm (ebenfalls 1967 und später bei Philips aufgelegt) fairerweise nicht zum direkten Klangvergleich herangezogen werden sollten. Auf einen interessanten Unterschied zwischen den Einspielungen Soltis und Karajans – Ende der 1960er Jahre die einzigen erhältlichen – wies bereits der legendäre englische Musikkritiker des Gramophone Alec Robertson (1892-1982) hin: Während die Decca für das Gekreische der Nibelungen Soprane einsetzte, entschied sich die DG für Tenöre.

George London, hier als Wotan an der Met/ Wikipedia

Das künstlerische Niveau des Solti-Rheingolds ist bekanntlich auf einem später nicht mehr übertroffenen Level. Mit dem amerikanischen Bassbariton George London hatte man die idealtypische, noch eher jugendliche Verkörperung zumindest des Rheingold-Wotan verpflichtet, dem gleichwohl die natürliche und eben nicht bloß aufgesetzte göttliche Autorität zu eigen ist, die in dieser Partie unabdingbar erscheint. An seiner Seite die schon damals legendäre norwegische Wagner-Ikone Kirsten Flagstad als Fricka, deren schon etwas ältliche Klangfarbe in diesem Zusammenhang für diese Rolle durchaus als adäquat bezeichnet werden kann. Der zweite Skandinavier im Besetzungsteam, der schwedische Tenor Set Svanholm, brilliert hier in einer Altersrolle als Feuergott Loge. Luxuriöser könnten die übrigen Götter nicht besetzt sein. Mit dem aus Wien stammenden Bariton Eberhard Waechter hatte man einen absoluten Glücksgriff als Donner getroffen, dem man den Gewittergott auch glaubhaft abnimmt. Der Tenor Waldemar Kmentt, ebenfalls Wiener, gibt einen wohltimbrierten Froh. Dazu gesellen sich der jugendliche Sopran von Claire Watson als Freia und der überaus beeindruckende Alt von Jean Madeira als Erda – beide US-Amerikanerinnen. Die Nibelungen sind auf nicht weniger ausgezeichnetem Niveau. Der aus Mainz stämmige Bassbariton Gustav Neidlinger prägte die Partie des Alberich dermaßen, dass er völlig mit ihr identifiziert wurde. Seine Auftritte stellen fraglos Höhepunkte der Aufnahme dar. Mit dem Charaktertenor Paul Kuën ward zudem ein Mime aufgeboten, der nicht zur einseitigen Übertreibung neigte.

Kirsten Flagstad, die Sängerin der „Rheingold“-Fricka, starb 1962. Die Hommage-LP erschien mit einem Cover-Foto, das während der Aufnahme in Wien entstand / Decca

Das Riesenpaar besteht aus den Paradebassisten Walter Kreppel (Fasolt) und Kurt Böhme (Fafner), die verschieden genug klingen, um eine eindeutige Unterscheidung zu ermöglichen. Schließlich die Rheintöchter, bei welchen mit Oda Balsborg (Woglinde), Hetty Plümacher (Wellgunde) sowie Ira Malaniuk (Floßhilde) das hohe künstlerische noch einmal unterstrichen wurde. Bei ihnen allen ist die ausgezeichnete Diktion und Textverständlichkeit hervorzuheben, wie sie im Wagnergesang leider schon seit langem nicht mehr die Regel darstellt. Im selben Maße wie das vorzügliche Sängerensemble tragen die hier bezwingend aufspielenden Wiener Philharmoniker unter Georg Soltis begnadeter musikalischer Leitung zum Ausnahmerang dieser Produktion bei. Die orchestralen Höhepunkte kommen zuweilen beinahe orgiastisch ausgekostet daher, wobei die erste Verwandlungsmusik, die Fluchszene, Donners Hammerschlag und natürlich der Einzug der Götter in Walhall besonders zu erwähnen sind.

Das weitere Voranschreiten des klanglich nachhaltig aufgefrischten Culshaw/Solti-Rings darf von daher mit Spannung erwartet werden. Daniel Hauser

Empathie und Können

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Die Rezeptionsgeschichte der Les nuits d’été von Hector Berlioz auf Tonträgern wird von Sängerinnen dominiert. Vorgegeben ist das durch die Entstehungsgeschichte nicht. Die Lieder sind Vertonungen von Versen Théophile Gautiers aus einem Gedichtband. Dichter und Komponist kannten sich gut. Als Zyklus sind sie von vornherein nicht angelegt gewesen. Über etwa sieben Jahre erstreckte sich die Komposition. 1840 lag sie fertig vor, im Jahr darauf wurde die Klavierfassung veröffentlicht. Schon 1834 orchestrierte Berlioz Absence, in der endgültigen Reihenfolge an die vierte Position gerückt, 1856 – und damit mehr als zwanzig Jahre später – folgten die übrigen fünf Titel. Berlioz hat keine geschlossene Aufführung erlebt, sie aber dann doch als Sammlung verlegen lassen. Die Lieder wurden zu seiner Zeit nur einzeln gegeben, auch von Sängern. Davon zeugen unterschiedliche Transpositionen, die autorisiert sind. Aus Sicht des lyrischen Ichs der Dichtungen ist in den Liedern eine betont männliche Warte auszumachen. Schon im ersten Lied Villanelle wird eine Schöne zum Waldspaziergang animiert, um Maiglöckchen zu pflücken. Und im letzten Lied, L’île inconnue, lädt ein Seemann wieder eine junge Schönheit zu einer Fahrt mit unbestimmtem Ziel ein. Sie fragt nach dem Land, in dem die Liebe ewig wohne, welches für ihn aber nicht existiert. Stattdessen wiederholt er seine Einladung an das Mädchen.

Bei Erato singt Michael Spyres die Lieder in der Orchesterfassung, die sich gegen die ursprüngliche Klavierbegleitung durchgesetzt hat. Er wird begleitet vom Orchestre philharmonique de Strasbourg unter John Nelson (5054 1971 96850). Spyres hat auf CD etliche Vorgänger, darunter Nicolai Gedda, José van Dam, Jean-Paul Fouchécourt, Stéphane Degout, Ian Bostridge, Christian Gerhaher. Beim Süddeutschen Rundfunk, der sich schon in den 1950er Jahren auf Initiative seines Dirigenten Hans Müller-Kray an einer Berlioz-Renaissance versucht hatte, die zunächst folgenlos blieb, entstand eine Aufnahme mit Helmut Krebs in deutscher Übersetzung von Peter Cornelius. Selbst Komponist und dazu noch Dichter, war er am ehesten in der Lage, die Übersetzung der musikalischen Struktur des Originals anzupassen. Cornelius und Berlioz waren persönlich miteinander bekannt. Der Franzose hätte garantiert Einspruch erhoben, wären er mit der Arbeit des Kollegen nicht einverstanden gewesen. Es dürfte sich um die einzige Einspielung in deutscher Sprache handeln. Eine andere habe ich nicht gefunden.

Mich hatte bisher noch keine Interpretation durch einen Sänger, der auch auf Tonträgern nachzuhören ist, vollumfänglich überzeugt. Nicht einmal Nicolai Gedda, der in seiner Zeit ähnlich hohe Maßstäbe für Berlioz gesetzt hatte wie jetzt Spyres. Erst zweiundvierzig Jahre alt, ist der amerikanische Tenor als Énée, Benvenuto Cellini, Faust und Récitant in L’enfance du Christ im Musikbetrieb und auf CD fest etabliert. Es war also nur eine Frage der Zeit, bis er sich den Liedern zuwenden würde. Nun ist es soweit. Seine Umtriebigkeit und sängerische Unerschrockenheit, die auch vor Wagners Tristan keinen Halt machte, ist bemerkenswert. Es besteht immerhin die Gefahr, dass die Stimme auf Dauer nicht mithält, was sehr schade wäre. Und dennoch scheint sich sein Repertoire, zu dem auch Händel und Mozart gehören, in der Summe in seiner Interpretation der Lieder niederzuschlagen. Er singt als Wissender. Mit sicherem Instinkt trifft er genau das, was Berlioz in seiner Zerrissenheit und Depression, in seinem Ungestüm ist. Hinter betörender, in Duft gehüllter Melancholie lauern Gefahren. Besonders in Au cimetière, jener Spukszene auf dem Friedhof mit ihrem Grabgesang, schöpft er die dissonante Vielfalt der Stilmittel von Berlioz bis zum Gehtnichtmehr aus. Dass ihn dabei der Dirigent, ein ausgewiesener Berlioz-Kenner, sicher durch Klippen führt und immer wieder aufs Neue inspiriert, steht außer Frage. Als künstlerische Partner haben sie sich gesucht und gefunden.

Gekoppelt sind Les nuits d’été auf der neuen CD, die im Oktober 2021 in Strasbourg aufgenommen wurde und die Nelsons vielgelobte Beschäftigung mit Berlioz in Strasbourg fortführt mit Harold en Italie (Joyce DiDonato sang dort nach den Troyens dto. mit Spyres ebenfalls die Nuits d´eté im Konzert). Beide Werke passen vorzüglich zusammen, weil auch in der Sinfonie ähnliche poetische Stimmungen aufkommen wie in den Liedern. Viola-Solist ist der Brite Timothy Ridout. Aufgenommen wurde im Oktober 2021 in Strasbourg. Rüdiger Winter

Liederbuch wie ein Singspiel

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„Complete Songs“ von Johannes Brahms: Mit ihrer neuen Edition ist Naxos nun bei Vol. 2 angelangt (8.574345). Die CD enthält die ersten fünf Hefte der Deutschen Volkslieder, bei denen es sich um Bearbeitungen überlieferter Vorlagen handelt. Mit den Quellen beschäftigt sich Ulrich Eisenlohr, der Klavierbegleiter der Edition, im Booklet. Brahms habe sich vor allem aus der Sammlung „Deutsche Volkslieder mit ihren Original-Weisen“ der Volksliedforscher Andreas Kretzschmer (1775-1839) und Anton Wilhelm von Zuccalmaglio (1803-1869) bedient, die etwas siebenhundert Titel aus dem deutschsprachigen Raum umfasst. Zuccalmaglio, der dreißig Jahre nach Kretzschmer starb, sei es in seiner Forschung „nicht um eine wissenschaftliche Rekonstruktion akribisch gesammelter und konservierter Volksweisen, unabhängig von jeder künstlerischen Qualität gegangen“. Vielmehr habe er Wert auf den „Geist“ des Volksliedes gelegt, wozu Eisenlohr „Ursprünglichkeit, Einfachheit, Klarheit, Tiefe, Wahrhaftigkeit im Inhaltlichen wie im Musikalischen“ zählt. Diese Herangehensweise sei von Brahms mit ganzem Herzen unterstützt worden. Zuccalmaglio veröffentlichte Texte und Melodie. „Brahms‘ künstlerischer Beitrag besteht im Hinzufügen einer Klavierbegleitung. Er begnügte sich dabei keineswegs mit dem Unterlegen simpler Begleitfiguren und akkordischer Grundierungen. Es herrscht große Vielfalt an Ausarbeitungen des Klavierparts“, so der Pianist. Alle Lieder, die Brahms bearbeitet habe, handelten von Geschichten, die das Leben schreibe. Auch wenn die äußerlichen Situationen, die Berufe der handelnden Personen und die Sprache „uns heute antiquiert klingen“, seien Inhalte, die sich um Liebeserklärungen und -abweisungen, Treueschwüre und -brüche, zu Herzen gehende und vergiftete Komplimente, Verführungsversuche, Sex ohne Einverständnis oder Tod in der Blüte des Lebens drehten, immer aktuell.

Insofern macht es Sinn, dass sich junge Sänger, die noch am Beginn ihrer Karriere stehen, diesen Liedern zuwenden und dabei ihren eigenen Erfahrungen und Empfindungen einbringen. Teilen sich in den meisten Aufnahmen zwei Solisten in die Sammlung, wartet Naxos gleich mit vier in unterschiedlichen Stimmlagen auf: Alina Wunderlin (Sopran), Esther Valentin-Fieguth (Mezzosopran), Kieran Carrel (Tenor) und Konstantin Ingenpaß (Bariton). Dadurch kommt eine gewisse theatralisch-singspielartige Atmosphäre auf, die ihren ganz besonderen Reiz hat. Wer wird das nächste Lied singen? Und wie im Flug ist die CD auch schon an ihr Ende gekommen. Musikalisch gelingt schon der Einstieg effektvoll. Eisenlohr betont ihn so, als würde an eine Tür geklopft, hinter der sich diese ganz eigene Welt wie eine große poetische Erzählung auftut: „Sag mir, o schönste Schäf’rin mein“, lässt sich der Tenor vernehmen. Alle Solisten sind sehr gut zu verstehen, was für Lieder wie diese mit ihren gelegentlichen mundartigen Einlassungen unabdingbar ist.

Startet eine Firma eine neue Gesamtaufnahme aller Brahms-Lieder ist dies immer noch ein besonderes Ereignis auf dem Musikmarkt. Zuletzt legte Hyperion aus London so eine Edition mit insgesamt 249 Titeln einschließlich der Volksliedbearbeitungen vor. Diese abgezogen beläuft sich die einschlägige Abteilung im Schaffen des Komponisten auf etwa 200 originäre Lieder. Mit Vol. 1 hatte Naxos den ersten Schritt für eine eigene Produktion getan. Diese CD wurde von Christoph Prégardien bestritten, begleitet von Eisenlohr (8.57428). Beide sind auf dem weiten Feld des Liedgesangs ausgewiesene Fachleute und bringen die für das Vorhaben notwendige Erfahrung und Prominenz mit. Die Diskographie des 1956 geborenen Tenors Prégardien ist lang und umfasst neben Liedern auch Oratorien und Opern. Eisenlohr, Jahrgang 1950, begleitete bei Naxos schon Schubert-Lieder und wirkt als Professor für Liedgestaltung an der Kölner Hochschule für Musik und Tanz. Er beschäftigt sich auch in theoretischen Schriften mit Musik und arbeitete ebenfalls an der Schubert-Edition mit.

Mit der Programmauswahl auf der ersten CD wurde viel Pulver verschossen. Das Beste nicht zuletzt, sondern zuerst. In den Werkgruppen Opus 32, 43, 86 und 105 finden sich mehrere der bekanntesten Lieder von Brahms. Gleich an erste Stelle steht – einem Programm gleich – aus den Vier Gesängen Op. 43. Von ewiger Liebe, für mich ein Gipfel der hochromantischen Liedkunst. Eisenlohr gelingt es, diese – wie er schreibt – „abendlich ruhige Landschaft“ noch vor dem Einsatz des Sänger musikalisch so eindrücklich darzustellen als sei er Maler und nicht Pianist. Prégardien folgt ihm mit einer ehr schlichte Vortragsweise, stets bemüht, einen volksliedhaften Ton zu finden. Es folgt die ähnlich angelegte Mainacht. Zu hören sind des weiteren Feldeinsamkeit, Wie Melodien zieht es mir, Immer leiser wird mein Schlummer, Auf dem Kirchhofe, Wie bist du, meine Königin. Der Liedsänger Christoph Prégardien legt größten Wert darauf, auch mit dem Wort zu überzeugen. Wer die Texte näher besehen oder beim Hören mitlesen möchte, findet sie auf Naxos.com. Sie können in der Originalsprache sowie in englischer Übersetzung heruntergeladen werden. Die genaue Seite ist auch diesmal auf der CD-Hülle angegeben. Ein – wie ich finde – Papier sparender und praktischer Service, an dem man sich bei dieser Firma inzwischen gewöhnt hat. Aufgenommen wurde die neue CD 2021 ebenfalls im nach dem Dirigenten Hans Rosbaud benannten Studio des SWR in Baden-Baden. Rüdiger Winter

„Hallelujah“

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Viele große und heute legendäre Sopranistinnen haben Weihnachtsplatten aufgenommen – man denke nur an Elisabeth Schwarzkopf, Joan Sutherland, Renata Tebaldi, Leontyne Price und Renata Scotto. Nun reiht sich Diana Damrau ein in diese Riege und veröffentlicht bei ihrer Stammfirma ERATO ein in Hannover 2021/22 produziertes Album mit sogar zwei Silberscheiben (5054197286124). Mit My Christmas ist es betitelt und stellt auf der ersten CD („Selige Weihnacht“)  populäre und auch weniger bekannte Weihnachtslieder vor, während CD 2 („Festliche Weihnacht“) Kompositionen von Bach. Händel, Mozart, Zelenka, Franck und Adam enthält. Die deutsche Sopranistin wird von der NDR Radiophilharmonie begleitet. Richard Whilds und Riccardo Minasi teilen sich in die musikalische Leitung. Außerdem wirken der Knabenchor Hannover und der Norddeutsche Figuralchor mit.

Unter den selten zu hörenden Liedern auf der ersten CD finden sich „Weihnacht’ muß leise sein“ von Paul Burkhard, „Weihnachten“ aus Engelbert Humperdincks Weihnachtsliedern, „Kalenderlied“ von Franz Grothe, „Weihnachtsfriede“ von René Kollo und „Christrose“ von Robert Stolz. Letzteres ist ein Tongemälde für die Solistin und den Chor von seligem Zauber wie aus dem Märchenland. Auch Regers „Maria Wiegenlied“ und „Schlaf wohl, du Himmelsknabe du“ gelingen sehr ansprechend mit innigem Empfinden und feinen Tönen.

Damrau klingt auf dieser CD sehr jugendlich und bemüht sich um einen schlichten, naiven Tonfall. Gewöhnungsbedürftig sind die Arrangements des Dirigenten Richard Whilds, die eher den amerikanischen Geschmack treffen. Wenn die Solistin noch mit Vokalisen in den Chor einfallen muss, ist die Grenze des guten Geschmacks nicht mehr gewahrt. Natürlich gibt es in der Zusammenstellung „Selige Weihnacht“ auch bekannte Lieder wie „Leise rieselt der Schnee“, „Süßer die Glocken nie klingen“, „O du fröhliche“ und „Stille Nacht“. Zudem sind gängige Titel in fünf   Medleys („Weihnachtszeit“, „Adeste fideles“, „Warten aufs Christkind“,„Angels and Shepherds“ und „Heilig Abend“) integriert. Ersteres wird von Bläsern festlich eingeleitet und die Solistin nimmt diese Stimmung in „Tochter Zion“ und Silchers „Alle Jahre wieder“ auf. Das zweite umfasst französische und italienische Nummern, das dritte so bekannte Lieder wie „Leise rieselt der Schnee“ und „O Tannenbaum“. Eine Zusammenstellung weiterer internationaler Titel bringt das vierte Medley, während das letzte mit „Vom Himmel hoch“ und „Kommet, ihr Hirten“ nochmals feierliche Klänge bietet.

War auf der ersten CD vor allem ein schlichter, volksliedhafter Ton gefragt, ist der Anspruch an die Interpretin auf der zweiten ungleich höher. Denn hier sind Werke des Barock (Johann Sebastian Bach, Georg Friedrich Händel) und der Klassik (Wolfgang Amadeus Mozart) von teils virtuosem Zuschnitt versammelt. Die Sopranistin kann damit an den Beginn ihrer Karriere erinnern, als sie vor allem bravouröse  Koloraturpartien interpretierte. Zwei Händel-Kompositionen gelingen beachtlich – „Eternal source“ aus der Ode for the Birthday of Queen Anne mit kunstvoll gesponnenen Fäden in exponierter Lage und das Koloratur gespickte „Let the bright seraphim“ aus dem Oratorium Samson. Nicht weniger anspruchsvoll ist das reich verzierte „Erwach, frohlocke“ aus seinem Messias. Auch Bachs Motette „Jauchzet Gott in allen Landen!“ verlangt eine sehr flexible Stimme, zumindest im 1. Satz („Aria“) , der hier erklingt und Mühen der Sängerin in der Bewältigung erkennen lässt. Auch in dieser Zusammenstellung findet sich eine Rarität mit der Motette „Laudate pueri Dominum in D“ für Sopran und Solotrompete des tschechischen Komponisten Jan Dismas Zelenka. Der einleitende Satz, welcher der Komposition den Namen gab, ist virtuos und von fröhlichem Duktus. Im Kontrast dazu steht der getragene Mittelteil, „Quis sicut Dominus“, und wieder bewegt und mit langen Koloraturgirlanden versehen ist der Schluss, „Amen“. Mozarts himmlisches „Laudate Dominum“ aus der Vesperae solennes de confessore entführt in andere Welten, zumal es wunderbar gesungen ist. Ein gleich lautender Titel aus der Vesperae solennes de Dominica und das „Laudamus te“ aus der c-Moll-Messe ergänzen die feine Mozart-Auswahl. Sie gehört zu den überzeugendsten Nummern der Anthologie. Mit zwei Klassikern, die man auf allen Christmas-Recitals hören kann, endet die Auswahl: „Panis angelicus“ von César Franck und „Cantique de Noël“ von Adolphe Adam angemessen feierlich  (Foto oben shoelovedeichmann.com mit dank). Bernd Hoppe

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.In den Annalen der legendären Münchner Sonntagskonzerte taucht der Name von Helen Donath erstmals 1969 auf. Drei Jahre zuvor hatte sie einen Gastvertrag mit der Bayerischen Staatsoper geschlossen, wodurch die Karriere der 1940 geborenen Sängerin einen kräftigen Schub bekam. So war es also nur eine Frage der Zeit, bis sie auch für eines dieser Konzerte eingeladen wurde, die seit 1952 vom Münchner Rundfunkorchester veranstaltet werden. Die Besetzungszettel lesen sich wie ein Sängerlexikon. Im Laufe der Jahre trat fast alles auf, was auf der Opernbühne der Bayerischen Landhauptstadt stand. Als sei es Ehre und Pflicht zugleich gewesen, neben den Auftritten in der Oper unbedingt auch bei dieser sehr populären Veranstaltungsreihe vorbeizuschauen. Die Programme waren weitestgehend traditionell. Es sollte ein Publikum angesprochen werden, das gern hörte, was es kannte. Experimente fanden woanders statt. 1969 war die Donath gemeinsam mit Jeanette Scovotti, Benno Kusche und Hort Wilhelm mit Szenen aus Operetten zu hören. Bei ihren nächsten Termin am 11. Dezember 1988 – einem Weihnachtskonzert – war sie der alleinige Stargast. Wieder dirigierte Kurt Eichhorn. Und weil es das Fest musikalisch einzuleiten galt, waren auch die Regensburger Domspatzen mit ihrem damaligen Leiter Georg Ratzinger aufgeboten. Als Moderatorin führte Monika Hossfeld, die damalige Chefsprecherin des Bayerischen Rundfunks, durch den Abend.

Als Christmas Concert wurde der Mitschnitt des Konzerts hat jetzt Orfeo als CD in feinstem Stereo herausgebracht (C230091). Dabei wurde aber auf die verbindenden Worte verzichtet, was wohl auch aus Platzgründen zwingend gewesen ist. Anderseits hätte eine deutsche Ansage der Verbreitung auf dem internationalen Markt entgegengestanden, zumal schon die großen Auszüge aus Händels Messias nicht in der englischen Originalsprache gegeben werden. Mir gut zwanzig Minuten machen sie den Hauptanteil aus. Die beiden mitreißenden Chöre „Denn es ist uns ein Kind geboren“ und „Halleluja“ rahmen den Block ein. Das Ensemble entfaltet eine festliche Pracht, die noch nicht an die historisch informierte Aufführungspraxis denken lässt, bei der die Mittel oft stark reduziert sind. Dazwischen hat die Solistin ihre in sich geschlossene Szenenfolge mit dem Rezitativ „Es waren die Hirten gekommen auf dem Felde“, dem Chor „Ehre sei Gott“ und der mit Koloraturen verzierten Arie „Erwache, frohlocke“. Die Donat mit ihrer klaren engelhaften Stimme ist hier ganz in ihrem Element. Kein Wunder, dass sie immer wieder für Aufführungen und Einspielungen von Werken herangezogen wurde, die mit dem Weihnachtsfest in Verbindung gebracht werden. Barocke Üppigkeit lässt Eichhorn beim Concerto Grosso op. 6, 8 von Arcangelo Corelli hören.

Mit fünf kunstvollen Weihnachtsliedern a cappella haben die dunkel timbrierten Domspatzen ihren großen Auftritt. Darunter ist auch ein zeitgenössisches Werk des 1935 geborenen italienischen Komponisten und Organisten Herbert Paulmichl. Er machte auch dadurch von sich Reden, dass er 1985 den Wettbewerb um die Domkapellmeisterstelle in Salzburg gewann, sie aber dann doch nicht antrat. Obwohl es von Wolfgang Amadeus Mozart keine direkte Weihnachtsmusik gibt, wird auf einige Werke gern aus gegebenem zurückgegriffen. Im Sonntagskonzert sind es das Laudate Dominum aus der Vesperae solennes de Confessore KV 339 und die Motette Exultate, jubilate KV 165, mit der das Konzert jubelnd ausklingt. Scheint sie sich mit dem Messias noch eingesungen zu haben, gelangt Helen Donath hierbei ein stilistisch perfekter Vortrag, der vom Publikum zu Recht beklatscht wird. Der Beifall ist der auffälligste Hinweis auf eine Liveveranstaltung. Der besondere Charme dieser Konzerte, der erst durch die Moderation zustande kam, ging allerdings verloren. Rüdiger Winter

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Auch wenn in einer Musiksammlung reichlich Weihnachtsplatten vorhanden sind – das neue Album bei der deutschen harmonia mundi/Sony Music ist etwas Besonderes. Denn Dorothee Oberlinger, Blockflötistin, Dirigentin und Intendantin der Festspiele Potsdam Sanssouci, hat für diese Veröffentlichung mit dem Titel Pastorale nicht nur ein ungewöhnliches Programm zusammengestellt, sondern neben ihrem Ensemble 1700 noch weitere Künstler verpflichtet, die Seltenes auf Ausnahmeniveau garantieren. Da sind vor allem die italienischen Pfeifer Li Piffari e le Muse, die unter Leitung des Dudelsackspielers Fabio Rinaudo auf ihren traditionellen Instrumenten – der Drehleier, Blockflöte, Fiedel und kleinen Schalmei Piffaro – musizieren und fremdartige Töne einbringen, welche die italienische Tradition der weihnachtlichen Hirtenmusik wieder aufleben lassen.

Das Programm auf zwei CDs (19658774862), die vor einem Jahr in Köln aufgenommen wurden, vereint bekannte Weihnachtsmusik mit  Raritäten. So findet sich von Giovanni Antonio Guido aus seinen Scherzi armonici sopra le quattro stagioni dell’anno der „Winter“ („L’Hyver“), der dem „Inverno“ Vivaldis verblüffend ähnelt. Auch hier beginnt das Stück mit harschen, frostigen Klängen, als würde das Eis brechen und der Sturm über das Land jagen. Am Ende der Auswahl steht eine Komposition von Johann Christoph Pez, welche dem Album seinen Namen gab – das Concerto pastorale F-Dur, aus dem die klangprächtige„Passacaglia“ erklingt.

Bei den populären Titeln, so Corellis Concerto „Fatto per la Notte di Natale“ g-Moll, dessen letzter Satz gleichfalls mit „Pastorale“ bezeichnet ist, variiert Oberlinger die traditionelle Besetzung durch die Nutzung anderer Ausgaben oder erweitert sie durch die Piffari, was die Stücke koloriert. Bei Corelli ist es eine Kammermusik-Version aus London für zwei Blockflöten, die einen munteren, silbrigen Ton einbringen, ergänzt von den schnarrenden Klängen der Schalmei und des Dudelsacks. Alessandro Marcellos Concerto d-Moll für Oboe erklingt sehr kantabel für eine Blockflöte. Geradezu ein barocker Hit ist Vivaldis Flautino-Concerto C-Dur, welches hier wegen der Einbeziehung der Girondola und des Dudelsacks ebenfalls in neuem Gewand zu hören ist. Darüber hinaus ist es natürlich ein Vehikel für Oberlingers Bravour auf ihrem Instrument.

Die renommierte Barocksopranistin Dorothee Mields ergänzt das Programm durch die Interpretation von Alessandro Scarlattis Weihnachtskantate „Oh di Betlemme altera povertà“ mit klarer Stimme und schlichter Empfindung. Fast nicht zu erkennen, aber faszinierend ist ihr Timbre in dem neu arrangierten neapolitanischen Weihnachtslied „Tu scendi dalle stelle“, wo sie nur bei der exponierten Tessitura des letzten Teils etwas in Bedrängnis gerät. Und ein ganz besonderer Beitrag ist dem Schauspieler Matthias Brandt zu danken, der Texte aus Fanny Lewalds „Italienischem Bilderbuch“, Turi Vasiles „Paura del vento e altri racconti“ und Francisco Soto de Langas „Il terzo libro delle laudi spirituiali“ mit spürbarer Beteiligung, doch wohltuend ohne Pathos vorträgt. Oberlingers Konzeption dieser musikalisch-literarischen Collage ist samt des Niveaus ihrer Interpretation preisverdächtig. Bernd Hoppe

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Audite stellte Weihnachtslieder, die mehrheitlich in den 1950erJahren beim Rias eingespielt wurden, auf einer CD zusammen, die neu aufgelegt wurde (95.741). Die Firma hat Zugang zum Archiv dieses Senders, der nach der deutschen Wiedervereinigung in anderen Rundfunkanstalten wie Deutschlandradio aufging. Vom Himmel hoch … Das darf durchaus wörtlich verstanden werden, denn diese Gesänge scheinen wirklich von dort oben auf uns herabzukommen. So innig, unschuldig und anrührend sind sie vorgetragen. Echt, ursprünglich, ohne falsches Lächeln, wie es wenig später auf die Cover der krachbunten Weihnachtsplatten kam. Es ist, als habe bei diesen Liedaufnahmen die Zeit mit im Studio gesessen. So kurz nach dem verheerenden Krieg bogen sich auch im Westen Deutschlands die Tische noch nicht unter dem Überfluss. Es wurde noch Radio gehört, zumal an Weihnachten. Ich war ganz hin und her gerissen, als ich mir die CD zum ersten Mal anhörte. Sie zog mich sofort in ihren Bann. Es ließe sich lange darüber nachdenken, ob es auch bei solchen Musikaufnahmen gute oder schlechte Jahrgänge gibt wie beim Wein, ob Not und Knappheit darin ihre virtuellen Spuren hinterlassen. Und das nicht nur durch das bereits erwähnte Aufnahmeverfahren sondern auch durch die Art der Interpretation. In diesem ganz konkreten Fall höre ich bei allen Mitwirkenden – Sängern und Musikern – eine Emphase, die so heute nicht mehr zu finden ist. Niemand singt über seine Verhältnisse. Man möchte darauf schwöre, alle machen ganz umsonst mit – nur aus Spaß an der Freude, weil doch Weihnachten ist. Auf dem Cover stehen nur die großen Namen: Dietrich Fischer-Dieskau, Elisabeth Grümmer, Rita Streich und deren Lehrerin Erna Berger. Die ziehen immer. Hinzu kommen Lisa Otto, Margot Guilleaume und Walther Ludwig. Der Versuch, sich eine Stimme oder einen Lieblingstitel herauspicken zu wollen, muss scheitern, weil alle auf ihre ganz individuelle Weise durch das verbindende Weihnachthema für sich einzunehmen verstehen. Am ehesten ist vielleicht noch bei der Berger mit dem Himmlischen Menuett von Mark Lothar oder bei Ludwig – beide haben ihren Zenit überschritten – ein professioneller Griff in der Trickkiste der Gestaltungskunst auszumachen. Das ist aber ganz nebensächlich, zählt also nicht. Wäre ich kein Verehrer von Fischer-Dieskau, wenigstens für das Lied „Ich steh’ an deiner Krippen“ hier bin ich es. Er singt es mit überwältigender Schlichtheit. Mit mütterlicher Fürsorge, als stehe sie selbst an der Krippe im Stall zu Bethlehem, berührt die Grümmer mit den Klassikern „Vom Himmel hoch, ihr Engel kommt“ und „Es ist ein Ros’ entsprungen“, die – wie die anderen Lieder auch – für diese Produktion musikalisch neu arrangiert worden sind.

Die Überraschung der Besetzungsliste dieser CD mit ihren 26 Tracks sind für mich jene Sängerinnen, die in Vergessenheit geraten sind. Annelies Westen eröffnet das Programm mit vier Liedern, darunter „Maria durch ein Dornwald“ ging, mit dem Hendel-Quartett von 1952. Nirgends habe ich etwas über diese Sängerin in Erfahrung bringen können, die eine perfekt sitzende Stimme hat. Etwas allgemein, dafür aber von großer Ruhe und Ausgeglichenheit. Leicht schluchzend wie zu Tränen gerührt singt Maria Reith 1950 begleitet von Michael Raucheisen das Lied „Maria auf dem Berge“. Gunthild Weber ist mit „Schlaf, mein Kindlein“ und „Schlaf wohl du Himmelsknabe“ dabei. Sie trat nur als Konzertsängerin in Erscheinung und hat auch eine Reihe anderer Aufnahmen hinterlassen, darunter eine Matthäuspassion von Bach. Deutlich später als die meisten Aufnahmen, nämlich 1964, sind Duette mit der Sopranistin Ursula Lüders und der Altistin Josephine Varga, die auch Schlager gesungen haben soll, eingespielt worden. Beide werden von Felix Schröder an der Orgel begleitet. Rüdiger Winter

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Was soll man machen, wenn die deutsche Post es in der Weihnachtszeit in manchen Teilen der Großstadt nicht schafft, einen einfachen Brief innerhalb Deutschlands in 10 Tagen von einem Ort zum anderen zu transportieren? Wenn es sich um eine CD mit Weihnachtsliedern handelt, kann man sie wegwerfen, sie bis zum Weihnachtsfest 2021 aufheben oder besser noch, sie trotzdem mit Genuss und Vergnügen hören. Beides leitet sich daher, dass der Tenor und Komponist Daniel Behle sich der schönsten deutschen Weihnachtslieder an-, sie aber nicht nur aufgenommen hat, sondern getreu dem im Booklet zitierten Richard Wagner mit seinem „Schafft Neues, Kinder!“ mit eigenen Arrangements versehen, ja sogar weihnachtliche Musik dazu komponiert hat. Zur Seite standen ihm dabei das Oliver Schnyder Trio & Friends, als da wären der Namensgeber, Andreas Janke, Benjamin Nyffenegger als Trio und Alexander Kuralionok, Takeo Sato und Andreas Berger mit Akkordeon, Gitarre und Schlagzeug.

Vom ersten Track an fällt auf, dass die Arrangements den jeweiligen Charakter der einzelnen Lieder noch stärker hervorheben, als man es gewohnt ist, dass die drei Orchesterstücke fern atonaler Verstörung Weihnachtliches verbreiten, so die einleitende muntere Feierlichkeit der „Ouvertüre“ mit verstreuten zarten Anklängen an bekannte Weihnachtslieder, während später ein Gewitter aufzieht oder  mit einer Fuge dem Tannenbaum Ehre erwiesen wird. . Beim ersten Lied, Maria durch ein Dornwald ging,  und dann bei allen weiteren erfreut die beispielhafte Textdeutlichkeit, betört der reine, ja keusche Klang der Stimme, die in der zweiten Strophe textgetreu aufblüht. Einen ganz anderen Charakter verleiht die Aufnahme O Heiland, reiss die Himmel auf, die so auf einem Mittelalter-Markt erklingen könnte. Nicht ganz verzichten auf Fioriture und Abbellimenti mag der Tenor, oder, wenn er wie auch in einigen anderen Nummern, die Tessitura wechselt wie in Vom Himmel hoch, auf die Betonung von Textzeilen, die ihm wohl besonders wichtig sind. Manchmal wie in Macht hoch die Tür trumpft eher das Klavier auf als die sich ganz unprätentiös gebende Stimme, in Ihr Kinderlein kommet huschen die Angesprochenen behände durch das Lied, ehe der  Jubel beginnt. Wunderbar wird Es ist ein Ros entsprungen angegangen, besonders eindringlich die dritte, eher unbekannte Strophe gesungen. In Tochter Zion kann auch einmal der Opernsänger auf raffinierte Weise herausgekehrt werden, in O du fröhliche darf der Schluss jubelnd vom Gewohnten abweichen. Daniel Behle ist kein Freund von überzogener Feierlichkeit, und so ist das „fröhliche“ auch einmal wichtiger als die „Weihnachtszeit“, und es geht hopphopp durch das entsprechende Lied mit Um- und Ausgestaltungen aller Arten, und auch Lasst und froh und munter sein bedarf dieser Aufforderung nicht mehr. Neben den drei Orchesterstücken vom Komponisten Behle gibt es auch das Lied Der Weihnachtsmann hat einen Sack auf eigenen Text mit leicht gesellschaftskritischem Inhalt. Für Morgen kommt der Weihnachtsmann und Morgen Kinder hingegen finden sich interessante Arrangements, für Kling Glöckchen ein feines Vorspiel. Spätestens hier, nein, eigentlich durchgehend wird jedem Hörer bewusst, wie wenig Tenoreitelkeit sich auf der CD offenbart, ohne dass die bekannten Vorzüge der Stimme und der Gestaltung durch den Sänger unter den Scheffel gestellt werden. Hurtig Kommen die Hirten einher, vor dem bekannten gibt es noch einen nicht so populären Tannenbaum, dessen Lied  danach ganz wundervoll verhalten erklingt. Alle Jahre wieder hat eine vierte, nicht so geläufige Strophe, in der die Stimme, in die Tiefe abwandernd, deren Bedeutung unterstreicht. Mit reicher Agogik und interessanter Begleitung wird Leise rieselt der Schnee gesungen, zum Schluss alle Strophen (und im Booklet sind alle Texte) von Stille Nacht als zu Herzen gehender Ausklang einer ungewöhnlichen und ungewöhnlich schönen Weihnachts-CD (Sony 19075853682). Ingrid Wanja     

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Aus der hohlen Hand Konfetti dem Gegenüber ins Gesicht zu blasen ist keine große Kunst, das aber mit Schneeflocken zu schaffen, gelingt nur einem  wie Jonas Kaufmann, der nach der DVD mit Wiener Liedern, der CD mit dem Sommerkonzert der Wiener Philharmoniker und Seligen Stunden mit Helmut Deutsch nun auch ein Album mit Weihnachtsliedern mit neckischem Cover und dem Titel It’s Christmas! auf den Markt gebracht hat und der sicherlich gerade an einer Frühlingslieder-CD arbeitet. Da kommt man ins Nachdenken darüber, wie relativ gut die großen Stars und die festangestellten Ensemblemitglieder durch die Corona-Krise kommen und wie schlecht es den weniger bekannten freischaffenden Sängern und Instrumentalisten im Moment gehen muss.

Mögen auch ihnen die beiden CDs mit Weihnachtsliedern ein Trost beim vielleicht einsamen Weihnachtsfest sein, das Zeug dazu haben sie, besonders die erste der beiden, denn der Sänger hat glücklicherweise eine fast strikte Trennung zwischen traditionellen deutschen auf der ersten und internationalen, vielfach der leichtesten Muse zuzuordnenden Stücken auf der zweiten CD vollzogen. Der Tenor wird von unterschiedlichen Chören und Instrumentalisten begleitet, es beginnt mit festlichen Bläserklängen zu Engel haben Himmelslieder, der Solist ist in bester stimmlicher Verfassung, zeichnet sich durch eine gute Diktion aus, kann es allerdings nicht lassen, am Schluss spekulativ nach oben zu singen. Die St. Florianer Sängerknaben bilden den Chor im Hintergrund und klingen im Unterschied zum ebenfalls vertretenen Bachchor Salzburg leicht kitschig, auch ein wenig zu gefällig.

Schön schlicht erklingen Süßer die Glocken nie, der Sänger kostet allerdings die höheren Töne aus und beendet den Track im Falsettone. Angenehm kernig und ohne Mätzchen, wunderbar markant im „Ehre sei Gott“ hören sich In dulci jubilo und Kommet ihr Hirten an, eine alte Schwäche macht sich in Tochter Zion mit einer Verengung des Tons im Passaggio bemerkbar. In Ihr Kinderlein, kommet lernt man auch eine unbekannte Strophe kennen, allerdings klingt das Orchester, anders als bei vielen anderen Stücken, hier allzu gefällig, in Alle Jahre wieder wird Summen als Gestaltungsmittel eingesetzt. Ein großes Plus der Stimme Jonas Kaufmanns ist ihre Unverkennbarkeit, die besonders in Vom Himmel hoch, ihr Englein kommt zu bemerken ist, das Lachen, das in ihr liegen kann wie in Lasst uns froh und munter sein, und angenehm markig hebt sie sich ab von dem süßlichen Arrangement in Leise rieselt der Schnee. Abwechslung garantiert die Anordnung der Lieder, wenn auf das humorsprühend gesungene Morgen Kinder ein Es ist ein Ros entsprungen von schöner Feierlichkeit folgt. In Macht hoch die Tür kann der Bachchor unter Alois Glaßner seine Meriten ausspielen, nur am Schluss geht man etwas ins opernhaft Spektakuläre. Die Florianer hingegen verstoßen bei Ich steh an deiner Krippe gegen die schöne Schlichtheit des Lieds und auch auf den Bachchor als Hintergrundsmusik könnte man beim ansonsten schönen Jubelklang von O du fröhliche verzichten. Raffiniert arbeitet sich die Sängerstimme in Still, still, still vom Pianissimo über das Piano zur mezza voce vor, ebenso steigert sie sich in Kling Glöckchen von eben diesem zu gewaltigem Glockenklang vor. Wunderschön ist die Harfenbegleitung durch Florian Pedarnig in Es wird schon glei dumpa, was man vom wieder die Stimmung zerstörenden Chor bei Maria durch ein Dornwald ging nicht sagen kann. Machtvoll erklingt das Vom Himmel hoch, ganz ohne Starallüren die Stille Nacht, die auf der zweiten CD noch einmal, aber als Holy Night weichgespült auftaucht. Das große Plus der zweiten CD sind die Mitwirkung von Till Brönner und die Vielseitigkeit, die der deutsche Sänger in den unterschiedlichsten Sprachen beweist. Flockenleicht schwebt sie durch das Winter Wonderland, kann auch Jodeln und baut im Französischen sogar einen kleinen Schluchzer ein (Sony 19439786762). Ingrid Wanja

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Kein anderer Chor dürfte das Weihnachtsoratorium von Johann Sebastian Bach so oft aufgeführt und eingespielt haben wie die Thomaner in Leipzig. Die Stadt und das Werk gehören zusammen wie Wagners Parsifal und Bayreuth. Noch zu Lebzeiten des berühmtesten Thomaskantors sind die sechs Kantaten, aus denen sich das Oratorium zusammensetzt, einzeln in Gottesdiensten zwischen dem ersten Weihnachtsfeiertag 1734 und Epiphanias 1735 erstmals aufgeführt worden. Die jüngste Produktion ist jetzt bei Accentus Music erschienen (ACC 30469). Traditionell haben sich dazu der Knabenchor und das Gewandhausorchester zusammengefunden. Aufgenommen wurde in der Thomaskirche, in der seit 1950 die Gebeine Bachs ruhen.

Die Leitung hat Gotthold Schwarz, der als Sänger ausgebildet wurde und seit 2016 Thomaskantor ist. Er schlägt ein rasantes, doch niemals überhitztes Tempo an. Die berühmten Paukenschläge, mit denen das Werk beginnt, sind ungewöhnlich rasant gesetzt, als solle die Botschaft, die vom Werk ausgeht, bis in den letzten Winkel reichen. Im Eingangschor entfalten die Knaben und jungen Männer eine packende Dynamik, wie man sie von diesem Chor seit jeher gewohnt ist. Schwarz besetzt groß und macht damit die Wirkung groß. Und doch bringt er einen Drive hinein, der ganz und gar heutig wirkt und jeden Anflug von Behäbigkeit ausschließt. Tradition verbindet sich mit der Gegenwart. Für mich besteht darin der besondere Reiz dieser Leipziger Produktion und die Berechtigung, das strapazierte Weihnachtsoratorium abermals vorzulegen. Solistisch werden der Evangelist (Patrick Grahl) und der Sänger der Tenorarien (Markus Schäfer) getrennt, was Sinn macht. Grahl ist gebürtiger Leipziger und war selbst Thomaner. Diese Erfahrungen geben seinem pointierten Vortrag Sicherheit und Überzeugungskraft. Als Sopran wirken Dorothee Mields, als Alt Elvira Bill und als Bass Klaus Höger mit. Für alle ist Deutsch die Muttersprache. Das zahlt sich in überdurchschnittlicher Wortverständlichkeit aus, die man so bei Bach nicht immer gewohnt ist. Alle Solisten passen sich dem Konzept des Dirigenten gut an. Sie setzten sich nicht in Szene, verfolgen keine eigenen Wege und gehen diszipliniert im Ensemble auf. Diese Produktion gut es auch als DVD in traditionellen Format und als Blu-ray. Mit den Thomanern sind mindesten sieben Einspielungen des Weihnachtsoratoriums überliefert. Bei Philips und auch schon bei Accentus Music sowie bei Rondeau hat sich Thomaskantor Georg Christoph Biller, der 2015 sein Amt aus gesundheitlichen Gründen aufgeben musste, gleich dreifach verewigt. Zudem leitete er auch eine TV-Produktion, die mit schöner Regelmäßigkeit zu Weihnachten wiederholt wird. Bis heute hat die Aufnahme vom Dezember 1958 nichts von ihrem Glanz und ihrer Popularität eingebüßt. Damals hatte Kurt Thomas die Leitung eines Unternehmen, zu dem sich wenige Jahre vor dem Bau der Berliner Mauer Künstler aus Ost und West zusammengefunden hatten, um Johann Sebastian Bach zu huldigen. Mit Agnes Giebel (Sopran) Marga Höffgen (Alt), Josef Traxel (Tenor) und Dietrich Fischer-Dieskau (Bariton) war die Creme der damaligen Bachinterpreten aufgeboten worden, die dem Oratorium eine Würde und tiefe Erfüllung gaben, die so nie wieder erreicht wurde. Nicht umsonst sollte sich die Stereo-Aufnahme als eine der erfolgreichsten in den Klassikkatalogen von Electrola und Eterna behaupten. Sie verschwand nie vom Markt und wurde immer wieder in neuer Aufmachung aufgelegt, nun bei Warner. Mit ihr habe auch ich das Oratorium kennen und lieben gelernt. Es vergeht kein Weihnachten, an dem ich es nicht gleich mehrfach auflege.

Das von Kurt Thomas geleitete Leipziger Weihnachtsoratorium von 1958 ist immer wieder neu aufgelegt worden. Die Stereo-Aufnahme erwies sich als eine der erfolgreichsten in den Klassikkatalogen von EMI/Electrola und Eterna/ nun bei Warner.

Um die Weihnachtstage 2018 herum geriet ich ganz zufällig in eine TV-Sendung des MDR, darin ein kurzer Ausschnitt aus dem Weihnachtsoratorium mit dem jungen Peter Schreier in gutem Schwarz-Weiß. Das Orchester war nicht eben klein, der Dirigent nur von hinten zu sehen. Das Ambiente der Aufführung – ohne Zweifel ein Kirchenraum – konnte ich nicht entschlüsseln. Die Thomaskirche ist es zweifelsfrei nicht gewesen. Recherchen brachten Aufklärung. Es handelte sich um eine Aufführung der ersten drei Kantaten mit dem Thomanerchor und dem Gewandhausorchester Leipzig unter Erhard Mauersberger in der Leipziger Universitätskirche St. Pauli. Mauersberger hatte das Amt des Thomaskantors 1961 von Kurt Thomas übernommen. Als Solisten wirken neben Schreier Elisabeth Breul (Sopran), Sigrid Kehl (Alt) und Günther Leib (Bariton) mit.

Die Aufführung fand am 15. Dezember 1963 statt und wurde vom DDR-Fernsehen übertragen. Ein Mitschnitt hat sich erhalten und kann beim Deutschen Rundfunkarchiv (DRA) kostenpflichtig bezogen werden. Das Besondere am Aufführungsort ist, dass die Kirche für die neue Bebauung eines großen Areals im Stadtzentrum, wozu auch das Neue Gewandhaus gehört, gesprengt wurde. Das führte zu scharfen Protesten, die die DDR seinerzeit tief erschütterten. Diese Wunden sind bis heute nicht ganz geheilt und brechen vor allem bei der Generation, die den alten Bau noch aus eigener Anschauung kennt, immer wieder auf. Der etwas einfallslos wirkende Neubau erinnert mehr an den Verlust – was auch beabsichtigt sein dürfte – als dass er zumindest äußerlich eine echte Alternative wäre. Der Mitschnitt soll das einzige erhaltene Dokument in bewegten Bildern aus dieser geschichtsträchtigen Kirche sein.

Im DRA lagert auch eine Produktion der MDR von 1951, ebenfalls mit den Thomanern unter der Leitung ihres damaligen Kantors Günther Ramin. Der Sopran ist wie auf der berühmten Platteneinspielung Agnes Giebel, der Tenor Gert Lutze, der später in den Westen ging, dort mit dem ebenfalls aus Leipzig abgewanderten Karl Richter unter anderen bei einem weiteren Weihnachtsoratorium zusammenarbeitete und sich nach Beendigung seiner Sängerlaufbahn als Arzt niederließ. Gerhard Niese ist der Bass. Die Altpartie wird von der heute fast in Vergessenheit geratenen Sylvia Plate gesungen. Von ihr gibt es noch weitere Bachaufnahmen, vornehmlich Kantaten. 1953 sang sie in der von Joseph Keilberth betreuten Walküre bei den Bayreuther Festspielen die GrimgerdeRüdiger Winter

Der Trompeter und Dirigent Ludwig Güttler hat seine bei Berlin Classics erschienene CD (0301165BC„Stille Nacht, heilige Nacht“ betitelt. Güttler und sein Blechbläserensemble beginnen und enden ihr Programm über fast achtzig Minuten mit dem Lied in eigener Einrichtung, allerdings ohne Gesang. Zunächst erklingen die ersten drei Verse, zum Schluss die verbleibenden drei. Jeder Vers ist individuell gestaltet. Wer genau hinhört, wird seine Freude haben an den feinen Unterschieden, Variationen und Verästelungen. In sich wirkt diese Bearbeitung sehr feierlich, begegnet dem Original mit großem Respekt und ist nicht auf äußere Effekte bedacht. Dazwischen wechseln die musikalischen Schauplätze – von Johann Sebastian Bach (1685-1750) zu Johann Georg Röllig (1710-1790), von Antonio Vivaldi (1678-1741), Joseph Haydn (1732-1809) zu Michael Praetorius (1571-1621). Mal ein Larghetto, mal ein Andante, dann wieder ein Siciliano, gespielt vom Ensemble Virtuosi Saxoniae, das Güttler selbst begründete. Als Entdeckung mit Ohrwurmpotenzial stellt sich alsbald die „Pastorale per la notte di natale“ von Johann David Heinichen (1683-1729) heraus. Die Sopranistin Antje Perscholka und der Altus Martin Wölfel stimmen etwas unvermittelt in dem weitestgehend instrumentalen Angebot „He shall feed his flock“ aus Georg Friedrich Händels (1685- 1759) Messias an. Was auf den ersten Blick in die Trackliste der neuen CD wie ein weihnachtliches Allerlei anmutet, ist wohlüberlegtes Kalkül. „Alles ist hinführende Musik. Der Hörer wird staunen, wie ähnlich die Dinge liegen“, wird Güttler im Booklet zitiert. Spekulieren wolle er nicht. „Es ist unerheblich, ob Franz Xaver Gruber diese Sachen konkret kannte. Ihn nährte die Welt seiner Zeit, die voller solcher Klänge war.“

Ein Zeitgenosse von Bach und nur ein Jahr jünger als dieser war der Italiener Nicola Porpora (1686-1768). Er wirkte für kurze Zeit in Dresden. Sony hat sein Christmas Oratorio Il Verbo in Carne (Das Fleisch gewordene Wort) vorgelegt (19075868452). Solisten des allegorischen Geschehens sind Roberta Invernizzi (Gerechtigkeit/Sopran), Terry Wey (Friede/Countertenor) und Martin Vanberg (Wahrheit/Bass). Es spielt das von Riccardo Minasi geleitete Kammerorchester Basel. Es handelt es sich um die Neuaufführung der Urfassung von 1747 aus Neapel. Sie fand am 5. Dezember 2016 in der Hamburger Laeizhalle statt. Dass es sich um einen Mitschnitt handelt, offenbart erst der Beifall am Schluss. Im Booklet präsentiert der italienische Musikwissenschaftler Giovanni Andrea Sechi die spannende Geschichte der Entstehung und Verortung des Oratoriums als leidenschaftliches Plädoyer für das Stück: „Die große Sanglichkeit und kunstvolle Virtuosität der Vokalpartien illustriert, mit welch unübertroffener Meisterschaft Porpora für die menschliche Stimme komponierte – die eigentliche Hautperson dieses Werkes.“ Der musikalische Schwung ist atemberaubend und erinnert in seiner Sinnlichkeit ehr an eine Oper denn an ein geistliches Werk. Die Geburt des Kindes wird in große Zusammenhänge gesetzt. Erst nachdem sich die allegorischen Figuren Gerechtigkeit und Friede ausführlich über die Perspektiven und das Schicksal der Menschheit ergangen haben, tritt die Wahrheit auf, um von der Geburt Christi zu berichten, an die sich dann große Hoffnungen knüpfen.

Carl Loewes Weihnachtsbotschaft vermittelt sich am eindrucksvollsten in der Legende „Des fremden Kindes heil’ger Christ“ nach einem Gedicht von Friedrich Rückert. Viele Jahre war sie nur durch eine 1937 entstandene Einspielung des Tenors Karl Erb in Umlauf. Inzwischen ist sie auf mehreren Tonträgern zu finden. Es ist die Geschichte vom fremden Kind, das am Abend vor Weihnachten frierend und einsam durch die Stadt irrt und nirgendwo eingelassen wird, bis es die Engel hinauf in lichte Höhen ziehen, wo Bescherungen warten, die die irdischen Güter schnell vergessen machen. So ähnlich könnte sie in ihrem realistischen Teil auch einem Roman von Charles Dickens entnommen worden sein. Mehr noch als durch Worte bezieht die Legende ihre Wirkung aus der schlichten und eingängige Melodie, die zum Schönsten gehört, was Loewe komponiert hat. Gesungen wird sie diesmal vom Bariton Günter Leykam. Am Klavier begleitet Werner Dörmann. Die von der Internationalen Loewe Gesellschaft unterstützte CD erschien bei CB Concerto Bayreuth (16018) und enthält weitere Balladen und vier Chorstücke mit Bezug zum Weihnachtsfest: „In dulci jubilo“, „Puer natus in Bethlehem“„Quem pastores laudavere“ und „Gloria in excelsis deo“. Nach dem lateinischen Einstieg folgen die Gesänge deutschen Textvorlagen. Es singen der Kammerchor des Markgräflichen Wilhelmine Gymnasiums und die Kantorei der evang. Kreuzkirche Bayreuth.

Inzwischen zeitlich schon etwas knapp, aber immer noch machbar ist der Erwerb eines Geschenks, das mit Sicherheit Weihnachtsfreude bei allen der Musik Zugetanenen hervorrufen kann: Ein sehr ansprechendes Konzert auf DVD , das 1990 in der Luzerner Jesuiten-Kirche mit dem kurz zuvor nach seiner schweren Krankheit wieder auf die Bühne zurückgekehrten José Carreras, den Mozart-Sängerknaben Wien und Instrumentalsolisten aufgenommen wurde. In der Schweizer Stadt herrschte im Dezember Regenwetter, also auch damals keine weiße Weihnachten, aber ein sehr schöner Kircheninnenraum mit Weihnachtsbäumen, und der Knabenchor (Leitung Erich Schwarzbauer) verbreitet mit den beiden ersten Tracks, „Maria durch ein Dornwald ging“ und Francks „Panis Angelicus“, ersteres berührend durch die Schlichtheit des A-Cappella-Gesangs der reinen, klaren Stimmen, letzteres durch den tapferen, intonationssicheren kleinen Solisten, dem sich später der Chor zugesellt, bereits Weihnachtsstimmung, die leider immer wieder durch den Beifall nach jedem Stück unterbrochen wird. Eigentlich nur fromm, aber nicht weihnachtlich geht es mit Carreras weiter, mit „Caro mio ben“ und Stradellas  „Pietà, Signore“, später dann, aber das könnten auch Zugaben sein, greift der Tenor auf das Repertoire zurück, mit dem er, den Strapazen der Opernbühne ausweichend, durch die halbe Welt tourte: Canzonen, so wie hier die von Tosti, für die der Tenor allerdings wie kaum ein anderer außer Di Stefano, prädestiniert war. Da ist das Ausnahmetimbre, ein schöneres kann man sich nicht vorstellen, in seinem Element, die bequem vorwiegend in der Mittellage komponierten Stücke, das Fehlen von extremen Spitzentönen lassen auch ein sichtbar unverkrampftes Herangehen an die Aufgabe zu, es gibt ein wunderschönes Einsetzen im Piano, es gibt aber auch opernhaft anmutende Aufschwünge, und mit dem Fortschreiten des Konzerts scheint der Sänger auch immer beherzter an seine Aufgaben heranzugehen. Der Katalane singt in vier Sprachen, außer Italienisch und Spanisch noch Englisch und sogar einige Zeilen von „Stille Nacht“ in Deutsch, nachdem er zunächst eine Strophe auf Spanisch geboten hat. Und von einer so schönen Stimme geboten, erträgt man sogar „White Christmas“ gern. Schuberts „Schlafe, schlafe“ wird allerdings sehr verfremdet als „Mille Cherubini“, als das es Carreras zu Gehör bringt. Bei Bizets „Agnus Dei“ kann man den Eindruck gewinnen, dass der Tenor mit Freude die Grenzen, die er sich zuvor auferlegt hat, überschreitet, auch was die bis dahin gemiedene Höhe angeht. Man freut sich noch heute, fast dreißig Jahre danach, dass es ihm gelungen ist, seine Laufbahn nach der schlimmen Krankheit fortzusetzen. Einen ganz wesentlichen Beitrag zum Gelingen des Konzerts leisten die Begleiter am Klavier, Lorenzo Bavaj für Carreras und Andrew Hannan, mehr aber noch können die Bläser, am Flügelhorn Sebastian Baumann und  Hermann Baumann (Horn und Alphorn), erfreuen mit alpenländischen Volksweisen. Wer sich also etwas Besinnlichkeit, ein Zusichselbstkommen nach dem Vorweihnachtstrubel wünscht, ist mit dieser DVD bestens bedient. Und gut, dass Arthaus das graue, nach Totensonntag aussehende Cover durch ein weihnachtsrotes mit dem Portrait des Sängers ersetzt hat (Arthaus 109415). Ingrid Wanja  

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„Was wäre, wenn jeden Abend Weihnachten wäre?“, hatte sich schon Heinrich Böll 1952 in seiner satirischen Erzählung Nicht nur zur Weihnachtszeit gefragt. Daran und an die Verfilmung mit der schrägen Edith Heerdegen, die sich als Tante Mila an Lichtmess partout nicht von ihrem Weihnachtsbaum trennen möchte, musste ich denken, als nach den Festtagen December Celebration eintraf. Müssten wir dann jeden Abend New Carols by Seven American Composers hören? Angeregt durch Gordon Gettys Four Christmas Carols für Frauenchor und Kammerorchester haben sich seine Kollegen Mark Adamo (*1962) und dessen Partner John Corigliano (*1938), Jake Heggie (*1961), Joan Morris (*1943) und William Bolcom (*1938), David Garner (*1954) sowie Luna Pearl Woolf (*1973) daran gemacht, neue Weihnachtslieder zu kreieren, die im Dezember 2014 in Kalifornien mit dem Volti Chorus, der Sopranistin Lisa Delan und dem Bariton Lester Lynch unter Dawn Harms verbunden mit dem Hinweis eingespielt wurden (Pentatone PTC 5186537), „We hope that you enjoy this festive and joyous music throughout the season and for many years to come.“ Die neuen Dezember-Klänge hätten Tante Mila vermutlich nicht zufriedengestellt, sie werden auch nicht „O du fröhliche“ und „Stille Nacht“, die in einer Bearbeitung von Getty die Aufnahme abrundet, ersetzen, dennoch sind es leicht hörbare und geschmeidig ins Ohr rieselnde Gesänge und Weisen zweier Generationen amerikanischer Gegenwartskomponisten. Die Aufnahme beginnt mit Adamos stimmungsvoll, spätromantisch angehauchtem „The Christmas Life“, wo der gemischte Chor am Ende eindringlich drängt „Bring the Christmas life into the house“. Bei „On the Road to Christmas“ von Heggie handelt es sich um sechs Lieder für Sopran und Streichorchester auf Texte verschiedener Autoren, darunter aparterweise Frederica von Stade, deren „The Car Ride to Christmas“ von Lisa Delan besonders lebhaft gesungen wird. Unauffällig scheint mir der Beitrag von Morris und Bolcom, während die „Three Carols“ von Garner für Sopran und Bariton, Oboe, Schlagwerk und Streicher lebhafte Wechselgesänge sind, die u.a. in „Magnum Mysterium“ Christi Geburt aus der Sicht der Tiere schildern. Lester Lynch erweist sich hier sowie in Woolfs Szene für Bariton, Kinderchor, Soloinstrumente und Streicher, vor allem aber in Coriglianos „Christmas at Cloisters“ mit der auffälligen, das softe Klangbild der Aufnahme etwas sprengenden Begleitung durch eine Hammond Orgel als charaktervoller Gestalter. Gettys melodiöse „Four Christmas Carols“ sind – ebenso wie sein „Silent Night“-Arrangement für gemischten Chor – gefällige, dezent orchestrierte Gesänge, die nostalgische 19. Jahrhundert-Stimmungen mit modernen Akzenten versehen und von den Frauen des Volti Chorus mit fließender Leichtigkeit gesungen.

Wer nun mehr Lust auf die handwerklich stabile und farbige Musik von Gordon Getty bekommen hat, dem wird – ebenfalls bei Pentatone (PTC 5186 480) – mit The Little Match Girl geholfen, hinter dem sich Andersens Mädchen mit den Schwefelhölzern verbirgt. Das „Mädchen“ ist eine von vier Szenen Gettys, die das Münchner Rundfunkorchester und der Chor des Bayerischen Rundfunks Ende 2013 und Anfang 2014 unter Asher Fisch und Ulf Schirmer aufgenommen haben. Wieder dabei: Lester Lynch (der unter Schirmer in 2011 in Bregenz den Gérard gesungen hatte). Dazu Nikolai Schukoff und Melody Moore. 2011 hatten sich alle Mitwirkenden bei der Shakespeare-Oper Plump Jack schon einmal in den Dienst von Getty gestellt.

Wie William Butler Yeats’ A Prayer for my Daughter ist das Mädchen mit Schwefelhölzern (in der engl. Übersetzung von H.B. Paull) – mit knapp 24 Minuten die umfangreichste der vier Kompositionen –  eine wörtliche Vertonung des Textes für Chor und Orchester. Beide Male zeigt sich Gettys Gespür für Naturschilderungen (der Sturm zu Beginn von Yeats: „Once more the storm is howling“ peitscht ungemein) und dichte Bilder, vor allem in Andersens Märchen illustriert er die Winterkälte, die Flamme, den Stern („Then she saw a star fall, leaving behind it a bright streak of fire“) durch eine sprechende Instrumentation, die anzurühren vermag. Zu Poor Peter für Tenor, Chor und Orchestereiner Geschichte aus dem Mittelalter im Umfeld von Robin Hood und der Minnesänger, sowie zu Joan and the Bells für Sopran, Bariton, Chor und Orchester hat Getty die Texte selbst verfasst. Mit ausdrucksvollem Tenor singt Schukoff den Zyklus Poor Peter, Melody Moore und Lester Lynch erwecken die von Schirmer dirigierte Johanna von Orleans-Story zum Leben, bei deren „Dramatisierung“ sich Getty durch Shaw und Anouilh inspirieren ließ; die ersten drei Szenen werden von Fisch dirigiert. Rolf Fath

Cabaletta wie bei der Uraufführung

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Eine neue CD des österreichischen Baritons Rafael Fingerlos verheißt immer etwas Besonderes, etwas, was so nur er zu bieten hat. Mal war es der in Vergessenheit geratene Komponist Robert Fürstenthal, der 1920 in Wien geboren wurde, vor den Nationalsozialisten fliehen musste und sich in den USA als Wirtschafsprüfer durchschlug. („Stille und Nacht“, Oehms). Dann wieder überraschte er mit einem Lied von Alma Mahler auf seiner CD „Fremde Heimat“, die ebenfalls bei Oehms erschien. Eine ganze CD widmete er dem Liedschaffen von Max Bruch (cpo). In Booklets gibt er freimütig Einblicke in seine Gefühls- und Erlebniswelt, weil er seine Interpretationen mit eigenen Erfahrungen anreichern möchte. Schließlich überraschte das Publikum auch schon mal mit einem Vortrag in der Mundart seiner Heimat. Die jüngste Neuerscheinung bietet unter dem Titel „Mozart Made in Salzburg ausschließlich Kompositionen des berühmtesten Sohnes dieser Stadt. Sie ist bei Solo Musica erschienen (SM 377). Das Mozarteumorchester Salzburg wird von Leopold Hager geleitet.

Es empfiehlt sich, die originale Schutzfolie nicht vorschnell zu entfernen, damit der runde Aufkleber nicht verloren geht. Sein Text: „Weltersteinspielung der gesamten Wiener Fassung von 1789, Vedrò, mentrete io sodpirto‘.“ Die Cabaletta „Ah no, lasciarti in pace“ dieser Arie des Grafen aus dem dritten Akt von Le nozze di Figaro trägt Fingerlos in der Fassung vor, die Mozart für den Sänger der Wiener Uraufführung, Stefano Mandini, komponierte. Wie Fingerlos in seinem wieder sehr individuell gehaltenen Booklet-Text vermerkt, habe er „mit der so selten aufgeführten und extrem mozartisch-wagehalsigen und vierzehn hohe Gs umfassenden Cabaletta“ sogar einen lebenslangen Mozart-Kenner wie Hager überraschen können. Plötzlich kämen einem die fünf hohen Gs aus Rossinis Barbier-Auftrittsarie „Largo al factotum“ wie „ein Spaziergang vor“. Recht hat er. Doch auf mich als Hörer stellte sich diese Herausforderung als reinstes Vergnügen dar – weil sie leicht und ohne hörbare stimmliche Anstrengung gelingt. Als müsste es so und nicht anders sein. Leopold Hager riet den Sänger, auch Leporello und Figaro zu singen: „Das passt zu Ihnen als Typ – und als Conte, Guglielmo oder Giovanni kennt man Sie und ihre Stimme ohnehin von der Bühne“, wird er im Booklet zitiert. Und so sind denn auch die so genannte Registerarie – von Fingerlos regerecht aus dem Ärmel geschüttelt – sowie mit „Se vuol ballare Signor Contino“ und „Non più andrai, farfallone amoroso“ gleich zwei Figaro-Arien im Angebot. Es wäre hilfreich gewesen, in den Tracklisten auch die Rollenzuweisungen vorzunehmen. Wer die italienischen Texte und die Musik nicht genau im Kopf hat tappt etwas im Dunkeln.

Die Programmfolge der CD ist äußerst abwechslungsreich und wird zwischen den Arien mit Liedern wie Warnung und An Chloe aufgelockert. Mit knapp siebzig Minuten ist die Kapazität nicht voll ausgereizt, was aber nicht ins Gewicht fällt. Es gibt zudem Arien aus dem bereits erwähnten Cosi und aus der Zauberflöte die beiden Papageno-Glanznummern „Der Vogelfänger bin ich ja“ und „Ein Mädchen oder Weibchen“. Beglückende Trouvaillen seien für ihn als Sänger die so selten aufgeführte Arie des Allazim aus Zaide „Nur mutig mein Herz“ oder die charmante kleine Konzertarie „Un bacio di mano“ gewesen, die für Fingerlos „das ehrliche Gegenstück“ zur Giovanni-Cavatine „Deh vieni alla finestra“ darstelle, die auf der CD ebenfalls zu hören ist. Und die Zaide-Nummer? Die habe ihn in Form und Koloratur-Virtuosität fast an die Konstanze-Arie aus der Entführung aus dem Serail oder an Händelsche Bravourwerke erinnert. Genau hingehört, scheint dieser Vergleich nicht übertrieben. Das letzte Wort soll Rafael Fingerlos haben. Es handelt sich im das Postskriptum seines Booklet-Textes: „Wenn ich ein Problem habe und dann Mozart höre, denke ich mir oft: Es ist alles halb so schlimm. Vielleicht – oder hoffentlich – ergeht es Ihnen ähnlich!“ Rüdiger Winter

„Selige Öde auf wonniger Höh‘!“

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Meine erste Begegnung mit der Musik Richard Wagners verdanke ich dem Rheingold. Rudolf Kempe hatte 1959 für die Electrola in der Berliner Grunewaldkirche eine Szenenfolge dirigiert. Schon in Stereo. Die Sänger kamen aus dem Westen, das Orchester – die Staatskapelle Berlin – aus dem Osten der Stadt, die damals noch nicht durch die Mauer getrennt war. Aus Dresden stammend und in westlichen Musikmetropolen zu internationalem Ruhm gelangt, verkörperte der Dirigent beide Seiten Deutschlands und deren Zusammenhalt durch die Musik. Folglich wurde die Langspielplatte auch in beiden Landesteilen veröffentlicht, die Ost-Ausgabe zunächst nur in Mono und mit eigener Aufmachung bei Eterna. Soviel Unterschied musste sein. Rheingold. Der Titel hatte auf den Jüngling (mich) eine magische Anziehungskraft. Darunter vorstellen konnte er sich wenig. Einschlägige Bücher, die Aufklärung hätten schaffen können, waren im Elternhaus auf dem Lande in Thüringen oder in der bescheidenen Rathaus-Bücherei nicht vorrätig. Dafür ein Plattenspieler. Die Wellen brachen sich auch aus dem schlichten Lausprecher Bahn.

Erst nach Jahren wurde mir bewusst, dass das Vorspiel später einsetzte als im Original. Kein tiefes Es, aus dem die musikalischen Themen auf einzigartige Weise erst entstehen. Sie sind schon da. Bei mir reichte das, um für das Leben von dieser Musik regelrecht infiziert worden zu sein. Die einzelnen Szenen waren ohne Pause geschickt miteinander verbunden, so dass sie sich wie aus einem Guss anhörten. Noch heute habe ich diese Abfolge im Kopf und muss mir jedes Mal vergegenwärtigen, dass sich Erdas Warnung nicht nahtlos an Alberichs Fluch anschließt. So tief sitzt der frühe Eindruck.

Bald wusste ich es besser. Das Libretto war auch in der DDR aufzutreiben, für Pfennige in einem Antiquariat im nahegelegenen Jena. Dieses Reclam-Heft habe ich heute noch. Um mir die Texte einzuprägen, hätte ich es allerdings nicht gebraucht. Wagners Ring-Sprache lernt sich leicht. Zumal dann, wenn die Sänger so deutlich singen wie auf meiner Schallplatte, die inzwischen auch mehrfach als CD und in astreinem Stereo aufgelegt wurde. Jedes Wort ist zu verstehen. Keine Silbe wird verschluckt. Nichts geht unter im Orchester. Aus dieser Genauigkeit erwächst das inhaltliche und musikalische Verständnis in seinen Grundzügen ganz von allein. Wenngleich sich der Vortragstil über die Jahrzehnte verändert hat, die Notwendigkeit der inhaltlichen Verständlichkeit ist geblieben. Ich war „verdorben“. So perfekt sollte ich Wagner nur noch selten hören.

Mir gingen diese Dinge durch den Kopf, als ich mich in den Leitfaden zu Wagners Ring von Wolfgang Kau vertiefte, der bei Königshausen & Neumann erschienen ist. Für jeden Teil ein handliches Taschenbuch von 138 bis 172 Seiten: Das Rheingold (ISBN 978-3-8260-7657-2), Die Walküre (978-3-8260-7658-9), Siegfried (978-3-8260-7658-6), Götterdämmerung (978-3-8260-7660-2). Auf Fotos im Inneren der sparsam aber übersichtlich ausgestatten Bücher wurde verzichtet. Bühnenbilder auf der Rückseite der broschierten Bände – passend zu den jeweiligen Teilen – lassen gewisse Schlüsse auf den Ansatz des Autors, über den der Verlag keine Angaben macht, zu. Für Rheingold und Walküre gibt es Entwürfe zu den Schlussszenen von Helmut Jürgens für Aufführungen 1952 in München. Dabei handelte es sich um Neuinszenierungen des Regisseurs Heinz Arnold im Prinzregententheater, die musikalisch von Georg Solti geleitet wurde, jenem Dirigenten, der bei Decca alsbald die berühmteste aller Ring-Einspielungen vorlegen würde (und dessen Ring-Einspielung nach und nach gerade wieder in absolut exzellenter Qualität neu herausgegeben wird – ein Meilenstein in jeder Hinsicht!). Siegfried erschaut sein Antlitz im Wasser auf einer Illustration des Engländers Arthur Rackham von 1911. Für den Götterdämmerung-Band wurde mit dem brennenden Walhall wieder ein Bühnenbild gewählt. Der Entwurf dazu stammt von Max Brückner, den schon an der Ausstattung der ersten geschlossenen Ring-Aufführung zur Eröffnung des Bayreuther Festspielhauses 1876 beteiligt gewesen ist. In allen vier Fällen dürfe es dem eingeweihten Betrachter nicht schwer fallen, den Darstellungen das richtige Werk zuzuordnen. Heute wäre das weniger einfach – bis unmöglich. Die Götterburg Walhall kommt auch stilistisch angedeutet kaum mehr vor. Siegfried trug – wie zuletzt an der Berliner Staatsoper – Jogginghose und Brünnhilde lag zuletzt in Bayreuth am Ende im Abendkleid mit dem toten Siegfried in einem leeren Wasserbecken aus Beton.

Wagner Denkmal Berliner Tiergarten, 1901, von Gustav Eberlein Wikipedia/ Foto Wolfgang Perlemann

Kau will offenkundig zurück zu den Quellen: „Der Ring fasziniert. Doch was passiert an den vier Abenden auf der Bühne? Und warum? Dieser Leitfaden führt Zeile für Zeile durch den Originaltext der Orchesterpartitur und erläutert auf unterhaltsame Weise das Bühnengeschehen.“ Leser bekommen dieses gleichlautende Versprechen schriftlich zu den Grafiken auf den hinteren Umschlagseiten. Auch das Vorwort wiederholt sich, weil die Teile mit ihren eigenen ISBN-Nummern auch einzeln erworben werden können. Der Autor weiß um das weitverbreitete Unverständnis für den Text, während die Musik „enthusiastisch verehrt“ werde. Die „Unlust am Text“ habe Gründe. „Der gewundene Satzbau, der artifizielle Zeilenumbruch und eigenwillige Wortschöpfungen stören den Lesefluss und schrecken ab“, so der Autor. Was den Umbruch anbelangt, wird bei Kau meist aus zwei Zeilen eine. Das liest sich in der Tat besser und spart zudem Papier.

Die einzelnen Bände wären ohne diesen Eingriff in die Textstruktur fast doppelt so dick. Und Stabreime – Alliterationen – die auf das germanische Versmaß zurückgehen, sind dadurch zumindest optisch weniger auffällig. Gleiche Anfangslaute sollen die am stärksten betonten Wörter eines Verses herausheben. Dieses Verfahren betrifft aber nicht den gesamten Textbestand. Nur gelesen, dazu noch laut, ist diese Dichtung auch bei nun verändertem Zeilenumbruch für heutige Ohren nur schwer erträglich. Kein Wunder, dass Kritiker damit den Dichter Wagner gern vorführen. Eines der grellsten Beispiele liefert Alberich, wenn er im Wasser erfolglos den Rheintöchtern nachstellt: „Garstig glatter glitschiger Glimmer! Wie gleit‘ ich aus! Mit Händen und Füßen nicht fasse noch halt‘ ich das schlecke Geschlüpfer! Feuchtes Nass füllt mir die Nase: verfluchtes Niesen!“ Wer Wagners Verse verteidigt, bekommt zuerst dieses Zitat um die Ohren gehauen. Welche Wirkung Wagner damit vorgeschwebt haben dürfte, lässt sich auf meiner alten Schallplatte erkunden. Dort singt Benno Kusche den Alberich. Singt ihn so, dass sich an der bewussten Stelle durch Worte und Noten genau das dargestellt findet, was Menschen, die tauchen können oder in trüben Flüssen erste Schwimmversuche unternommen haben, erlebten. Dieses unsichere Tasten an moosbewachsenen Steinen. Nirgends gibt es einen festen Halt. Mit Händen nicht und nicht mit Füßen. Man ist wie in einem Schwebezustand.

Nicht vorher und nicht nachher wurde Musik auf solche Verse komponiert. Diese Plastizität ist einzigartig, wenn sie denn durch Sänger dargestellt werden kann. Als Kronzeugen für den Dichter Wagner ruft Kau den Musik- und Literaturkritiker Joachim Kaiser auf. Der spricht von einem „klugen, tiefsinnigen, bewusst das Strabreim-Schema einsetzenden Text, der höchsten Respekt verdient und nicht den Spott derjenigen, die in Opern keineswegs nachdenken wollen“. Wer ihn nicht genau gelesen und sozusagen Wort für Wort begriffen habe, der werde in den Aufführungen das tun, was nur die Rheintöchter dürften – schwimmen. Bleibend belohnt werde, wer sich dem Text vorurteilsfrei nähere, findet Wolfgang Kau. Denn das Textdrama sei so vielsichtig wie die Musik. „Und die Musik hört mit anderen Ohren, wer den Text kennt und versteht.“ Damit kommt er auf den Punkt – auf seinen Punkt. In Debatten um aktuelle Inszenierungen lässt er sich nicht ein. Opernbesucher von heute dürfte aber die Erfahrung gemacht haben, dass auch neue Deutungen – und seien sie noch so ungewöhnlich – umso genauer zu erleben sind, wenn man weiß, was im Libretto steht. Insofern kann dieser Leitfaden auch eine aktuelle Bedeutung für sich beanspruchen.

Illustration auf der Rückseite des „Götterdämmerung“-Bandes: Walhall in Flammen. Den Bühnenbildentwurf von Max Brückner für die Uraufführung 1876 in Bayreuth. /Wikipedia

Wagner greift im Ring auch tief in die Kiste des altdeutschen Wortschatzes. Es tauchen Begriffe auf, die nicht mehr gebräuchlich und deshalb oft nicht mehr allgemein verständlich sind. Ob „Friedel“ für Lebenspartner, „Neidinge“ für Menschen, die schimpfliche Handlungen begehen, „kiesen“ für erwählen, „Gauch“ für Narr, Tor und Dummkopf – die Liste ist lang. „Gegrüßt ihr Reisige“, rufen Helmwige, Ortlinde und Siegrune ihren auf dem Walküren-Felsen eintreffenden Schwestern zu, was so viel bedeutet wie berittene Kriegsknechte. Siegmunds „Harst“ erklärt Kau in einer Fußnote mit Streit bzw. Kampf, während etliche andere Ausdrücke nicht explizit in heutiges Verständnis übertragen werden. Lesern bleibt also genug Gelegenheit, eigene etymologische Studien zu betreiben. Szene für Szene arbeitet sich der Autor durch das gewaltige Werk. Auf einzelne Text-Passagen folgen umfassende Erläuterungen, in denen auch inhaltliche Widersprüche aufgedeckt werden. Immer wieder kommen Reaktionen von Handelnden auf den Prüfstand. Was bedeuten sie im Einzelnen? Was steckt hinter einer bestimmten Bemerkung? Wie ist eine ganz konkrete Geste zu verstehen? Mit „Selige Öde auf wonniger Höh‘!“ lässt sich Siegfried zu Beginn der dritten Szene in dem nach ihm benannten Werk vernehmen. Umgehend hat Kau den Hinweis auf den Roseg-Gletscher an der Nordseite der Bernina-Gruppe im Kanton Graubünden parat, der Wagner als landschaftliches Vorbild gedient haben soll. Fußnoten verfolgen nicht nur derlei erklärende Absichten. Sie lenken zudem auf Sekundärliteratur, die im Anhang kompakt aufgelistet wird und stellen durch konkrete Verweise Zusammenhänge innerhalb des Gesamtwerkes her, was sich als unabdingbar erweist. Kau versetzt sich auch gern in die Figuren hinein, um besser zu verstehen, was sie warum im jeweiligen Moment tun – oder unterlassen. Besonders spannend liest sich das tiefgründige Psychogramm von Hagen in der Götterdämmerung.

Wagners „Rheingold“ 1876: Minna Lammert/Flosshilde, Lilli Lehmann/Woglinde, Marie Lehmann/Wellgunde/ Zeno.org

Rätselhaft bleibt der Verzicht auf die Personenverzeichnisse aus der originalen Partitur, auf die sich Kau ja bezieht. Im Text werden zwar alle Mitwirkenden genau beschrieben und charakterisiert, nicht aber zu Beginn des jeweiligen Teils einzeln in Rolle und Funktion vorgestellt. In dem 2009 bei Reclam erschienen Textbuch mit Varianten der Partitur hatte der Wagner-Forscher Egon Voss diese Listen um eben direkte Hinweise aus der Partitur ergänzt, die sich auf die Stimmlage beziehen. Auffällig dabei ist, dass beispielsweise im Rheingold Wotan, Donner, Alberich und Fasolt übereinstimmend als „hoher Bass“ geführt werden. Bariton als Stimmlage verwendete Wagner nicht. War das für Kau deshalb unwichtig, weil sein Leitfaden sängerische Belange außen vor lässt? Ungeklärt bleibt auch eine Textstelle, über die ich mir Aufschluss versprach. Kau lässt Brünnhilde in ihrem Schlussgesang „der Eide ewige Hüter“, womit die Götter gemeint sind, anrufen. „Heilige Hüter“ sind es bei Voss, während die im Leitfaden gewählte Form nur als Fußnote auftaucht. Wagner selbst soll nach der Komposition immer mal wieder in seine Textvorlagen eingegriffen haben. Offenbar ist auch besagte Stelle so ein Vorgang. In den Aufnahmen und Mitschnitten, die ich kenne, sind die Hüter ewig. Nur Berit Lindholm singt am 8. April 1969 in einem von Leopold Stokowski in der New Yorker Carnegie Hall geleiteten Konzert „heilige Hüter“ an. Rüdiger Winter

Foto oben: Ritt der Walküren auf einem Gemälde des italienischen Malers Cesare Viazzi (1857-1943). Foto/Wikipedia

Entdeckt unter Büchern

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Mit der Engelbert-Humperdinck-Biographie von Matthias Corvin, die 2021 bei Schott erschien, fand sich Der Blaue Vogel bereits angekündigt. „In Planung“, hieß es in der Diskographie am Ende des Buches an der entsprechenden Stelle. Nun ist die Aufnahme bei Capriccio erschienen (C5506). Bevor Steffen Tast mit dem Rundfunkchor und dem Rundfunk-Sinfonieorchester im RBB-Saal 1 an die Einspielung ging, hatte er die Schauspielmusik bei einem Familien- und Schülerkonzert in Berlin in ihrer Wirkung auf das Publikum getestet. Tast, der in der Gruppe der 1. Violinen des Orchesters spielt, betätigt sich nebenbei als Dirigent und leitet auch Kammerkonzerte. Für Humperdinck und dessen bildhafte Tonsprache hat er ein feines Gespür. Er versteht und interpretiert ihn durch und durch als Spätromantiker. Kinder spielen – wie so oft bei Humperdinck – die Hauptrollen. Der so genannte tänzerische Sternenreigen prägt sich schon beim ersten Hören ein. Nur dieses Stück schaffte es bislang gemeinsam mit der Ouvertüre bei Virgin Classics auf CD, gespielt von den Bamberger Symphonikern unter Karl Anton Rickenbacher.

Die Schauspielmusik umrahmt Maurice Maeterlincks symbolistisches Märchendrama selbigen Namens. Das Sprechstück selbst war erstmals 1908 in Moskau gegeben worden. Max Reinhardt wollte es mit Humperdincks Komposition in deutscher Übersetzung ursprünglich schon 1910 in Berlin auf die Bühnen bringen, was sich aber wieder zerschlug. So fand die Erstaufführung in dieser Form 1911 am Deutschen Volkstheater in Wien statt. Im selben Jahr hatte Maeterlinck den Literaturnobelpreis bekommen, wodurch seine Berühmtheit enorm wuchs. Nun trat auch Reinhardt wieder auf den Plan und brachte seine Inszenierung zu Weihnachten 1912 heraus. Sie wurde ein großer Erfolg.

Der zurückhaltende Umgang der Musikindustrie mit dem Blauen Vogel hat einen handfesten Grund. Wie aus der eingangs erwähnten Biographie und dem Booklet-Text von Steffen Georgi zu erfahren ist, gab es zwischen den Verlagen des Dichters und des Komponisten einen Rechtestreit. Humperdinck wollte durchsetzen, dass Maeterlincks Drama fortan nur mit seiner Musik gespielt werden dürfe, was nicht gelang. So blieb die die Musik ungedruckt liegen und geriet schließlich in Vergessenheit. Erst 1942 wurden die beiden Nummern, die Rickenbacher für seine Einspielung wählte, als Partitur gedruckt. Steffen Tast hat die kompletten Noten laut Booklet in einer namentlich nicht genannten Bibliothek „gefunden und mit Hilfe der Deutschlandfunks für die die CD-Aufnahme wiederbelebt“. Es hat sich gelohnt.

Für die Einspielung haben der Schauspieler Juri Tetzlaff und der Dirigent eine eigene Textfassung erarbeitet, die sich im Booklet findet. Die Geschichte wird nicht gespielt wie bei Maeterlinck sondern erzählt. Dadurch gerät die Komposition in den Mittelpunkt – als Schauspielmusik ohne Schauspiel. „Wir machen uns auf die Suche nach einem magischen Vogel“, hebt der Erzähler an noch bevor der erste Ton des Vorspiels erklingt. Jeder sei ihm schon mal begegnet, aber niemand wisse, wo er lebe. Jeder wolle ihn haben, aber niemand könne ihn besitzen. Er komme und er gehe, sei wunderschön, lebendig und freundlich. Er mache traurige Menschen froh und kranke wieder gesund. „Taucht mit uns ein in die Welt des Blauen Vogels!“ Tetzlaff ist eine gute Wahl. Er stammt aus einer musikalischen Familie, hat als Schauspieler und Moderator Kinderfernsehen gemacht. Er weiß, wie man Jung – und Alt – anspricht und für sich einnimmt. Tetzlaff erzählt die Geschichte so, als trage sie sich gerade zu. Nur mit der Sprache verwandelt er sich in die unterschiedlichsten Figuren und Gegenstände. Sogar Tiere, einen Brotlaib und die dunkle Nacht bringt er zum Sprechen. Es ist das reinste Vergnügen, ihm zuzuhören.

Mytyl und Tyltyl, Tochter und Sohn eines armen Holzfällers haben einen traurigen Weihnachtsabend hinter sich. Die Großeltern sind gestorben, das Geld reichte nur für ein karges Mahl. In der Nacht wachen die Kinder auf, öffnen das Fenster ihrer Kammer und hören aus der Ferne einen schönen Gesang: „O du fröhliche, o du selige gnadenbringende Weihnachtszeit … Christ ist erschienen, uns zu versühnen.“ Plötzlich erscheint eine alte Fee, die die Kinder vage an die Nachbarin erinnert, in der Stube und bitte die Kinder um Hilfe. Ihre Tochter sei schwer krank. Nur der Blaue Vogel könne sie retten. Die Alte zückt einen Zauberhut, mit dem sie sich in eine wunderschöne Fee verwandelt. Alles ringsumher verändert sich mit ihr. Katze und Hund können reden. In der Küche gibt es Brot satt. Im Reich der Erinnerung erwachen auch die Großeltern wieder zum Leben. Mytyl und Tyltyl müssen viele Abenteuer und Prüfungen bestehen, sich sogar vor den Seelen der Bäume dafür verantworten, dass ihr Vater sie gefällt hat. So geht es fort. Den Vogel aber finden sie nicht. Nach einem Jahr kehren sie zu den Eltern zurück, um festzustellen, dass lediglich eine einzige Nacht vergangen ist – sie alles nur geträumt haben. Am Ende entdecken sie in dem Vogel, den der Knabe schon lange bei sich hat, den gesuchten Blauen Vogel und bringen ihn zum kranken Nachbarskind. Als es wieder gesund ist, fliegt der Vogel davon.

Humperdinck hat für einzelnen Stationen und Situationen prägnante Musik gefunden. Der Klang ist üppig, glanzvoll und verschwenderisch, pointiert, geheimnisvoll und naiv zugleich. Ein Motiv jagt das andere. Wieder erweist er sich als Meister der Instrumentation. Als er sein Werk 1910 vollendete, war die Aufregung um Salome und Elektra fast verflogen. Zwischen beiden Komponisten lagen die Welten ihrer Zeit. Während bei Strauss im Schein des Mondes über Galiläa eine Kindfrau nach dem Kopf des Jochanaan verlangt, dürfen sich Humperdincks Kinder des Nachts von tanzenden Sternen verzaubern lassen. Es wird offenbar, wie kühn der nur zehn Jahre jüngere Strauss eine Tür in die Moderne aufgerissen hatte, um sie danach wieder anzulehnen. In der Frau ohne Schatten, die 1917 entstand, meint man dann, gewisse Ähnlichkeiten zwischen beiden Komponisten wahrzunehmen. Mehr noch. Im Blauen Vogel scheinen auch musikalische Stimmungen auf, wie sie Mahler 1902 im Adagietto seiner 5. Sinfonie entwarf. Und wenn Tiere von Humperdinck mit Noten charakterisiert werden, muss man unweigerlich an Prokofjews Peter und der Wolf denken, der zu ähnlichen Lösungen kommt. Die Neuerscheinung, die auf der zweiten CD um Sieben symphonische Bilder aus der Schauspielmusik zu Der Blaue Vogel ergänzt wird, regt zu den unterschiedlichen Betrachtungen an. Auf jeden Fall beleuchtet sie die Stellung des noch immer unterschätzen und zu stark auf seine Oper Hänsel und Gretel reduzierten Engelbert Humperdinck in seiner Zeit wie kaum eine andere Wiederentdeckung. Rüdiger Winter

„Und jetzo bist du elend“

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„Und jetzo bist du elend.“ Ian Bostridge hat für seine neue Aufnahme des Schwanengesang von Franz Schubert sein Äußeres wieder inhaltlichen Botschaften und Stimmungen angepasst. Sie ist bei Pentatone erschienen (PTC 5186 786). Diesem eigenwilligen ästhetischen Konzept ist er schon bei der Winterreise und der Schönen Müllerin gefolgt. Der smarte Tenor, auch in seiner äußeren Erscheinung durch und durch Engländer, scheint sich in der digitalen Verwandlung zu gefallen. Er scheut sich nicht, alt, verfallen und regelrecht ausgemergelt auszusehen. Als sei er jetzo elend. Die nach heutigem Verständnis altertümliche Bezeichnung für unmittelbarste Gegenwart, nämlich das Jetzt, findet sich im Lied Der Atlas, gedichtet von Heinrich Heine. Es ist dem Buch der Lieder entnommen, wo es keine Überschrift hat. Schubert vertonte die Verse eins zu eins.  Atlas gilt als eine seiner bedeutendsten Schöpfungen. Im Schwanengesang, der erst nach Schubert Tod diesen Titel bekam, steht es an achter Stelle und hebt sich gewaltig aus seinem musikalischen Umfeld empor wie der namensgebende Titan in der griechischen Mythologie. Der begleitende Pianist Lars Vogt schlägt entsprechende hämmernde Töne aus seinem Instrument. Schöngesang ist von Bostridge nicht zu erwarten. Seine Stimme ist noch charaktervoller und individueller geworden. Der Beginn gerät sprachlich unbestimmt. Es hört sich nach „unglücklichsel’ger Atlas“ an. „Unglücksel’ger Atlas“ wäre richtig gewesen und hätte entsprechend korrigiert werden können bei der Aufnahme. Einen hohen Wiedererkennungswert besitzt die Stimme nach wie vor. Lyrische Lieder wie Ständchen, Die Stadt oder Am Meer gelingen besser. Dramatische Passage enden hier und da in Sprechgesang. Im Abschied findet sich der Sänger gemeinsam mit seinem Begleite in das federnde, nach vorn drängende Tempo. Fast zum Stillstand kommt der gemeinsame Vortrag im Doppelgänger, was seine Wirkung nicht verfehlt.

Ergänzt wird der Schwanengesang mit Einsamkeit, einer Art Liederkantate in sechs Teilen, die 1818 entstand und im Deutschverzeichnis die Nummer 620 führt. Vom selben Jahr an bewohnten der Textdichter Johann Mayrhofer und der Komponist ein gemeinsames Zimmer in Wien. Die schwermütigen Verse – Mayerhofer stürzte sich 1836 aus einem Fenster und starb – vermag der Sänger am besten auszugestalten. Wohl auch deshalb, weil er sie ernst nimmt und sich in sie hineinzuversetzen vermag. Die Spannung – woran auch der Begleiter seinen beträchtlichen Anteil hat – lässt über die mehr als achtzehn Minuten nie nach. Es kann allerdings nicht verkehrt sein, den Text im Booklet mitzulesen. Nicht alles ist bei Bostridge zu verstehen.

Die Einspielung, die im November 2021 in der Londoner Wigmore Hall entstand, darf auch als Vermächtnis des deutschen Pianisten Lars Vogt verstanden werden. Er starb mit einundfünfzig Jahren am 5. September 2022 nach schwerer Krankheit. Am 24. September 2021 hatten Bostridge und Vogt das CD-Programm in London auch live gegeben. Die selten zu hörende Einsamkeit war dabei als Interludium in den Schwanengesang eingefügt worden. Rüdiger Winter

Ein anderes Abendrot

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Im Abendrot. Drei Namen prangen auf dem Cover der Neuerscheinung von Bayer Records: Wilhelm Furtwängler, Anton Beer-Walbrunn und Josua Benjamin Carnap (BR 100 411/412). Bei Furtwängler denkt man reflexartig an den Dirigenten mit seiner epochalen Bedeutung. Doch Beer-Walbrunn und Carnap? Haben die auch dirigiert? Wohl kaum. Was ist es dann, was die drei verbindet? Sie komponierten. Der 1886 geborene Furtwängler war der Jüngste. Zunächst von Mutter und Tante im Klavierspiel unterrichtet, kam er als Elfjähriger in die Hände von Beer-Walbrunn (1864-1929), der nach seiner Lehrerausbildung ein Studium an der Musikakademie München bei Josef Gabriel Rheinberger begonnen hatte, das er 1891 mit einem Ehrenpreis für Komposition erfolgreich abschloss. Carnap (1867-1914) stammte aus einer Wuppertaler Fabrik, die verschiedene Bänder herstellte. Er absolvierte eine Ausbildung im Unternehmen des Vaters und siedelte nach dessen Tod mit seinem Erbe, das ihn unabhängig machte, nach München über. Dort widmete er sich ganz seiner inneren Berufung, der Musik. In Beer-Walbrunn fand er einen engen Freund. Obwohl er sich schon in seiner Heimatstadt auch musikalisch betätigte, in einem Streichquartett mitgespielt und ehrenamtlich Gesangsvereine geleitet hatte, nahm er mit 38 Jahren bei dem fast gleichaltrigen Beer-Walbrunn ein Kompositionsstudium auf. 1914 wurde er kurz nach Beginn des Ersten Weltkrieges als Hauptmann und Kompanieführer an der Ostfront in Galizien eingesetzt, wo er noch im selben Jahr an einer schweren Verwundung starb. Weitere biographische Einzeiheiten finden sich im Text des Booklets von Martin Valeske nicht hervor.

Das Lied Im Abendrot, das der Edition ihren Namen gibt, komponierte Carnap nach einem Text von Joseph von Eichendorff. Als Teil eines Zyklus erschien es 1913 im Druck. Es sollten mehr als dreißig Jahre vergehen, bis Richard Strauss mit demselben Gedicht sein musikalisches Schaffen ausklingen ließ. Obwohl zuerst vertont, steht es am Ende der „Vier letzten Lieder“: „O weiter stiller Friede! / So tief im Abendrot, / Wie sind wir wandermüde – / Ist das etwa der Tod?“ So schön wie bei Strauss stirbt es sich bei Carnap nicht. Würde es eine Orchesterfassung geben, wäre der Eindruck gewiss noch eine ganz anderer. Carnap hat eine sehr eingängige und schlichte Melodie erfunden, die zu ähnlichen Wirkungen gelangt wie bei Strauss. Der Tod als Versöhner. Nicht als das unausweichliche Ende, dem nichts mehr folgt, sondern als der Eintritt in eine neue, überirdische Existenz. Obwohl Eichendorff nach Goethe und Heine als einer der am häufigsten vertonten Dichter in der Liederliteratur ist, für sein Abendrot finden sich in der einzigartigen Online-Datenbank LiederNet neben Strauss nur vier Komponisten, die es in Noten setzten: Heinrich von Herzogenberg (1843-1900), Ernst Pepping (1901-1981), Karl Rausch (1880-1951) und Hermann Zilcher (1881-1948). Josua Benjamin Carnap ist noch gar nicht berücksichtigt, was sich jetzt ändern dürfte, denn die Datensätze werden regelmäßig aktualisiert. Und er ist neben Strauss der einzige, dessen Komposition auch zugänglich ist.

Wie die gesamte Lyrik Eichendorffs haben auch diese Verse den musikalischen Fluss schon in sich. Als klinge es aus den Worten – noch bevor ihnen Töne unterlegt wurden. Entsprechend seiner Bedeutung ist lediglich Eichendorff als Textdichter auf dem Cover der Box namentlich genannt, obwohl nur sieben von insgesamt 31 eingespielten Liedern auf ihn zurückgehen. Beer-Walbrunn ist mit drei Titeln vertreten: Trost, Der brave Schiffer und Der Glücksritter. Er pflegt einen effektvollen Stil und bringt in seine Kompositionen auch theatralische Momente ein, die ihre Wirkung nicht verfehlen. Kein Wunder, dass sich auch Furtwängler bei Eichendorff bediente. Er litt sein Leben lang daran, dass er vornehmlich oder fast ausschließlich als Dirigent wahrgenommen wurde. Seine eigentliche Berufung sah er als Komponist. „Ich will komponieren und eigentlich nichts als komponieren. Dass meine Produktion nicht Ausfluss irgendeines Spieltriebs oder einer Eitelkeit, auch nicht irgendeiner Selbsteinbildung, sondern für mich die ernsthafte und entscheidendste Sache im Leben sei, ist mir seit langem klar. Meine Dirigentenkarriere ist ernsthafter Erwähnung nicht wert. In Wirklichkeit war das Dirigieren das Dach unter das ich mich im Leben geflüchtet habe, weil ich im Begriff war als Komponist zu Grunde zu gehen“, heißt es in einem Brief an den Archäologen Ludwig Curtius (zitiert nach Wikipedia). Furtwängler hinterließ ein sehr umfangreiches kompositorisches Werk, das noch wenig erschlossen ist. Darunter sind zahlreiche Lieder. Für die Edition wurde der Schatzgräber gewählt. Anders als Goethe lässt Eichendorff seinen umtriebigen Gesellen unter Steinen begraben. Furtwängler hat dafür ein unheimlich pochendes Motiv gefunden, das sich dem Zuhörer schnell einprägt. Eine gefällig anmutende Mitteilsamkeit wohnt den meisten dieser spätromantischen Gesänge inne. Doch die Moderne deutet sich schon an, ist allenthalben zu spüren – und zu hören. Besonders auffällig ist das bei Beer-Walbrunn, von dem die meisten Lieder stammen. Bayer Records hat ihm schon in der Vergangenheit große Aufmerksamkeit gewidmet. Mit der Neuerscheinung ist nunmehr sein Liedschaffen komplett auf CD dokumentiert. Wie der Komponist künstlerisch auch mit der Form rang, wird am Lied Hoffnung von 1891 deutlich, für das er selbst den Text verfasste. Mit siebeneinhalb Minuten sprengt es den in diesem Genre üblichen Rahmen.

Neben Eichendorff sind Textdichter vertreten, die in der Liedliteratur häufig anzutreffen sind, darunter Otto Julius Bierbaum (1865-1910, Detlev von Liliencron (1844-1909), Richard Dehmel (1863-1920), Ludwig Uhland (1787-1862) und Emanuel Geibel (1815-1984). Alle Gedichte finden sind im umfänglichen Booklet abgedruckt. Veränderungen, die während der Kompositionen auch der besseren Singbarkeit wegen vorgenommen wurden, sind akribisch dokumentiert. Die Sopranistin Angelika Huber bestreitet das ganze Album allein. Mit erstaunlicher Professionalität erfasst sie die unterschiedlichen Situationen und Stimmungen. Mitunter wünschte man sich etwas mehr Farbe in der Stimme. Begleitet wird sie von Mamikon Nakhapetov, der noch Klavierstücke von Beer-Walbrunn beisteuert. In einem umfangreichen Beitrag betätigt sich die Sängerin auch musikwissenschaftlich, indem sie alle Titel genau analysiert. Sie ist vor allem auf solche Liedkomponisten spezialisiert, deren Werke in Vergessenheit geraten sind. Mit ihrem Engagement will sie dieses Erbe zurückgewinnen.

Für zwei Komponistinnen, die den ihr zustehenden Platz in Konzertbetrieb und Musikindustrie auch noch nicht gefunden haben, setzt sich Bettina Pahn – Sopran wie ihre Kollegin Angelika Huber – ein. Gemeinsam mit der Pianistin Christine Schornsheim nahm sie Lieder von Clara Schumann und Fanny Hensel auf, die bei Hänssler Classic herausgekommen sind (HC20026). Beide Frauen haben zahlreiche Werke hinterlassen, die immer noch nicht vollständig erschlossen sind. Während Clara von ihrem Ehemann Robert zu eigenen Kompositionen angehaltenwurde, hatte Fanny, die Schwester von Felix Mendelssohn Bartholdy, in ihrer Familie mit eigenen künstlerischen Ambitionen nicht den leichtesten Stand. Mit der Auswahl hatten die Sängerin und ihre Pianistin eine glückliche Hand. Wer sich in die Neuerscheinung versenkt, wird sich nicht entscheiden können, welchem Lied der Vorzug zu geben ist, zumal unter den Textdichtern die ganz großen Namen sind – Heinrich Heine zum Beispiel, den beide Komponistinnen auch persönlich begegnet sind. Clara Schumann hat seine Loreley meisterlich vertont. Eingeleitet wird die CD mit dem innigen Ave Maria von Fanny Hensel nach einer Vorlage von Walter Scott. Dabei handelt es sich – wie aus dem Booklet hervorgeht – um eine der frühesten Kompositionen. Zwischendurch sind als willkommene Ergänzung Klaviersolostücke zu hören. Rüdiger Winter

Es geht weiter

SWR Classic setzt seine dem Dirigenten Hans Rosbaud gewidmete Reihe fort. Französische Musik steht in der neuesten 4-CD-Box im Mittelpunkt (SWR19115CD). Enthalten sind Werke von Claude Debussy, Maurice Ravel, Albert Roussel, Jacques Ibert, Darius Milhaud, Maurice Jarre, Olivier Messiaen, Arthur Honegger sowie Marcel Mihalovici in Rundfunkaufnahmen zwischen 1952 und 1962.

Christoph Schlürens höchst informativer Einleitungstext (auf Deutsch und Englisch) enthält eine Kurzbiographie Rosbauds, die mit manchem Klischee und Vorurteil aufräumt. Fraglos ist es Rosbauds Verdienst, das Südwestfunk-Orchester Baden-Baden während seiner Amtszeit (1948-1962) zum „führenden Klangkörper für Neue Musik“ ausgebaut zu haben. Gleichwohl wäre es verkürzt, ihn einzig zum nüchternen Repräsentanten der „neuen Sachlichkeit“ abzustempeln, war er doch vielmehr „ein musikalischer Universalist“, wie auch diese neue Kollektion mit ihrer großen stilistischen Bandbreite beweist, die vom letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts bis in die damalige Gegenwart um 1960 reicht.

So hat Hans Rosbaud ein Händchen für den Impressionismus Debussys, dem die erste Disc gewidmet ist, wo er mit Prélude à l’après-midi d’un faune, Nuages und Fêtes aus den Trois Nocturnes, dem Marche écossaise, der Berceuse héroïque, Jeux sowie La Mer (letzteres als Quasi-Sinfonie dargeboten) mannigfaltig vertreten ist. CD 2 widmet sich Ravels Alborada del gracioso und Ma mère l’Oye sowie Roussels Concert pour petit orchestre, der Suite en fa wie auch der Sinfonie Nr. 3. Rosbaud liegt sowohl die Heißblütigkeit der Alborada als auch die eigentlich unfranzösische Rauheit der dritten Roussel-Sinfonie. Die dritte Disc inkludiert die viersätzige sinfonische Suite Le Chevalier errant von Ibert, Milhauds L’Homme et son désir (in Instrumentalfassung ohne Chor), Jarres Concertino pour percussion et cordes sowie die an die Grenzen der Tonalität gehende Chronochromie von Messiaen. Kurios, den Namen von Maurice Jarre hier wiederzufinden, der sich vor allem als Filmkomponist einen Namen machte. Sein Werk nimmt vage Bezug auf Mozarts Arie Ein Männchen oder Weibchen aus der Zauberflöte. Die abschließende CD 4 umfasst Honeggers Symphonie Liturgique sowie Marcel Mihalovicis Sinfonia Partita und die Toccata (mit Monique Haas, der Ehefrau des Komponisten, am Klavier) in exemplarischer Darbietung. Der Klangkörper des Südwestfunks ist auch diesen technisch sehr anspruchsvollen Stücken gewachsen, was abermals die bedeutende Aufbauarbeit Rosbauds unterstreicht.

Wiewohl die Klangqualität durchgängig den natürlichen Beschränkungen von Mono unterworfen ist, gelang SWR Classic eine außerordentlich gelungene technische Aufbereitung der Tonbänder, was die Kollektion voll genießbar macht. Künstlerisch ist sie ohnedies über jeden Zweifel erhaben und leistet einen wichtigen neuen Beitrag zur Verbreitung der Kunst des großen Dirigenten Hans Rosbaud. Daniel Hauser

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Im Boxen gibt es Weltmeister und die verlässliche Methode, einen zu ermitteln, er muss alle anderen schlagen. Bei den Kapellmeistern, wiewohl auch sie schlagen, ist die Rangliste strittiger. Darauf wies auch Francis Poulenc hin, indem er 1954 (das Jahr, in dem der unsterbliche Linksausleger Rocky Marciano zweimal Ezzard Charles umhaute) einen falschen Titelhalter absetzte: „Musikfans glauben, dass der größte lebende Dirigent Arturo Toscanini sei. Musiker wissen, dass dies Hans Rosbaud ist.“ Wer? Der, dem die Schallplattenindustrie nur stocktaube Ohren zeigte.

Rosbaud (*1895, †1962) genoss seit jeher den soliden Ruf eines Anwalts der Moderne. Diese wiederum behauptete eisern, dass, nur wer sie verstünde, auch Bach, Haydn, Mozart etc. dirigieren könne, weil die schließlich auch mal modern gewesen seien. Ein Frankfurter Professor und Weltmeister der Soziologie hat dies schlagend bewiesen, worauf sein Publikum alles nachplapperte, schon um PG Karajan eins auszuwischen, der indes konterte, wie nur ein wahrer Champion es vermag: Als geleckter Beethovenprofanierer legte er eine richtig gute Schönberg-Berg-Werbern LP Box vor. Mit Hans Rosbaud teilte er eine unentbehrliche Eigenschaft, sie waren Österreicher, einer aus Graz, der andere aus Salzburg, zweieinhalb Autostunden auseinander, und aus diesem Bergland stammten auch Schönberg und die seinen. Wiewohl man Orchestermusikern unschwer ansieht, dass sie keineswegs schön finden, was sie an Atonalitäten aufführen (schauen Sie sich mal in ihrer Digital Concert Hall die Berliner Philharmoniker mit dem genialen Violinkonzert op. 36 an, da lächelt im heiteren Allegrosatz keiner außer Kyrill Petrenko) so kommt bei den zwei Maestri wundersam etwas anderes zur Geltung: wie österreichisch sie diese Kompositionen hören. Nein, schön sind sie nicht, handeln sie doch vom Verlust der Schönheit. Wer den entsetzlichen Untergang Habsburgs miterlebt hat, denkt dabei nicht an Frühlingsstimmenwalzer. Aber in der Trümmermusik der 2. Wiener Schule klingen die verlorenen Rondos und Andantes nach, es ist eine Klage am offenen Sarg.

In den aufgeregten Tagen, als die Rosbauds und Scherchens – beide schon tot wie El Cid – zu strengen Vorreitern des Aufstands gegen die philharmonischen Kulinariker wurden, galt die Losung: S t r u k t u r k l a  r h e i t. Wer in der ‚Pastorale‘ sitzt, kontrolliere, dass der Quartsextakkord beim ‘Hirtengesang‘ motivisch die ersten vier Takte der ‘heiteren Empfindungen’ aufnimmt. Da gehören drei Ausrufezeichen hin, okay? Sonst bist du bloß ein Schmeckleck der ‘schönen Stellen’.

Nun, vergeben und vergessen; das heutige Mantra interessiert sich mehr für Darmsaiten, Naturhörner und Affektenlehre, neuerlich Fimmellehre. Musik singt nicht mehr, sie redet, bzw. rappt. Das entspricht eher dem Puls des heutigen Menschen. Und weswegen hört er ‘Unvollendete‘? Na, damit sie mit der Zeit geht! Lauscht man dagegen dem vor siebzig Jahren modern gewesenen Rosbaud, fällt einem seine tiefe Traditionsgebundenheit auf. Ja, schlank und flüssig war und bleibt er, aber wie religiös empfindet er ein Haydn-Adagio, wie majestätisch fliegen die Brucknerschen Alpenkämme vorüber, wie fein grundiert er im Mozartschen Juchei die Einsamkeit des soeben emanzipierten Individuums.

Es gibt eine schwer definierbare, leicht hörbare und selten gewordene Darstellunsmoral, nennen wir sie hochtrabend Idiomatik. Ein Tempo, eine Artikulation muss in das enganliegende Kleid etwa einer klassisch-romantischen Komposition hineinpassen und nicht daraus hervorstechen. Kein vernünftiger Musikus wird das bestreiten, nur – hört man in die aktuelle, sich historisch nennende Aufführungspraxis hinein, fettet als erstes der motorische, schrille, labelgeile Gegenwartsgeschmack durch. Er veranstaltet Kostümparty, und man trifft nur Kommilitonen. Das Elternhaus stand verkehrt rum. Umgekippt und veralbert sieht es  gefälliger aus, wie an manchen Opernbühnen zu besichtigen. Sie bedienen Bedürfnisse. Ein Elementarbedürfnis ist, dass Jung Siegfried, Lohengrin, Parsifal und Stolzing ausgemachte Deppen waren, ohne dass es Wagnern aufgefallen wäre! Das haben erst seine genialen Urenkelin und ihre Zirkuskünstler gemerkt. Tröstlicherweise hinken die Dirigenten noch hinter den Regisseuren zurück, weil die Autorität der Partituren sie fesselt. Wodurch also macht der verdrängte Pultlöwe wieder auf sich aufmerksam? Durch Stilwillen, sofort hörbar und Stoff für den Rezensenten, der dazu eine Meinung formuliert. Debatte, Kontroverse, Sensation.

Der Rosbaudsche Stil bestand darin, penetranter Deutungswut aus dem Weg zu gehen. Und zwar den gestelzten Kothurnen seiner Generation wie dem Kobolzen in der übernächsten. Für seinen zügigen, geradlinigen Duktus gerühmt, meidet er die Manier, alswelche am ehesten zu stinken beginnt. Vom Evangeliar unserer Widertäufer bleiben zwei, drei vernünftige Ideen hängen, der Rest ist Komik. Doch wer ewig das Alte anbietet, probiert natürlich, es für nagelneu zu verkaufen, der Markt glaubt ihm dies gar zu gern. Als was will er den hundertsten Beethovenzyklus sonst verkaufen? Wohlgemerkt, die Rede ist hier von  e i n e r, der hippen, feuilletonal und medial am meisten aufgeblasenen Richtung. Der klassische deutsche Orchesterleiter ist z. B. in Christian Thielemann und Cornelius Meister immer noch bestens vertreten. Als Traditionalisten etikettiert, hören sie sich keineswegs wie Furtwängler oder Toscanini an, die beide auf ihre Weise Extremisten gewesen sind und Ikonen dazu, Kultstifter. Benjamin Britten etwa hielt Fu’s Beethoven für eine Karikatur, vielleicht nicht ganz zutreffend doch immerhin begreiflich.

Man liebt das Wort ‘zeitlos‘ für den anti-modischen Ansatz. Nichts ist außerhalb der Zeit, aber einiges außerhalb der Moden. Einst ist es beispielsweise schick gewesen, auf das grandiose Œuvre Jan Sibelius’ zu spucken und es als faschistoid zu verdächtigen. Rosbaud, der dem Nachkriegspublikum ungerührt die Schönbergschule hereinwürgte, besorgte deren Hohenpriestern ein nämliches mit den ’Tapiolas’ und ’Valses tristes’. Mein lieber ’Schwan von Tuonela’, da war er ein Verräter, wie apart! Seine Freunde haben jahrzehntelang um drei, vier Uhr das ARD-Mitternachtskonzert verfolgt, wenn der Südwestfunk alte Hans Rosbaudbänder abspielte. Man mag dieser Sendeanstalt die Füße küssen, dass sie ihrem wohlgehüteten Archiv eine mustergültige, vielbändige Edition entnommen hat. Keiner der Getreuen muss nachts mehr das Radio und die Revox anschalten.

Die österreichische Abteilung der Edition ist mit so reichhaltigen wie herzerwärmenden Haydn-Mozart- und Brucknerboxen vertreten. Wann wieder wird ein so taufrischer, vormärzlich aufbegehrender Schumann, so traumeswirrer Mendelssohn, so schroffer v. Weber erklingen? Das Schimpfwort ’romantisch’ war noch nicht in Umlauf. Die die Moderne erfunden haben, waren ja Geschöpfe der Romantik; nicht blaublühende Blümelein, aber Geisterreiter, Besessene. Für die gepriesenen Brahmsaufnahmen kann sich der Unterzeichnete nicht erwärmen, nimmt aber die Schuld auf sich und verschanzt sich hinter Otto Klemperer,HvK und Hans Schmid-Isserstedt.

Die 2. Wiener Schule, Gustav Mahler, Beethoven und Schubert stehen noch zur Veröffentlichung. Theurer SWF: beeil’ dich! Du hast die Bänder von Mahler 1, 4, 6, 7 und 9. (Nr. 5 ist vom WDR produziert worden, das Label ICA vertreibt sie). Lange bevor dieser Komponist sich in einen bekannten US-Dirigenten verwandelte und enorm von dessen Aplomb und Gefühlsbädern profitierte, hat Rosbaud schon 1951 in Köln den böhmischen Tonfall gepflegt, die k.u.k. Melange von Militärkapellen, Naturlauten, Landschaftsmalerei, Schicksalspathos, Kinderglück, Weltschmerz- und seligkeit. Der enorme Kunstcharakter, mit dem das motivisch, metrisch, farblich und gesanglich zusammenkomponiert ist, erschließt sich jedem Berufsdirigenten, aber der  S i n n der Töne, welche Daseinsmitteilungen, welche gebrochenen Erzählformen sie enthalten, offenbarte sich in diesem vaterlos aufgewachsenen Sohn einer ledigen Pianistin wie wenigen. Er wusste wie weh die Welt tut und ist früh gestorben. Er sah auch keinen Anlass, sich mittels einer vorgedruckten Partitur selber zu inszenieren, geschweige denn sie zu tanzen. Sein auch in der Körpersprache unaffektiertes Naturell hat Bernard Haitink in einer Beobachtung an der langen Podiumstreppe des Concertgebouw zusammengefasst: Als Rosbaud sich einigermaßen ungockelig zum Pult begab, dachte er, „Das kann ja wohl nicht der Dirigent sein!“ Durchaus, und einen besseren find’st du nicht! Seinen stummen Nachlass, die Hans Rosbaud papers bewahren die Washington State University Libraries in Cage 423. Das klingende Erbe des Verschollenen nimmt mit dieser Edition unwiderruflich ihren Platz ein im Saal der Großen seiner Zunft. Zuguterletzt flicht ihm die Nachwelt seine Kränze.

Hans Rosbaud gilt nicht als ausgewiesener Spezialist für Richard Wagner. Mit seinem Namen verbinden sich Mozart, Mahler oder die Moderne. In die Musikgeschichte ist er als Dirigent der konzertanten Uraufführung des Fragments von Schönbergs Moses und Aron 1954 in Hamburg und der ersten szenischen Umsetzung 1957 in Zürich eingegangen. Er kannte Schönberg persönlich. In seiner Diskographie findet sich lediglich eine Wagner-Gesamtaufnahme, nämlich Die Meistersinger von Nürnberg, eingespielt 1955 für die RAI Milano. Begleitet vom Orchester dieser italienischen Rundfunkstation singt ein erlesenes Ensemble deutscher Zunge – aus Elisabeth Schwarzkopf (Eva), Ira Malaniuk (Magdalene), Hans Hopf (Solzing), Otto Edelmann (Sachs), Erich Kunz (Beckmesser), Ludwig Weber (Pogner) und Gerhard Unger (David). Bis auf Weber hatten diese Sänger in denselben Rollen 1951 bei den ersten Bayreuther Nachkriegsfestspielen mitgewirkt. Mehr ist nicht nachzuweisen. Jetzt hat SWR Classic, das Label des Südwestrundfunks, die Wagner-Abteilung um eine Sammlung von Ouvertüren und Vorspielen erweitert, die der Dirigent zwischen 1955 und 1959 mit dem Südwestfunk-Orchester Baden-Baden eingespielt hat (SWR190336CD). Rosbaud war seit 1950 Chef des Orchesters. Er galt als so genannter Radio-Dirigent, weil er dieses Medium schon Ende der 1920er Jahren für die gezielte Verbreitung vor allem von zeitgenössischer Musik zu nutzen verstand. Dabei trat er selbst als Moderator in Erscheinung und machte seine Hörer mit den entsprechenden Werken vertraut. Während der Nazidiktatur blieb er in Deutschland und wirkte in Frankfurt und Münster. Der Inhalt der CD ist mit den Ouvertüren  bzw Vorspielen zu RienziHolländerTannhäuserLohengrin und Parsifal rein orchestral. Aus Lohengrin gibt es noch zusätzlich die Einleitung zum dritten, aus dem Meistersingern lediglich das Vorspiel zum dritten Aufzug. Es ist, als ob Rosbaud die Architektur dieser Musik offenlegen will. Sein Stil ist intellektuell und etwas kühl geprägt, neigt zum Sezieren. Seine Nähe zu zeitgenössischen Werken wird auch bei der Deutung von Wagner offenbar. Nicht, dass die Spannung darunter litte. Es könnten aber schon mehr Schmiss sein, mehr Rausch und Hingabe. Nach mehrmaligem Hören erweist sich diese Erwartung allerdings als unangemessen, weil der Dirigent ganz bewusst das Gegenteil davon anstrebt. Besonders auffällig ist das bei der Rienzi-Ouvertüre, die er regelrecht entschlackt. Sie klingt nicht mehr heroisch. Als Kontrastprogramm ist diese Neuerscheinung allen Musikfreunden, die sich intensiv mit Wagner beschäftigen, sehr ans Herz zu legen. Am Klangbild wurde offenbar nur dezent gearbeitet. Es bleibt akustisch in seiner Zeit, was zu begrüßen ist. Rüdiger Winter

„Ach, ich bin des Treibens müde!“

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„Sie haben heut‘ Abend Gesellschaft und das Haus ist lichterfüllt. Dort oben am hellen Fenster bewegt sich ein Schattenbild.“ Drunten aber, im Schutze der Nacht, steht ein Mann. Lauernd und einsam. Verdruckst. Die heimlich Angebetete bemerkt ihn nicht. Wie auch? So einer fällt nie auf. Ein tiefes Seufzen entfährt seiner Brust: „Noch weniger kannst du schauen in mein dunkles Herz hinein.“ Hans Pfitzner trifft auf Heinrich Heine. Der Komponist ist um die zwanzig, als er das Lied in Noten setzt, der Dichter schrieb es mit fünfundzwanzig. Veröffentlicht wurde das Gedicht im Buch der Lieder, jener berühmten Heine-Sammlung die 1827 in erster Ausgabe erschien. Sie war zumindest in Teilen Schulstoff und stand in jedem Bücherschrank. Nun kann sie auch auf dem Handy im Internet gelesen werden.

In einer neuen Gesamtaufnahme der Lieder von Hans Pfitzner bei Naxos findet sich das Lied, dem Heine keine Überschrift gab, in Vol. 4 (8.573082). Sein Titel ist die erste Zeile. Der literarische interessierte und gebildete Komponist machte also frühzeitig Bekanntschaft damit. Pfitzner kam 1869 zur Welt. Da war Heine erst dreizehn Jahre tot. Die Leiden des Dichters dürften auch seine eigenen gewesen sein. Für mich ist das Lied wie kaum ein anderes typisch für Pfitzner. Er lässt mit den Worten Heines tief in sein Innerstes blicken, erkennt darin Züge seines eigenen Wesens. Pfitzner gab sich grüblerisch und verschlossen, agierte gern aus dem Hintergrund und suchte die geistige Nähe zu den Nationalsozialisten.

In seinem Buch Heroische Weltsicht, das 2014 im Böhlau-Verlag (ISBN 978-3-412-22247-5) herausgekommen ist, kann Sebastian Werr Pfitzner keine Sympathien abgewinnen. Seinen Angaben zufolge biederte der sich 1933, im Jahr der Machtergreifung, schriftlich bei Hitler mit dem Verlangen an, Aufführungen seiner Opern zu besuchen und nannte gleich konkrete Termine. Hitler ging nicht darauf ein, weil er nicht viel ihm hielt. Schon 1923 waren sich beide in München begegnet, vermerkt Werr. Dabei habe Pfitzner die Ansicht vertreten, dass „beim Antisemitismus Ausnahmen für jüdische Mitbürger zu machen seien, die eine nationale Gesinnung haben und die kulturell bedeutsam sind“. Dadurch sei Hitler anscheinend auf den Gedanken gekommen, Pfitzner könne selbst jüdische Wurzeln haben, die er verschleiern wolle. Werr: „Die von Pfitzner erhoffte Karriere im ,Dritten Reich‘ musste schon deshalb ausbleiben, weil Hitler die Zuneigung des Komponisten nicht erwiderte.“ Wer sich mit Hans Pfitzner und seinem Werk beschäftigt, sollte auf solche biografischen Tatsachen gefasst sein und sich damit auseinandersetzen. Seine Bedeutung als Komponist reduzieren sie nicht.

In der Naxos-Edition singt der Bariton Uwe Schenker-Primus das Lied „Sie haben heut‘ Abend Gesellschaft„. Er hat am meisten zu tun, gestaltet zwei CDs allein, außer Vol. 4 auch Vol. 5 (8.573785). Insgesamt sind das zweiundvierzig von 117 Liedern, die im Jahre 2008 im Schlossbergsaal des SWR-Landesstudios Freiburg eingespielt wurden. Schenker-Primus, Jahrgang 1974, hat beim Windsbacher Knabenchor Singen gelernt. Solche musikalische Grundausbildung wirkt fort. Inzwischen bedient er alle Genres auf dem Musiktheater. Am Nationaltheater Weimar, wo er zum Ensemble gehört, gibt er den Conférencier im Musical Cabaret, in Carmen den Moralès. Seine Stimme ist geschmeidig und wortverständlich. Besagtem Lied gibt er die verlangte Steigerung, schließt am Ende aber etwas über das Ziel hinaus, indem für die dramatische Zuspitzung, die an Schuberts Doppelgänger erinnert, kaum noch Reserven bleiben. Der Vorrat ist zu schnell verbraucht. Dann klingt die Stimme nicht eigentlich mehr schön, was aber auch gewollt sein kann. Mit einer Minute und sechsundvierzig Sekunden ist das Lied vergleichsweise kurz. Pfitzner genügt das, um dieses kompakte Seelendrama aus der nur scheinbar fröhlichen Tanzmelodie, die von den hell erleuchteten Fenstern zu dem Mann im Dunkeln dringen, zu entfalten. Wir hören am Lautsprecher, was er hört.

„Bezeichnenderweise gibt es gerade bei Pfitzner häufig Lieder, die aus einem primären Grundgestus heraus das Ganze erfassen“, vermerkt Reinhard Ermen, der als Theaterwissenschaftler über Pfitzner promovierte, in einem der Booklets. Das sei ohne Zweifel „romantisch“ gedacht. Ermen: „Pfitzner ist einer, der Brahms, vor allen Dingen aber Schumann weiterdenkt.“ Dass am Gelingen des gesamten Unterfangens der Pianist Klaus Simon, der bei sämtlichen Liedern begleitet, seinen ebenbürtigen Anteil hat, versteht sich von selbst. Simon wirkt nicht nur als Pianist. Er ist auch Dirigent und Arrangeur. Seine künstlerischen Schwerpunkte sind die klassische Moderne und Komponisten der Zweiten Wiener Schule.

Ein Titel im Programm von Schenker-Primus sticht schon wegen seiner ungewöhnlichen Ausmaße und seiner langen Überschrift heraus: Lied Werners aus dem „Trompeter von Säckingen“, Behüt‘ dich Gott. Es entstand 1885 und entstammt dem gleichnamigen Sang vom Oberrhein, in welchem der Dichter Joseph Victor von Scheffel in Versform die Lebensgeschichte von Franz Werner Kirchhofer (1633-1690) aus Säckingen erzählt. Der Sohn bürgerlicher Eltern ehelichte über alle gesellschaftliche Schranken und Widerstände hinweg die Adlige Maria Ursula von Schönau. Mit ihren fünf Kindern lebten sie in Säckingen. Der musikalisch begabte Franz Werner stieg zum einflussreichen Handelskaufmann, Ratsherr und Schulmeister auf und stand auch dem Knabenchores im St. Fridolinsmünster vor.

Mit dem 1853 entstandenen Versepos traf Scheffel wenige Jahre nach der 48er Revolution den Nerv seiner Zeit und landete einen enormen literarischen Erfolg, der sich im Laufe der folgenden Jahre noch steigerte. 1882 hatte Der Trompeter von Säckingen die hundertste, 1914 die dreihundertste Auflage erreicht. Diverse Vertonungen mehrten den Ruhm, der bis in die Gegenwart vor allem durch die Oper von Victor Ernst Nessler (1841-1890) nachwirkt. Nessler hatte den Stoff vergleichsweise frei bearbeitet und Werners Lied um die mittlere Strophe gekürzt in die Handlung einbezogen. Pfitzner bedient sich am Original, wo es separiert als Teil einer eingeschobenen Liedersammlung erscheint. Er komponierte auch das Mittelstück, in dem von „Leid, Neid und Hass“ die Rede ist. Bei Pfitzner klingt es nicht so gefällig und einschmeichelnd wie bei Nessler, doch auch nicht so bitter wie zu erwarten gewesen wäre. Dafür umso enttäuschter: „Behüt‘ dich Gott! Es wär‘ zu schön gewesen, / Behüt‘ dich Gott, es hat nicht sollen sein.“ Schenker-Primus jedenfalls gelingt mit dem Lied stimmlich einer seiner besten Leistungen, weil er nicht gegen Extreme ansingen muss.

Die Musikwissenschaft hat herausgefunden, dass Lieder das eigentliche Wesen von Pfitzner sind. Selbst aus den Musikdramen ist diese Erkenntnis herauszuhören. Sein Hausgott als Dichter war Joseph von Eichendorff, was sich mengenmäßig aus dem Liedschaffen nicht zwingend ablesen lässt, schließlich aber in der großen Romantischen Kantate Von deutscher Seele beredten Ausdruck findet. Uwe Schenker-Primus singt mit zehn Stücken die meisten Eichendorff-Lieder, darunter den aus fünf Teilen bestehende Zyklus op. 9. Dem kanadischen Tenor Colin Balzer wurden auf seiner CD 2 (8.572603) fünf Eichendorf-Lieder übertragen. Er singt sie mit schön fließender Mittellage, die auch seine Stärke ist. Etwas knapp, nicht selten grell, fällt die Höhe aus. Er klingt jung. Balzer kommt von der Barockmusik, weshalb Pfitzner für ihn eine ganz spezielle Herausforderung dargestellt haben dürfte, die er auf seine Weise professionell besteht. Eichendorff ist auch schon auf der ersten CD (8.573602) anzutreffen, die von der Sopranistin Britta Stallmeister bestritten wird. Sie hat Der Bote aus Drei Lieder Op. 5 im Angebot, zudem das Lied Sonst aus Op. 15. Während sie die erstgenannte Gruppe komplett singt, ist es bei der anderen nur die Nummer 4. Damit offenbar sich eine editorische Eigenart. Nicht alle Liedgruppen sind beieinander. Op. 15 – um bei diesem Beispiel zu bleiben – ist über drei CDs verteilt. Man muss also ganz genau durch die relativ kleingedruckten Tracklisten gehen, um ganz sicher zu sein, dass nichts fehlt. Bei der Konkurrenz ist das sinnvoller gelöst. cpo hat seine Lieder-Edition von Pfitzner streng nach Werkgruppen organisiert, was den Umgang damit leichter macht.

Alte Weisen, op. 33, bleiben unangetastet. Dazu beruft sich Booklet-Autor Ermen ausdrücklich auf den Pfitzner-Experten Johann Peter Vogel. Der habe mit Nachdruck darauf verwiesen, dass „diese acht Vertonungen von Gedichten Gottfried Kellers den einzigen Lieder-Zyklus in Pfitzners Werk bilden“. Zwar gebe es noch andere Opera „in denen ein Textdichter bzw. eine Textdichterin Einheit schafft“. Pfitzner habe aber selbst darauf hingewiesen, dass die Teile „als Ganzes durchaus zusammen“ gehörten und nur „zusammen in dieser Reihenfolge vorzutragen“ seien. „Zum anderen legt die Dramaturgie der Kontraste und der einvernehmlichen Übergänge von Lied zu Lied den Zusammenhang nahe“, so Ermen. Wer sich die Lieder anhört, ohne vorher einen Blick ins Booklet getan zu haben, kommt ganz von selbst darauf, dass sich Pfitzner mit diesem Zyklus von Hugo Wolf herausgefordert gefühlt habe. Britta Stallmeister bringt diesen Aspekt wirkungsvoll in ihre Interpretation ein, indem sie einen regelrechten Wettgesang zwischen beiden Komponisten entfacht. Als wolle Pfitzner sagen, was der Wolf kann, das kann ich auch. Und wenn gar noch das Pfitzner-Lied „Wie glänzt der helle Mond“ erklingt, welches zu Wolfs Meisterwerken gehört, dann können sich beide Komponisten näher nicht sein. Es ist die helle Freude, dieser Sängerin zuzuhören, die mit ihrem Vortrag für einen Höhepunkt der Edition sorgt. Mit diesem Zyklus, der 1923 komponiert wurde, nähert sich Pfitzners Liedschaffen seinem Finale zu.

Mit Sechs Liedern Op. 40, deren letztes Weckruf nochmals auf Eichendorff zurückgeht, ist es getan. Es ist ein vergeblicher Weckruf, der im Dunkel der Nacht verhallt. Die in ihrer inhaltlichen und musikalischen Fülle und Üppigkeit herausragende Gruppe entstanden 1931, zu finden auf CD 3 (8.573081). Pfitzner hatte die sechzig überschritten. „Leuchtende Tage“ sind schmerzhafte Erinnerung geworden. Das gleichnamige Lied nach dem Gedicht von Ludwig Jacobowski (1868-1900) – es gilt als sein bekanntestes – steht am Anfang, zu vorletzt Wandrers Nachtlied von Goethe mit dem berühmten Klageruf „Ach, ich bin des Treibens müde!“ Die mit Wagner und Strauss vertraute Mezzo-Sopranistin Tanja Ariane Baumgartner geht als Hochdramatische auf die Lieder zu. Wo es geboten ist, nimmt sie sich zurück und schmückt lyrische Einzelheiten hingebungsvoll, gar schmachtend aus. Nicht nur hier ist es angebracht, einen Blick in die Texte zu werfen. Naxos bietet sie im Netz an, wo sie auch heruntergeladen werden können. Das ist praktisch und spart Papier. Rüdiger Winter

Hören und sehen

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Nach Winterreise (2014) und Schwanengesang (2019) war es nur eine Frage der Zeit, dass sich der kanadische Bariton Gerald Finley auch der Schönen Müllerin von Franz Schubert zuwenden würde. Er hat es getan. Die Aufnahme ist wie die beiden anderen bei Hyperion erschienen (CDA68377). Am Klavier begleitet der englische Pianist Julius Drake, der sich ausschließlich Liedern und Kammermusik widmet und damit in der Tradition seines berühmten Vorgängers Gerald Moore steht, der mit fast allen bedeutenden Sänger seiner Zeit – darunter Kirsten Flagstad, Elisabeth Schwarzkopf, Janet Baker und Dietrich Fischer-Dieskau – zusammenarbeitete. Anders als der diskrete Moore tritt er als Partner stärker in Erscheinung, setzt auffällige eigene Akzente. In der neuen Produktion fallen vor allem rasante Lösungen bei der Wahl des Tempos auf, die sogar einzelnen Wörter und Silben ergreifen. Dadurch erfahren die Lieder eine gewisse theatralische Wirkung, die sich dadurch noch verstärkt, dass hier und da immer mal wieder Koloraturen nicht nur angedeutet sondern auch ausgeführt werden.

Die Wanderschaft des Müllerburschen, die tödlich endet, wird von innen nach außen verlegt ohne äußerlich zu sein. Es handelt sich mehr eine Raumverschiebung. Wir hören den jungen Müller nicht nur, wir sehen ihn vor uns. Und wir begegnen auch seinem Widersacher, dem Jägersmann, wie auf einer Bühne. Er löst sich aus der Erzählperspektive und wird leibhaftig. Im Booklet spürt der Musikwissenschaftler und BBC-Sprecher Richard Wigmore diesen theatralischen Elementen mit Eindringlichkeit und Sachkenntnis nach. In Bezug auf das Lied Trockne Blumen, das er den Höhepunkt nennt, spricht er – um ein Beispiel zu nennen – von einem angedeuteten „Begräbniszug“. Noch bevor man es gelesen hat, hat man es genau so empfunden. Es fehlte nur noch die treffende Beschreibung.

Finley bringt für diesen Deutungsansatz die denkbar besten Voraussetzungen mit. Er ist vornehmlich als Opernsänger tätig und pflegt in seinem Repertoire die Vielfalt. Offenbar will er sich nicht auf ein Rollenfach festlegen lassen. Er singt Wagner und Verdi, Bartok und Janacek, dazwischen immer wieder Mozart – und Lieder. Seine Stimme ist elegant und geschmeidig geblieben. Deshalb kann er auch auf jede musikalische und inhaltliche Nuance dieser Müllerin reagieren. Für seine gut sechzig Jahre klingt er ausgesprochen jung. Ich weiß nicht, ob er oder wie gut er Deutsch spricht. Im Singen fällt ihm die Sprache Franz Schuberts und seines Textdichters Wilhelm Müller außerordentlich leicht. Er ist immer zu verstehen. Anders wäre seine hochindividuelle Interpretation auch nicht denkbar (30. 06. 22). Rüdiger Winter

Primärquelle aus erster Hand …

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„Ich lebe, um zu singen“. So der Titel eines neuen Buch über Maria Cebotari. Erschienen ist es bei Frank & Timme, einem Verlag für wissenschaftliche Literatur in Berlin (ISBN 978-3-7329-0794-6). Die 270 reich bebilderten Seiten sind in drei Bereiche unterteilt, die sich mit der öffentlichen Wahrnehmung, den letzten Jahren und dem Nachruhm beschäftigen. Diverse Unterkapitel folgen den jeweiligen Lebensabschnitten der Sängerin und Schauspielerin, die nur 39 Jahre alt wurde.

Othmar Schoeck: „Das Schloss Dürande“/ Szene mir Maria cebotari und Willi Domgraf-Fassbaender/ Archiv Berliner Staatsoper

Gestorben ist Maria Cebotari am 9. Juni 1949 in Wien, wo sie auch begraben liegt. Das gemeinsame Grab mit ihrem zweiten Ehemann, dem Schauspieler Gustav Diessl, der ein Jahr vor ihr starb, befindet sich auf dem Döblinger Friedhof. Die Autorin Rosemarie Killius geht davon aus, dass die Künstlerin „heute fast vergessen ist“ und verspricht zugleich „eine Überarbeitung des bisher falsch Überlieferten in Biografie und Umfeld der großen Künstlerin“. Somit könne die Erinnerung an Maria Cebotari „neu aufleben und für die Zukunft wachgehalten werden“. Um neue Erkenntnisse und aktuelle Forschungsergebnisse erkennen und würdigen zu können, müssten die bislang verbreiteten Unkorrektheiten aber auch benannt werden. Dies geschieht nicht in der gebotenen Eindeutigkeit. Vielmehr ist zu vermuten, dass die der Cebotari angelastete Nähe zum Nationalsozialismus erklärt und relativiert werden soll. So habe es nicht ausbleiben können, dass schließlich auch die Cebotari ab und zu, wie es bis zu Kriegsbeginn gang und gäbe gewesen sei, neben vielen anderen bekannten und beliebten Künstlern und Filmstars zu Teestunden und anderen Festlichkeiten bei Hitler, Goebbels und Göring „geladen“, genauer gesagt „befohlen“ wurde. „Die Verweigerung dieser Einladung, es sei denn aus künstlerischen Verpflichtungen oder Krankheit, hatte Abmahnungen oder Bestrafung zur Folge.“ Maria Cebotari, so die Autorin weiter, habe sich freundlich lächelnd gezeigt und „mit den Wölfen geheult“, weil sie ihr Leben leben und auf jeden Fall Opernsängerin sein wollte. Mit dieser Einstellung war sie im Dritten Reich nicht allein. Wer kann schon allen Ernstes einer jungen Sängerin, um die sich die Opernhäuser rissen, der das Publikum zu Füßen lag, fast fünfundsiebzig Jahre nach ihrem Tod vorwerfen, nicht in den Widerstand oder in die völlig ungewisse Emigration gegangen zu sein? Mit dem Wissen von heute lassen sich leicht Entscheidungen konstruieren, vor die sich diese Menschen damals nicht gestellt sahen. Sie wollten singen und auf Bühnen stehen.

Bereits in der vierten Zeile des Textes, der „statt eines Vorworts“ das Buch einleitet, fällt der Name Elfie N. Wer ist das? Eine Wiener Schauspielelevin, die der Cebotari sehr nahe rückte, im Schlepptau die Mutter – stets „Mutti“ genannt. Ihre Tagebücher hat Fritz, der jüngere  der beiden Cebotari-Söhne, 2018 der Autorin überlassen. Sie dienten ihr nach eigenem Bekunden als „Primärquelle aus erster Hand“. Mit dem Fortschreiten des Buches rückt die Vielzitierte faktisch zur Koautorin auf. Zitate werden länger und länger, füllen schließlich ganze Seiten. Kritik an ihrem Idol duldet Elfie nicht. 1949 kommt die Cebotari als Turandot in der seinerzeit sehr beliebten österreichischen Programmzeitschrift „Funk und Film“, die unmittelbar nach Kriegsende durch die britische Besatzungsmacht ins Leben gerufen wurde, nicht gut weg. Sie sei darstellerisch und stimmlich der Titelrolle kaum gewachsen gewesen, besonders wenn man in ihre Vorgängerinnen denke. Elfie wird böse und ausfällig. Sie bezichtigt den Redakteur „dieses Schmierblatts“, ein „persönlicher Freund von Ljuba Welitsch, die die Rolle unbedingt übernehmen wollte, zu sein“. Derlei Behauptungen werden keinem Faktencheck unterzogen, was notwendig gewesen wäre. Das Buch gerät mehr und mehr zur Fanpost. Und ob es im Sinne von Maria Cebotari ist, dass die entschlossene Verehrerin auch den Verlauf ihre letzten Tage im Krankenhaus in aller Ausführlichkeit ausbreiteten darf, sei dahin gestellt. Als Leser fühlte ich mich unangenehm berührt.

„Ihr musikalisches Erbe ist auf vielen Labels in umfassenden Editionen veröffentlicht, enthält jedoch nur Fragmente ihrer Partien aus populären Opern“, ist auf Seite 20 zu lesen. In die Einzelheiten wird nicht gegangen. Die Feststellung selbst bleibt missverständlich, weil die Autorin nicht erklärt, was sie eigentlich unter „populären Opern“ versteht und welche Werke gemeint sein sollen. Es finden sich kaum weitergehende Hinweise auf Tondokumente, von einer Diskographie ganz zu schweigen. Wenn aber – wie es die Autorin zu Recht anmahnt, die Erinnerung an die Sängerin „neu aufleben und für die Zukunft wachgehalten werden“ soll, dann dürfte das doch am ehesten durch die Tondokumente geschehen. Die haben sich in großer Zahl erhalten. In ihnen dürfte Maria Cebotari mehr fortleben als in ihren Filmen, die so gut wie nicht greifbar und meist in zweifelhafter Bildqualität überliefert sind. Da Rosemarie Killius auf dem Buchdeckel als „Expertin für Filmgeschichte der 1930er bis 1950er Jahre“ ausgewiesen wird, ist sie auch als Autorin erkennbar mehr an der Schauspielerin Cebotari mehr interessiert als an der Sängerin.

Den Schluss bilden eine Bibliographie, ein Personenregister, die Liste der Gesangsrollen und die Daten sämtlicher Opernauftritte in Wien. Dokumentiert werden zudem die Mitwirkung an Ur- und Erstaufführungen, die Filme mit Maria Cebotari, Gustav Diessl und ihrem ersten Mann Alexander Vyrubov, der ihr den Weg als Sängerin wies und dem sie bis ans Lebensende verbunden blieb.

Für Aufsehen hatte Orfeo/Naxos mit dem „Zaubertrank“ von Frank Martin als Mitschnitt von den Salzburger Festspielen 1948 gesorgt.

Opernfreunde dürften durch das Buch angeregt worden sein, sich wieder den Aufnahmen von Maria Cebotari zuzuwenden. Es besteht wahrlich kein Mangel. Mit dem nötigen archäologischen Instinkt lassen sich auch Dokumente ausfindig machen, die im Handel derzeit nicht angeboten werden. Und es gibt immer wieder aufsehenerregende Ausgrabungen. Zuletzt war bei Orfeo Der Zaubertrank von Frank Martin als Mitschnitt von den Salzburger Festspielen 1948 erschienen (C 890 142 A). Ein Aufschrei ging durch die große gut vernetzte Sammlergemeinde. Die Cebotari als Isolde, Isot, wie sie in dem Stück heißt. In Dokumentationen über das Festival sind vier Aufführungen im Landestheater vermerkt, die vorletzte am 24. August wurde im Rundfunk übertragen. Ein originales Band hat sich erhalten. Endlich wurde es aus dem Archiv geholt. Nur eine Szene aus dem (in Salzburg deutsch gesungenen) Zaubertrank war in gut sortierten privaten Archiven seit Jahren zu finden, wenngleich in ziemlich mieser Klangqualität. Sie ließ mehr ahnen, als dass sich daraus ein Gesamteindruck hätte rekonstruieren lassen. Sie handelt von der Begegnung zwischen Tristan (Julius Patzak) und Isot im ersten Teil. Für mich der eindrucksvollste Moment des ganzen Werkes. Isot antwortet auf die Tristans Frage, was es sei, dass sie quäle: „Die Liebe zu euch.“ Was in der wörtlichen Niederschrift lakonisch klingt, ist in der musikalischen Wiedergabe meilenweit davon entfern. Martin lässt seine Figuren aus dem Chor, der wie in der griechischen Tragödie agiert, immer wieder heraustreten, so auch in dieser Szene. In dieser Loslösung entsteht die überwältigende Wirkung. In der Diskographie von John Hunt (ISBN 9780952582731), die für die genaue Beschäftigung mit der Cebotari unerlässlich ist, heißt es auf Seite 199 über den Zaubertrank – im Original Le vin herbé „unpublished radio broadcast“. Inzwischen gilt das nicht mehr.

Nur noch antiquarisch: Antonio Mingottis Buch über Maria Cebotari im Salzburger Heilbrunn Verlag/ Foto Booklooker

Das Buch von Antonio Mingotti, „Maria Cebotari – Das Leben der Sängerin“ von 1950 im Salzburger Heilbrunn Verlag ist nur noch antiquarisch zu bekommen (Booklooker et al.) und enthielt viele schöne Fotos der Sängerin. Ebenso die Biographie von Rosemarie Kilius (Killius, Rosemarie (2021), Maria Cebotari: „Ich lebe, um zu singen“, Berlin, Frank & Timme GmbH Verlag für wissenschaftliche Literatur). Von einer in blauen Samt eingebundenen rumänischen Hommage an die Cebotari (die ja eigentlich Cebutaru hiess und am 10. Februar 1910 greg. in Chișinău, Bessarabien als Teil des Russischen Zarenreiches geboren wurde) berichten ältere Fans mit verklärten Augen … Man verzweifelte an der Sprache, aber die schönen Bilder entlohnten die Mühe.

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Ich bin mit der Cebotari aufgewachsen. Meine Mutter hatte ihre Filme gleich nach der Premiere gesehen und immer und immer wieder davon erzählt. Deshalb hielt ich sie zunächst für eine Schauspielerin, die sie nur episodenhaft gewesen ist. Ihre bessere Hälfte war und blieb der Gesang. Eine meiner ersten eigenen Schallplatten enthielt Musik aus La Bohéme und Madame Butterfly „Man nennt mich jetzt Mimì“, „Eines Tages sehn wir“ und das Duett „Mädchen, in deinen Augen liegt ein Zauber“ mit dem Tenor Walther Ludwig. Ich bräuchte die Aufnahmen von 1942 gar nicht mehr neu zu hören, obwohl sie längst als CDs im Regal stehen. So tief haben sie sich eingegraben, als sei das Gehirn selbst der Tonträger. Diese elementare Erfahrung habe ich mit kaum einer anderen Sängerin gemacht. Auf mich wirkt die Cebotari immer noch wie ein Naturereignis. Meine Liebe zur Oper ist ohne sie nicht denkbar. Das liegt nicht an mir, das liegt an ihr. Sie öffnet die Ohren. Als ich noch ein Junge war, gab es kaum Operngesamtaufnahmen. Arien und Querschnitte waren die Norm. Das Gros der Aufnahmen mit Maria Cebotari besteht aus solchen Szenen. Mir kam es immer so vor, als würde sie in einer einzigen Arie den Stoff der ganzen Oper verdichten wie der Meisterkoch die Kraft des Fleisches in einer Consumé.

Das Label Preiser hatte mehrere CDs mit Aufnahmen der Cebotari im Katalog – inzwischen vergriffen, aber youtube bietet einiges davon, und Amazon hat manches zu horrenden Sammler-Preisen ..

Sie singt höchst konzentriert. Bei ihr scheinen die Noten zusammenzurücken. Wohl deshalb ist mir die Arie der Susanne aus Figaros Hochzeit die allerliebste Aufnahme einer Arie geblieben. Sie lockt mit der Stimme, setzt somnambule Dunkelheit verführerisch, erotisch ein. „Endlich naht sich die Stunde…“ Da kann alles und mancher gemeint sein, nicht nur Figaro, auch der Graf, gar der Page. Es ist das Lied der Liebe, das durch die Nacht klingt. Eine Prise Chanson mischt sich bei. „Feuer und Fieber“, überschreibt Jürgen Kesting in seinem Standardwerk Die großen Sänger das Kapitel über die Sängerin und trifft damit ins Zentrum. Die Wirkung ist auch nach mehr als siebzig Jahren nicht verflogen. Kunst und Können verfallen eben nie. Mir scheint, sie stellt den Ausdruck immer über die Technik des Gesangs. Manchmal schleift sie Töne. Das aber gerät zur Gestaltung, wenn Ungenauigkeiten, gar Nachlässigkeiten in den Koloraturen bei Partien wie Konstanze oder Violetta noch wie Stärken wirken. Die Cebotari macht aus Individualität ein Markenzeichen. Sie ist unverwechselbar.

Maria Cebotari als Mimi auf einer Künstlerpostkarte/OBA

Jeder Vergleich mit ebenso berühmten Kolleginnen ist so mühsam wie sinnlos. Aber in einem Fall kann ich nicht widerstehen. Das ist die Salome. Es gibt zwei Dokumente, den berühmten Schlussgesang von 1943 und den Londoner Aufführungsmitschnitt des Gastspiels der Wiener Staatsoper von 1947. Konkurrenz in dieser Zeit ist übermächtig. Ljuba Welitsch und Christel Goltz sind die berühmtesten Namen, gelten bis heute als Inbegriff, gar als Nonplusultra. Daran ist nicht zu rütteln. Und doch hat die Cebotari etwas in der Stimme, was die anderen so ausgeprägt nicht haben – Jugend. Sie ist die Kindfrau. Dabei ist sie von den Dreien die Älteste. Als Daphne hätte sie lange vor Hilde Güden die Maßstäbe setzten können. 1943 wurde der Schussgesang eingespielt, der große Erwartungen ans Ganze weckt – zart, verhalten, tastend. Daphne ist selbst erstaunt, was da mit ihr passiert, nämlich das Wunder der Verwandlung. Das Finale aus Ariadne auf Naxos, 1947 mit dem trunkenen Karl Friedrich unter Thomas Beecham entstanden, markiert den Beginn einer neuen Ära in der Karriere der Schallplattensängerin Maria Cebotari.

Viel Zeit blieb ihr aber nicht, um nun unter wesentlich besseren technischen Bedingungen aufzunehmen. In London hatte sich ihr das berühmte Studio No. 1 in der in der Abbey Road aufgetan. Der allmächtige EMI-Produzent Walter Legge war auf sie aufmerksam geworden. Das versprach mehr Arbeit im Detail, größere Genauigkeit. Ein Exklusivvertrag war abgeschlossen. Legge betreute den Monolog der Ariadne „Es gibt ein Reich“, der ein Jahr später mit den Wiener Philharmonikern eingespielt wurde, nun schon unter Herbert von Karajan. Wie eine beglückende Zugabe bei diesen Aufnahmesitzungen wirkt Saffis Arie „So elend und so treu“ aus dem Zigeunerbaron von Strauß. Ihr Tod beendete diese verheißungsvolle Zusammenarbeit. Endlich ein modernerer Sound. Alles ist besser als Reichsrundfunk, wobei es zur Wahrheit gehört, dass in den 1930er Jahren bis Kriegsende bereits unter sehr soliden technischen Bedingungen produziert wurde. Viele Aufnahmen leiden mehr an späteren Bearbeitungen als an den eigenen Geburtswehen. Es scheinen sich ganz Heerscharen von Hobbyrestauratoren an den Dokumenten vergangen haben, so hohl, blechern und übersteuert klingt vieles.

Die Cebotari als Turandot: Die Aufnahme entstand 1938 beim Reichssender Stuttgart mit Joseph Keilberth am Pult – hier als CD-Ausgabe von Koch, inzwischen auch vergriffen, aber bei youtube anzuhören.

Großes Aufsehen wie der Zaubertrank erregte fünfzehn Jahre zuvor die Ausgrabung ihrer Turandot, die 1938 beim Reichssender Stuttgart mit Joseph Keilberth am Pult entstand. Aus einem Gerücht um dieses Dokument, an das niemand so recht glauben wollte, war Gewissheit geworden. Einige Fehlstellen am Schluss tun fast nichts zur Sache (Koch CD; inzwischen auch vergriffen, aber bei youtube finden). Der Gesamteindruck bleibt und wird zu einer Lehrstunde, wie eine lyrische Stimme durch Fokussierung ins Hochdramatische gelenkt werden kann, ohne im klassischen Sinne hochdramatisch zu sein. Nicht ohne Risiko gelingt das. Die Cebotari ist es eingegangen.

Für ihre Zeit hat sie ziemlich viele Gesamtaufnahmen hinterlassen. Ebenfalls in Stuttgart wurde ihre vollständige Susanne in Mozarts Figaros Hochzeit mit Karl Böhm am Pult verewigt. Verdis deutsch gesungene und von Karl Elmendorff betreute Luise Miller entstand 1944 in Dresden, die Gabriele in Schoecks Schloss Dürande (Cantus Line) entstammt einem Mitschnitt der Berliner Staatsoper von 1943. Aus Salzburg gibt es schließlich noch Dantons Tod. Die Cebotari ist die Lucile. Es war die Uraufführung der Oper Gottfried von Einems. Für den schwer erkrankten Otto Klemperer sprang der junge ungarische Dirigent Ferenc Fricsay ein und wurde über Nacht berühmt. Ein Dokument rührt mich immer wieder. Es ist der Mitschnitt der 2. Sinfonie von Gustav Mahler vom 16. September 1948 aus Wien (Sony). Am Pult der Philharmoniker stand Bruno Walter. Neun Monate vor ihrem Tod erhebt sich ihr leuchtender Sopran mit unglaublicher Intensität über den gigantischen Apparat, um die Auferstehung zu beschwören. „Sterben werd´ ich, um zu leben!“ (Foto oben: Maria Cebotari in Butterfly, UFA-Film 1939/ OBA.) Rüdiger Winter

Mit neun Jahren Verspätung

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Wagners Tristan und Isolde 2013 in Wien: Mit neun Jahren Verspätung hat Orfeo den Mitschnitt aus der Staatsoper herausgegeben (C210123). Warum erst jetzt? Das Booklet gibt darüber keinen Aufschluss. Es finden sich lediglich ein allgemeiner Text über die hinlänglich bekannte Entstehungsgeschichte des Werkes und biographische Angaben zu den Mitwirkenden. Sonst nichts. Wer es etwas genauer wissen will, muss sich selbst auf die Suche machen. Das Netz ist auskunftsfreudiger denn je. Darauf spekulieren offenkundig auch die Herausgeber. Am 13. Juni 2013 hatte die vom Österreichischen Rundfunk zeitversetzt übertragene Neuinszenierung Premiere. Sie wurde vom schottischen Opernregisseur Davis McVicar besorgt, der einen vergleichsweise traditionellen Stil pflegt. Die Optik lässt kaum Zweifel daran zu, um welches Werk es sich handelt. Das ist inzwischen nicht immer so. Anhand von aussagekräftigen Szenenfotos auf dem Cover und im Innern der Beilage sowie Bildern von Solisten in ihren Kostümen lässt sich ein konkreter Eindruck gewinnen, was sich auf der Bühne abgespielt hat – auch wenn es sich bei der Neuerscheinung lediglich um die Tonspur handelt. Warum der Regisseur und sein Ausstatter Robert Jones nicht erwähnt werden, bleibt das Geheimnis von Orfeo. In diesem Fall wäre es notwendig und fair gewesen, auch sie zu nennen. Schließlich hört das Auge mit. Bis zum 26. Juni folgten drei Aufführungen in der Premierenbesetzung. Da Orfeo als Aufnahmezeitraum den Juni 2013 angibt, ist davon auszugehen, dass die CD-Ausgabe aus unterschiedlichen Aufführungen zusammengeschnitten wurde.

Die Aufmerksamkeit des Publikums richtete sich damals auf Nina Stemme, die mit fünfzig Jahren als Isolde am Haus debütierte. Die Schwedin war in Wien keine Unbekannte, hatte bereits 2004 die Sieglinde gegeben, von 2008 an die Brünnhilde im Siegfried. 2003 war sie in Glyndebourne erstmals als Isolde in Erscheinung getreten. Damals hatte sie „bereits vierzehn Bühnenjahre hinter sich, zunächst mit Partien wie Cherubino, Pamina, Figaro-Gräfin, Agathe und Eva“, wird im Booklet aufgezählt. Dann seien Mimi, Butterfly, Manon Lescaut, Tosca, Tannhäuser-Elisabeth, Marschallin und Senta gefolgt. Für die Isolde ist diese Spannbreite nicht die schlechteste Voraussetzung. Viele Kolleginnen pflegten ein ähnliches Repertoire bis sie – wie Nina Stemme – fast nur noch das hochdramatische Fach sangen. Schon 2013 deutete sich an, dass dafür auch ein Tribut fällig sein wird. Die Stimme reicht derart in die Tiefe, dass die Anbindung an höre  Registern nicht immer perfekt gelingt. Nicht selten werden Töne geschleift, was auf Kosten feiner Nuancen geht. Ihre stimmlichen Reserven aber sind unendlich und auf das gesamte Werk eindrucksvoll verteilt. Deshalb kommt sie beim wagnerversessenen Publikum so gut an und wird weltweit gefeiert. Im kräftezehrenden ersten Aufzug schont sie sich nicht für das, was noch kommt. Extreme Spitzentöne wirken etwas nachgesetzt. In diesen Momenten erinnert sie mich mehr an ihre berühmte Vorgängerin Birgit Nilsson als bei einem allgemeinen Stimmenvergleich. Die 2005 verstorbene Nilsson dürfte den Aufstieg ihrer jungen Landsmännin noch genau verfolgt haben. 2018 bekam Nina Stemme den mit einer Million US-Dollar dotierten Birgt-Nilsson-Preis zugesprochen, der von dieser Sängerin gestiftet wurde und als eine Art Musik-Nobelpreis gilt.

Doch nun von Tristan! Peter Seiffert hatte die Rolle schon in der Wiener Vorgängerinszenierung von Günter Krämer gesungen. Er gilt als einer der versiertesten Tristan-Interpreten und ist Wien eng verbunden seit er 1984 neben der Arabella seiner späteren Frau Lucia Popp der Matteo gewesen ist. An Tristan, den er sich hat hart erarbeiten müssen, war nicht zu denken. In einem Interview mit dem Wiener Standard anlässlich der Premiere 2013 schilderte der Tenor diese Herausforderung. Als er angefangen habe, den Tristan zu studieren sei er erst einmal in Panik verfallen. „Für mich war es endlos, unerreichbar, unermesslich – und erschien mir um eine Nummer zu groß“, so Seiffert. Diese Demut vor der Rolle hat er sich zu erhalten gewusst. Er stellt das Gegenteil eines stimmlichen Draufgängers dar. Seiffert singt vom Wort her, will genau verstanden werden und lässt bis zum Schluss den Lyriker durchscheinen, den gigantischen Anforderungen des dritten Aufzuges zum Trotz.

Janina Baechle ist eine Brangäne mit hochdramatischem Potenzial, die sich nicht vor stimmlichen Brüchen und Ausflügen in den Sprechgesang scheut, wenn sie denn dem Ausdruck dient. Im Wachgesang findet sie zu Ruhe und Ausgeglichenheit. Der wagnererfahrene Däne Stephen Milling singt den Marke mit trefflicher Diktionen. Fernab aller Milde formt er seine Klage mit kernigem Bass zu einem packenden Menschenschicksal. Jochen Schmeckenbecher gestaltet den Kurwenal mit Hingabe. Deshalb stört es letztlich nicht, dass sein Vortrag etwas unstet ausfällt. Dirigent Franz Welser-Möst legt großen Wert auf die meisterhafte Ausschmückung von Details. Seine Stunde schlägt vor allem mit den Vorspielen und den sinfonischen Passagen. So wird er seinen Sängern ein zuverlässiger Partner. Er deckt sie niemals zu und nimmt das Orchester – wann immer es geboten – zurück. Insgesamt lässt der Klang des Mitschnitts nichts zu wünschen übrig. Rüdiger Winter

Version René Jacobs

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Noch ein Freischütz? Es gibt doch schon so viele. In diversen Diskographien werden mehr als fünfzig Gesamtaufnahmen und Querschnitte nachgewiesen. Gelangt eine neue Produktion auf den Markt, hat sie sich gegen eine starke Konkurrenz zu behaupten. Oder sie muss etwas bieten, was es noch nicht gab. René Jacobs hat bei harmonia mundi so einen Versuch unternommen (HMM 907700.01). Doch das Cover erweckt den Eindruck, als handele es sich um eine traditionelle Einspielung. Erst im Kleingedruckten auf der Rückseite der Box wird auf die „Adaption of the dialogues“ durch den Dirigenten verwiesen. Er kehre „zu den Urquellen“ zurück und präsentiere eine noch nie gehörte Deutung der ersten deutschen Oper der Romantik. Der vom Dichter Friedrich Kind ursprünglich vorgesehene Prolog bekomme wieder seinen Platz in der Oper und der Eremit sein symbolisches Gewicht. „Eine spannende Neuentdeckung“, wird versprochen.

Ganz neu ist dieser Ansatz allerdings nicht, was selbst Jacobs im Booklet einräumt. Bereits 1980 hatte der Regisseur Achim Freyer in Stuttgart seine Inszenierung, die ein Jahr später ins ZDF kam und auch auf DVD erschien, mit einem Ausschnitt aus dem Prolog eröffnet. Ähnliche ging Johannes Reitmeier 2020 im Tiroler Landestheater vor, dessen ästhetisch ansprechende Produktion als Stream zu erleben war. In beiden Fällen wurden die Texte gesprochen und der Ouvertüre vorangestellt. Schließlich wurden sie von Weber ja auch nicht vertont. Warum eigentlich nicht?

Das Cover der Neuerscheinung lässt nicht auf eine besondere Fassung der Oper schließen.

Auf Anraten seiner späteren Frau Caroline, die eine sehr erfahrende und mit viel Theaterinstinkt ausgestattete Sängerin war, verzichtete Weber auf den Prolog, der in die Klause des Gottesmanns führt. Er ist in großer Sorge, sieht „den Feind im Dunkeln lauern“, wie er seine „Riesenfaust nach einem unbefleckten Lamm“ streckte, das niemand anderes als Agathe ist. Und auch „nach ihrem Bräutigam lauscht‘ er mit gier’gen wilden Blicken, als wollt‘ er seinen Fuß umstricken“. In – wie es in der Szenenanweisung heißt – „brünstiger Andacht“ – ruft er aus: „Herr! Vernimm des Greises Flehen! Lass den Frevel nicht geschehen!“ Da tritt Agathe ein, bringt Brot, Milch, frische Früchte und erfährt, dass der Eremit, „die eigentliche Gefahr“, die ihr und ihrem Verlobten Max drohe, zwar nicht kenne, sein Herz aber beklommen fühle, wenn er sie ansehe. Deshalb wolle er sie „heute nicht ohne Gegengabe zu entlassen“. Er schenkt ihr einen geweihten Rosenstock, „dessen erstes Reislein meinem Vorgänger ein Pilger aus Palästina mitbrachte“. Dem Rosenwasser, das daraus zu gewinnen sei, würden „wunderbare Schutz und Heilkräfte“ zugeschrieben. In einem gemeinsamen Duett preisen sie das Wunder der Gabe. Sie würde Agathe das Leben retten.

„Weg mit diesen Scenen, mitten hinein ins Volksleben … „ So Carolines Worte in dem Brief an Weber, nachdem sie das Libretto in seiner ersten Fassung gelesen hatte. Für mich ist das sehr nachvollziehbar, zumal der Prolog ganze fünf Druckseiten füllt. Was in gehobener Sprache abgehandelt wird, verlangt auf dem Theater nach Raum und Zeit. Andererseits – und das spricht für den Prolog – bleiben die Erwähnung des Besuches beim Eremiten und der Hinweis auf die geweihten Rosen während des zweiten Aufzugs im Forsthaus rätselhaft und erweisen sich selbst bei näherem Hinsehen als dramaturgische Schwäche. Nicht von ungefähr legte also der Textdichter Kind größten Wert darauf. Nur widerwillig akzeptierte er den Strich. In den von ihm veranlassten Drucken des Librettos ließ er den Prolog stets vorangestellt. „Ohne ihn“, wird Kind von René Jacob im Booklet zitiert, „ist mein Oper eine Statue, welcher der Kopf fehlt.“ Jacobs setzt ihn ihr wieder auf. Schon im 19. Jahrhundert gab es Versuche, die Szene nachträglich mit Musik aus Freischütz-Themen zu versehen. Die Fachliteratur nennt den sächsischen Musikdirektor Oskar Möricke, den auch Jacobs erwähnt. Im Vorwort einer vollständigen Textausgabe bei Reclam (Nr. 2530, ohne Jahresangabe) geht der Schriftsteller und Theaterfachmann Carl Friedrich Wittmann (1839-1903) näher auf Möricke ein und wartet mit einen faksimilierten Theaterzettel aus Lübeck von 1893 auf. Danach wurde das Vorspiel Die Rosen des Eremiten vor der Ouvertüre gegeben. Wittmann zitiert die „Lübecker Anzeigen“, dass es „mit Recht unthulich“ erschienen wäre, die Prolog-Szenen „unmittelbar nach der jubelnd abschließenden Ouvertüre einzulegen, ohne die nachfolgende Volksszene dadurch in ihrer Wirkung zu beeinträchtigen“. Wie es geklungen und auf der Bühne gewirkt hat, wird nicht näher berichtet. Beim Publikum dürfte sich die Begeisterung in Grenzen gehalten haben. Das Lübecker Blatt spricht von einem „achtungsvollen Interesse“, gelangt aber gleichfalls zu dem Schluss, dass die Ergänzung dem Verständnis „für das spätere, ziemlich unmotivierte Auftreten des Eremiten und für Agathens Hindeutung auf die von ihm zur Erinnerung erhaltenen Rosen“ wesentlich fördere.

Der Dirigent René Jaobs versteht Webers Freischütz als Singspiel nach Art der französischen Opéra comique. Foto: hamonia mundi

In der Praxis geht Jacobs wie folgt vor. Er nimmt, „was Weber komponierte, um es für die von ihm nicht komponierten Texte kreativ (aber unaufdringlich) wiederzuverwenden“. Im Einzelnen wurde beispielweise für die Eremitenarie „Allerbarmen! Herr dort oben“ der Adagio-Teil (die ersten acht und die letzten zwölf Takte) der Ouvertüre und das Hauptthema seines Auftritts im Finale der Oper („Wer legt auf ihn so strengen Bann?“) wiederaufbereitet. Das bietet sich zwar an, wirkt aber stellenweise wie ein Aufguss und nicht wie eine inhaltliche Deutung der nun an den Beginn gesetzten Ouvertüre. Dem originalen Text der Prologs traut Jacobs allerdings nicht. Passagen wurden verschoben oder gestrichen. Mehr spielerisch als sinnstiften wirken Zitate aus dem späteren Handlungsverlauf, die etwas verändert dem Eremit in den Mund gelegt werden: „Wo Agathe nur bleiben mag?“ Die würde sich später im Forsthaus fragen: „Wo nur Max bleibt?“ Noch gravierender ist, den Eremiten betont umgangssprachlich bereits von vornherein sagen zu lassen, dass ihm der alte Brauch des bevorstehenden Probeschusses „überhaupt nicht gefällt“. Bei Kind kommt das so nicht vor. Nun aber wird vorweggenommen, was sich als moralische Lehre aus einem Männlichkeitsritual, das aus dem Ruder läuft, ergeben wird. Denn erst die Beinahe-Katastrophe ruft am Ende den Eremiten erneut auf den Plan und veranlasst ihn zu seinem Urteil: „Drum finde nie der Probeschuss mehr statt.“

Für den Textdichter der Oper Friedrich Kind war der Freischütz ohne Prolog wie eine Satue, der der Kopf fehlt. Foto: Wikipedia

Die spektakulärste Neuerung betrifft Kuno, den Vater Agathes. In der ersten Fassung des Librettos hatte der nämlich statt der Erzählung über die Herkunft des Probeschusses eine Arie mit Chor selbigen Inhalts, die ebenfalls nicht komponiert wurde. Jacobs gibt sie dem Erbförster zurück. Dem überlieferten Text – beginnend mit „Herr Ottokar jagte durch Heid‘ und durch Wald“ wird Musik von Franz Schubert unterlegt – und zwar das Trinklied aus dem Singspiel Des Teufels Lustschloss in der zweiten Fassung von 1814 nach August von Kotzebue, in dem es auch nicht mit rechten Dingen zugeht. Stilistisch will das nicht passen, und die Verwunderung wäre groß, würde die CD eingelegt, ohne zuvor das umfangreiche Booklet studiert zu haben. Die Arie bleibt, was sie ist – eine Einlage. Der für den Kuno mit seinen zweiunddreißig Jahren etwas zu jugendlich wirkende Bariton Matthias Winckhler singt sie mit Bravour. Er fällt auch durch seinen geschliffenen Vortrag der Sprechtexte auf.

Nicht genug der inhaltlichen Zutaten. Max, in seiner Not, vor Agathe und der Gesellschaft bestehen zu müssen, ist ein ideales Opfer, was Kaspar und der allgegenwärtige Samiel auch in der neuen Fassung schnell erkennen. Bei Jacobs gerät er allmählicher und nicht so abrupt in die Fänge des Bösen. Seinen Beteuerungen, nicht an Zauberei zu glauben, kontert Kaspar mit Anleihen aus dem Gespensterbuch. Es gilt als wichtigste Freischütz-Quelle. Die Anthologie von Gruselgeschichten, die August Apel und Friedrich Laun zusammentrugen, erschienen von 1810 bis 1818 in mehreren Bänden. Apel, den Kind von der Thomasschule in Leipzig her kannte, steuerte die Freischütz-Sage bei. Anders als die Oper endet sie tragisch. Wilhelm, so der Name des Helden, trifft seine Braut Käthchen beim Probeschuss tödlich und beschließt seine Tage im Irrenhaus. Freikugeln werden nicht in der Wolfsschlucht gegossen. Sie sind freitags um Mitternacht im Zauberkreis auf einem Kreuzweg zu gewinnen. Noch bevor Max in seiner Not einwilligt, zur Geisterstunde in die verrufene Wolfsschlucht zu kommen, macht ihn Kaspar mit eben dieser Geschichte vom Kreuzweg neugierig und gefügig zugleich.

Das „Gespensterbuch“ von Johann Apel und Friedrich Laun gilt als wichtigste Quelle der Oper von Weber. Das Tilelblatt entstammt der Freischütz-Sage.

Während der wagnererprobte russische Bass Dimitry Ivashchenko als Kaspar stimmlich etwas derb, in der Höhe knapp und mit deutlichem Akzent agiert – was auch gewollt sein dürfte –, erfüllt Maximilian Schmitt traditionelle Erwartungen an Max nicht. Er kommt von den Regensburger Domspatzen. Bevor er 2008 nach Mannheim engagiert wurde, wo er David, Lenski und diverse Mozart-Partien sang, hatte er erste Erfahrungen im Opernstudio München gesammelt. In seiner Entführung aus dem Serail setzte ihn Jacobs als Belmonte ein. Schmitt ist also mit den lyrischen Tönen vertraut und kann dadurch den zartbesaiteten Max umso überzeugender darstellen. In den dramatischen Ausbrüchen sind ihm Grenzen gesetzt. Einem Schuss Italianità in der Stimme, versieht er in seiner großen Arie die Erinnerung an „Agathes Liebesblick“ sogar mit Koloraturen, was – wie vieles in dieser Produktion – irritiert. Nicht weniger stört es, dass ihm der mit viel mehr Text ausgestattete Samiel (eindrucksvoll Max Urlacher) mehrfach mit düsteren Kommentaren dazwischenredet. Wenn gegen Ende des ersten Aktes Hinweise auf die Freikugeln aufkommen, bringt Kaspar scheinbar nebenbei den schwedischen König Gustav Adolf ins Spiel. Dieser „elende Protestant“, wie ihm Samiel aus dem Hintergrund beschimpft, ist 1632 im Dreißigjährigen Krieg bei der Schlacht von Lützen gefallen. Indem er Schweden zu einer Führungsrolle verhalf und in den Krieg eingriff, verhinderte er einen Sieg des kaiserlich-katholischen Lagers der Habsburger und sicherte damit auch dem deutschen Protestantismus die Zukunft. Kind und Weber lassen den Freischütz „kurz nach Beendigung des Dreißigjährigen Krieges“ spielen. Jacobs scheint es wichtig, diesen historischen Verweis auch in religiöse Zusammenhänge zu stellen.

„Einst träumte meiner sel’gen Base“: Ännchens Arie wurde erst kurz vor der Uraufführung für die Sängerin Johanna Eunike in die Oper eingefügt. Sie war die Frau des Malers Franz Krueger. Beide sind auf dem  Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin begraben. Foto: Winter

Auch die Damen müssten umgelernt haben, sollten sie bereits in einer hergebrachten Freischütz-Aufführung aufgetreten sein. Ännchen bekommt sogar einen Vater, der gesagt habe, dass man die Angst verspotten müsse, damit sie fliehe. Beider Sprechtexte sind pointierter und mit modernen Ausdrucksformen angereichert. Die Ungarin Polina Pasztircsák (Agathe) und die Ukrainerin Kateryna Kasper (Ännchen) gleichen erst bei ihrer Arien sprachliche Defizite aus. Sie unterscheiden sich nach Stimme und Charakter deutlich. Ännchen gibt sich mit brustigen Tönen flott und unerschrocken. Agathe ist zurückhaltend und ängstlich. Beide Arien gelingen ihr technisch sehr gut, lassen aber jene Magie vermissen, für die Grümmer, Schwarzkopf oder Janowitz einst die Maßstäbe setzten. Was wirklich aufhorchen lässt, ist feinsinnige Begleitung durch René Jacobs. Die unterschiedlichsten Stimmungen finden sich phantasievoll ausgedrückt. Und man fragt sich nicht nur einmal, mit welchen Instrumenten sie zustande kommen. Für den Laien bleiben sie das Geheimnis des Spezialisten für Alte Musik, der für den Freischütz mit den fünfzig Mitglieder des Freiburger Kammerorchesters und sechsunddreißig Damen und Herren der Zürcher Sing-Akademie auskommt – ohne, dass man je Klangfülle vermissen würde. Der Abstieg in der Wolfsschlucht wird von unheimlichem Stimmengewirr, der fauchenden Windmaschine und dem Knistern von Feuer begleitet. Im deutlich auch hier erweiterten und veränderten Sprechtext trifft abermals der Gespensterbuch-Apel auf den Librettisten Kind – und umgekehrt.

In Lübek wurde 1893 der Prolog mit Musik aus dem „Freischütz“ unterlegt und der Oper vorangestellt.

Ich bin Jacobs dankbar, dass er in einer Fußnote des Booklets auf die Besonderheit der Ännchen-Arie „Einst träumte meiner sel’gen Base“ in der zweiten Forsthausszene eingeht. Sie wurde erst kurz vor der Uraufführung am 18. Juni 1821 in Berlin eingefügt. Die berühmte Sängerin Johanna Eunike hatte auf das Bravourstück bestanden, weil sie fürchtete, gegenüber Agathe zu kurz zu kommen. Nach den Worten von Jacobs wird damit die vorangehende Wolfsschluchtszene parodiert. „Ännchens moderne, kritische Haltung gegenüber dem Aberglauben aller anderen Figuren der Oper ist erfrischend.“ So darf denn Kateryna Kasper mit der Ausschmückung der nächtlichen Heimsuchung der verblichenen Base stimmlich sehr frei – für meine Begriffe etwas zu frei – umgehen. Übrigens hatte der Dirigent Erich Kleiber die Arie in seiner Aufnahme von 1955 für den WDR, die bei Capriccio auf CD erschien, gestrichen. Das Finale bleibt weitgehend ungeschoren. Jacob legt es sehr leicht, wunderbar durchsichtig, fast schwungvoll an. Und der Eremit (Christian Immler) erscheint auch stimmlich fern alles Salbungsvollen als ein Mann des Volkes.

Für Jacobs ist der Freischütz ist ein Singspiel nach Art der französischen Opéra comique. Dies bedeute, dass die Sänger „mehrere Eisen im Feuer haben“, führt er im Booklet aus. Sie müssten ihre Textsicherheit in mehrerer Hinsicht unter Beweis stellen: singend (in den Arien und Ensembles), deklamierend (in den Rezitativen) und sprechend (in den Dialogen)“. Für unverzichtbar hält er „höchste Gesangskultur, aber auch (im Kontrast dazu) Mut zum Unschönen, wenn die dramatische Situation dies verlangt. Beim Singen wurden zur Zeit Webers – unter bestimmten Regeln – Änderungen am Notentext geduldet; beim Dialogsprechen hingegen waren Abweichungen vom gedruckten Text selbstverständlich“. Stilbrüche und Anachronismen, die aus dem Improvisieren entstanden, seien nicht als störend empfunden worden. „Diese Freiheit wollen wir in vollem Maße auskosten.“ Webers Freischütz auf Tonträger könne nun einmal kein Schauspiel sein, er müsse als Hörspiel behandelt werden – komplett mit Geräuschen, Klangeffekten und allem, was dazugehöre. Auf der Basis von Kinds Urlibretto (1817) und seiner Ausgabe letzter Hand (1843) seien die Dialoge zu einem Hörspiel-Szenario unter Hinzuziehung von Apels Gespensterbuch (1810) umgearbeitet worden (Foto oben/Wikipedia). Rüdiger Winter