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Es gibt Dinge im Leben eines Musikfreundes, die man aus heutiger Sicht nicht mehr für möglich hält. Und doch hat es sie gegeben. Es sollte fast bis Mitte der 1970er Jahre dauern, bis in der DDR Lieder von Robert Schumann in größerem Stil auf Tonträgern verfügbar waren. Von Schumann also, der 1810 im sächsischen Zwickau zur Welt kam und über Jahre das musikalische Leben in Leipzig und Dresden nachhaltig prägte. Der in Leipzig seine dort geborene Frau Clara, Tochter des einflussreichen Musikpädagogen Friedrich Wieck, kennenlernte, die eine eigene Karriere als gefeierte Pianisten und Komponistin einschlug. Mehr biographischer Bezug zu Städten in der einstigen DDR geht nicht. Es gab Bücher, eine Briefmarke und Platten mit Sinfonien, Konzerten und Kammermusik, Sendungen im Rundfunk. Lieder nur vereinzelt. Und wenn, dann in Liederabenden. Wer spezielle Interessen entwickelte, musste nach Moskau reisen und sich dort mit einschlägigen Platten eindecken. Die Sowjetunion hatte sich noch nicht zum internationalen Urheberrecht bekannt und presste einfach nach, was im Westen eingespielt worden war.
Auf diese Weise machten DDR-Bürger, wenn sie denn keine direkten Kontakte in den Westen hatten, ihre erste Bekanntschaft mit dem Schumann-Interpreten Dietrich Fischer Dieskau. Dann kam auch Bewegung in den schwerfälligen, unter chronischer Materialknappheit leidenden ostdeutschen Markt. Der volkeigene Schallplattenbetrieb startete unter seinem Label ETERNA eine umfängliche Robert-Schumann-Edition, in der alle Genres seines Schaffens angemessen berücksichtigt wurden. Das Gros der Lieder hatte Peter Schreier übernommen. Gemeinsam mit dem amerikanischen Pianisten Norman Shetler wurden zwischen 1972 und 1974 fünf Langspielplatten in der Dresdener Lukaskirche, die wegen ihrer guten Akustik der DDR als Aufnahmestudio diente, eingespielt. Sie sind jetzt eins zu eins von Berlin Classics neu aufgelegt worden (03029288C). Damit bleibt die ursprüngliche Zusammenstellung erhalten, was den historischen Wert dieser Edition ehr steigert, auch wenn die CD-Spielzeiten zwischen achtundvierzig und dreiundfünfzig Minuten weit unter dem möglichen Fassungsvermögen liegen.
Der 1931 in Iowa geborene Shetler war 1955 zum Studium nach Wien gekommen. Schreier, auf den er dort kurz vor Beginn der Plattenaufnahmen traf, war drei Jahre jünger. Wie der Pianist in einem Interview für das Booklet berichtete, ging Initiative für die Zusammenarbeit im Studio von Schreier aus, der ihn dazu eingeladen habe. Bei gemeinsamen Liederabenden im Wiener Brahms-Saal des Musikvereins war dafür das künstlerische Fundament gelegt worden. Beide Künstler blieben die nächsten Jahre eng verbunden und traten oft gemeinsam auf. „Ein Pianist, der meinen Vorstellungen in idealer Weise entspricht“, wird Schreier im Booklet von Karsten Blüthgen aus seinem Erinnerungsbuch „Aus meiner Sicht“ (Union Verlag Berlin 1983) zitiert. Shetler sei ein poesievoller Begleiter, der – obwohl er doch aus einem ganz anderen Kulturkreis komme – eine „erstaunlich starke Einfühlung in das deutsche Liedgut“ beweise. Schreier, der aus Meißen stammte, weiter: „Ich habe beispielsweise schon als Kind in meiner Heimat Mühlen gesehen und gehört, Shetler nicht.“. Er sei auf seine Intuition angewiesen gewesen, so der Sänger in Anspielung auf ein immer wiederkehrendes Motiv, das in Schuberts Schöner Müllerin seinen Höhepunkt findet. Noch einmal Shetler über Schreier: „Er war so vertraut mit meinen Fähigkeiten.“ In dem Moment, in dem Musik erklungen sei, habe alles übereingestimmt. „In der Hauptsache haben wir seine Vorstellungen umgesetzt“, räumt der Pianist – ganz Realist – ein. Aber Schreier „hat mich wunderbar mitgenommen in seine Interpretation“.
Die Lieder wiedergehört, fällt durchaus auf, dass Schreier den Ton angibt. Seinen Ton. Er war nicht nur mit Shetlers Begabung vertraut, er war es vor allem mit dem deutschen Liedgut. Als Sohn eines Lehrers und Kantors und schon seit 1943 in der Vorbereitungsklasse des Dresdener Kreuzchores, wuchs er in einer Umgebung auf, in der Musik und Literatur ganz selbstverständlich zum Alltag gehörten. Von 1945 an Vollmitglied des berühmten Chores, der damals von Rudolf Mauersberger geleitet wurde, trat er schon bald auch solistisch hervor, war in Konzerten und im Rundfunk zu hören. Aufnahmen aus seiner frühen Zeit haben sich erhalten und sind inzwischen auch bei Berlin Classics auf CD erschienen. Schreier sang bis zum Ende seiner langen Karriere ungemein genau. Bis auf wenige Ausflüge in dramatische Bereiche wie mit Max in der Plattenaufnahme von Webers Freischütz unter Carlos Kleiber, blieb er immer der lyrische Tenor, der sich sicher zwischen Lied, Oratorium und Oper bewegte. Er setzte seine Stimme nicht unnötig Risiken aus und lebte in der Praxis den Beweis, auch als lyrischer Tenor eine andauernde internationale Karriere machen zu können.
Sein Publikum bekam immer hundert Prozent Schreier geboten – und damit die hohe Kunst des Gesangs. So auch bei den Schumann-Liedern der neuen Sammelbox. Seit Jahrzehnten mit diesen Aufnahmen vertraut, habe ich sie mit Gewinn und innerer Anteilnahme neu auf mich wirken lassen. Da war es wieder, dieses Staunen über technische Perfektion und Disziplin, die sich aus dem Wort entwickelt und nie verselbstständigt. Und doch vermisste ich auch etwas. Nämlich ein gewisses Wagnis, den Versen eine stärkere persönliche Note beizumischen, sich einer dramatischen Situation mit mehr Überschwang hinzugeben. „Du meine Seele, du mein Herz.“ Der Anfang von Widmung, einem der berühmtesten Lieder des Komponisten, könnte etwas weniger kontrolliert klingen. Schreier bewahrt immer die Contenance. Deshalb sollte man auch nicht von ihm verlangen, was nicht in seinen Diensten steht.
Die Box versammelt das Beste des Liedkomponisten. Frauenliebe und -Leben ist freilich nicht dabei. Dieser Zyklus wurde im Rahmen der Eterna-Edition von Arleen Auger gesungen, wobei nicht Shetler sondern Walter Olbertz begleitete. Mit Dichterliebe dürfte Schreier eine seiner besten Leistungen gelungen sein, die auch nach fünfzig Jahren noch ihre jugendliche Frische bewahrt hat. Eine der rätselhaftesten Schöpfungen Schumann sind die Zwölf Gesänge von Joseph Eichendorff im Liederkreis op. 39 – ein Gipfelpunk der deutschen Romantik. Für Schreiers stimmliche Fähigkeiten ein Selbstläufer in vollendeter Diktion. Die Töne sind exakt miteinander verbunden, einer geht nahtlos in den anderen über. Gleich im ersten Lied rauscht die „schöne Waldeinsamkeit“ wie sie schöner nicht rauschen kann. Auch wenn in der Mondnacht der Himmel tatsächlich die Erde zu küssen scheint, kommt es mir so vor, als ob Schreier bei eingeschalteter Lampe singt und nicht aus dem Dunkel heraus. Er bleibt das Geheimnis schuldig. „Hast du einen Freund hienieden, trau‘ ihm nicht zu dieser Stunde.“ In Zwielicht sollten einem diese zwei Verszeilen den Atem stocken lassen. Bei Schreier klingen sie eine Spur zu nett. Und warum weint nun die Braut im fröhlichen Hochzeitszug auf dem Rhein im Lied Auf einer Burg, während oben auf dem Felsen der auf der Lauer sitzende Ritter zu Stein geworden ist? Der Sänger scheint weniger dran interessiert zu sein, über die Gründe nachzusinnen. Er vermittelt eine Geschichte. Das ist ja auch immerhin etwas. Man muss dem Interpreten seine eigene Erzählperspektive zubilligen und sich als Zuhörer darauf einlassen.
Geboten werden auf den fünf CDs einhundertzwölf Lieder. Neben den bereits genannten Zyklen sind dies der Liederkreis op. 24, die Zwölf Gedichte von Justinus Kerner op. 35, Sechs Gedichte von Nikolaus Lenau und Requiem (altkatalonisches Gedicht) op. 90, Fünf Lieder op. 40 sowie zahlreiche einzelne Lieder aus unterschiedlichen Werkgruppen. Mal sind die Textdichter genannt, mal nicht. Hier sind eigenes Wissen und Recherche gefragt. Für eine Sammlung, die auf dem Titel den Anspruch erhebt, eine Lied-Edition zu sein, sind das nicht die allerbesten Voraussetzungen. Schließlich ist auch schlicht vergessen worden, die Herkunft der Bilder auf den einzelnen CD-Hüllen, die den ETERNA-Schallplatten nachempfunden sind, zu benennen. Sie stammen von Adolf Menzel. Auf den Originalen wurde dieser Informationspflicht genüge getan. Es fanden sich dort auch alle Angaben über die die Dichter der literarischen Vorlagen. Wer seinerzeit die Texte nachlesen wollte, musste sie in Büchern nachschlagen. Bei Heine, Goethe oder Eichendorff dürfte das noch relativ einfach gewesen sein. Wer aber hatte schon eine Ausgabe von Geibel, Lenau oder Rückert im Regal? Heute tut’s ein Blick ins Internet. Rüdiger Winter