Empathie und Können

.

Die Rezeptionsgeschichte der Les nuits d’été von Hector Berlioz auf Tonträgern wird von Sängerinnen dominiert. Vorgegeben ist das durch die Entstehungsgeschichte nicht. Die Lieder sind Vertonungen von Versen Théophile Gautiers aus einem Gedichtband. Dichter und Komponist kannten sich gut. Als Zyklus sind sie von vornherein nicht angelegt gewesen. Über etwa sieben Jahre erstreckte sich die Komposition. 1840 lag sie fertig vor, im Jahr darauf wurde die Klavierfassung veröffentlicht. Schon 1834 orchestrierte Berlioz Absence, in der endgültigen Reihenfolge an die vierte Position gerückt, 1856 – und damit mehr als zwanzig Jahre später – folgten die übrigen fünf Titel. Berlioz hat keine geschlossene Aufführung erlebt, sie aber dann doch als Sammlung verlegen lassen. Die Lieder wurden zu seiner Zeit nur einzeln gegeben, auch von Sängern. Davon zeugen unterschiedliche Transpositionen, die autorisiert sind. Aus Sicht des lyrischen Ichs der Dichtungen ist in den Liedern eine betont männliche Warte auszumachen. Schon im ersten Lied Villanelle wird eine Schöne zum Waldspaziergang animiert, um Maiglöckchen zu pflücken. Und im letzten Lied, L’île inconnue, lädt ein Seemann wieder eine junge Schönheit zu einer Fahrt mit unbestimmtem Ziel ein. Sie fragt nach dem Land, in dem die Liebe ewig wohne, welches für ihn aber nicht existiert. Stattdessen wiederholt er seine Einladung an das Mädchen.

Bei Erato singt Michael Spyres die Lieder in der Orchesterfassung, die sich gegen die ursprüngliche Klavierbegleitung durchgesetzt hat. Er wird begleitet vom Orchestre philharmonique de Strasbourg unter John Nelson (5054 1971 96850). Spyres hat auf CD etliche Vorgänger, darunter Nicolai Gedda, José van Dam, Jean-Paul Fouchécourt, Stéphane Degout, Ian Bostridge, Christian Gerhaher. Beim Süddeutschen Rundfunk, der sich schon in den 1950er Jahren auf Initiative seines Dirigenten Hans Müller-Kray an einer Berlioz-Renaissance versucht hatte, die zunächst folgenlos blieb, entstand eine Aufnahme mit Helmut Krebs in deutscher Übersetzung von Peter Cornelius. Selbst Komponist und dazu noch Dichter, war er am ehesten in der Lage, die Übersetzung der musikalischen Struktur des Originals anzupassen. Cornelius und Berlioz waren persönlich miteinander bekannt. Der Franzose hätte garantiert Einspruch erhoben, wären er mit der Arbeit des Kollegen nicht einverstanden gewesen. Es dürfte sich um die einzige Einspielung in deutscher Sprache handeln. Eine andere habe ich nicht gefunden.

Mich hatte bisher noch keine Interpretation durch einen Sänger, der auch auf Tonträgern nachzuhören ist, vollumfänglich überzeugt. Nicht einmal Nicolai Gedda, der in seiner Zeit ähnlich hohe Maßstäbe für Berlioz gesetzt hatte wie jetzt Spyres. Erst zweiundvierzig Jahre alt, ist der amerikanische Tenor als Énée, Benvenuto Cellini, Faust und Récitant in L’enfance du Christ im Musikbetrieb und auf CD fest etabliert. Es war also nur eine Frage der Zeit, bis er sich den Liedern zuwenden würde. Nun ist es soweit. Seine Umtriebigkeit und sängerische Unerschrockenheit, die auch vor Wagners Tristan keinen Halt machte, ist bemerkenswert. Es besteht immerhin die Gefahr, dass die Stimme auf Dauer nicht mithält, was sehr schade wäre. Und dennoch scheint sich sein Repertoire, zu dem auch Händel und Mozart gehören, in der Summe in seiner Interpretation der Lieder niederzuschlagen. Er singt als Wissender. Mit sicherem Instinkt trifft er genau das, was Berlioz in seiner Zerrissenheit und Depression, in seinem Ungestüm ist. Hinter betörender, in Duft gehüllter Melancholie lauern Gefahren. Besonders in Au cimetière, jener Spukszene auf dem Friedhof mit ihrem Grabgesang, schöpft er die dissonante Vielfalt der Stilmittel von Berlioz bis zum Gehtnichtmehr aus. Dass ihn dabei der Dirigent, ein ausgewiesener Berlioz-Kenner, sicher durch Klippen führt und immer wieder aufs Neue inspiriert, steht außer Frage. Als künstlerische Partner haben sie sich gesucht und gefunden.

Gekoppelt sind Les nuits d’été auf der neuen CD, die im Oktober 2021 in Strasbourg aufgenommen wurde und die Nelsons vielgelobte Beschäftigung mit Berlioz in Strasbourg fortführt mit Harold en Italie (Joyce DiDonato sang dort nach den Troyens dto. mit Spyres ebenfalls die Nuits d´eté im Konzert). Beide Werke passen vorzüglich zusammen, weil auch in der Sinfonie ähnliche poetische Stimmungen aufkommen wie in den Liedern. Viola-Solist ist der Brite Timothy Ridout. Aufgenommen wurde im Oktober 2021 in Strasbourg. Rüdiger Winter