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Am 23. September 1958 saßen zu nächtlicher Stunde der Decca-Produzent John Culshaw und der Dirigent Georg Solti in der Bar des Wiener Hotels Imperial beisammen. Plötzlich spazierte Culshaws EMI-Kollege Walter Legge herein und wollte wissen: „Was machen Sie hier?“ Solti entgegnete: „Wir nehmen Rheingold auf.“ Darauf Legge: „Sehr hübsch, aber Sie werden nicht einmal fünfzig Schallplatten verkaufen.“ Die Anekdote wird dieser Tage oft und gern erzählt. Und das aus gutem Grund. Rheingold, der Vorabend zu Richard Wagners Ring des Nibelungen ist in einem bislang einzigartigen Remastering neu aufgelegt worden. Nicht nur als SACD (485 315-9). In Referenz an das Original, das erstmals 1959 in den Handel gekommen ist, gibt es auch eine Vinyl-Ausgabe (SXL 2101/03-B). Walküre folgt noch 2022, Siegfried und Götterdämmerung dann im nächsten Jahr. Nachzulesen ist die Geschichte im Buch „Ausgespielt – Aufstieg und Fall der Klassikindustrie“ des englischen Musikkritikers Norman Lebrecht, verlegt 2007 bei Schott. Die Aufnahme selbst begann am Tag nach der nächtlichen Begegnung in den wegen ihrer Akustik geschätzten Sofiensälen. Erste Sitzung war eine Klavierprobe mit der dreiundsechzigjährigen Kirsten Flagstad, die die Fricka sang und damit nochmals in einer neuen Rolle debütierte. Sie hatte ihre Bühnenkarriere bereits beendet, blieb gelegentlich aber in Studios tätig. Culshaw, der ihr Sohn hätte sein können, verehrte sie sehr und wollte sie ursprünglich sogar als Brünnhilde besetzen, was sich aber nicht realisieren ließ. Ihren Zenit deutlich überschritten, verbreitet sie stimmlich aber noch immer majestätische Würde, die für Wotans göttliche Gemahlin genau richtig schien. Mit ihrem legendären Ruf drückte sie der Produktion ein Gütesigel der besonderen Art auf.
Als Fricka hinterließ die einst weltweit gefeierte Wagnerheroine eine letzte leuchtende Spur auf dem internationalen Musikmarkt. Sie starb 1962. Eine Decca-Platte zu ihrem Gedenken wurde denn auch mit einer großen Szene aus dem neuen Rheingold bestückt. Die Flagstad was das mit Abstand älteste Ensemblemitglied, gefolgt von dem neun Jahre jüngeren Set Svanholm, der als Loge mitwirkte. 1908 wurde Kurt Böhme (Fafner) geboren, 1910 Paul Kuën (Mime) und Gustav Neidlinger, der mit dem Alberich seine Glanzrollen gefundene hatte. Jahrgang 1918 war die Altistin Jean Madeira (Erda), 1919 Hetty Plümacher (Wellgunde) und Ira Malaniuk (Floßhilde). Nesthäkchen ist die erst vierundzwanzigjährige Dänin Oda Balsborg (Wellgunde) gewesen. Wotan George London (1920), Fasolt Walter Kreppel (1923), Freia Claire Watson (1927) sowie Froh Waldemar Kmentt und Donner Eberhard Waechter (beide 1929) lagen dem Alter nach dazwischen. Mit der Rheingold-Besetzung standen drei Sängergenerationen vor den Mikrophonen in den Sofiensälen. Nur Neidlinger und Böhme behielten ihre Rollen auch in den folgen Teilen bei, während die Watson zur Gutrune wechselte. Für Kontinuität im Großen und Ganzen standen Solti, die Wiener Philharmoniker und die Aufnahmeleitung. Der Dirigent war 1912 in Budapest geboren worden. Obwohl bereits seit 1947 bei Decca unter Vertrag, begann sein Aufstieg zum Weltruhm erst mit dem Ring.
Legge, der gewöhnlich als weitsichtig galt und mit den von ihm betreuten Aufnahmen kräftige Akzente setzte, die bis in die Gegenwart nachwirken, hatte sich diesmal geirrt – und zwar gewaltig. Mehrfach preisgekrönt, entpuppte sich dieser Ring als eine der erfolgreichsten Produktionen der Schallplattengeschichte. Endlich konnte Wagners Bühnenweihfestspiel auch in den eigenen vier Wänden gehört werden, immer und immer wieder, bei Tag und bei Nacht. Es bedurfte keiner Notenkenntnisse, um das Werk in seiner Kühnheit und Genialität kennenzulernen. Wer wissen wollte, wie Wagner klingen kann, kam daran nicht vorbei. Selbst Skeptiker griffen irgendwann danach. In kaum einer Sammlung dürfte er fehlen. Die erste Studioaufnahme, die erst 1965 vollendet wurde, war nie von Markt verschwunden, war immer griffbereit und landete auf keinem Wühltisch in Kaufhäusern. Vor diesem Schicksal bewahrte sie auch ein angemessener Preis. Von 1967 an trat Herbert von Karajan bei Deutsche Grammophon mit seinem Ring als der große Decca-Herausforderer auf, indem er neue ästhetische Klangvorstellungen entwickelte. Das Decca-Produkt ließ sich dadurch nicht verdrängen. Rüdiger Winter
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„Die größte aller Errungenschaften in der Geschichte der Schallplattenaufzeichnung.“ Mit Superlativen sollte man bekanntlich behutsam umgehen. Und doch ist die Zuschreibung des berühmten britischen Klassikmagazins Gramophone letzten Endes zutreffend. Die bald als Goldener Ring bezeichnete Produktion, die sich über nicht weniger als sieben Jahre erstrecken sollte, war zunächst gar nicht als Gesamteinspielung der Operntetralogie Richard Wagners geplant. Verantwortlich zeichneten der visionäre englische Produzent John Culshaw (1924-1980) und der ambitionierte aus Ungarn stammende Dirigent Georg Solti (1912-1997). Chronologisch korrekt, stand das Rheingold im Herbst 1958 am Anfang. Die Reihenfolge des Nibelungenrings wurde später indes nicht eingehalten, was auch daran lag, dass Decca 1961 die Walküre zunächst unter Erich Leinsdorf vorlegte und man insofern zunächst Siegfried (1962) und Götterdämmerung (1964) unter Solti den Vorrang gab. Erst 1965 produzierte Decca dann als Abschluss des Wiener Ring-Projektes nach gerade einmal vier Jahren eine weitere Einspielung der Walküre.
Was rechtfertigt nun diese Neuausgabe? Dazu ist zunächst ein kurzer Rückblick vonnöten. Nachdem die Stereo-Langspielplatten von 1959 bis 1966 sukzessive erstmals auf den Markt kamen, erfolgte im Jahre 1984 – sicherlich angeregt durch das Wagner-Jubiläum anlässlich des 100. Todestages des Komponisten 1983 – die CD-Premiere des Culshaw/Solti-Rings. Der Produzent hat dies nicht mehr erlebt; von der Decca hatte er sich bereits 1967 getrennt und arbeitete danach einige Zeit für die BBC. Das Remastering für diese CD-Erstauflage erfolgte im seinerzeit durchaus adäquaten 16 Bit/48 kHz-Standard, galt allerdings landläufig als misslungen und dem Potential der Einspielung nur unzureichend gerecht werdend. 1997 schließlich – wohl eher zufälligerweise in Soltis Todesjahr – nahm sich Culshaws ehemaliger Assistent James Lock neuerlich der Gesamtaufnahme an. Diese Neuauflage wurde technisch verbessert in 24 Bit/48 kHz durchgeführt. Sie wurde zur Grundlage für alle weiteren Auflagen des letzten Vierteljahrhunderts und erzielte eine deutliche klangliche Verbesserung, die zumindest erahnen ließ, was Culshaw seinerzeit vorgeschwebt war. 2012 schließlich, am Vorabend eines weiteren Wagner-Jahres (200. Geburtstag), entschied sich Decca für eine Generalüberholung des 1997er Remasterings. Nach den damaligen offiziellen Angaben des Labels befanden sich die originalen Tonbänder zu diesem Zeitpunkt bereits in einem zu suboptimalen Zustand, um ein komplettes neues Remastering anzugehen.
Dies wurde von Musikkritikern verschiedentlich bereits damals in Zweifel gezogen und ein bloßer Vorwand vermutet. Aus heutiger Sicht erhärtet sich freilich der Verdacht, dass man 2012 die nicht unerheblichen Mühen scheute, die man ein Jahrzehnt später nun eben doch in Kauf nahm. Decca gibt als Grund für die Umsetzung des kaum mehr für möglich gehaltenen Unterfangens den 25. Todestag von Sir Georg Solti an. Wie dem auch sei, bleibt als Faktum, dass man nach zweieinhalb Jahrzehnten nun ein drittes Mal die Originaltonbänder heranzog und im sog. DSD-Verfahren (Direct Stream Digital) ein komplett neues Remastering in der sagenhaften Qualität von 24 Bit/192 kHz (sog. Hi-Res alias High Resolution) auf den Weg brachte.
Die Bandbreite der Dynamik der Einspielung ist nun nicht nur mittels Klangspektren nachweislich ins Unermessliche gesteigert, sondern auch hörbar noch einmal deutlich verbessert worden. John Culshaws Vision von einer audiophilen Produktion, die auch noch Generationen danach als die Referenzeinspielung gelten kann, hat sich nun, nach über einem halben Jahrhundert, womöglich doch noch bewahrheitet. Den Beweis für den wirklichen Qualitätszuwachs lieferte kürzlich bereits eine als The Golden Ring bezeichnete SACD (485 336-4) mit insgesamt klug ausgewählten Höhepunkten aus dem Ring des Nibelungen, wobei alle vier Opern gleichmäßig bedacht wurden. Bereits auf dieser Grundlage ließ sich sagen, dass es den Tontechnikern nun zum ersten Mal spektakulär gelungen ist, das in den bisherigen Ausgaben klanglich ein wenig abfallende, da am frühesten entstandene Rheingold in derselben Klanggewalt erklingen zu lassen wie den später eingespielten Rest. Geringfügige Abstriche, die man hier bisher machen musste, gehören somit der Vergangenheit an.
Das nunmehr vollständig aufgelegte Rheingold (485 315-9) macht logischerweise den Anfang bei dieser hochauflösenden Edition, die bis Mai 2023 abgeschlossen sein soll. Dass sich Decca dazu entschloss, als zweites die Walküre zu berücksichtigen und somit der eigentlichen Reihung der Ring-Opern treu zu bleiben, ist ausdrücklich zu begrüßen. Es lässt sich jedenfalls festhalten, dass auch die Rheingold-Gesamtaufnahme den hohen Erwartungen, welche durch die Highlights-Disc geweckt wurden, vollumfänglich gerecht wird. Etwaige Befürchtungen, eine über die Jahrzehnte fortgeschrittene Abnutzung der Bänder könnte das Hörerlebnis beeinträchtigen, sind glücklicherweise nicht eingetreten. Die ganz wenigen Momente, wo man bei hyperkritischer Hörsitzung so etwas wie eine gewisse Bandabnutzung wähnen könnte, dürften schlicht und ergreifend an der jetzt bis ins kleinste Detail durchhörbaren Tontechnik liegen. Und selbst, wenn man in Rechnung stellte, dass die Bänder eben nicht mehr im selben Zustand vorliegen wie 1997, gilt es ohne Übertreibung hinzuzufügen, dass keine spätere Einspielung des Rheingold klanglich üppiger daherkommt als diejenige Soltis. Auch die vor einigen Jahren als Blu-ray-Audio remasterte Neuauflage der Deutsche-Grammophon-Einspielung unter Herbert von Karajan von 1967, die für sich genommen jetzt ebenfalls vorzüglich klingt, erreicht nicht ganz die Opulenz des von der Decca forcierten Klangbildes. Ganz zu schweigen von späteren Aufnahmen, wobei die unter Live-Bedingungen entstandenen wie diejenige von den Bayreuther Festspielen unter Karl Böhm (ebenfalls 1967 und später bei Philips aufgelegt) fairerweise nicht zum direkten Klangvergleich herangezogen werden sollten. Auf einen interessanten Unterschied zwischen den Einspielungen Soltis und Karajans – Ende der 1960er Jahre die einzigen erhältlichen – wies bereits der legendäre englische Musikkritiker des Gramophone Alec Robertson (1892-1982) hin: Während die Decca für das Gekreische der Nibelungen Soprane einsetzte, entschied sich die DG für Tenöre.
Das künstlerische Niveau des Solti-Rheingolds ist bekanntlich auf einem später nicht mehr übertroffenen Level. Mit dem amerikanischen Bassbariton George London hatte man die idealtypische, noch eher jugendliche Verkörperung zumindest des Rheingold-Wotan verpflichtet, dem gleichwohl die natürliche und eben nicht bloß aufgesetzte göttliche Autorität zu eigen ist, die in dieser Partie unabdingbar erscheint. An seiner Seite die schon damals legendäre norwegische Wagner-Ikone Kirsten Flagstad als Fricka, deren schon etwas ältliche Klangfarbe in diesem Zusammenhang für diese Rolle durchaus als adäquat bezeichnet werden kann. Der zweite Skandinavier im Besetzungsteam, der schwedische Tenor Set Svanholm, brilliert hier in einer Altersrolle als Feuergott Loge. Luxuriöser könnten die übrigen Götter nicht besetzt sein. Mit dem aus Wien stammenden Bariton Eberhard Waechter hatte man einen absoluten Glücksgriff als Donner getroffen, dem man den Gewittergott auch glaubhaft abnimmt. Der Tenor Waldemar Kmentt, ebenfalls Wiener, gibt einen wohltimbrierten Froh. Dazu gesellen sich der jugendliche Sopran von Claire Watson als Freia und der überaus beeindruckende Alt von Jean Madeira als Erda – beide US-Amerikanerinnen. Die Nibelungen sind auf nicht weniger ausgezeichnetem Niveau. Der aus Mainz stämmige Bassbariton Gustav Neidlinger prägte die Partie des Alberich dermaßen, dass er völlig mit ihr identifiziert wurde. Seine Auftritte stellen fraglos Höhepunkte der Aufnahme dar. Mit dem Charaktertenor Paul Kuën ward zudem ein Mime aufgeboten, der nicht zur einseitigen Übertreibung neigte.
Das Riesenpaar besteht aus den Paradebassisten Walter Kreppel (Fasolt) und Kurt Böhme (Fafner), die verschieden genug klingen, um eine eindeutige Unterscheidung zu ermöglichen. Schließlich die Rheintöchter, bei welchen mit Oda Balsborg (Woglinde), Hetty Plümacher (Wellgunde) sowie Ira Malaniuk (Floßhilde) das hohe künstlerische noch einmal unterstrichen wurde. Bei ihnen allen ist die ausgezeichnete Diktion und Textverständlichkeit hervorzuheben, wie sie im Wagnergesang leider schon seit langem nicht mehr die Regel darstellt. Im selben Maße wie das vorzügliche Sängerensemble tragen die hier bezwingend aufspielenden Wiener Philharmoniker unter Georg Soltis begnadeter musikalischer Leitung zum Ausnahmerang dieser Produktion bei. Die orchestralen Höhepunkte kommen zuweilen beinahe orgiastisch ausgekostet daher, wobei die erste Verwandlungsmusik, die Fluchszene, Donners Hammerschlag und natürlich der Einzug der Götter in Walhall besonders zu erwähnen sind.
Das weitere Voranschreiten des klanglich nachhaltig aufgefrischten Culshaw/Solti-Rings darf von daher mit Spannung erwartet werden. Daniel Hauser