Archiv des Autors: Rüdiger Winter

Neuer Anfang, neues Ende

 

Nach der Schönen Müllerin nun Schwanengesang. Der Bariton Bo Skovhus erarbeitet sich bei der österreichisches Firma Capriccio die drei großen Liederzyklen von Franz Schubert. Die Winterreise ist im Booklet der Neuerscheinung bereits angekündigt. Den Dioskuren gleich, die auch Schubert so hymnisch besungen hat, erscheinen auf den Covern der Sänger und seine Begleiter Stefan Vlader in fast schon antiker Pose. Das ist vom Wiener Fotografen Roland Unger sehr wirkungsvoll arrangiert. Diese Alben wollen auffallen – und müssen es auch. Schließlich stellen sich Skovhus und Vlader einer übermächtigen Konkurrenz. An Aufnahmen dieser Werke ist kein Mangel. Neue Produktionen müssen aber nicht nur mit perfekter Verpackung sondern auch inhaltlich punkten können. Der Schwanengesang (C5292) fällt schon mal dadurch aus dem Rahmen, dass die übliche Zusammenstellung mit vierzehn Liedern um fünf erweitert wird. Dabei handelt es sich um die ebenfalls späten Lieder Sehnsucht, Am Fenster, Wiegenlied, Bei Dir allein und Herbst. Verändert ist auch die Reihenfolge. Nanu! Liegt die falsche CD im Player?

Begonnen wird nämlich mit Sehnsucht, geendet mit Abschied. Irritierend ist der Verweis auf die Nummer 967 im so genannten Deutschverzeichnis. Damit hatte der Musikwissenschaftler Otto Erich Deutsch (1883–1967) alle Werke Schuberts in chronologischer Folge angeordnet. Der Schwanengesang findet sich im Verzeichnis in der gebräuchlichen Form, die auf den Verleger Tobias Haslinger zurückgeht. Der hatte die im Herbst 1823 komponierten Lieder nach Texten von Heine und Rellstab, die offensichtlich als Zyklus konzipiert waren, eigenmächtig um die Taubenpost des Dichters Johann Gabriel Seidl erweitert und geschlossen herausgegeben. Im Booklet der Neuerscheinung wird diese Lesart vom Musikwissenschaftler Gerhard Persché kritisch hinterfragt. Unter Bezugnahme auf die Schubert-Biographie von Hans Jürgen Fröhlich (Fischer-Verlag/ISBN 978-3596250110) heißt es, dass der schwerkranke Schubert die Lieder noch gar nicht aus der Hand geben wollte, bis sie nicht die „vollkommenste Gestalt“ erhalten hätten. Er sei dazu aber gezwungen gewesen, weil er Geld für Medikamente brauchte. Haslinger habe nur einen Gulden pro Lied gegeben. „Fröhlich nennt dieses Verhalten niederträchtig, zumal Haslinger später an Schubert Unsummen verdiente“, heißt es im Booklet-Text. Sein Autor hegt Zweifel, dass die Schubert die Lieder von Heine und Rellstab von „Anfang an als Zyklus angedacht hatte“. Was für die Heine-Lieder noch zutreffen mag, vermittle in der Kopplung mit Rellstab „eher den Eindruck einer zufälligen Collage“. Natürlich könne „ein beflissener Dramaturg den Zyklus unter ein gemeinsames Motto zwingen – das des Trennungsschmerzes“. Dessen Behandlung sei bei Rellstab und Heine „völlig unterschiedlich“. Die angeklebte Taubenpost, die letzte Liedkomposition Schuberts, wirke „als wäre Spitzweg in Musik gesetzt“, resümiert Persché. Die Vermutung, „dass Haslinger das Lied einfach an die Sammlung anheftete, weil es ihm übrig geblieben war“, sei nicht von der Hand zu weisen.

Auf der neuen CD findet sich die Taubenpost nun an dritter Position. Skovhus und Vlader hätten an der traditionellen Reihung „zu Recht Anstoß“ genommen und dieses Lied in eine eigene Gruppe mit den anderen Seidl-Liedern gebettet. So sei ein Schwanengesang-Triptychon mit Heine im Zentrum und Rellstab, angereichert mit Herbst und Abschied, zum Schluss. Vlader: „Es ist uns natürlich bewusst, dass diese Version keinen musikwissenschaftlich haltbaren Anspruch auf eine vom Komponisten intendierte Fassung darstellt, das tut aber das ,Original‘ auch nicht.“ Diese Einspielung versteht sich als Angebot, als Anstoß für weitere Untersuchungen und Deutungen. Das allein macht ihren Reiz und ihren Wert aus. Wer diese CD erwirbt, sollte also zuerst das Booklet genau lesen und seine eigenen Überlegungen anstellen. So vorbereitet, erweist sich das ambitionierte musikalische Angebot als spannend und aufregend. Shovhus, der auch auf den Opernbühnen mit unterschiedlichsten Partien aktiv ist, gehört nicht zu den klassischen Schönsängern. Dafür ist sein rauchiges Timbre viel zu individuell. Dramatische Passagen geraten mitunter ungenau und verschwommen. In der deutschen Aussprache nahezu perfekt, gibt sich der gebürtige Däne grüblerisch. Als suche er nach dem tieferen Sinn der Lieder. Obwohl er als Interpret einen betont  männlichen Eindruck hinterlässt, ist er alles andere als ein stimmlicher Macho. Im Kern ist er sensibel und sehr empfindsam. Für den späten Schubert sind das immer noch die besten Voraussetzungen. Dabei unterstützt ihn sein Pianist Vlader, der auch als Dirigent in Erscheinung tritt, mit gelegentlich eigenwilliger Tempowahl. Beide sind ein vorzügliches Team. Rüdiger Winter

Die „Unvollendete“ als Entdeckung

 

Der Dirigent Sergiu Celibidache (1912–1996) war eine streitbare Persönlichkeit. Seine Selbstinszenierung als „Musik-Guru“ in späten Jahren traf nicht auf ungeteiltes Echo. Offizielle Einspielungen im Tonstudio lehnte er aus verschiedenen Gründen ab. Gemessen daran ist sein diskographischer Nachlass erstaunlich groß. Chronologisch reichte sein Repertoire von Bach bis Hindemith, auch wenn die Spätromantik mit Bruckner und Brahms selbstredend das Gros ausmachte. Besonders EMI hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten um die Verbreitung seiner überlieferten Tonaufnahmen gekümmert. Trotzdem gibt es auch heute noch Entdeckungen in Sachen „Celi“ zu machen. Die Münchner Philharmoniker, denen der gebürtige Rumäne in den siebzehn letzten Jahren seines Lebens als Chefdirigent vorstand, bereichern nun auf ihrem Eigenlabel (MPHIL0004) die Diskographie um zwei weitere Facetten: Franz Schuberts „Unvollendete“ und Antonin Dvoráks Sinfonie „Aus der Neuen Welt“.

Die nur zweisätzige sogenannte „Unvollendete“, die mit ihren etwa gleich langen Sätzen tatsächlich eine in sich abgeschlossene Einheit darstellt, ist seit ihrer späten Uraufführung 1865, Jahrzehnte nach Schuberts Tod, ein Dauerbrenner. Beinahe kurios, dass erst jetzt eine Münchner Aufnahme unter Celibidaches Stabführung auftaucht. Das Werk fehlte in der ansonsten umfangreichen EMI-Edition. Dies vorweg: Es lag nicht an einer unzureichenden Tonqualität. Der Live-Mitschnitt datiert auf den 30. September 1988 und fand in der akustisch problematischen Philharmonie im Gasteig statt. Von etwaigen Problemen ist zumindest in der Tonaufnahme nichts zu merken. Das Klangbild präsentiert sich voll und detailreich. Entgegen dem Klischee wählt Celibidache auch keine extrem langsamen Tempi: Das Allegro moderato kommt auf 12:14, das Andante con moto auf nur minimal längere 12:22 (Karl Böhm braucht in seiner letzten Aufnahme, die für mich Referenzstatus besitzt, 12:59 und 12:17). Freilich handelt es sich (man möchte sagen: zum Glück) gleichwohl um eine insgesamt getragene Interpretation. Im geheimnisvollen Kopfsatz entsteht hier zuweilen eine gar beängstigende Stimmung. Obschon alle lyrischen Momente voll auskostend, versteht es Celibidache, die dramatischen Ausbrüche in ihrer ganzen Unerbittlichkeit ausspielen zu lassen (und das zuweilen vorwärtsdrängender, als man glauben möchte). Der zweite Satz profitiert vom unnachahmlichen Innehalten und Zurücknehmen des Dirigenten. Bei diesem spätromantisch angehauchten Schubert hat man im Hinterkopf bereits die Klangwelten Anton Bruckners und versteht die nicht abzustreitende Vorbildfunktion Schuberts für denselben.

Das andere auf der CD enthaltene Werk, Dvoráks letzte Sinfonie, war bis dato unter Celibidache zumindest durch einen 1991 entstandenen Video-Mitschnitt bekannt (DVD bei EuroArts). Die vorliegende Aufnahme stammt vom 16. Juni 1985 und kommt aus dem Herkulessaal der Münchner Residenz. Das Klangerlebnis ist ähnlich überzeugend wie bereits beim Schubert. Großartiger und prächtiger hat man das einleitende Adagio des Kopfsatzes (10:48; 1991 übrigens 11:16) selten gehört. Das stellenweise sehr zelebrierte Tempo überhöht diesen ohnehin schon majestätischen Satz noch in besonderer Weise. Bei den forte-Stellen wird es, der brachialen orchestralen Eruption angemessen, dann auch stellenweise flotter. Bei der Feierlichkeit des berühmten Largo übertreibt es der Dirigent für den gewöhnlichen Dvorák-Hörer vermutlich doch: Mit 16:43 übertrifft er hier sogar die sechs Jahre später entstandene Aufnahme um einige Sekunden (und George Szell um beinahe fünf Minuten). Auch hier wird man wieder an Bruckner gemahnt, derjenige Komponist, dem Celibidache vermutlich am nächsten stand, da er seine temporalen Vorstellungen dort am besten umsetzen konnte. Der langsame Satz hat in „Celis“ Deutung etwas Transzendentales an sich. Bewundernswert, wie scheinbar mühelos das Orchester imstande ist, der zuweilen exzentrischen Agogik des Dirigenten zu folgen. Und doch kommt keine Langeweile auf, da die Innenspannung erhalten bleibt.

Sowohl das Scherzo (8:35) als auch das Finale (12:12) fallen rein tempomäßig nicht so stark von anderen Aufnahmen ab (in Ferenc Fricsays berühmter Einspielung mit den Berliner Philharmonikern etwa 8:18 und 11:56). Im explosiven dritten Satz geht es auch bei Celibidache richtig zur Sache, die Münchner Philharmoniker können einmal mehr ihre Qualitäten unter Beweis stellen. Wunderbar hier besonders die zuweilen pastoral angehauchten Holzbläser. Erwartungsgemäß feurig der Finalsatz, ohne vor Pathos zurückzuschrecken. Wie Celibidache die Höhepunkte herausarbeitet und wie für die Ewigkeit in Stein meißelt, dürfte jedem seiner Kritiker Respekt abnötigen. Schlichtweg überwältigend der Durchbruch zur Coda mit genialem Ritardando. Gänsehaut inklusive. Ein ganz exzeptionelles Tondokument. Diese Neuveröffentlichung präsentiert sich in optisch ansprechender aufklappbarer Pappkartonage. Ein knappes Booklet mit Werkerläuterungen in englischer und deutscher Sprache liegt bei. Man darf auf weitere Publikationen aus dem Archiv der Münchner Philharmoniker auf deren Eigenlabel hoffen. Daniel Hauser

Der Star ist das Orchester

 

Von den immerhin zehn Opern von Antonin Dvorák ist die 1901 uraufgeführte Rusalka sicherlich die bedeutendste und zudem auch die weithin meistgespielte. Als „lyrisches Märchen in drei Akten“ bezeichnet, lassen sich viele Parallelen zur deutschen Undine, zur dänischen kleinen Meerjungfrau und zur französischen Melusine finden. Die Überschreitung natürlicher Grenzen wird dem ungleichen Liebespaar Nixe und Prinz zum Verhängnis, was der Oper einen durchaus moralischen Unterton verleiht. Anlässlich der Salzburger Festspiele 2008 entstand eine vielbeachtete, szenisch von Jossi Wieler und Sergio Morabito betreute und auch kritisch beäugte Produktion dieses Werkes („szenischer Totalausfall“, Die Presse), welche zumindest akustisch zurecht modernen Referenzstatus beanspruchen darf.

Orfeo hat die Liveaufnahme vom 17. August 2008 aus dem Haus für Mozart der Allgemeinheit zugänglich gemacht (C 792 113 D). Ungewöhnlich ist hier besonders das Orchester: Es handelt sich um das legendäre, durch die harte Hand George Szells zu Weltruhm geführte Cleveland Orchestra, „das europäischste aller amerikanischen Orchester“, welches in diesem Zusammenhang seine erste Opernproduktion überhaupt bestritt. Am Pult der in Österreich nur allzu bekannte Franz Welser-Möst, seit 2002 Musikdirektor in Cleveland, dem es gelingt, eine Klangpracht sondergleichen zu entfalten, sowohl in den lyrischen als auch in den dramatischen Momenten. Welser-Möst agiert hier deutlich eindrucksvoller als in seiner recht glücklosen Zeit als Musikdirektor der Wiener Staatsoper (2010–2014). Kongenial die Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor, die ihre reichhaltige Erfahrung hier selbstredend voll ausspielen kann.

Die Sängerbesetzung lässt keine Wünsche offen. Zuvörderst muss hier Piotr Beczala als Prinz genannt werden. Man muss schon weit zurückgehen, um eine ähnliche ideale Rollenverkörperung zu finden. Schönklang mit Tiefgang. Gleich danach freilich die von Camilla Nylund gesungene Titelrolle, welcher dank verschwenderischer stimmlicher Mittel die volle Bandbreite zwischen großer Verinnerlichung und ausufernder Drastik zur Verfügung steht. Ihre Widersacherin, die fremde Fürstin, hat mit Emily Magee einen verführerischen Gegenpol. Alan Helds eher unkonventioneller Wassermann (Bariton statt Bass) hält die Balance zwischen Macht und Ohnmacht. Das sehr hohe Niveau setzt sich in den übrigen Rollen nahtlos fort: Birgit Remmert gibt eine beängstigende Wasserhexe Jezibaba; Anna Prohaska, Stephanie Atanasov und Hannah Esther Minutillo brillieren als Waldnymphentrio. Kurzum: Eine musikalische Sternstunde, wie sie selten geworden sind. Dvoráks Opernhit wird allenfalls von der Tschechischen Philharmonie unter Václav Neumann mit rein tschechischen Solisten (Supraphon) noch idiomatischer dargeboten. Das Cleveland Orchestra als heimlicher Star der Aufnahme jedenfalls hat eindrucksvoll bewiesen, dass man es nicht nur symphonisch zu den „Big Five“ rechnen darf. Daniel Hauser

Walpurgisnacht

 

Wer sich für Lieder und Balladen von Carl Loewe interessiert, sollte jetzt genau hinhören. Die Sopranistin Dorothe Ingenfeld hat für ihre CD „Von Müttern und Töchtern“ ein Stück ausgewählt, das es bisher offenbar nur einmal auf Tonträger schaffte: die Walpurgisnacht auf einen Text von Willibald Alexis. Der aus Breslau stammende Schriftsteller, der zwischen 1798 und 1871 lebte, gilt als Begründer des realistischen historischen Romans in der deutschen Literatur und somit als Vorläufer von Theodor Fontane. Er war nur zwei Jahre älter als Loewe. Die Walpurgisnacht ist ein frühes Werk und bildet mit Treuröschen und Herr Oluf als Opus 2 eine Gruppe. Es ist ein Dialog zwischen Tochter und ihrer Mutter, die sich in dessen Verlauf als Hexe herausstellt, die in der Walpurgisnacht „oben auf dem Blocksberg gewacht“ hat. Blocksberg ist eine alternative Bezeichnung für den Brocken im Harz, die im Zusammenhang mit dem Hexenmythos verwendet wird. Der Dialog, auf die Fragen der Tochter folgen die Antworten der Mutter, offenbart eine völlig zerrüttete Beziehung. Erstmals tauchte die Ballade als Tondokument in der Gesamtausgabe der Lieder und Balladen von Loewe bei cpo auf und wird dort von Gabriele Rossmanith gesungen.

Jetzt folgt ihr Dorothe Ingenfeld mit einer sehr pointierten Interpretation nach, deren CD als Einspielung des Deutschlandradios beim Label dreyer gaido herausgekommen ist (CD 21103). Am Klavier begleitet wird sie wechselseitig von Anita Keller und Katrin Dasch. Die drei Frauen haben gut recherchiert und dem Vernehmen nach viel mehr Lieder zum Thema gefunden, als letztlich auf eine CD passten. Es dominieren die Komponisten mit den großen Namen: Mozart, Brahms, Schumann, Reger, Wolf, Chopin, Schubert, Pfitzner, Wagner, Franz, Haydn, Mahler und der erwähnte Loewe. Britten ist mit A Charm die absolute Ausnahme. Lieder nach einem Thema auszuwählen und nicht zu vorderst nach den stimmlichen Voraussetzungen hat seine Tücken. Nicht alles gelingt perfekt, auch die Walpurgisnacht nicht. Insgesamt aber ist eine höchst interessante Produktion zustande gekommen.

Rätselhaft ist, warum diese Ballade, die zu Loewes besten Schöpfungen gezählt werden darf, ein solches Schattendasein führt. Die betuliche Uhr, die mit den Namen des Komponisten am engsten verknüpft ist, hat es mehr als fünfzig Einspielungen gebracht, Edward, das formale Gegenstück zur Walpurgisnacht, auf mindestens fünfundzwanzig. Liegt eine Erklärung in der Tatsache, dass die Gesänge Loewes über Jahrzehnte eine Männerdomäne waren, die Walpurgisnacht aber unbedingt eine Interpretin verlangt? In der Sekundärliteratur finden sich allerlei Hinweise auf das Stück. Lula Mysz-Gmeiner (1876 bis 1948), eine berühmte Altistin, Lehrerin und Schwiegermutter von Peter Anders, hat sich mit der Walpurgisnacht zwar beschäftigt, sie letztlich aber wohl nicht in ihr Repertoire aufgenommen. Überliefert ist ein Briefwechsel mit Max Runge, der nach dem Tod Loewes im Auftrag der Familie die Lieder und Balladen herausgegeben hat. Runge hatte die Sängerin nach einem Liederabend offenbar ermuntert, sich auch der Walpurgisnacht anzunehmen. Ihre Antwort vom 23. November 1926: „Die Walpurgisnacht ist mir natürlich bekannt … sie liegt mir jedoch in der Originallage zu hoch und verliert bei Transposition in meine Stimmlage.“ Sie wolle sich aber erneut damit beschäftigen – „vielleicht kann ich sie doch singen“. Was daraus wurde, ist mir nicht bekannt. Aufgenommen hat die Sängerin allerdings die Ballade Herr Oluf aus derselben Opus-Gruppe. Eine weitere Spurt führt zu Richard Wagner nach Bayreuth. Im Januar 1881 vermerkt Frau Cosima in ihrem Tagebuch: „R. trägt einige Balladen von Loewe vor, wie er sagt, um zu zeigen, was an uns Germanen verlorengegangen ist.“ Loewe galt etwas in Wahnfried. Noch in Venedig, drei Monate vor seinem Tod, fantasierte er auf einem neuen Flügel und ließ dabei auch – wie es Cosima ausdrückt – den Jüngling von Elvershöh mit einfließen. Gemeint ist die frühe Ballade Elvershöh, die noch an anderer Stelle des umfangreichen Tagesbuchs erwähnt wird wie auch Herr Oluf, Der Wirtin Töchterlein und der in seiner Dramatik an Shakespeare erinnernde Edward nach einer Übersetzung von Herder aus dem Schottischen. Die Walpurgisnacht trägt bei Cosima den Titel „Hexen“. So wird sie auch in einigen älteren Ausgaben bezeichnet. Loewe selbst soll diesen Namen auch gebraucht haben.

Eine wichtige Quelle in diesem Zusammenhang ist die Autobiographie „Mein Leben“ von Lilli Lehmann, die bei der ersten geschlossenen Aufführung des Ring des Nibelungen 1876 in Bayreuth die Woglinde sang: „Bei Wagner kamen wir … allabendlich zusammen … nur Liszt nebst den nächsten Bayreuther Freunden waren diesem Kreise zugestellt. Gura sang viel Löw’sche Balladen, die Wagner ganz besonders liebte. Hier war es auch, wo er mir Löwes Ballade Walpurgisnacht vorsang, deren Bedeutung er besonders hervorhob und Jos. Rubinstein aufstehen hieß, um sie selbst zu begleiten, weil er (gemeint ist Joseph Rubinstein) den Geist des Gedichts resp. der Komposition nicht richtig erfasste.“ Wagner habe sich verwundert gezeigt, dass die Ballade „nie gesungen würde, die doch mächtig sei, und legte sie mir besonders ans Herz“. Obwohl die Lehmann mehr als zehn Lieder aufgenommen hat, Loewe ist leider nicht dabei. Rüdiger Winter

Momentaufnahmen

 

Es ist, als sei der Vorhang der Zeit aufgegangen. Eine leere Bühne, Wieland Wagners Bühne. Finale Siegfried. „Leuchtende Liebe, lachender Tod!“ Brünnhilde und Siegfried sind eins. Wie zu einer antiken Statue zusammengewachsen. Eine Szene mit großer Symbolkraft. Für mich gehört sie zu den stärksten Erfindungen des Regisseurs. Sie ist in verschiedenen Varianten erhalten und liefert eine perfekte Illustration für den radikalen Neuanfang in Bayreuth, der künstlerisch auf ihn zurückgeht. Wielands Überzeugung: „Je griechischer also der Wagnersche Mythos inszeniert wird, desto mehr entspricht eine Inszenierung dem Urbild der Wagnerschen Vorstellungen.“ Bild und Zitat entstammen dem Buch Wieland Wagner – Revolutionär und Visionär des Musiktheaters von Till Haberfeld und Oswald Georg Bauer. Es ist soeben (im Juli 2017) im Deutschen Kunstverlag erschienen (ISBN 978-3-422-07412-5), pünktlich zu den diesjährigen Festspielen. 2017 wird der 100. Geburtstag des Regisseurs und Enkels Richard Wagners begangen. Er wurde am 5. Januar 1917 geboren.

Die beiden Autoren sind ausgewiesene Kenner. Haberfeld, zeitweise Mitglied im Verwaltungsrat der Opernhaus Zürich AG, besuchte bereits 1954 erstmals Bayreuth. Der Theaterwissenschaftler Bauer war dort über viele Jahre ein enger Mitarbeiter von Wolfgang Wagner, nach seines Bruders Tod alleiniger Chef der Festspiele. Von 1976 an leitete Bauer das Pressebüro. Sein zweibändiges Werk  „Die Geschichte der Bayreuther Festspiele“ ist 2016 auf den Markt gekommen. Mehrheitlich stammen die in dem neuen Buch dokumentierten Arbeiten aus Bayreuth. Wielands Wirken war aber nicht allein auf diesen Ort fixiert. Seine Vielseitigkeit und Umtriebigkeit führte ihn auch an andere Häuser. Resultate dieser ertragreichen Nebenbeschäftigung sind der Glucksche Orpheus in München (1953), Fidelio (1954), Antigonae (1956) und Comedia de Christi Resurrectione (1957) von Orff, Rienzi (1957), Tristan (1958), Elektra und Salome (beide 1962), Lulu (1966) in Stuttgart, Carmen (1958) in Hamburg, Tristan (1959), Aida, Lohengrin (beide 1961), Salome (1961) und Meistersinger (1962) in West-Berlin, Otello (1965) Wozzeck (1966) in Frankfurt. Auch ganz frühe Versuche noch aus den dreißiger Jahren, in denen sich die Begabung etwas unbeholfen ankündigt, sind aus der Versenkung geholt worden.

Wahllos in die Seiten gegriffen, ist für denjenigen, der sich im Werk Richard Wagners ein wenig auskennt, jede einzelne Szene trotz ihrer Abstraktion auf Anhieb zu entschlüsseln. Noch durch ihre Haltung geben sich Figuren zu erkennen. Je tiefer Wieland Wagner ins Innere der Stücke und der Handelnden vordrang, umso mehr äußerer Ballast wurde abgeschüttelt. „Ich kann doch nicht glauben, dass ein Gralsritter von einem hölzernen Schwan durch den Ärmelkanal ans Ufer der Schelde gezogen wird“, so der Regisseur 1964 in dem Buch des Musikschriftstellers Walter Panofsky. Dieses Zitat ist Haberfeld und Bauer so wichtig, dass sie es in ihr eigenes Werk integrieren. Es geht noch weiter. Schließlich könne er, Wieland, auch nicht glauben, dass „Wotan und Loge vermittels einer Wandeldekoration in das Erdinnere gelangen und sich dann, den gebundenen Alberich zwischen sich, aus der Erdmitte in himmlische Höhen begeben“. Hier fange die „Lüge des realistischen Theaters“ an.

Mit dem Tristan von 1952 ( C 603033D) in der Inszenierung von Wieland Wagner hatte Orfeo seine Bayreuther Festspiel-Edition eröffnet.

Die opulente Neuerscheinung ist – wenn man so will – ein Bilderbuch. Durch sein extrem breites Format kommt es den dargestellten Szenen auf der Bühne entgegen, nicht aber den gängigen Platzverhältnisse in einem Bücherregal. Es gibt sich also nicht nur durch Inhalt, sondern auch durch seine quere und sperrige Erscheinungsform auf eine ungewöhnliche Weise exklusiv. Es ließe sich wie ein Bild an die Wand hängen. So ästhetisch sieht es aus. Nur grau in grau und bruchstückhaft sind die Inszenierungen als bewegte Bilder überliefert. Das kann beklagt werden – oder auch nicht. Selbst mit den technisch perfektesten Kameras dürfte die Magie dieser Aufführungen nicht einzufangen gewesen sein. Ich halte es für einen Trugschluss, daran zu glauben. Gäbe es Filme, wir könnten uns nicht mehr danach verzehren. Das Buch bestärkt mich darin, dass diese Sehnsucht der produktivere Zustand ist. Und wer weiß, vielleicht sind die Abbildung, diese Momentaufnahmen, ja auch noch wirkungsmächtiger als Filme. Es ist ein Glücksfall, dass die Bayreuther Nachkriegsproduktionen von Wieland Wagner als Tondokumente überliefert sind. Die Firma Orfeo hat den Festspielen eine eigene Edition gewidmet, deren Vorzug im Vergleich mit den vorangegangenen Veröffentlichungen auf dem so genannten grauen Markt darin besteht, dass originale Bänder herangezogen werden konnten. Den fulminanten Auftakt zu dieser Edition bildete 2003 der Tristan von 1952 unter Herbert von Karajan – auch im Buch gebührend herausgestellt und als CD-Box immer noch zu haben. Dieser Mitschnitt kommt mir wie der lebendige Beweis vor, dass auch Ohren sehen können. Wer sich darauf einlässt, wird in das dramatische Geschehen mit voller Wucht hineingezogen. Viel anders kann es damals in der Aufführung auch nicht gewesen sein.

An der wichtigsten Wirkungsstätte Wielands – den Bayreuther Festspielen – ist fast nichts geblieben von ihm außer der Erinnerung – und sein Grab auf dem Stadtfriedhof. Nichts, was sichtbar wäre auf der Bühne, die oft wieder so vollgeräumt ist wie zu Großvaters Zeiten. Die Traditionslinie ist zumindest äußerlich scharf durchtrennt. Was immer auf dem Grünen Hügel oder in Stuttgart, Berlin  und München angeboten wird, lässt nicht ahnen, dass es Wieland Wagner überhaupt gegeben hat. Seine Spuren sind verweht. Die schönen Fotos aus seinen Inszenierungen, die sich in dem Buch finden, sind historisch wie kaum etwas anderes, obwohl sie bei näherer Betrachtung überhaupt nicht historisch wirken. So könnte ich mir Oper auch heute noch vorstellen. Die Anstöße, die er gegeben, die genauen Rollenporträts, die er entworfen, mögen im Detail nicht immer mehr zeitgemäß sein, im analytischen Herangehen sind sie es schon. Im Buch ist so ein schriftlich fixiertes Porträt über Loge aus einem Programmheft von 1951 abgedruckt. Er hat mit einer Genauigkeit, einem Scharfsinn und einer Werkkenntnis gearbeitet, die ich heute sehr vermisse. Rüdiger Winter

Das Foto oben ist ein Ausschnitt der Vorderansicht des neues Buches. Fotograf ist Siegfried Lauterwasser. Es stammt aus der ersten Inszenierung von Richard Wagners Ring des Nibelungen durch seinen Enkel Wieland bei den Bayreuther Festspielen, die mehrere Spielzeiten auf dem Programm stand und mehrfach überarbeitet wurde. Wann das Bild entstand, konnte offenbar nicht genau ermittelt werden. Im Buch ist ein Zeitraum von 1956 bis 1958 genannt. Festgehalten ist darauf die Schlussszene aus Siegfried mit Wolfgang Windgassen und Martha Mödl. Unter der Lupe betrachtet, kommen allerdings Zweifel auf, ob es tatsächlich die Mödl ist. Das längere Gesicht lässt eher auf Astrid Varnay schließen, die sich in der Rolle der Brünnhilde mit der Mödl abwechselte. 

Einstimmung auf Bayreuth

 

Der Bariton Michael Volle hat sich in den letzten Jahren als einer der wichtigsten lebenden deutschen Lied- und Konzertsänger etabliert. Sein Repertoire reicht von Mozart über Weber, Tschaikowski und Puccini bis hin zu Henze. Einen Schwerpunkt nimmt indes Wagner ein. Bei den Bayreuther Festspielen war er bereits 2007 und 2008 als Sixtus Beckmesser in den Meistersingern zu hören. Nun, ein Jahrzehnt danach, wagt sich der 57-Jährige dort 2017 gar an den Hans Sachs, für viele die Krönung einer baritonalen Wagnerkarriere. Orfeo legt fast zeitgleich ein Wagner-Recital vor (C 904 171 A), welches Auszüge aus dem Fliegenden Holländer, aus Tannhäuser, aus den Meistersingern sowie aus dem Rheingold, der Walküre und (eher ungewöhnlich) Siegfried auf einer gut 65-minütigen CD vereint. Volles große Textverständlichkeit – heutzutage beileibe nicht mehr die uneingeschränkte Regel im Wagnergesang – profitiert sicherlich von seiner reichhaltigen Erfahrung als Liedsänger. Am besten agiert er tatsächlich in den lyrischen Momenten, besonders in den beiden Wolfram-Ausschnitten („Als du in kühnem Sange uns bestrittest“ und „Blick ich umher in diesem edlen Kreise“) wie im Sachs‘schen Fliedermonolog. Hier darf Volles Vortrag durchaus modernen Referenzcharakter beanspruchen. Warm timbriert, geradezu balsamisch anmutend, strömt sein schön klingender Bariton – und beweist, dass auch ein echter Bariton den Schustermeister verkörpern kann, auch wenn Volles Sachs eindeutig primär ein intellektueller Poet ist denn ein rustikaler Schuhmacher. Sehr gut auch der berühmte Holländer-Monolog, in welchem Volle die Verzweiflung und Zerrissenheit des Verfluchten glaubhaft herüberbringt. In gewisser Weise ähnlich angelegt ist die Figur des hoffnungslosen Amfortas, dessen letzter Auftritt im Bühnenweihfestspiel Parsifal auf der Platte festgehalten wurde („Ja, Wehe! Wehe! Weh über mich!“).

Michael Volle kann also auch Dramatik. Stimmlich souverän, nicht durch Forcierung in Versuchung gebracht, überzeugt er in diesen Partien. Es mag sein, dass es in der Vergangenheit noch expressivere Rolleninterpreten gab (man denke an Thomas Stewart als Holländer und an Dietrich Fischer-Dieskau als Amfortas), doch zeigt Volle, dass es um das Wagnerfach heutzutage keinesfalls so schlecht bestellt ist, wie oft behauptet wird. Dass der Sachs für Volle gleichwohl nahe an einer Grenzpartie ist, offenbart dann allerdings – zumindest in der Einspielung – doch der Schlussmonolog. Es bedarf selbst unter Studiobedingungen all seiner Reserven. Freilich ist sein Vortrag auch hier mehr als hörenswert. Ob er diesen Monolog auch am Ende einer vierstündigen Liveaufführung dergestalt herüberbringen kann? (Der Schlusschor wurde hier übrigens, vermutlich aus Kostengründen, gestrichen. Man fühlt sich ein wenig an die ersten Schallplattenaufnahmen des „Verachtet mir die Meister nicht“ erinnert.)

Noch deutlicher bestätigt sich der leise Zweifel am Bewältigen auf der Bühne bei Wotans Abschied. Gerade in den ersten Minuten desselben wirkt Volles Stimme doch etwas unterdimensioniert für den Göttervater. An die größten Rollenvertreter (etwa Hans Hotter oder George London) sollte man bei seiner Darbietung fairnesshalber nicht denken. Ein wenig erinnert es mich hier an Fischer-Dieskaus Wunsch, das „Leb wohl, du kühnes, herrliches Kind“ zumindest einmal im Studio einspielen zu dürfen. Dass Volle grundsätzlich als Wotan bzw. Wanderer keineswegs fehlbesetzt ist, beweist er dann allerdings wiederum im lyrischen Mittelpart wie auch in den beiden anderen Auszügen („Abendlich strahlt der Sonne Auge“ und „Dir Urweisen ruf‘ ich ins Ohr“), wo seine bereits genannten Vorzüge wieder mehr zum Tragen kommen. Michael Volle wird begleitet vom Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin unter der Leitung des diskographisch bisher nicht in Erscheinung getretenen Kieler Generalmusikdirektors Georg Fritzsch. Klanggewaltige orchestrale Zuspitzung á la Knappertsbusch und Furtwängler darf man nicht erwarten. Es klingt größtenteils gediegen, stellenweise etwas arg pauschal (Sachs-Schlussmonolog, Wotan-Abschied). Die Einspielungen entstanden zwischen 9. und 13. Mai 2016 im Großen Sendesaal des RBB in Berlin; die Klangqualität ist ohne Fehl. Ein deutsch-englisches Booklet liegt bei. Daniel Hauser 

„Wozzeck“ bei Naxos

 

Die erste offizielle Einspielung von Alban Bergs Wozzeck entstand 1951 in New York (ehemals CBS und nun Sony Classical MH2K 62759), die jüngste in Houston. Sie ist soeben bei Naxos erschienen (8.660390-91). Mitgeschnitten wurde sie bereits im März 2013. Von Anfang an wurde das Werk in den USA hoch geschätzt. Sechs Jahre nach der Berliner Uraufführung gelangte es 1931 unter der Leitung von Leopold Stokowski in Philadelphia zur amerikanischen Premiere. Kurz darauf reiste der Dirigent mit dem gesamten Ensemble nach New York, um dort das Publikum mit dem Werk bekannt zu machen. Unterdessen ist die Diskographie mit Audio- und Video-Produktionen erfreulich angewachsen. Von Zeit zu Zeit ist ein neuer Wozzeck fällig.

Diesmal singt Roman Trekel die Rolle, stimmlich bestens aufgelegt. Er hat den Wozzeck gründlich studiert und an der Mailänder Scala und an der Berliner Staatsoper gesungen. Wer also eine Partie so gut drauf hat wie er, besitzt die nötigen Reserven für die Gestaltung. Trekel übertreibt nichts und fällt niemals durch Sprechgesang aus der Rolle heraus. Sein Wozzeck wirkt – wenn sich das überhaupt so sagen lässt – auf eine gewisse Weise vornehm und elegant. Durch und durch Musik. Das bedrückende Porträt einer gequälten Kreatur, die nicht ein noch aus weiß und an sich und Verhältnissen, in die sie hineingestellt ist wie in einen Käfig, zugrunde gehen muss. Es besteht nicht der geringste Zweifel daran, dass Trekel seine Erfahrungen als Liedsänger bei dieser Aufgabe zugute kommen. Auch wenn es nicht immer so ist und so sein muss, die Titelpartie rückt auch durch Leistung und Vermögen des Sängers in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.

Anne Schwanewilms gibt eine ehr mütterliche Marie. Das muss kein dramaturgischer Nachteil sein in diesem Stück. Allerdings vermag sie das Unglück der Figur nicht durchgehend glaubhaft machen. In der so genannten Bibelszene im zweiten Akt wächst sie schließlich doch noch in erschütternder Eindringlichkeit über sich hinaus. Für Margret ist Katherine Ciesinski aufgeboten, deren Karriere vor mehr als vierzig Jahren begann, was zu hören ist. Ich bin eine honette Person“, behauptet sie in der Szene auf der Straße an Marie gerichtet, die nach dem Tambourmajor Ausschau hält. Das ist nicht ohne Humor, denn sofort wird die Erinnerung an Kennedys „Ich bin ein Berliner“ vom 26. Juni 1963 vor dem Rathaus Schöneberg in Berlin wach. Der sprach den berühmten Satz im gleichen Duktus aus. Bis auf solche Kleinigkeiten ist an der Produktion idiomatisch nichts zu beanstanden.

Der gebürtige Kanadier Gordon Gietz, ein renommierter Loge und vor allem in Frankreich sehr erfolgreich, singt den Tambourmajor, der Amerikaner Marc Molomot, der international Erfahrungen mit Mozart, Händel und Monteverdi gesammelt hat, den Hauptmann. Nathan Berg, ebenfalls aus Kanada, den das Dresdner Publikum im vergangenen Jahr als Zoroastro in Händels Orlando, erlebt hat, gibt den Doktor. Am Pult des Orchesters Houston Symphony steht Hans Graf, der Österreicher, der viele Jahre in den USA gearbeitet hat. Er vermag es, große Spannungen aufzubauen – und zu entladen. Immer wieder lassen Details aufhorchen. Der Schluss erschüttert, weil er so lapidar ist.

Naxos lässt Live-Produktion wie Studioproduktionen erscheinen. Das ist Programm, so auch hier. Für eine konzertante Aufführung wirkt die Aufnahme erstaunlich dicht und atmosphärisch. Sie könnte glatt als klassische Aufführung in Kulissen durchgehen. Wenn denn nicht alle Nebengeräusche, die einen prallen Opernabend erst die richtige Würze geben, entfernt worden wären. Rüdiger Winter

Keine Scheu vor Pathos

 

Genau im Jahre 1900 wurde Sir Edward Elgars berühmtestes Oratorium The Dream of Gerontius uraufgeführt. Seither zählt es nicht nur zu den wichtigsten Werken dieses Komponisten, sondern auch zu den populärsten englischen Oratorien überhaupt. Die Erstaufführung war indes alles andere als ein Erfolg, doch setzte der Siegeszug des über 90-minütigen Vokalwerkes bereits bald danach ein. Der katholische Hintergrund – das Fegefeuer spielt eine tragende Rolle – wurde im weitestgehend anglikanischen England seinerzeit durchaus noch kritisch beäugt (erst 1829 war es zur Katholikenemanzipation gekommen). Ein bereits 1865 veröffentlichtes Gedicht des 2010 seliggesprochenen Kardinals John Henry Newman diente als Vorlage, wenngleich es vom Komponisten stark gekürzt wurde. Es wechseln sich lyrische und dramatische Episoden ab, welche den Weg der menschlichen Seele nach dem Verlassen des Körpers skizzieren. Vorbei an unterschiedlichen Regionen des Jenseits wird sie, einen Schutzengel an ihrer Seite, zuletzt zur Herrlichkeit Gottes geführt.

Die Besetzung der neuen Aufnahme ist großformatig und räumt dem Chor eine herausragende Rolle ein. Andererseits ist das Orchester gleichberechtigt; Anklänge an Wagners Leitmotivik sind nicht von der Hand zu weisen. Formal unterteilt sich das Oratorium im zwei Teile. Im ersten Teil steht die eigentliche Todesstunde im Mittelpunkt. Gerontius, der Sterbende, ist umgeben von seinen Freunden und einem Priester. Im zweiten Teil, der etwa doppelt so lange ist, trifft die Seele auf ihren Schutzengel, begegnet Dämonen und weiteren Engeln sowie den klagenden Seelen im Fegefeuer. Nach Fürsprache des Todesengels wird Gerontius‘ eigene Seele schließlich gerichtet, im Fegefeuer gereinigt und abschließend unter die Gerechten aufgenommen.

Eine perfekte Aufnahme des Gerontius gibt es vermutlich bis heute nicht. Den Klassiker legte in den 1960er Jahren John Barbirolli vor (EMI). Es folgten unter anderem Colin Davis (LSO live und Profil/Hänssler), Simon Rattle (EMI), Andrew Davis (Chandos) und Mark Elder (Hallé Label). Bereits anhand dieser Namen lässt sich eine sehr starke englische Dominanz der Dirigenten erkennen. Daniel Barenboim legt nun auf Decca (483 1585) seine Sicht der Dinge vor. Barenboim hat sich in den letzten Jahren als einer der profiliertesten Elgar-Dirigenten außerhalb Großbritanniens etabliert. Die „New York Times“ bezeichnete ihn gar als den einzigen lebenden Nichtbriten, dem Elgar läge. Hiervon zeugten bereits seine Einspielungen der beiden Sinfonien (ebenfalls auf Decca erschienen).

Die Staatskapelle Berlin hat sich mittlerweile den Ruf erworben, in Sachen Elgar auf Augenhöhe mit britischen Klangkörpern mitspielen zu können. Die Solisten sind indes englischsprachiger Herkunft: Andrew Staples in der Titelrolle und Catherine Wyn-Rogers als Engel stammen aus England, Thomas Hampson (Priester/Todesengel) ist US-Amerikaner. Der Gerontius durch Staples weiß durch Jugendlichkeit zu überzeugen. Andachtsvoll sein Vortrag, dem Werk insofern durchaus angemessen. (Ursprünglich sollte Jonas Kaufmann den Tenorpart übernehmen; er sagte indes krankheitsbedingt wenige Tage zuvor ab.) Die Mezzosopranistin Catherine Wyn-Rogers kann bereits auf eine langjährige Erfahrung in der Engelsrolle zurückblicken. Dies wirkt sich naturgemäß in ihrer souveränen gesanglichen Umsetzung aus, auch wenn man einen gewissen ältlichen Touch nicht leugnen kann. Am beeindruckendsten immer noch Altmeister Thomas Hampson, dessen wuchtiger und flexibler Bariton ihm auch heute noch sowohl die priesterliche Autorität als auch die einschüchternde Präsenz des Todesengels ermöglicht.

Kongenial die beiden Berliner Chöre, der Staatsopernchor Berlin und der RIAS Kammerchor. Sie sind englischen Chören in dieser Einspielung absolut ebenbürtig, was für sich genommen schon eine Auszeichnung verdient. Tadellos sind sie imstande, Barenboims Vorstellungen zu folgen, die auch vor (hier durchaus angemessenem) Pathos nicht zurückschrecken. Sowohl die lyrischen, intimen Momente als auch die wild herausfahrenden, dramatischen Abschnitte sind gleichermaßen überzeugend. Fabelhaft die Intonation, exzellent die Diktion. Insgesamt eine erfreuliche Bereicherung der Diskographie, die Barenboims Rang als Elgar-Interpret unterstreicht. Darauf verweist nicht nur das Cover, das den Dirigenten im britischen Tweed und mit dazu passendem Krawattenschal zeigt. Die Klangqualität dieser in der Berliner Philharmonie entstandenen Live-Produktion (16./17. und 19./20. September 2016) ist Decca-typisch sehr natürlich und räumlich eingefangen; Störgeräusche sind praktisch nicht vorhanden. Daniel Hauser

André Cluytens: der Sensible

 

Wer im Netz und in einschlägigen Büchern nach André Cluytens sucht, findet ihn vornehmlich als Operndirigenten. Diesem Eindruck halten Erato / Warner jetzt sechsundsechzig CDs entgegen: „The Complete Orchestra & Concerto Recordings“. So viele?  Dagegen ist die Summe seiner einschlägigen vokalen Einspielungen allerdings sehr übersichtlich. Blieb ihm zu wenig Zeit, sich neuen Unternehmungen zu widmen? Mainstream lag ihm offenbar nicht. Dafür ist seine Opern-Diskographie erlesen. Berlioz, Debussy, Gounod, Ravel, Lalo, Strawinsky, Bondeville, Thomas, Poulenc. Humperdincks Hänsel und Gretel mit Anneliese Rothenberger und Irmgard Seefried sind die absolute Ausnahme. Typischer für Cluytens ist schon ehr die legendäre Carmen mit den originalen Dialogen.

Die erste „und sehr viel idomatischere „Contes d´Hoffmann“-Einspielung 1948 in Paris: André Cluytens, Fanély Revoil, Ramonde Amade, Bourvil, Renée Doria, André Pernet und René Lapelletière/ Foto X./ Columbia

Begleitet vom Orchestre de l’Opéra Comique Paris singen Solange Michel die Carmen und Raoul Jobin den José. Jobin ist auch der Hoffmann in der Offenbach-Oper von 1948, in der sogar der legendäre französische Schauspieler und Chansonnier Bourvil mitwirkte. Mit seiner zweiten Aufnahme von Les contes d’Hoffmann scheitert er 1965 trotz – oder gerade wegen des internationalen Staraufgebots. Eigentlich war Maria Callas für die Aufnahme vorgesehen, die aber absagte und dadurch eine bemerkenswerte Rochade an Namen auslöste: Elisabeth Schwarzkopf (Giulietta), Victoria de los Angeles (Antonia), Gianna d’Angelo (Olympia), Nicolai Gedda (Hoffmann) George London (Coppélius und Miracle) und Nicola Ghiuselev (Lindorf) fanden idiomatisch nicht zusammen.

Wie ein monolithischer Block ragt Wagner aus dem akustischen Nachlass heraus. Bei den Bayreuther Festspielen hat Cluytens Tannhäuser, Meistersinger, Lohengrin und Parsifal dirigiert. Lediglich Tannhäuser ist nachträglich von Orfeo in der Festspielreihe offiziell herausgegeben worden. Bis auf Parsifal, den es auch aus der Mailänder Scala gibt, sind die übrigen Titel in unterschiedlicher Klangqualität auf dem so genannten grauen Markt verbreitet worden. Sie werden Cluytens nicht immer gerecht. Die Veröffentlichung des Tannhäuser nach den originalen Bändern ist insofern wichtig, weil diese Oper 1955 der Einstand von Cluytens in Bayreuth gewesen ist. Nach dem tragischen Tod seines Sohnes Andreas hatte der vorgesehene Dirigent Eugen Jochum absagen müssen. Festspielleiter Wieland Wagner, der auch Regie führte, flehte Cluytens ganz kurzfristig am Telefon an: „Kommen sie schnell, retten sie die Aufführung.“ Cluytens kam, siegte und blieb für die nächsten Jahre Wielands bevorzugter Dirigent. Bereits ein Jahr später betreute er dessen spektakuläre Neuinszenierung der Meistersinger – ohne Nürnberg.

„Er kultivierte, was für Franzosen wichtig ist: Essen, Eleganz, Stil und ein Haus in der Bretagne. Er sprach sechs Sprachen, worum ich ihn glühend beneidete. Er lehrte mich, was Leidenschaft ist“: Anja Silja über André Cluytens in ihren Erinnerungen „Die Sehnsucht nach dem Unerreichbaren“ (Parthas/ISBN 3-932529-29-4).

In seiner zweibändigen „Geschichte der Bayreuther Festspiele“ schreibt dazu Oswald Georg Bauer: „Man schätze seine spirituelle, niemals auftrumpfende Art, die genau zur Regie passte.“ Wieland habe keine „deutsche“  Interpretation, schwer und wuchtig, gewollt. Vielmehr sollten Wagners „romantische Ironie“ zum Klingen gebracht werden. „Cluytens dirigierte transparent und luzide, in den Konversationsstücken mit einer Leichtigkeit, in der jedes Detail der Partitur zu erkennen war, in den großen Orchester- und Chorszenen niemals dröhnend“, so Bauer weiter. Man habe seinen Klang mit einem kostbar gewirkten Gobelin verglichen, „manche Stellen waren impressionistisch wie von Debussy“. Weitreichende Pläne wurden geschmiedet. „Sie sind für mich der legitime Nachfolger von Knappertsbusch für den Parsifal“, zitiert Anja Silja in ihren Erinnerungen „Die Sehnsucht nach dem Unerreichbaren“ aus einem Brief Wielands an André Cluytens. Bekanntlich wurde daraus nichts. Wenn die Rede auf Cluytens kommt, ist die Silja nicht weit. Ihr Name muss also fallen in einem Text über Cluytens. Es geht nicht anders. Sie und der Dirigent waren ein Paar. Nur für kurze Zeit. Nach Wielands Tod nahm Cluytens die Stelle an ihrer Seite ein. In Bayreuth hatte sie nur in zwei Produktionen unter seiner Leistung, nämlich als Venus im Tannhäuser und als Erstes Blumenmädchen im Parsifal (1965) mitgewirkt. Dafür gab es anderswo gemeinsame Auftritte auch schon vor Beginn der intimen Beziehung. So beim Othello in Frankfurt, bei der Salome in Paris und beim Tristan in Rom. „Obwohl gebürtiger Belgier, war alles an ihm französisch. Er kultivierte, was für Franzosen wichtig ist: Essen, Eleganz, Stil und ein Haus in der Bretagne. Er sprach sechs Sprachen, worum ich ihn glühend beneidete. Er lehrte mich, was Leidenschaft ist.“ Das Erinnerungsbuch widmet Cluytens ein ganzes Kapitel. In ihrer entwaffnenden Offenheit gelingt es der Silja, Den Menschen und den begnadeten Künstler eins werden zu lassen. R.W.

 

Nun also die voluminöse Neuerscheinung bei Erato/Warner.  Unser Korrespondent Daniel Hauser hat sich in die Aufnahmen vertieft. Hier seine Eindrücke:  Vor einem halben Jahrhundert, am 3. Juni 1967, starb André Cluytens, belgisch-französischer Dirigent, mit gerade einmal 62 Jahren. Erato/Warner bedenkt ihn nun mit einer voluminösen, nicht weniger als 65 CDs umfassenden Box der kompletten Orchester- und Konzerteinspielungen (0190295886691). Cluytens war zwar Wahlfranzose, doch verleugnete er seine belgischen Wurzeln nicht und bestand, so berichten Zeitzeugen, auf der niederländischen Aussprache seines Nachnamens. Etliche der hier enthaltenen Aufnahmen erfahren nunmehr ihre späte CD-Premiere. Soviel darf bereits vorangestellt werden: Es hat sich in jedem Fall gelohnt. Gut die Hälfte der Aufnahmen ist in Mono, der Rest in Stereo festgehalten. Es wird ein Zeitraum von siebzehn Jahren dokumentiert, von 1949 bis 1966. Neben einem fast unüberschaubaren Schwerpunkt auf französischem Repertoire (Bizet, Saint-Saens, Berlioz, Gounod, Fauré, Chopin, Franck, Ravel, Debussy, auch Boieldieu und einige mehr) dominiert vor allem die deutsch-österreichische Schule (Beethoven, Wagner, Schubert, Schumann, auch Liszt, Haydn und Mozart), der sich Cluytens, immerhin der erste Franzose bei den Bayreuther Festspielen, besonders verbunden fühlte. Dazu recht intensive Ausflüge ins russische Repertoire (Tschaikowski, Mussorgski, Prokofjew, Schostakowitsch usw.). Einzig die Italiener sind bis auf Menotti gar nicht vertreten. Zeitlich wird ein Zeitraum vom Barock bis in die Moderne umfasst, wobei die Romantik und Spätromantik den Löwenanteil ausmachen. Neben diversen französischen Orchestern (darunter das legendäre Orchestre de la Société des Concerts du Conservatoire, das in Cluytens‘ Todesjahr unterging) sind die Berliner und Wiener Philharmoniker, das Philharmonia Orchestra aus London und das Belgische Nationalorchester vertreten.

Mit Victoria de los Angeles, Nicolai Gedda, Roger Soyer und Ernest Blanc ist „L’Enfance du Christ“ von Hector Berlioz prominent besetzt.

Herzstück der Box ist dann auch der schon seit langem bei Kennern in hohen Ehren gehaltene Zyklus der Beethoven-Sinfonien, die erste Gesamteinspielung der Berliner Philharmoniker (1957-1960). Cluytens vereint den seinerzeit noch präsenten Furtwängler-Klang mit einer ihm eigenen französischen Eleganz, so dass man mit einigem Recht sagen könnte, dass dies nicht nur der erste, sondern nach meiner Auffassung auch der vielleicht interessanteste Beethoven-Zyklus aus Berlin ist – trotz Herbert von Karajan, Claudio Abbado und Sir Simon Rattle. Die mitunter kühl anmutende Perfektion Karajans, die bereits dessen berühmten Zyklus von 1961/62 kennzeichnet, ist Cluytens‘ Sache nicht. Emotionalität und schwungvolle Sinnlichkeit findet man dafür zuhauf. Ergänzt werden die Beethoven-Sinfonien durch Einspielungen zahlreicher Ouvertüren („König Stephan“ fehlt) und Klavierkonzerte (ohne Nr. 5); interessant auch der Vergleich mit einer ebenfalls enthaltenen früheren Aufnahme der 7. Sinfonie in Mono.

Dass sich Cluytens gerade im deutschen Fach heimisch fühlte, beweist er insbesondere in seinen Wagner-Interpretationen. Nicht hoch genug bewertet werden können die Vorspiele und Ouvertüren, die in den späten 1950er Jahren bereits in Stereo eingespielt wurden. Im besten Sinne „deutscher“ könnte in dieser Aufnahme das Meistersinger-Vorspiel kaum klingen. Die unbändige Ekstase der Tannhäuser-Ouvertüre (Dresdner Fassung) mit ihrem furiosen Höhepunkt erfasst André Cluytens wie nur wenige andere. Hier machte sich gewisslich die mannigfaltige Erfahrung als Operndirigent bezahlt. Großartig die bisher auf CD nicht greifbare Aufnahme der „Les Préludes“ von Franz Liszt. Cluytens lässt sich mehr Zeit als die meisten anderen Dirigenten (beinahe 18 Minuten), gibt der Musik Raum zum Atmen und setzt auf hochromantische Prachtentfaltung. Einmal mehr entpuppt sich der hier noch konservierte Klang Wilhelm Furtwänglers als ideal. Erstaunlich „deutsch“ auch sein Schubert (eine sehr intensive und bedeutungsschwere „Unvollendete“, leider keine „Große“ in C-Dur) und Schumann (die „Manfred“-Ouvertüre und die „Rheinische“ Sinfonie). Man bedauert es, dass Mendelssohns „Italienische“ nur in Auszügen enthalten ist. Überhaupt ist das 19. Jahrhundert die Hauptdomäne des Dirigenten Cluytens. Borodins „Steppenskizze aus Mittelasien“ sei hier nur beispielhaft genannt. Wie viele andere Werke ist sie in der Box sogar zweimal vertreten, wobei die Interpretationen sehr ähnlich und die gut klingende Stereoversion hier vorzuziehen ist. Ausgezeichnet Mussorgskis „Nacht auf dem kahlen Berge“. Ein Jammer, dass Cluyten’s Lesart der Tschaikowski-Sinfonien ebenfalls nur fragmentarisch überliefert ist. Erstaunlich nüchtern sein „Boléro“, den er ohne Mätzchen sowohl in Mono als auch in Stereo durchzieht.

Die Wagner-CD enthält Ouvertüren und Vorspiele zu den „Meistersingern“, „Tannhäuser“, „Holländer“ und „Lohengrin“.

Dass Cluytens generell ein herausragender Interpret der französischen Musik war, braucht hier im Detail nicht nachgewiesen zu werden. Sein Expertentum in Sachen Gounod ist durch seine 1958 entstandene Aufnahme des Faust hinlänglich bekannt. Die hier enthaltene Ballettmusik darf insofern als Anreiz auf die Gesamtaufnahme betrachtet werden. Fabelhaft auch seine Sichtweise auf Berlioz. Die enthaltenen Ouvertüren sind auch größtenteils doppelt eingespielt, was ebenso für die „Symphonie fantastique“ gilt. In diesem Zusammenhang sei auf seine beste, in dieser Box nicht enthaltene Aufnahme des Werkes mit dem Orchester des Pariser Konservatoriums in der Reihe „Great Conductors of the 20th Century“ (IMG Artists/EMI) verwiesen, in der er die beiden hier inkludierten Studioeinspielungen noch übertrifft. Sehr ungewöhnlich Cluytens‘ gallisch interpretierte „Moldau“ von Smetana, die ganz ungewohnt erklingt und eigenartige Akzente setzt; man hat stellenweise tatsächlich eher die Seine vor Augen.

Eine unerwartete westliche Referenzaufnahme legte Cluytens mit der 11. Sinfonie von Schostakowitsch vor, bekannt unter ihrem Beinamen „Das Jahr 1905“. Diese wurde vom Label Testament zwar bereits vor zwei Jahrzehnten erstmals auf CD veröffentlicht, doch ist es nur konsequent, dass sie auch in der neuen Box enthalten ist. Die Aufnahme entstand im Mai 1958, kurz nach der Welturaufführung der Sinfonie im Oktober des Vorjahres. Dmitri Schostakowitsch höchstpersönlich begleitete die Einspielung, so dass sie einen hohen Grad von Authentizität besitzt. Cluytens scheint sich des versteckten Zeitbezuges (Ungarnaufstand 1956) durchaus bewusst gewesen zu sein. Gegen Ende des Finalsatzes wechselt der Ton etwa eine halbe Minute lang ins Mono – vermutlich war das Stereomasterband an dieser Stelle unbrauchbar geworden. Glücklicherweise ist die beeindruckende Coda davon nicht betroffen. Bemerkenswert ist, dass auch Komponisten berücksichtigt wurden, die in den 1950er Jahren nicht wirklich massentauglich waren. Dies gilt besonders für Charpentier und C.P.E. Bach, aber auch eine Einspielung der „Abschiedssinfonie“ von Haydn (Nr. 45) (neben den Sinfonien Nr. 94, 96 und 101) ist nicht unbedingt naheliegend. Ein Wermutstropfen ist, dass diese Werke, wie auch Händels „Wassermusik“, nur in Mono eingefangen wurden. Eine spätere Neueinspielung wurde womöglich durch den frühen Tod des Dirigenten verhindert.

Claude Debussys „Le Martyre de Saint Sébastien“ wurde mit gesprochenen Dialogen aufgenommen und beansprucht zwei CDs.

Erwähnenswert ist die hohe Dichte an diversen Konzerten (daher auch im Boxtitel zurecht besonders betont): Beethovens Klavierkonzerte Nr. 1, 2, 3 und 4 sowie das Violinkonzert, C.P.E. Bachs Cellokonzert Nr. 3, Tschaikowskis Klavierkonzert Nr. 1, Schumanns Cellokonzert, Menottis Klavierkonzert, Niggs Klavierkonzert Nr. 1, Chopins Klavierkonzert Nr. 2, Prokofjews Klavierkonzert Nr. 3, Rachmaninows Klavierkonzerte Nr. 2 und 3, Saint-Saens‘ Klavierkonzert Nr. 2, Schostakowitschs Klavierkonzerte Nr. 1 und 2 sowie Ravels Klavierkonzert und sein Klavierkonzert für die linke Hand. Cluytens erweist sich dabei als kluger Begleiter, der sich nie in den Vordergrund drängt. Indem er sich nicht nur auf einige „Gassenhauer“ beschränkte, zeigte sich auch eine enge Verbundenheit des Dirigenten zur kollegialen Zusammenarbeit mit Instrumentalsolisten. Vokalwerke dominieren diese Box mitnichten. Die späte Einspielung von L’Enfance du Christ von Berlioz von 1965/66 (der Monofassung von 1950 vorzuziehen) bildet neben dem Requiem von Fauré die Ausnahme. Überaus hochkarätig die Sängerbesetzung beim Berlioz: Victoria de los Ángeles, Nicolai Gedda, Roger Soyer und Ernest Blanc stehen im Zentrum. Als Chor fungieren die Choeurs René Duclos. Eine idiomatischere, französischere Aufnahme dürfte man schwerlich finden. Wieder spielt das Orchestre de la Société des Concerts du Conservatoire. Gleichsam ein Schwanengesang für Dirigent und Orchester, die kurz darauf beide verstummten. Cluytens betont das Lyrische des ohnehin verinnerlichten Oratoriums, nicht so sehr die opernhaften Züge. Selbst wenn man als Hörer kein Freund historischer Monoaufnahmen ist, bleiben nicht weniger als 30 CDs mit noch immer vorzeigbarem Stereoklang übrig, welche allein schon eine Anschaffung dieser essentiellen Box rechtfertigen.

Tatsächlich ist Erato/Warner mit dieser wichtigen Veröffentlichung eine lang ausstehende Würdigung von André Cluytens gelungen, der die Generation der französischen Dirigenten zwischen Pierre Monteux und Pierre Boulez zusammen mit dem etwas jüngeren (und ebenfalls zu zeitig verstorbenen) Jean Martinon vortrefflich repräsentierte. Die Aufmachung der Box ist sehr gelungen. Die einzelnen CDs finden sich in ansprechenden Papphüllen mit den jeweiligen ursprünglichen Originalcovern. Daniel Hauser

Grandioser Testlauf

 

Nun also doch! Zunächst deutete nicht viel darauf hin, dass der Dresdner Lohengrin so schnell auf DVD erscheinen würde. Ein Verzicht auf die Veröffentlichung wäre schade, sehr schade gewesen. Nicht wegen der Inszenierung aus DDR-Beständen, nicht zwingend wegen Christan Thielemann am Pult – sondern einzig wegen Anna Netrebko als Elsa und Piotr Beczala als Lohengrin. Im Booklet der von Deutsche Grammophon / Unitel vorgelegten Neuerscheinung (00440 073 5319) ist denn auch von „Operntraum“ die Rede, der in Dresden in Erfüllung gegangen sei. Ein Wort, das es im deutschen Sprachgebrauch nicht gibt und das auch nicht im Duden steht. Es ist eine Erfindung der Presse, um der atemlosen Begeisterung, die auch anders zu beschreiben wäre, kompakten Ausdruck zu verleihen. In diesem Falle ist Begeisterung durchaus angebracht. Nach den Aufführungen in der Semperoper soll die „Opernwelt Kopf“ gestanden haben, weiß das Booklet. Zitiert werden Zeitungen, die sich mit Wortschöpfungen regelrecht überschlagen. Der „Münchner Merkur“ fiel dem „Schwahnsinn“ anheim, und die „Welt“ will gar einen „der besten Logengrins aller Zeiten“ gehört haben.

„Das süße Lied verhallt; wir sind allein.“ Elsa (Anna Netrebko) und Lohengrin (Piotr Beczala) im Brautgemach. Foto:Daniel Koch/ Booklet. zur DVD

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass mit der spektakulären Besetzung eine der belanglosesten Operninszenierungen der DDR, in der sich in Wohlgefallen aufzulösen scheint, was einst Felsenstein, die Berghaus, Kupfer oder Herz an Veränderungen anstießen, für die Zukunft bewahrt wird. Sie stammt von Christine Mielitz und erlebte bereits 1983 ihre Premiere – noch vor Eröffnung der Semperoper – im Schauspielhaus. Die Handlung wurde in das wilhelminische Deutschland verlegt. Solche Zeitverschiebungen waren seinerzeit angesagt. Für die Aufführungen im Mai 2016 wurde die Inszenierung von Angela Brandt („Director of Performance“) aufgefrischt. Sie wird nicht ihrer selbst wegen in die Operngeschichte eingehen, sondern einzig aufgrund der Tatsache, dass die Netrebko darin ihre erste Elsa sang. Sozusagen als Einstimmung auf Bayreuth 2018, wo sie kurzzeitig in der Rolle gemeinsam mit Roberto Alagna als Lohengrin gehandelt worden war. Davon ist keine Rede mehr. „Sechs Stunden deutsch singen! Nein, ich glaube wirklich nicht, dass ich den Wagner-Weg weitergehen will“, hatte sie wenige Wochen nach dem Dresdner Gastspiel in einem Interview mit der „Frankfurter Allgemeinen“ gesagt. So dürfte diese erste Elsa auch die letzte gewesen sein. Um Beczala, der in Dresden erstmals den Lohengrin sang, muss man sich nicht sorgen. Der wird in dieser Rolle gewiss an anderen Häusern wiederkehren. Und vielleicht nicht nur in dieser.

Wenn nicht gestanden oder gesessen wird in Dresden, wird geschritten. Wände an drei Seiten machen die Bühne unnötig klein und eng. Vergleiche mit der Singschule der Meistersinger drängen sich auf. Für Elsa wird ein Tritt herbeigerückt. So etwas wie ein Zeugenstand. Kündigt sich endlich der Schwanenritter an, setzt ein geschäftiges Umräumen ein. Im letzten Moment wird auch der Tritt energisch wieder zur Seite geschafft. Türen im Hintergrund öffnen sich wackelnd und outen sich dabei ungewollt als Theaterpappe. Und weil der von der langen Reise etwas zerfledderte Schwan nicht durch die Öffnung passt, verlässt Lohengrin sein schwankendes gefiedertes Gefährt und legte die letzten Meter zu Fuß zurück. Der Chor stiebt auseinander, wie nur Chöre in der Oper auseinander stieben können. Plötzlich fällt auf, dass die Kostüme der Damen mit ihren Hauben dem Fundus für Zar und Zimmermann entliehen worden sein dürften. Frau Antje lässt grüßen. Nun gut, beide Opern spielen bekanntlich nicht weit voneinander entfernt. Wie von Geisterhand gelenkt, ist auch das Gestell mit der Trittfläche wieder aufgetaucht. Wunder sehen anders aus. Und weil die Musik in diesem Moment so zügig vorwärtsdrängt, muss der markige Georg Zeppenfeld als stimmgewaltiger König in den wenig männlichen Trippelschritt wechseln, damit er aus dem Hintergrund pünktlich an der Rampe ankommt, wo er gebraucht wird. Von der musikalischen Pracht, mit der dieser Aufzug schließt, ganz überwältigt, heben plötzlich kurz entschlossen die kräftigsten Chorsänger das Meistersinger-Podest samt Elsa und Lohengrin in die Höhe, damit das gefeierte Paar über der Menge schweben kann.

Spätestens mit dem Beginn des zweiten Aufzuges, regen sich Zweifel, ob tatsächlich einer der „besten Lohengrins aller Zeiten“ im Player liegt. Die Regisseurin Mielitz, die auch bei Kupfer gelernt hat, scheint – wie jener – besonderen Gefallen daran gefunden zu haben, die Akteure unvermittelt in die Waagerechte zu befördern. Sowohl Telramund und als auch seine stolze Gemahlin, Tochter eines Fürsten, liegen gern herum, wenn sie denn nicht dazu verurteilt sind, auf dem Boden zu sitzen oder zu knien. Ortrud wird von Evelyn Herlitzius dargestellt. Sie sieht sehr gut aus, weiß sich angemessen zu bewegen, wenn sie das denn darf. Im ersten Aufzug hat es diese Figur sehr schwer. Sie kommt nur im Ensemble musikalisch zum Einsatz und muss sich, weil ständig auf der Bühne, durch Präsenz behaupten. Ich kann mich an Aufführungen erinnern, in denen die stumme Ortrud die meiste Aufmerksamkeit auf sich zog. Wagner hat sich das gut ausgedacht. Erst im Parsifal wiederholt er dieses Mittel im dritten Aufzug mit der stummen Kundry. Die Herlitzius macht etwas daraus und greift dabei wohl auch in den reichen Schatz ihrer eigenen Bühnenerfahrung. Von der Regie wirkt sie allein gelassen. Und man muss ihre Stimme mögen, die gelegentlich scharf wie ein Schwert niederfährt. Für die Ortrud ist das eine gestalterische Möglichkeit. Zwischentöne sind nicht die Stärke von Frau Herlitzius. Die „Entweihten Götter“ und der letzte hoch auffahrende Auftritt, wenn sie dem scheidenden Lohengrin ihre Verwünschungen hinterher giftet, machen jedoch großen Eindruck. So gehört sich das. Die Herlitzius hat viele Verehrer. Fans reisen ihr nach. In dieser Produktion kommen sie voll auf ihre Kosten. Ihr dröger Gatte Friedrich von Telramund, der gegen den Gottgesandten machtlos bleibt, bekommt durch Tomasz Konieczny eine Gefährlichkeit, die auf eisernem Stolz, nicht aber auf Intellekt beruht.

Und wieder wird geschritten, diesmal gegen das Münster. Ortrud, der Elsa beim nächtlichen Zusammentreffen unter dem Söller versprochen hat, sie mit „prächtigen Gewanden“ zu schmücken, blieb offenbar doch keine Zeit, sich umzuziehen. Auf einem undefinierbaren Kleinmöbel, wie es  meine alte Tante Helene für ihre Clivia in der Wohnstube benutzte, steht die Krone unter einem durchsichtigem Stück Stoff. Was dann folgt, hat sich die Regisseurin offenkundig bei den britischen Krönungsfeierlichkeiten abgeguckt, um es in die Optik eines Laienspiels zu verwandeln. Ein bisschen so, als spielten Kinder König und Prinzessin. Obwohl der Heerrufer – passabel Derek Welton – kurz vorher ausdrücklich verkündet hatte, so deutlich verkündet hatte, dass es auch gut zu verstehen war, dass nämlich der König „den fremden, gottgesandten Mann … mit Land und Krone von Brabant belehnt“ – wird die Krone Elsa aufs Haupt gesetzt. Die muss sich mit dem unbequemen majestätischen Kopfputz auch noch umschauen und sieht gar nicht glücklich dabei aus. Dass der Chor dabei wieder mal flach liegt, muss eigentlich nicht nochmals herausgestellt werden.

„Fahr heim! Fahr heim, du stolzer Helde!“ Evelyn Herlitzius (hier auf einem Screenshot aus der DVD) fährt als Ortrud stimmlich gewaltig auf/ Screenshot

Ich habe schon in manchen Aufführungen gesessen und mich vor dem endlosen Brautgemach gefürchtet, weil die Sänger im bisherigen Verlauf der Oper nicht viel hermachten. Diesmal habe ich mich darauf gefreut. So soll es ja auch sein. Nach allem, was Anna Netrebko und Piotr Beczala, bisher hatten hören lassen, musste die kommende halbe Stunde zum sängerischen Höhepunkt geraten – und wurde es auch, mit dem berühmten glanzvollen Vorspiel durch Thielemann schmissig eingeleitet. Nachdem der Brautchor ausgeschritten hatte, endlich die Szene, in der Sänger ihr Können und Vermögen ausbreiten können. Beide machten davon verschwenderisch Gebrauch. Obwohl die Netrebko auch alle lyrischen Spielregeln beherrscht, behält sie den dramatischen Ansatz bei und steigerte ihn sogar noch. Von Anfang an ist klar, worauf es hinaus läuft – auf die Frage nach Lohengrins Herkunft. Ihre Elsa ist eine betont selbstbewusste Frau. Eigentlich ist Lohengrin ihr nicht gewachsen. Er hat keine Chance. Beczala ist im Vergleich mit seinem Gegenüber viel sanfter. Er hat Angst, nicht sie. Ich scheue mich nicht vor der Feststellung, dass er schöner singt. Damit sollen die Qualitäten von Anna Netrebko nicht geschmälert werden. Ganz im Gegenteil. Während sie als Sängerin einen fast schon hochdramatischen Weg beschreitet, bleibt er bei seinem Leisten als jugendlicher lyrischer Tenor mit einem deutlichen italienischen Einschlag, der besonders in der betörenden Gralserzählung an einem seiner bedeutendsten Vorgänger als Lohengrin, Sandor Konya erinnert. Er ist ein Glücksfall, weil er den Lohengrin vermenschlicht. Indem die Figur glaubhafter und natürlicher wird, büßt sie aber an überirdischem Flair ein. Beides geht wohl nicht. Das Werk, auch durch Thielemann am Pult befördert, ist den blauen Sphären entrückt und auf der Erde angekommen.

Über weite Strecken sind alle Sänger sehr gut zu verstehen. Das deutet auf intensive Probenarbeit hin und gehört zu den Stärken der Produktion. Am Ende erweist sich diese altbackene Inszenierung als nicht die schlechteste Wahl, weil sie die Mitwirkenden als das herausstellt, was sie sind – Sänger. Insofern wäre es auch eine Überlegung wert gewesen, die Aufführung nur als Tonspur auf CD zu veröffentlichen. Oder zusätzlich. Die Solisten, der gut studierte Chor und die glänzend aufgelegte Staatskapelle kommen zu ihrem Recht. Sie werden nicht verwickelt in verwirrende oder komplizierte szenische Aktionen. Ihnen wird nichts zugemutet, sieht man von den gelegentlichen Beförderungen in die stabile Seitenlage einmal ab. Sie müssen nicht herumrennen, Purzelbäume schlagen oder auf Gerüsten herumturnen. Sie müssen sich auch nicht ausziehen bis auf die Unterwäsche. Es geht anständig zu in Dresden bei Christine Mielitz. Regietheater? Was war denn das mal schnell? Rüdiger Winter

Das große Foto oben ist ein Ausschnitt aus dem Cover der DVD. Es zeigt die Solisten der Lohengrin-Produktion aus Dresden. Von links: Evelyn Herlitzius (Ortrud), Georg Zeppenfeld (König Heinrich), Piotr Beczala (Lohengrin), Anna Netrebko (Elsa) und Tomasz Konieczny (Telramund).

Wagner mit Sogwirkung

 

In Bayreuth folgt in diesem Sommer 2017 auf die Neuinszenierung der Meistersinger durch Barrie Kosky Tristan und Isolde. In dieser Koppelung kommt das nicht oft vor. Sinnvoller wäre es natürlich umgekehrt. Denn mit den Meistersingern von Nürnberg lässt Wagner seinen Tristan hinter sich. „Mein Kind, von Tristan und Isolde / Kenn‘ ich ein traurig Stück: / Hans Sachs war klug und wollte / Nichts von Herrn Markes Glück.“ Sachs macht seinen Verzicht auf Eva, die er heimlich geliebt hat, öffentlich. Er überwindet sich, indem er einem neuen Glück den Weg bahnt. Eva bekommt ihren Walther, noch bevor das Wettsingen überhaupt begonnen hat. Es wird Formsache. Ein Konflikt löst sich auf. Mitten am Tage. Selig wie die Sonne! Dazu zitiert Wagner sich selbst. Im Orchester erklingt – wie aus dem Dunkel der Nacht – der berühmte Tristan-Akkord. Dieser musikalische Einfall voller Schmachten und Sehnen, nicht ganz eindeutig in seiner musikalischen Struktur, sondern eher unbestimmt und vage, hat ganze Generationen von Wissenschaftlern, Dirigenten und Musikkritikern beschäftigt. Literatur zuhauf hat sich angesammelt. Auch im Internet – das heute als wichtige Quelle dazugehört – ist dieser Akkord, der gleich zu Beginn des Tristan-Vorspiels erklingt, ein nicht enden wollendes Thema. „Der Akkord entzieht sich wegen seiner harmonischen Undurchsichtigkeit bis heute einer einfachen bzw. allgemein akzeptierten Deutung. Es hat immer wieder sehr unterschiedliche Versuche gegeben, ihn funktionsharmonisch zu interpretieren. Seine Vieldeutigkeit ist zudem typisch für die extrem chromatische und tonal unstete Harmonik der Tristan-Partitur, in der Ernst Kurth eine Krise der romantischen Harmonik sah“, heißt es im Wikipedia-Artikel. Der zitierte Kurth (1886 bis 1946) war ein renommierter Musiktheoretiker und Musikpsychologe aus der Schweiz.

Wer sich eine Gesamtaufnahme des Werkes anhören und auch den Akkord auf sich wirken lassen will, hat die Qual der Wahl. Sogar ein von Christian Thielemann dirigierter Mitschnitt der Inszenierung von Katharina Wagner, die in diesem Jahr wieder im Spielplan steht, liegt bereits auf DVD vor. Wie das Werk 1966 in Bayreuth geklungen hat – also vor mehr als einem halben Jahrhundert – das hat ein Mitschnitt der Deutschen Grammophon bewahrt, der jetzt in neuer Überspielung herausgekommen ist (479 7291). Es handelt sich um eine besondere Edition. Neben dem Remastering der originalen Gesamtaufnahme gibt es eine Blu-ray-Audio-Disc, die das lange Werk platzsparend aus einer Scheibe versammelt. Dieses Format verlangt einen geeignetes Abspielgerät, lässt sich aber auch in einem für Blu-ray-DVD’s ausgelegten Player am Fernseher abspielen. Auf dem Bildschirm erschient dann eine bebildertes Menü, mit dem sich die einzelnen Tracks bequem ansteuern lassen. Ist ein Verstärker mit guten Lautsprechern oder Kopfhörern zugeschaltet, erfüllt sich das Versprechen einer besonders hohen Klangtreue. Letztlich kann aber technisch nur verbessert werden, was auch vorhanden ist, interpretatorisch vorhanden ist. Keine noch so ausgeklügelte Technik könnte Unterlassungen und Versäumnisse von Dirigent und Solisten ausgleichen. In diesem Falle sind die Voraussetzungen für die Nacharbeit am Computer glänzend. Experten dürften ein leichtes Spiel gehabt haben. Denn schon bei ihrem ersten Erscheinen auf Langspielplatten klang die Aufnahme sehr gut. Die Grammophon hatte damals hineingelegt, was möglich war und dafür auch den Grand Prix du Disque, den international begehrten französischen Plattenpreis, bekommen.

Auf dem Bild der ersten CD-Ausgabe waren Tristan und Isolde links positioniert. Dieses Seitenverhältnis entspricht dem originalen Bühnenbild, wie es in der Dokumentation „Die Geschichte der Bayreuther Festspiele“ von Oswald Georg Bauer, Band 2, Seite 147 wiedergegeben wird.

Jetzt also tönt es noch brillanter, leuchtender, wo es leuchten muss, dunkler, wo Wagner die Nacht hernieder sinken lässt. Vom Klangbild her scheint die historische Distanz wie aufgehoben. Dass es sich aber doch nur um eine alte Produktion handeln kann, wird durch die sängerischen Leistungen offenbar. So rollendeckend, so deutlich und wissend zugleich singt heute kaum einer mehr. Birgit Nilsson war die Isolde, Wolfgang Windgassen der Tristan. Jung klingen sie beide nicht. Die Nilsson ging auf die fünfzig zu, Windgassen, zum Kehligen neigend, hatte sie überschritten. Erste Verschleißerscheinungen kündigten sich an. Sie überzeugen durch gestaltendes Singen. Es gibt für mich nicht einen Moment, in dem ich ihnen die Rollen nicht abnehmen würde. Dabei gehörte ich nie zu den leidenschaftlichsten Parteigängern dieser Interpreten. Mit den Jahren und in Ermangelung überzeugender Rollenvertreter haben sie in meiner Wahrnehmung an Bedeutung gewonnen. 1966 ging die Inszenierung von Wieland Wagner in ihr fünftes Jahr – ein Schicksalsjahr für Bayreuth. Noch während der Festspiele erkrankte der Enkel Richard Wagners schwer, musste zur Behandlung ins Krankenhaus. Er starb im Oktober desselben Jahres. Tristan wurde zu seinem Vermächtnis. „Vollendung der Leidenschaft im Tod: dieses mystische Moment deckt die tiefe Bedeutung des Tristan-Mythos auf, der in der Überlieferung der Sagen und Legenden durch die Jahrhunderte – nicht anders als der Mythos im Ring und im Parsifal – durch gesellschaftlich bedingte epische, malerische und moralische Zutaten verunklart und verdunkelt worden ist“, hatte er noch für das Booklet der Aufnahme geschrieben. Der Text wurde auch in alle späteren Ausgaben übernommen. Es sei deshalb kein Zufall, so Wieland Wagner weiter, dass der „Tristan- wie der Don-Giovanni-Mythos erst in der Oper, erst durch die Musik, ihren endgültigen, ja ihren vollendeten Ausdruck gefunden“ hätten.

In ihren Memoiren lässt sich Birgt Nilsson ausführlich darüber aus, wie sie doch noch zur Isolde in der Inszenierung von Wieland Wagner gekommen ist. Das Buch ist bei Krüger erschienen, ISBN-10: 3810513105. 

Birgit Nilsson war für Wieland nicht die erste Wahl. In ihrer unverwechselbaren Offenheit kommt sie auf das Thema auch in ihren Memoiren „La Nilsson – Mein Leben für die Oper“ zu sprechen. Er habe sich eine „jungfräuliche Isolde vorgestellt, eine, die niemals zuvor die Partie gesungen hatte“. Die Schwedin hingegen hatte die Rolle nach eigenem Bekunden bereits 87-mal gesungen und konnte nicht nachvollziehen, dass sie ihr nicht angeboten wurde. Befürchtete Wieland, sie können „nicht mehr für neue Ideen empfänglich“ sein? Schließlich kam das Angebot doch noch, und sie willigte „nach einer halben Sekunde Bedenkzeit“ ein. Die Isolde wurde zu einem der Triumphe der Nilsson in Bayreuth. Bis 1970 blieb die Inszenierung im Spielpan. Mit der letzten Vorstellung verabschiedete sie sich gemeinsam mit Wolfgang Windgassen von den Festspielen. Ich erinnere mich noch ganz genau, wie wir im Kreis von Gleichgesinnten gebannt am Radio saßen. Uns war sehr wohl bewusst, dass eine Ära zu Ende gehen würde .

Doch zurück in das Jahr 1966. Christa Ludwig war neu in Bayreuth, sang lediglich in einer Vorstellung die Brangäne und kehrte nur für einen Sommer zurück, nämlich 1967 als Kundry im Parsifal. Mit ihrer Brangäne erweckte sie gelegentlich den Eindruck, selbst Anlauf auf die weibliche Titelrolle nehmen zu wollen. Selten dürfte die treue Dienerin so hochdramatisch angelegt worden sein. Es ist vorstellbar, dass Wieland daran Anstoß nahm. Beide kannten sich aus einer Berliner Aida-Produktion von 1961. Schon damals hatte es Unstimmigkeiten gegeben, aus denen die Ludwig in ihren Erinnerungen “ … und ich wäre so gern Primadonna gewesen“ gar keinen Hehl macht. Sie spricht von „Hassliebe“, die aber eine große Achtung vor seiner „überwältigenden Weitsicht“ nicht ausschließt. In diesem Buch lässt die Ludwig ihren ausführlichen Briefwechsel mit Wieland abdrucken, in dem sich beide Seiten höchst professionell begegnen. Diese Briefe, in denen um die bestmöglichste Wirkung des Werkes gerungen wird, geben eine Einblick der besonderen Art in die Werkstatt Bayreuth.

Nobel und jungmännlich klingt Eberhard Wachter als Kurwenal. Es war ebenfalls sein erster Festspielsommer. Waechter ließ seine gestandenen Vorgänger, darunter auch der gelegentlich murmelnde und ältlich wirkenden Hans Hotter, zurück. Martti Talvela, der Bilderbuchfinne mit dem mächtigen Bass, war 1966 zwar kein Neuling, den König Marke aber sang er zum ersten Mal. Als Debütant wirkte der hochattraktive Claude Heater, der außerhalb Bayreuths in Heldenpartien auftrat, als Melot mit. Erwin Wohlfahrt, war der Hirt im dritten Aufzug. Gerd Nienstedt, der bereits den Donner und den Biterolf gesungen hatte, war sich – auch das eine der Bayreuther Besonderheiten – für den Steuermann nicht zu schade. Wohl mit Blick auf die Plattenproduktion stellte sich Peter Schreier, damals mit großen Aufgaben weltweit unterwegs, als junger Seemann zur Verfügung, der im Stück das erste Wort hat. Er war ein Glücksfall. Seine Mitwirkung 1966 blieb eine Episode in seiner langen erfolgreichen Karriere.

Christa Ludwig hat die Brangäne nur einmal in Bayreuth gesungen. In ihren Erinnerungen, die bei Henschel herausgekommen sind (ISBN 978-3894871918), schildert sie die Probleme in der Zusammenarbeit mit Wieland Wagner, zollt dem Regisseur aber grundsätzlich großen Respekt.

In Bayreuth wurde in dieser Saison nicht herumgesessen. Windgassen sang neben den drei Tristan-Vorstellungen in drei Ring-Durchläufen alle Siegfriede, die Nilsson alle Isolden und neun Mal die Brünnhilde. In dieser Rolle alternierten mir ihr Astrid Varnay und Ludmila Dvorakova. Ob die Tristan-Aufnahme, die hinter den Kulissen schon ein Thema gewesen sein dürfte, den Solisten im Nacken saß, ist nicht überliefert. Bisher war ich immer davon ausgegangen, dass diese Einspielung unter ganz einmaligen Umständen zustande kam. Jeder Aufzug sei an drei verschiedenen Tagen einzeln vor ausgesuchtem und diszipliniertem Publikum, das dazu verpflichtete worden ja, nur nicht zu husten, aufgenommen worden. Die Sänger sollten sich verausgaben können, ohne an die folgenden Strapazen denken zu müssen. Das machte Sinn. In Wirklichkeit ist es auch so geschehen, wie der Musikwissenschaftler Franzpeter Messmer im Booklet bestätigt. „Doch bei den dann mitgeschnittenen zwei regulären Aufführungen vor dem großen Festspielpublikum war die musikalische Qualität höher als bei den einzelnen aufgenommenen Akten.“ Messmer zitiert in diesem Zusammenhang auch den Dirigenten Karl Böhm aus seiner Autobiographie: „Gerade bei einem Werk wie dem Tristan, der ein einziges Crescendo vom ersten sehnsüchtigen a-f der Celli bis zum letzten Liebestod-Akkord, erfüllt vom ungeheuerster Leidenschaft, sein muss, kann dies alles nur in einer Live-Aufnahme erreicht werden.“ Denn dieser letzte „entscheidende Ausdruck und die große Linie“ seien bei einer noch so minuziösen „Flickarbeit“ im Studio nicht möglich. Also wurde die Plattenproduktion doch aus dem Material der offiziellen Aufführungen bestritten? Es ist wohl so.

Die Plattenausgabe enthielt einen Bonus, der beim Umschnitt auf CD keinen Platz mehr fand. Jetzt kehrt er zurück, allerdings nur auf der Blu-ray-Scheibe. In diesen dreißig Minuten probt der Dirigent Vorspiel und erste Szene des dritten Aufzugs. Wer erwartet hat, Böhm erkläre den Musikern das Stück inhaltlich, philosophisch und bedeutungsschwer, wird enttäuscht. Er näherte sich der Musik einzig aus der Partitur mit Notenwerten oder Tempoangaben. Ein typische Zitat: „Jetzt muss das dritte Horn weich übernehmen, gel, auf drei.“ Mitunter wurde er laut, unwillig, sang eine Passage mich krächzender Stimme vor, schlug hörbar den Takt gegen das Pult. Die Probenarbeit ist streng und kleinteilig. Und daraus soll nun der Tristan werden? Das Wunder gelingt, wie es die Hörer an den Lautsprechern nachvollziehen können. Sie werden regelrecht hineingezogen, können diesem musikalischen Sog nicht entgehen. Zumindest mir ist es so ergangen. Nach mehr als fünfzig Jahren offenbart diese Aufnahme, was für ein bedeutender Wagner-Dirigent Karl Böhm doch gewesen ist. Rüdiger Winter

 

„O sink hernieder, Nacht der Liebe.“ Das große Foto oben ist ein Ausschnitt aus dem Cover der neuen Auflage von „Tristan und Isolde“ als Mitschnitt von den Bayreuther Festspielen 1966 bei der Deutschen Grammophon. Es hält eine Szene aus dem Liebesduett des zweiten Aufzugs fest und stammt von Siegfried Lauterwasser. Das Paar ist links positioniert. Auf früheren CD-Ausgaben war das Seitenverhälnis umgekehrt: Tristan liegt Isolde nicht mehr zur Rechten, sondern zur Linken zu Boden. Auch das zur Silhouette stilisierte Schiff im Hintergrund hat die Richtung gewechselt. 

Von Tür zu Tür

 

In der langen Reihe der Aufnahmen von Bela Bartóks Herzog Blaubarts Burg rangiert die Einspielung unter der Leitung von Walter Süsskind ganz vorn. Sie entstand 1953. Davor ist lediglich die von Georges Sebastian geleitete Einspielung von 1951 nachweisbar. 1953 war ein guter Jahrgang für den symbolistischen Einakter des ungarischen Komponisten. Neben Süsskind, der aus Prag stammte und später britischer Staatsbürger wurde, ist der Ungar Ferenc Fricsay mit seiner ersten Aufnahme, einem deutsch gesungenen Rundfunkmitschnitt aus Schweden mit Birgit Nilsson und Bernhard Sönnerstedt dokumentiert. Dazu kommt, ebenfalls in deutscher Fassung, die Produktion des österreichischen Dirigenten Herbert Häfner mit den Wiener Symphoniker und den Solisten Ilona Steingruber und Otto Wiener. Es war Häfners letzte Platte. Er starb noch vor der Veröffentlichung mit nur sechsundvierzig Jahren den Herztod am Dirigentenpult. Häfner, der auch Bergs Lulu mit der Steingruber einspielte, galt als Spezialist für die Moderne. Seine Spuren sind verweht. Nicht einmal das sich gern als allwissend gebende Internet weiß viel über ihn.

Zurück zu Süsskind, auf dem CD-Cover Susskind geschrieben. Seine Einspielung aus London mit dem New Symphony Orchestra ist bei Praga Digitals (Praga PRD 250 349) neu aufgelegt worden, Zuvor war sie bei Arlecchino zu haben. Gesungen wird in der Originalsprache, also ungarisch. Für die Veröffentlichung wurde aber der international gebräuchliche englische Titel Bluebeard’s Castle gewählt. Wer kann sich schon A kékszakállú herceg vára merken. Europäisch zeitgemäß wäre es schon, sich langsam an den originalen Namen zu gewöhnen. Zumal auf den Opernbühnen und in Studios inzwischen fast nur noch originalsprachlich agiert wird. Süsskind stellt bei seiner Aufnahme erstmals den gesprochenen Prolog voran, der mit den letzten Worten – einem Melodram gleich – in die Musik überleitet (Ernö Lorsy). Er ist wie ein gesprochenes Vorspiel, wird aber meisten weggelassen, was einem tiefen Eingriff in die Struktur des Einakters gleichkommt. Der Text stimmt auf das Werk ein. Mehr noch, er zieht Hörer und Zuschauer hinein in die Geschichte von den sieben Schreckenskammern, die Blaubart auf das Geheiß von Judith öffnet. Die letzte wird sie selbst für immer aufnehmen. „Das Spiel kann beginnen. Aufgeschlagen sind die Wimpernvorhänge meiner Augen. Klatscht Beifall, wenn sie sich wieder senken“, heißt es in der deutschen Fassung des Prologs von Wilhelm Ziegler. Von Mal zu Mal steigert sich der musikalische Ausdruck, um sich mit der fünften Tür, hinter der sich ein Ausblick ins weite Reich von Blaubarts Schreckensherrschaft auftut, gigantisch und bedrohlich zu entladen. In konzertanten Aufführungen fällt an dieser Stelle die Orgel machtvoll ein, die es bei Süsskind aber nicht gibt.

Judith Hellwig, 1906 geboren und keine Deutsche, wie es der Name vermuten lässt, singt die Judith. Sie stammt aus der Slowakei und wurde in Brünn ausgebildet. Sprachlich dürfte mit dem Ungarischen vertraut gewesen sein, ist im Ausdruck sogar klarer und deutlicher als der gleichaltrige Muttersprachler Endre Koreh als Blaubart. Beide sind ihren Aufgaben vortrefflich gewachsen, auch deshalb, weil sie sich als Teil der Musik verstehen und keine herausgehobenen eigenen Wege gehen. Es ist, als ob sie sich dem Werk unterwerfen. Aufgefüllt ist die CD mit Bartóks Cantata Profana, in der unter der Leitung von Süsskind der Tenor Richard Lewis und der Bariton Marko Rothmüller auftreten. Damit wird die übliche Kapazität einer CD um gefährliche fast zwei Minuten übertroffen. Rüdiger Winter 

 

In die Spitzenränge der Aufführungsstatistiken hat es Bartóks Herzog Blaubarts Burg nie geschafft, ganz und gar nicht seiner Bedeutung für die Musik des 20. Jahrhunderts entsprechend. Diese Bedeutung ist an der Vielzahl der Einspielungen abzulesen, darunter viele, einige der besten, von ungarischen bzw. ungarisch stämmigen Dirigenten wie Fricsay, Dorati, Kertész, Solti, Fischer, wobei ich besonders die alte unter Georges Sébastien von 1951 mit Mihaly Székely schätze. Die neue Aufnahme unter Esa-Pekka Salonen bei Signum classics wird man fraglos zu den besten Aufnahmen zählen (SIGCD372). Entstanden ist sie im Wiener Konzerthaus im Rahmen der Konzerte, die das Philharmonia Orchestra in 2011 in einigen europäischen Metropolen gab.

Auffallend gleich – nach der leider flachen englischsprachigen Erzählerin, auf die man unbedingt hätte verzichten müssen – das klare und runde Klangbild mit den deutlich in den Vordergrund gerückten Protagonisten, die nie in den Klangfluten untergehen und bei ziemlich gutem Ungarisch, einer bemühten Artikulation, der auch ein Ungarisch-Anfänger folgen kann, einen einstündigen Spaziergang von Tür zu Tür bieten, der einer psychoanalytischen Sitzung gleichkommt. Vor allem der zum Zeitpunkt der Aufnahme 65jährige John Tomlinson, dessen Stimme schon lange Zeichen des Verfalls trägt, vermag durch eine ansprechende und noble Interpretation zu fesseln. Tomlinsons Blaubart ist natürlich ein reifer, sogar alter Mann, schwankend zwischen Trauer, Resignation und Wut, der beim Öffnen jeder Tür, die eines seiner Geheimnisse enthüllt, zunehmend gebrochen, doch nicht kraftlos wirkt. Zum spannenden Miteinander zweier gleich starker, sich umschleichender und belauernder Menschen wird der Einakter durch die mehr als zwanzig Jahre jüngere Michelle DeYoung, die sich als ausgezeichnete, sinnlich und klangvoll in allen Registern singende Judith nachdrücklich in Erinnerung bringt. Salonen gibt beiden Raum sich zu entfalten, was heißt, dass er gelegentlich bedächtig und langsam ist, dabei um so skrupulöser und dichter in der Aussage, wobei das Philharmonia Orchestra selbst in den größten Klangmassen nie breiig, sondern immer geballt, wuchtig und prächtig klingt. Rolf Fath

 

1-CD Blaubart (Kubelik)Der Regisseur Ernst Lert, der 1922 die deutsche Erstaufführung des Werkes in Frankfurt betreute, sprach von einem „Drama der abstrakten Ideen“. Es handele sich nicht um einen „Kampf zwischen Menschen“. Vielmehr sei Bartóks Blaubart eine „spektakuläre Kantate oder eine Symphonie mit Gesang“. Wer sich den von Audite vorgelegten Mitschnitt von 1962 aus Luzern genau anhört, bekommt eine musikalische Vorstellung von Lerts gedanklichem Ansatz (95.626).Darin sehe ich den interessantesten Wert dieser Veröffentlichung in packender Tonqualität. Bei diesem Label ist Verlass darauf, dass Rundfunkbänder zugrunde liegen. Es handelt sich um eine konzertante Aufführung unter Rafael Kubelik, der für den schon schwer erkrankten Ferenc Fricsay einsprang. Gesungen wird in deutscher Sprache, deutlich und vernehmbar, was dem Verständnis für das schwierige Opus entgegen kommt. Bei allem Respekt für das ungarische Original. Blaubart ist eines der Werke, dem niemand mit einem Blick in den Opernführer etwas abgewinnen kann, denn es gibt eigentlich keine simple Handlung.

Die Überraschung ist Irmgard Seefried als Judith. Bei der Ankündigung der Neuerscheinung ging ich von einem Irrtum aus. Die Seefried, eine ausgewiesene Mozartsängerin, mit der vornehmlich lyrischen Liedliteratur bestens vertraut, in dieser Partie, die gemeinhin als sehr dramatisch, wenn nicht gar hochdramatisch gilt? Irrtum ausgeschlossen, es ist die Seefried, unverkennbar mit ihrem samtigen Sopran, der stets einen Schuss Naivität hat – und nicht nur, weil ihr Name schwarz auf weiß gedruckt ist. Das Booklet macht schlau. Es berichtet, dass die Seefried vier Jahre nach dem Konzert, also 1966 die Judith auch auf der Bühne der Wiener Volksoper gegeben hat.

Ich gebe es gern zu, immer der Öffnung der fünften Tür entgegen zu fiebern, hinter der sich unter dem lauten Aufschrei der Judith, Blaubarts großes Reich in strahlendem Licht ausbreitet – soweit die Blicke reichen. Orgelklänge türmen sich auf, als wollten sie dem Bild zusätzlich Bedeutung und Feierlichkeit verleihen. Nicht so hier. Kein Schrei, keine Orgel. Judith entfährt das „Ah!“ ehr beiläufig. Sie ist so beeindruckt nicht – und es ist ein starker Moment, in dem Blaubart plötzlich keine Macht über sie hat. Mir ist keine Aufnahme bekannt – und es dürfte inzwischen so an die dreißig geben – in der diese Szene, die sich als symptomatisch für die gesamte Aufführung erweist, so zwingend gelingt. Im Verein mit der mitunter fast lakonischen Seefried kann mich Dietrich Fischer-Dieskau als Blaubart mehr überzeugen als in seinen anderen beiden Studio-Aufnahmen. Der Einsatz der Orgel ist in dieser Konzertfassung nicht zwingend, der Verzicht auf den gesprochenen Prolog, von dem es deutsche Übersetzungen gibt, unverständlich. Verfasser ist Bartók selbst. Der Prolog bildet in der Struktur des Werkes den inhaltlichen Einstieg – auch wenn es kein musikalischer ist. Er zieht das Publikum hinein. Erst daraus ergibt sich die starke Wirkung des geheimnisvollen Beginns im Orchester. Rüdiger Winter

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Dreimal die Erste

 

Zu den großen Aufsteigern unter den Komponisten der letzten fünfzig Jahre gehört Jean Sibelius. Mittlerweile ist er auch außerhalb Fennoskandinaviens und des angelsächsischen Raumes im Standardrepertoire angekommen. Sein sinfonischer Erstling, die Sinfonie Nr. 1 in e-Moll op. 39, stammt von 1899. Ohne Frage wird auf die schwierige politische Situation seines Heimatlandes angespielt, das damals noch Teil des Zarenreiches war. Die sogenannte Russifizierung bedrohte die nationale Identität der Finnen. Keiner hat diese so eindrucksvoll in Töne gefasst wie Sibelius. Der dänische Dirigent Thomas Sondergard setzt seinen Sibelius-Zyklus mit dem BBC National Orchestra of Wales, dem er seit 2012 vorsteht, bei Linn Records fort (CKD 502). Nach dem gelungenen Debütalbum mit den bekannteren Sinfonien Nr. 2 und 7 (CKD 462) nun also die Erste und die Sechste. Formidabel bereits der zerklüftete Kopfsatz der Ersten (11:20), wo die enorme Dynamik der Tontechnik zu einem eindrücklichen Klangerlebnis nachhaltig beiträgt.

Das verbreitete Vorurteil, Sibelius habe mit der 1. Sinfonie eine reine Tschaikowski-Kopie geschaffen, ist so nicht haltbar, zeigt er sich doch vor allem als nordischer Naturmaler. Die einsamen finnischen Landschaften erstehen vor dem geistigen Auge des Hörers. Schön verinnerlicht und mit sehr lyrischen Momenten, wenn nötig aber auch zupackend an den Fortestellen des langsamen zweiten Satzes (9:29). Hier erleben wir ein Seelendrama, das den großen Sinfoniker bereits auf der Höhe zeigt. Abwechslungsreich das stark vom Rhythmus geprägte kurze Scherzo (5:15), in welchem Schlagwerk und Blechbläser neuerlich ihre Klasse zur Schau stellen können. Überhaupt präsentiert sich der walisische Klangkörper in tadelloser Verfassung und braucht keine Vergleiche mit bekannteren und bei Sibelius erfahreneren Orchestern zu scheuen. Höhepunkt ist (wie könnte es anders sein) der Finalsatz (12:06). Sibelius versteht es hier, eine gelungene Synthese der drei vorhergehenden Sätze zu kreieren. Die wiederaufgenommene Schroffheit des ersten Satzes verleiht dem Finale Düsternis, immer wieder unterbrochen durch romantische Passagen, die Vorbild für großartige emotionale Filmmusik sein könnten. Freilich sind diese sinnlichen Ruhepunkte nur von kurzer Dauer, gewinnt das Drama doch die Oberhand. Der glasklare Klang vermittelt eine wahrhaft eisige Atmosphäre (wunderbar die sehr gut verortbare Harfe). Der schneesturmartige Ausbruch in der Coda verklingt zuletzt wie ein laues Lüftchen. Sondergards vorwärtsdrängende, aber niemals gehetzt wirkende Interpretation erweist sich als ausgesprochen adäquat. Eine phantastische Einspielung; mit die gelungenste, die mir bei diesem Werk jemals unterkam. Dasselbe gilt übrigens auch für die auf der CD ebenfalls enthaltene 6. Sinfonie (Spielzeiten: 8:05 – 6:10 – 4:04 – 10:11), die „Cinderella der sieben Sinfonien“, einem ungleich intimeren, fast kammermusikalischen Werk. Sie besitzt als einzige der Sibelius-Sinfonien keine fest vorgegebene Tonart, ist hauptsächlich im dorischen Modus komponiert. In Sondergards Interpretation versteht man, wieso Sibelius mit der Sechsten den „Duft des ersten Schnees“ in Verbindung brachte. Wiederum trägt die sehr plastische Tontechnik hierzu ihren Teil bei.

In ihrer ursprünglichen Form, der sogenannten Linzer Fassung von 1866, hat die 1. Sinfonie von Anton Bruckner, der beinahe zwei Generationen vor Sibelius geboren wurde, nicht einmal zeitlich etwas mit dessen Erster gemein. Ihre Komposition begann 1865, im Geburtsjahr des Finnen. Ein Vierteljahrhundert später legte Bruckner eine völlig überarbeitete, die Wiener Fassung von 1891, vor. In dieser Neufassung blieb vom „kecken Beserl“ nicht mehr viel übrig, dafür gebührt ihr als Letztfassung schon per se Beachtung. In der Diskographie ist diese 1891er Version nicht unbedingt bevorzugt worden (dort dominiert die überarbeitete Linzer Fassung von 1877). Der spanische Dirigent Gustavo Gimeno entschied sich in seiner neuen Einspielung mit dem Orchestre Philharmonique de Luxembourg auf dem Label Pentatone (PTC 5186 613) gleichwohl für diese reifere Variante. Bereits im mächtigen Kopfsatz (12:03) ist der Bruckner’sche Tonfall unverkennbar zu spüren. Auch Bruckner kleidet seinen ersten Satz in ein düsteres Gewand, doch in völlig anderer Weise als Sibelius. Hier hat man eher gotisches Bauwerk vor Augen denn eine Naturschilderung. Nachdenklich das Adagio (12:07), mit einigen eruptiven Orchesterausbrüchen versehen. Wahrlich Lebhaft das Scherzo (9:08), einer der Höhepunkte der Aufnahme. Man ist freudig überrascht, welch hohe Qualität dieses luxemburgische Orchester doch besitzt. Auch hier muss die vorzügliche Klangqualität hervorgehoben werden. Allein diese rechtfertigt schon Neueinspielungen auf einem übersättigt wirkenden Markt. Bewegt, feurig zündet das Finale bereits in den ersten Takten und unterscheidet sich damit von allen anderen Finalsätzen Bruckners, die es zu Beginn ruhig angehen lassen. Mit 16:57 verfügt dieser Satz bereits beinahe über die Dimensionen der späten Sinfonien. Die Dramatik erstirbt urplötzlich und geht in eine lyrische Stimmung über. Dies kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich insgesamt das Drama durchsetzt. Stellenweise entfacht Gimeno ein regelrechtes Feuerwerk. Abschließender Gipfelpunkt, wie könnte es anders sein, die Coda, mit einem geradezu apokalyptischen Momentum. Bravo! Von Interesse für den Bruckner-Freund sind gerade auch die Beigaben auf der CD: vier selten gespielte Orchesterwerke aus der Frühzeit des Komponisten (1862). Zum einen der knapp fünfminütige Marsch in d-Moll WAB 96, der trotz seiner Tonartbezeichnung kurioserweise eher grüblerisch daherkommt. Die Drei Sätze für Orchester Moderato, Allegro non troppo und Andante con moto, zusammen kaum acht Minuten, stehen in einem engeren Zusammenhang (WAB 97). Hier widmete sich Bruckner zum ersten Mal der absoluten Musik, die sein weiteres Schaffen so stark prägen sollte.

Der dritte sinfonische Erstling in diesem Dreigestirn unterscheidet sich deutlich von den beiden anderen. 1924/25 komponiert und 1926 uraufgeführt, ist die 1. Sinfonie des noch nicht zwanzigjährigen Dmitri Schostakowitsch Kind einer gänzlich anderen Zeit. Bestritten wird die Aufnahme von denselben Kräften wie bereits der Bruckner: Gustavo Gimeno mit dem Orchestre Philharmonique du Luxembourg (Pentatone PTC 5186 622), die auch hier beweisen, dass es nicht immer die ganz großen Namen braucht, um zu überzeugen. Die Anklänge an Strawinski und Prokofjew sind bei diesem Frühwerk deutlich erkennbar, was freilich nicht unbedingt von Nachteil sein muss. Mit großer Virtuosität und Frische gehen die Luxemburger an diese Sinfonie heran und zeigen sich unbeeindruckt von all den maßgeblichen Interpreten vergangener Tage. Mag auch nicht ganz die Expressivität eines Jewgeni Swetlanow oder Kirill Kondraschin erreicht werden (womöglich in dieser Form nur zu Sowjetzeiten möglich), so beeindruckt doch die enorme Beweglichkeit in Gimenos Deutung. Die reinen Spielzeiten decken sich übrigens beinahe 1:1 mit Kondraschin: 8:47 – 4:55 – 9:27 – 9:43. Sehr gelungen ist in dieser Neueinspielung der zweite Satz mit seinem Klavierpart. Im langsamen und dunklen dritten Satz hört man gar dezente Wagner-Anklänge. Schostakowitsch sollte dies Jahrzehnte später in seiner letzten Sinfonie nochmal in Form eines waschechten Wagner-Zitats wiederholen (dann in todesverkündender Absicht). Die exquisite Tontechnik tut einmal mehr das Ihrige, um dem Hörer diese neue Aufnahme schmackhaft zu machen. Die Attacca-Überleitung zum Finale mit Trommelwirbel profitiert hiervon beispielsweise. Im Finalsatz gibt es ruhige Passagen, die regelmäßig von furiosen Ausbrüchen des vollen Orchesterapparats unterbrochen werden; die Stimmung ist hier wie dort düster. Markerschütternd das Paukensolo, welches wiederum eine lyrische Passage mit Solocello einleitet. Die Coda klingt mit einem letzten fanfarenartigen Aufheulen der Blechbläser aus.

Gelungen wiederum die Koppelung mit weiteren, selten eingespielten Orchesterwerken, die den restlichen Raum der CD füllen. Darunter drei sehr frühe Werke: Scherzo für Orchester in fis-Moll op. 1, Thema und Variationen für Orchester in B-Dur op. 3 und Scherzo für Orchester in Es-Dur op. 7, entstanden zwischen 1919 und 1924. Die Fünf Fragmente für Orchester op. 42 stellen zeitlich die jüngste Komposition und das letzte der Experimentierwerke Schostakowitschs dar (1935). Sämtlich durchaus hörenswerte Musik, die bereits das Genie erahnen lässt und von Gimeno und den Luxemburgern auf dem gewohnt hohen Niveau dargeboten wird. Daniel Hauser

Wagner mit englischer Noblesse

 

Englische Knabenchöre gelten nicht wenigen als die weltbesten. Die neueste Eigenproduktion des Hallé Orchestra aus Manchester (CD HLD 7539) liefert einen weiteren ohrenfälligen Beweis dafür. „Höchsten Heiles Wunder! Erlösung dem Erlöser!“ Wann hat man den Schlusschor des Bühnenweihfestspiels Parsifal je ergreifender gehört? Die Reinheit der Knabenstimmen hat hier in zweifacher Weise etwas wahrlich Englisches an sich. Aufnahmen der letzten Wagner-Oper von der Insel hatten schon früher das gewisse Etwas. Unnachahmlich der legendäre Sir Reginald Goodall, der die getragensten Interpretationen vorlegte: 285 Minuten 1984 im Studio (EMI), 283 Minuten 1971 live (ROH). Der „Parsifal-Papst“ Knappertsbusch spielt rein temporal, entgegen dem Klischee, nur im oberen Mittelfeld mit. Hier ist auch diese neue, am 25. August 2013 bei den BBC Proms in der Londoner Royal Albert Hall entstandene Einspielung unter Sir Mark Elder anzusiedeln: 258 Minuten. Nicht eben die schlechtesten Voraussetzungen also für eine gelungene Darbietung. Elder, seit 2000 Chefdirigent des berühmten Hallé, des ältesten Orchesters von England, hat sich in den letzten Jahren beinahe unmerklich zu einem der größten lebenden Wagner-Dirigenten emporgearbeitet. Ließen bereits seine Aufnahmen von Walküre und Götterdämmerung aufhorchen (beide ebenfalls auf dem Hallé-Eigenlabel erschienen), legte er kürzlich als Einspringer für Andris Nelsons die womöglich beste moderne Einspielung des Lohengrin vor (RCO).

Englische Noblesse ist etwas, was man seinem Wagner durchaus nachsagen könnte. Zuweilen sehr auszelebriert, doch stets stimmig seine Tempowahl. Schon das Vorspiel zum ersten Aufzug nimmt er breit (14 Minuten). Zusammen mit den drei eingesetzten, tadellosen Chören – Royal Opera Chorus, Hallé Youth Choir und Trinity Boys Choir – darf die orchestrale Pracht, die Sir Mark zuweilen entfacht, als der absolute Höhepunkt dieser Neuaufnahme bezeichnet werden. Ungemein detailliert und feierlich lässt er die Apotheose ganz am Ende ausmusizieren. Die Streicher, die hier oft untergehen, habe ich noch nie derart präsent vernommen. Ganz große Klasse!

Und wie sieht es sängerisch aus? Auch wenn der Parsifal gewissermaßen die symphonischste aller Opern von Wagner ist, kann keine derselben ohne eine adäquate Sängerbesetzung bestehen. Soviel darf vorausgeschickt werden: Es gibt keine Ausfälle. Fangen wir vielleicht untypisch mit dem Amfortas an: Detlef Roth bringt gut das Gequälte dieser leidenden Figur herüber und braucht keine Vergleiche zu scheuen, auch wenn es noch expressivere Rolleninterpreten gab (denke man nur an Dietrich Fischer-Dieskau). Lars Cleveman in der Titelrolle ist mehr der naive Jüngling denn der gereifte Mann. Mit seiner geschmeidigen Stimmfarbe ist er mehr in der Tradition eines Wolfgang Windgassen als in jener von Jon Vickers, was beim Parsifal kein Schaden sein muss, auch wenn ich persönlich an großer Fan von Vickers bin. Als ich auf dem Cover las, dass Sir John Tomlinson den Gurnemanz singt, war ich hin- und hergerissen. Tomlinson, zum Zeitpunkt der Aufnahme siebenundsechzig, war vor einem Vierteljahrhundert ein großartiger Wotan in Bayreuth und noch vor einigen Jahren ein sehr beachtlicher Hagen in Hamburg. Rein stimmlich sind mittlerweile Abstriche zu machen; besonders die Höhe muss er sich zuweilen doch unüberhörbar erkämpfen. Allerdings, und das sei betont, fasziniert mich sein machtvolles Timbre auch heute noch. Als alter, am Ende greiser Gralsritter passt die nicht mehr völlig intakte Stimmkapazität auf ihre Art sogar sehr gut. Fabelhaft Katarina Dalayman, längst bewährt im Wagner-Fach, als Kundry. Ihre Darstellung ist dramatisch, intensiv und empfindsam. Tom Fux gibt einen gebieterischen Klingsor, dessen Dämonie fühlbar wird. Die Blumenmädchen sind klar voneinander unterscheidbar und machen den zweiten Aufzug zu einem der Höhepunkte. Reinhard Hagens noch erstaunlich vitaler Titurel beschließt die Reihe der wichtigsten Protagonisten.

Fazit: Herausragendes Dirigat und exzeptionelle Chöre, gute bis sehr gute Sänger und zudem eine glasklare und sehr gut ausbalancierte Tonqualität machen diesen Parsifal für mich zu einer der überzeugendsten Wagner-Aufnahmen aus diesem Jahrtausend. Man darf hoffen, dass Sir Mark Elder seinen Streifzug durch Wagners Opernschaffen weiterhin auf diesem hohen Niveau fortsetzen wird. Daniel Hauser

Alles ist Ausdruck

 

Kathleen Ferrier – remembered. Eine neue, bei SOMM Recordings in England erschienene CD, verspricht schon auf dem Titel „previously unpublished BBC broadcasts“ (SOMMCD 264). Wer sich mit dieser Sängerin beschäftigt, horcht bei so einer Information natürlich sofort auf und macht sich auf die Suche in den eigenen Beständen. Kann das wirklich sein? Immer noch unbekannte Aufnahmen, die bisher nicht den Weg auf Tonträger gefunden haben? Es ist immer riskant, Titel als Neuigkeit auszugeben, die sich am Ende doch in einer der vielen Boxen versteckt finden. Der Ferrier haben sich nicht nur große namhafte Firmen bemächtigt, wo sie unter Vertrag stand. Auch kleine Labels und der so genannte graue Markt hatten und haben sie im Programm. In den zehn Jahren bis zu ihrem frühen Tod am 8. Oktober 1953 hat sie mehr aufgenommen als manche Kollegen im Laufe langer Karrieren. Schallplatten und Rundfunkaufnahmen namentlich der BBC haben den legendären Ruf der Ferrier begründet und in die Zukunft getragen. Zeitzeugen, die sie noch selbst auf der Bühne und im Konzert erlebten, werden weniger.

Es ist viel und gern philosophiert über diese Sängerin, deren Timbre den Gedanken aufkommen lässt, als habe sie geahnt, dass ihr nicht viel Zeit bleiben würde. Der Grundton ist tragisch. Als liege über der empfindlichen Stimme ein Schatten. Es ist eine Naturstimme, die keinen technischen Gesetzen folgt, wie sie Sänger während einer gründlichen Ausbildung lernen. Alles ist Ausdruck. Die Ferrier war eine Quereinsteigerin, die zuerst in Chören sang und gut Klavier spielte. Die Drei Psalmen des englischen Komponisten Edmund Rubbra (1901-1986) einzeln gezählt, kommt die CD auf insgesamt sind neunzehn bisher unveröffentlichte Lieder. Sieben stammen von Franz Schubert (Der Musensohn, Wandrers Nachtlied II, Lachen und Weinen, Suleika I und II, Der Vollmond strahlt und Die junge Nonne), fünf von Johannes Brahms (Sonntag, Nachtigall, Wir wandelten und gleich zweifachfach die Botschaft). Hugo Wolf ist mit Auf einer Wanderung vertreten und Gustav Mahler mit der Klavierversion seines Urlicht, das orchestriert Eingang in dessen zweite Sinfonie fand, die Kathleen Ferrier unter Otto Klemperer für Decca eingespielt hat. Mit Song of Song von Joseph Jacobson – ebenfalls noch nie veröffentlicht – wird abermals das Interesse der Sängerin an zeitgenössischer Musik deutlich. Der Titel stammt aus dem Salomon-Lied. Jacobsen war ein strenggläubiger Jude, der 1897 in Hamburg geboren wurde. Weil er eine zunächst geplante Dirigentenlaufbahn nicht mit den Sabbatgeboten vereinbaren konnte, wirkte er bis 1939 an der Talmud Tora Schule seiner Heimatstadt. Im selben Jahr emigrierte er mit seiner Familie nach London, wo er vornehmlich jüdische Flüchtlingskinder aus Deutschland betreute und unterrichtete.

Nicht alle Titel – hinzu kommen weitere Lieder von Schubert und Brahms – klingen gleich gut. Das meiste auf dieser neuen CD von Somm stammt aus den Archiven der BBC, die Anfang der Fünfziger Jahre diese aussendete. Aber vor allem muss dem Toningenieur und Komponisten Kenneth Leech Ehre gezollt werden, der zwischen 1930 und 1950 unendlich viele Radioaufnahmen am Metallmatritzen und Tonbändern konservierte – seine umfangreiche Sammlung ruht nun im national Sound Archive der british Library. Nach fast siebzig Jahren kann von manchen Dokumenten wohl nicht mehr erwartet werden als hier zu hören ist. Unversehrt aber ist die starke Ausstrahlung der Interpretin, die sich auch durch manches Rauschen Gehör zu verschaffen weiß. Rüdiger Winter