Genau im Jahre 1900 wurde Sir Edward Elgars berühmtestes Oratorium The Dream of Gerontius uraufgeführt. Seither zählt es nicht nur zu den wichtigsten Werken dieses Komponisten, sondern auch zu den populärsten englischen Oratorien überhaupt. Die Erstaufführung war indes alles andere als ein Erfolg, doch setzte der Siegeszug des über 90-minütigen Vokalwerkes bereits bald danach ein. Der katholische Hintergrund – das Fegefeuer spielt eine tragende Rolle – wurde im weitestgehend anglikanischen England seinerzeit durchaus noch kritisch beäugt (erst 1829 war es zur Katholikenemanzipation gekommen). Ein bereits 1865 veröffentlichtes Gedicht des 2010 seliggesprochenen Kardinals John Henry Newman diente als Vorlage, wenngleich es vom Komponisten stark gekürzt wurde. Es wechseln sich lyrische und dramatische Episoden ab, welche den Weg der menschlichen Seele nach dem Verlassen des Körpers skizzieren. Vorbei an unterschiedlichen Regionen des Jenseits wird sie, einen Schutzengel an ihrer Seite, zuletzt zur Herrlichkeit Gottes geführt.
Die Besetzung der neuen Aufnahme ist großformatig und räumt dem Chor eine herausragende Rolle ein. Andererseits ist das Orchester gleichberechtigt; Anklänge an Wagners Leitmotivik sind nicht von der Hand zu weisen. Formal unterteilt sich das Oratorium im zwei Teile. Im ersten Teil steht die eigentliche Todesstunde im Mittelpunkt. Gerontius, der Sterbende, ist umgeben von seinen Freunden und einem Priester. Im zweiten Teil, der etwa doppelt so lange ist, trifft die Seele auf ihren Schutzengel, begegnet Dämonen und weiteren Engeln sowie den klagenden Seelen im Fegefeuer. Nach Fürsprache des Todesengels wird Gerontius‘ eigene Seele schließlich gerichtet, im Fegefeuer gereinigt und abschließend unter die Gerechten aufgenommen.
Eine perfekte Aufnahme des Gerontius gibt es vermutlich bis heute nicht. Den Klassiker legte in den 1960er Jahren John Barbirolli vor (EMI). Es folgten unter anderem Colin Davis (LSO live und Profil/Hänssler), Simon Rattle (EMI), Andrew Davis (Chandos) und Mark Elder (Hallé Label). Bereits anhand dieser Namen lässt sich eine sehr starke englische Dominanz der Dirigenten erkennen. Daniel Barenboim legt nun auf Decca (483 1585) seine Sicht der Dinge vor. Barenboim hat sich in den letzten Jahren als einer der profiliertesten Elgar-Dirigenten außerhalb Großbritanniens etabliert. Die „New York Times“ bezeichnete ihn gar als den einzigen lebenden Nichtbriten, dem Elgar läge. Hiervon zeugten bereits seine Einspielungen der beiden Sinfonien (ebenfalls auf Decca erschienen).
Die Staatskapelle Berlin hat sich mittlerweile den Ruf erworben, in Sachen Elgar auf Augenhöhe mit britischen Klangkörpern mitspielen zu können. Die Solisten sind indes englischsprachiger Herkunft: Andrew Staples in der Titelrolle und Catherine Wyn-Rogers als Engel stammen aus England, Thomas Hampson (Priester/Todesengel) ist US-Amerikaner. Der Gerontius durch Staples weiß durch Jugendlichkeit zu überzeugen. Andachtsvoll sein Vortrag, dem Werk insofern durchaus angemessen. (Ursprünglich sollte Jonas Kaufmann den Tenorpart übernehmen; er sagte indes krankheitsbedingt wenige Tage zuvor ab.) Die Mezzosopranistin Catherine Wyn-Rogers kann bereits auf eine langjährige Erfahrung in der Engelsrolle zurückblicken. Dies wirkt sich naturgemäß in ihrer souveränen gesanglichen Umsetzung aus, auch wenn man einen gewissen ältlichen Touch nicht leugnen kann. Am beeindruckendsten immer noch Altmeister Thomas Hampson, dessen wuchtiger und flexibler Bariton ihm auch heute noch sowohl die priesterliche Autorität als auch die einschüchternde Präsenz des Todesengels ermöglicht.
Kongenial die beiden Berliner Chöre, der Staatsopernchor Berlin und der RIAS Kammerchor. Sie sind englischen Chören in dieser Einspielung absolut ebenbürtig, was für sich genommen schon eine Auszeichnung verdient. Tadellos sind sie imstande, Barenboims Vorstellungen zu folgen, die auch vor (hier durchaus angemessenem) Pathos nicht zurückschrecken. Sowohl die lyrischen, intimen Momente als auch die wild herausfahrenden, dramatischen Abschnitte sind gleichermaßen überzeugend. Fabelhaft die Intonation, exzellent die Diktion. Insgesamt eine erfreuliche Bereicherung der Diskographie, die Barenboims Rang als Elgar-Interpret unterstreicht. Darauf verweist nicht nur das Cover, das den Dirigenten im britischen Tweed und mit dazu passendem Krawattenschal zeigt. Die Klangqualität dieser in der Berliner Philharmonie entstandenen Live-Produktion (16./17. und 19./20. September 2016) ist Decca-typisch sehr natürlich und räumlich eingefangen; Störgeräusche sind praktisch nicht vorhanden. Daniel Hauser