Neuer Anfang, neues Ende

 

Nach der Schönen Müllerin nun Schwanengesang. Der Bariton Bo Skovhus erarbeitet sich bei der österreichisches Firma Capriccio die drei großen Liederzyklen von Franz Schubert. Die Winterreise ist im Booklet der Neuerscheinung bereits angekündigt. Den Dioskuren gleich, die auch Schubert so hymnisch besungen hat, erscheinen auf den Covern der Sänger und seine Begleiter Stefan Vlader in fast schon antiker Pose. Das ist vom Wiener Fotografen Roland Unger sehr wirkungsvoll arrangiert. Diese Alben wollen auffallen – und müssen es auch. Schließlich stellen sich Skovhus und Vlader einer übermächtigen Konkurrenz. An Aufnahmen dieser Werke ist kein Mangel. Neue Produktionen müssen aber nicht nur mit perfekter Verpackung sondern auch inhaltlich punkten können. Der Schwanengesang (C5292) fällt schon mal dadurch aus dem Rahmen, dass die übliche Zusammenstellung mit vierzehn Liedern um fünf erweitert wird. Dabei handelt es sich um die ebenfalls späten Lieder Sehnsucht, Am Fenster, Wiegenlied, Bei Dir allein und Herbst. Verändert ist auch die Reihenfolge. Nanu! Liegt die falsche CD im Player?

Begonnen wird nämlich mit Sehnsucht, geendet mit Abschied. Irritierend ist der Verweis auf die Nummer 967 im so genannten Deutschverzeichnis. Damit hatte der Musikwissenschaftler Otto Erich Deutsch (1883–1967) alle Werke Schuberts in chronologischer Folge angeordnet. Der Schwanengesang findet sich im Verzeichnis in der gebräuchlichen Form, die auf den Verleger Tobias Haslinger zurückgeht. Der hatte die im Herbst 1823 komponierten Lieder nach Texten von Heine und Rellstab, die offensichtlich als Zyklus konzipiert waren, eigenmächtig um die Taubenpost des Dichters Johann Gabriel Seidl erweitert und geschlossen herausgegeben. Im Booklet der Neuerscheinung wird diese Lesart vom Musikwissenschaftler Gerhard Persché kritisch hinterfragt. Unter Bezugnahme auf die Schubert-Biographie von Hans Jürgen Fröhlich (Fischer-Verlag/ISBN 978-3596250110) heißt es, dass der schwerkranke Schubert die Lieder noch gar nicht aus der Hand geben wollte, bis sie nicht die „vollkommenste Gestalt“ erhalten hätten. Er sei dazu aber gezwungen gewesen, weil er Geld für Medikamente brauchte. Haslinger habe nur einen Gulden pro Lied gegeben. „Fröhlich nennt dieses Verhalten niederträchtig, zumal Haslinger später an Schubert Unsummen verdiente“, heißt es im Booklet-Text. Sein Autor hegt Zweifel, dass die Schubert die Lieder von Heine und Rellstab von „Anfang an als Zyklus angedacht hatte“. Was für die Heine-Lieder noch zutreffen mag, vermittle in der Kopplung mit Rellstab „eher den Eindruck einer zufälligen Collage“. Natürlich könne „ein beflissener Dramaturg den Zyklus unter ein gemeinsames Motto zwingen – das des Trennungsschmerzes“. Dessen Behandlung sei bei Rellstab und Heine „völlig unterschiedlich“. Die angeklebte Taubenpost, die letzte Liedkomposition Schuberts, wirke „als wäre Spitzweg in Musik gesetzt“, resümiert Persché. Die Vermutung, „dass Haslinger das Lied einfach an die Sammlung anheftete, weil es ihm übrig geblieben war“, sei nicht von der Hand zu weisen.

Auf der neuen CD findet sich die Taubenpost nun an dritter Position. Skovhus und Vlader hätten an der traditionellen Reihung „zu Recht Anstoß“ genommen und dieses Lied in eine eigene Gruppe mit den anderen Seidl-Liedern gebettet. So sei ein Schwanengesang-Triptychon mit Heine im Zentrum und Rellstab, angereichert mit Herbst und Abschied, zum Schluss. Vlader: „Es ist uns natürlich bewusst, dass diese Version keinen musikwissenschaftlich haltbaren Anspruch auf eine vom Komponisten intendierte Fassung darstellt, das tut aber das ,Original‘ auch nicht.“ Diese Einspielung versteht sich als Angebot, als Anstoß für weitere Untersuchungen und Deutungen. Das allein macht ihren Reiz und ihren Wert aus. Wer diese CD erwirbt, sollte also zuerst das Booklet genau lesen und seine eigenen Überlegungen anstellen. So vorbereitet, erweist sich das ambitionierte musikalische Angebot als spannend und aufregend. Shovhus, der auch auf den Opernbühnen mit unterschiedlichsten Partien aktiv ist, gehört nicht zu den klassischen Schönsängern. Dafür ist sein rauchiges Timbre viel zu individuell. Dramatische Passagen geraten mitunter ungenau und verschwommen. In der deutschen Aussprache nahezu perfekt, gibt sich der gebürtige Däne grüblerisch. Als suche er nach dem tieferen Sinn der Lieder. Obwohl er als Interpret einen betont  männlichen Eindruck hinterlässt, ist er alles andere als ein stimmlicher Macho. Im Kern ist er sensibel und sehr empfindsam. Für den späten Schubert sind das immer noch die besten Voraussetzungen. Dabei unterstützt ihn sein Pianist Vlader, der auch als Dirigent in Erscheinung tritt, mit gelegentlich eigenwilliger Tempowahl. Beide sind ein vorzügliches Team. Rüdiger Winter