Dreimal die Erste

 

Zu den großen Aufsteigern unter den Komponisten der letzten fünfzig Jahre gehört Jean Sibelius. Mittlerweile ist er auch außerhalb Fennoskandinaviens und des angelsächsischen Raumes im Standardrepertoire angekommen. Sein sinfonischer Erstling, die Sinfonie Nr. 1 in e-Moll op. 39, stammt von 1899. Ohne Frage wird auf die schwierige politische Situation seines Heimatlandes angespielt, das damals noch Teil des Zarenreiches war. Die sogenannte Russifizierung bedrohte die nationale Identität der Finnen. Keiner hat diese so eindrucksvoll in Töne gefasst wie Sibelius. Der dänische Dirigent Thomas Sondergard setzt seinen Sibelius-Zyklus mit dem BBC National Orchestra of Wales, dem er seit 2012 vorsteht, bei Linn Records fort (CKD 502). Nach dem gelungenen Debütalbum mit den bekannteren Sinfonien Nr. 2 und 7 (CKD 462) nun also die Erste und die Sechste. Formidabel bereits der zerklüftete Kopfsatz der Ersten (11:20), wo die enorme Dynamik der Tontechnik zu einem eindrücklichen Klangerlebnis nachhaltig beiträgt.

Das verbreitete Vorurteil, Sibelius habe mit der 1. Sinfonie eine reine Tschaikowski-Kopie geschaffen, ist so nicht haltbar, zeigt er sich doch vor allem als nordischer Naturmaler. Die einsamen finnischen Landschaften erstehen vor dem geistigen Auge des Hörers. Schön verinnerlicht und mit sehr lyrischen Momenten, wenn nötig aber auch zupackend an den Fortestellen des langsamen zweiten Satzes (9:29). Hier erleben wir ein Seelendrama, das den großen Sinfoniker bereits auf der Höhe zeigt. Abwechslungsreich das stark vom Rhythmus geprägte kurze Scherzo (5:15), in welchem Schlagwerk und Blechbläser neuerlich ihre Klasse zur Schau stellen können. Überhaupt präsentiert sich der walisische Klangkörper in tadelloser Verfassung und braucht keine Vergleiche mit bekannteren und bei Sibelius erfahreneren Orchestern zu scheuen. Höhepunkt ist (wie könnte es anders sein) der Finalsatz (12:06). Sibelius versteht es hier, eine gelungene Synthese der drei vorhergehenden Sätze zu kreieren. Die wiederaufgenommene Schroffheit des ersten Satzes verleiht dem Finale Düsternis, immer wieder unterbrochen durch romantische Passagen, die Vorbild für großartige emotionale Filmmusik sein könnten. Freilich sind diese sinnlichen Ruhepunkte nur von kurzer Dauer, gewinnt das Drama doch die Oberhand. Der glasklare Klang vermittelt eine wahrhaft eisige Atmosphäre (wunderbar die sehr gut verortbare Harfe). Der schneesturmartige Ausbruch in der Coda verklingt zuletzt wie ein laues Lüftchen. Sondergards vorwärtsdrängende, aber niemals gehetzt wirkende Interpretation erweist sich als ausgesprochen adäquat. Eine phantastische Einspielung; mit die gelungenste, die mir bei diesem Werk jemals unterkam. Dasselbe gilt übrigens auch für die auf der CD ebenfalls enthaltene 6. Sinfonie (Spielzeiten: 8:05 – 6:10 – 4:04 – 10:11), die „Cinderella der sieben Sinfonien“, einem ungleich intimeren, fast kammermusikalischen Werk. Sie besitzt als einzige der Sibelius-Sinfonien keine fest vorgegebene Tonart, ist hauptsächlich im dorischen Modus komponiert. In Sondergards Interpretation versteht man, wieso Sibelius mit der Sechsten den „Duft des ersten Schnees“ in Verbindung brachte. Wiederum trägt die sehr plastische Tontechnik hierzu ihren Teil bei.

In ihrer ursprünglichen Form, der sogenannten Linzer Fassung von 1866, hat die 1. Sinfonie von Anton Bruckner, der beinahe zwei Generationen vor Sibelius geboren wurde, nicht einmal zeitlich etwas mit dessen Erster gemein. Ihre Komposition begann 1865, im Geburtsjahr des Finnen. Ein Vierteljahrhundert später legte Bruckner eine völlig überarbeitete, die Wiener Fassung von 1891, vor. In dieser Neufassung blieb vom „kecken Beserl“ nicht mehr viel übrig, dafür gebührt ihr als Letztfassung schon per se Beachtung. In der Diskographie ist diese 1891er Version nicht unbedingt bevorzugt worden (dort dominiert die überarbeitete Linzer Fassung von 1877). Der spanische Dirigent Gustavo Gimeno entschied sich in seiner neuen Einspielung mit dem Orchestre Philharmonique de Luxembourg auf dem Label Pentatone (PTC 5186 613) gleichwohl für diese reifere Variante. Bereits im mächtigen Kopfsatz (12:03) ist der Bruckner’sche Tonfall unverkennbar zu spüren. Auch Bruckner kleidet seinen ersten Satz in ein düsteres Gewand, doch in völlig anderer Weise als Sibelius. Hier hat man eher gotisches Bauwerk vor Augen denn eine Naturschilderung. Nachdenklich das Adagio (12:07), mit einigen eruptiven Orchesterausbrüchen versehen. Wahrlich Lebhaft das Scherzo (9:08), einer der Höhepunkte der Aufnahme. Man ist freudig überrascht, welch hohe Qualität dieses luxemburgische Orchester doch besitzt. Auch hier muss die vorzügliche Klangqualität hervorgehoben werden. Allein diese rechtfertigt schon Neueinspielungen auf einem übersättigt wirkenden Markt. Bewegt, feurig zündet das Finale bereits in den ersten Takten und unterscheidet sich damit von allen anderen Finalsätzen Bruckners, die es zu Beginn ruhig angehen lassen. Mit 16:57 verfügt dieser Satz bereits beinahe über die Dimensionen der späten Sinfonien. Die Dramatik erstirbt urplötzlich und geht in eine lyrische Stimmung über. Dies kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich insgesamt das Drama durchsetzt. Stellenweise entfacht Gimeno ein regelrechtes Feuerwerk. Abschließender Gipfelpunkt, wie könnte es anders sein, die Coda, mit einem geradezu apokalyptischen Momentum. Bravo! Von Interesse für den Bruckner-Freund sind gerade auch die Beigaben auf der CD: vier selten gespielte Orchesterwerke aus der Frühzeit des Komponisten (1862). Zum einen der knapp fünfminütige Marsch in d-Moll WAB 96, der trotz seiner Tonartbezeichnung kurioserweise eher grüblerisch daherkommt. Die Drei Sätze für Orchester Moderato, Allegro non troppo und Andante con moto, zusammen kaum acht Minuten, stehen in einem engeren Zusammenhang (WAB 97). Hier widmete sich Bruckner zum ersten Mal der absoluten Musik, die sein weiteres Schaffen so stark prägen sollte.

Der dritte sinfonische Erstling in diesem Dreigestirn unterscheidet sich deutlich von den beiden anderen. 1924/25 komponiert und 1926 uraufgeführt, ist die 1. Sinfonie des noch nicht zwanzigjährigen Dmitri Schostakowitsch Kind einer gänzlich anderen Zeit. Bestritten wird die Aufnahme von denselben Kräften wie bereits der Bruckner: Gustavo Gimeno mit dem Orchestre Philharmonique du Luxembourg (Pentatone PTC 5186 622), die auch hier beweisen, dass es nicht immer die ganz großen Namen braucht, um zu überzeugen. Die Anklänge an Strawinski und Prokofjew sind bei diesem Frühwerk deutlich erkennbar, was freilich nicht unbedingt von Nachteil sein muss. Mit großer Virtuosität und Frische gehen die Luxemburger an diese Sinfonie heran und zeigen sich unbeeindruckt von all den maßgeblichen Interpreten vergangener Tage. Mag auch nicht ganz die Expressivität eines Jewgeni Swetlanow oder Kirill Kondraschin erreicht werden (womöglich in dieser Form nur zu Sowjetzeiten möglich), so beeindruckt doch die enorme Beweglichkeit in Gimenos Deutung. Die reinen Spielzeiten decken sich übrigens beinahe 1:1 mit Kondraschin: 8:47 – 4:55 – 9:27 – 9:43. Sehr gelungen ist in dieser Neueinspielung der zweite Satz mit seinem Klavierpart. Im langsamen und dunklen dritten Satz hört man gar dezente Wagner-Anklänge. Schostakowitsch sollte dies Jahrzehnte später in seiner letzten Sinfonie nochmal in Form eines waschechten Wagner-Zitats wiederholen (dann in todesverkündender Absicht). Die exquisite Tontechnik tut einmal mehr das Ihrige, um dem Hörer diese neue Aufnahme schmackhaft zu machen. Die Attacca-Überleitung zum Finale mit Trommelwirbel profitiert hiervon beispielsweise. Im Finalsatz gibt es ruhige Passagen, die regelmäßig von furiosen Ausbrüchen des vollen Orchesterapparats unterbrochen werden; die Stimmung ist hier wie dort düster. Markerschütternd das Paukensolo, welches wiederum eine lyrische Passage mit Solocello einleitet. Die Coda klingt mit einem letzten fanfarenartigen Aufheulen der Blechbläser aus.

Gelungen wiederum die Koppelung mit weiteren, selten eingespielten Orchesterwerken, die den restlichen Raum der CD füllen. Darunter drei sehr frühe Werke: Scherzo für Orchester in fis-Moll op. 1, Thema und Variationen für Orchester in B-Dur op. 3 und Scherzo für Orchester in Es-Dur op. 7, entstanden zwischen 1919 und 1924. Die Fünf Fragmente für Orchester op. 42 stellen zeitlich die jüngste Komposition und das letzte der Experimentierwerke Schostakowitschs dar (1935). Sämtlich durchaus hörenswerte Musik, die bereits das Genie erahnen lässt und von Gimeno und den Luxemburgern auf dem gewohnt hohen Niveau dargeboten wird. Daniel Hauser