Archiv des Autors: Rüdiger Winter

Loewe trifft auf Barber

 

Für seine Maureen-Forrester-Edition ist audite in diesem Jahr mit einem International Classical Music Award (ICMA) geehrt worden. Der Preis gilt als eine der wichtigsten Auszeichnungen der internationalen Musikszene. Die Sammlung von Liedaufnahmen gewann in der Kategorie Historical Recording. Sie fand in zahlreichen Rezensionen im In- und Ausland großen Anklang. Die Awards werden jährlich von einer Jury aus siebzehn Mitgliedern vergeben, die aus Chefredakteuren europäischer Klassik-Magazine, -Internetportale und -Kulturradios besteht. Diese kommen aus fünfzehn Ländern. Operalounge.de hatte die Edition ebenfalls ausführlich gewürdigt. Hier die Eindrücke von Rüdiger Winter:

Auf der Bühne oder im Konzertsaal habe ich Maureen Forrester nicht mehr erlebt. Mauer und Stacheldraht waren dazwischen. Als der Eiserne Vorhang fiel, hatte sie ihre Auftritte reduziert und vornehmlich in die kanadische Heimat verlagert. Am 16. Juni 2010 ist die Sängerin nach langer Krankheit neunundsiebzigjährig in Toronto gestorben. Audite hat der Forrester eine Box mit drei CDs gewidmet, die ausschließlich aus Liedern besteht (21.437). Die Aufnahmen entstanden zwischen 1955 und 1963 beim RIAS. Deutschandradio Kultur ist Mitherausgeber, was sich daraus erklärt, dass dieser Sender in der Rechtsnachfolge der einstigen US-amerikanischen Rundfunkanstalt steht und auch das legendäre Funkhaus mit der abgerundeten Fassade im Berliner Ortsteil Schöneberg nutzt. Diese schon oft praktizierte Zusammenarbeit ist beispielhaft für den Musikmarkt. Archive öffnen sich. Bestände werden systematisch gesichtet und erschlossen. Aufnahmen kehren dorthin zurück, wo sie hingehören – an die Öffentlichkeit. Wenn sie schon nicht gesendet werden, sollten sie wenigsten als Tonträger in Umlauf gebracht werden. Andere Archive können sich daran ein Beispiel nehmen.

Contralto Maureen Forrester singing at the Imperial Room in 1981/ Foto Bob Olsen/ torontopubliclibrary.ca

Contralto Maureen Forrester singing at the Imperial Room Toronto in 1981/ Foto Bob Olsen/ torontopubliclibrary.ca

Oft argumentieren öffentlich-rechtliche Anstalten damit, die alten Aufnahmen seien den Hörern nicht mehr zuzumuten. Sie würden vom Publikum abgelehnt, seien also nicht gewollt. Musikfreunde, die sich für historische Aufnahmen interessieren, sind hart im Nehmen. Sie stören sich nicht an Mono, denn sie haben oft gar keine Wahl. Wer die Forrester mit diesen Liedern hören will, bekommt sie nicht anders. Ich bin sehr zufrieden. Und es ist zu wünschen, die Käufer dieser Neuerscheinung sind es auch. Beim RIAS gab es hohe technische Standards. Amerikaner haben nicht gespart – auch nicht mit ihrem kulturellen Engagement im Nachkriegsdeutschland. Geld war genug da! Bei der Übertragung der Originalbänder auf CD blieb der Ursprungssound weitestgehend unangetastet. Mit Bedachtsamkeit und aller gebotenen Vorsicht sind Techniker ans Remastering gegangen. Das hört man. Zuhörer sollen sich in eben jene Zeit zurückversetzen können, aus der die Aufnahmen kommen. Mehr als fünfzig Jahre sind seither vergangen. Eine übertrieben Bearbeitung lässt schnell Zerrbilder entstehen. Schließlich wollen Besucher in einem Museum auch die Originale bestaunen und nicht nach heutigen Möglichkeiten geschönte und ergänzte Werke. Musikproduktionen können auch Patina ansetzen. Lassen wir es zu.

Es fällt auf, dass Maureen Forrester und ihre Produzenten bei der Programmauswahl neue Wege gegangen sind. Nach Gustav Mahler, Carl Loewe, Richard Wagner, Johannes Brahms, Franz Schubert, Robert Schumann, Carl Philipp Emanuel Bach und Joseph Haydn gibt es einen heftigen Schnitt. Die Zeit wird vorgestellt bis zu Benjamin Britten, Samuel Barber und Francis Poulenc. Komponisten kommen ins Spiel, die seinerzeit nicht so bekannt waren wie heute. Auch im Westen nicht. Im Osten schon gar nicht. Dort standen ihre Namen mal gerade im Musiklexikon. Von Mahler gibt es die fünf Rückertlieder, von Wagner die Wesendonck-Lieder und Gretchen am Spinnrad, von Brahms die Zigeunerlieder. Im Booklet hebt es Heribert Henrich als Verdienst hervor, dass „auch weniger gängige Bereiche“ erkundet wurden. „Selbst bei den zentralen Lied-Komponisten werden die wirklich populären Werke umgangen.“ Schubert ist mit Titeln wie Der Wachtelschlag, Dem Unendlichen, Verklärung, Schlaflied, Fragment aus dem Äschylus, AuflösungSchwestergruß oder Bertas Lied in der Nacht vertreten – „selten gehörte Lieder zwischen mystischer Versenkung und pathoserfüllter Weltschau“, so Henrich. Von Schumann gibt es unter anderen die Gedichte der Königin Maria Stuart.

Maureen Forrester auf einem Foto im Booklet, das wir als Auschnitt wiedergeben.

Maureen Forrester auf einem Foto im Booklet, hier im Ausschnitt.

Im Radiomitschnitt eines Liederabends der Forrester in Montreal von 18. Januar 1961, der sich in privaten Sammlungen erhalten hat, bildet Carl Loewe eine der Gruppen. Das fand ich immer bemerkenswert. Loewe im fernen Kanada. Wie kommt er dorthin? Anstöße dazu dürften bereits vom Pianisten der Sängerin John Newmark ausgegangen sein, der eine interessante Lebensgeschichte hatte. Newmark, eigentlich Hans Joseph Neumark, ist gebürtiger Deutscher und stammt aus Bremen. Ihm wurde eine große Zukunft als Pianist vorausgesagt. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten durfte er nicht mehr auftreten. 1942 fand er in Kanada eine neue Heimat, wo er von 1953 an eng mit der Forrester zusammenarbeitete. Gemeinsam bereisten sie mit ihren gründlich vorbereiteten Konzertprogrammen die Welt. Nach ihrer ersten Europa-Tournee ließ sich die Sängerin 1955 vorübergehend in Berlin nieder. Wie Henrich in Booklet berichtet, nutzte sie diese Zeit, um sich im Liedgesang bei Michael Raucheisen (1889-1984) zu perfektionieren. Nach einem vorübergehenden Berufsverbot „wegen seiner Nähe zu den nationalsozialistischen Machthabern“ hatte Raucheisen „am RIAS schon bald wieder seine Tätigkeit aufgenommen, und so konnte er Forrester spontan nach dem Unterricht ins Tonstudio einladen“. Raucheisen hatte im Rahmen seiner bis heute einzigartigen Edition beim Reichsrundfunk Berlin auch mehr als hundert Lieder von Loewe eingespielt. Meine Ruh ist hin, Ach neige, du Schmerzensreiche, Die Lotusblume und Das Ständchen, die von der Forrester gesungen werden, sind nicht darunter. Es handelt sich um klassische Lieder. Loewe erscheint hier als feinsinniger Lyriker, eine Gabe, die viel zu selten mit seinem Namen in Verbindung gebracht wird. Noch heute gilt er als der Balladen-Komponist schlechthin – nicht nur verehrt sondern auch belächelt. Er wird Die Uhr einfach nicht los. Erst die Gesamtausgabe seiner Lieder und Balladen bei cpo, hat diese einseitige Sicht auf sein Werk gründlich relativiert. Nun trägt auch Maureen Forrester mit ihren frühen Aufnahmen dazu bei, den anderen Loewe besser kennenzulernen.

Ihr äußerst flexibler Alt wird nicht nur als natürliche Stimmlage wahrgenommen. Es entsteht der Eindruck, als würde sie nur deshalb so singen, wie sie singt, um den Liedern zu einer tieferen Aussage zu verhelfen. Nicht Selbstzweck ist die Stimme, sondern Mittel zum künstlerischen Zweck. Henrich tritt es mit seiner Einschätzung, dass sich diese Stimme „durch einen vollen Bronzeton“ auszeichnet, „der – besonders im Forte – durch ein schnelles, absolut kontrolliertes Vibrato Wärme und Samt gewinnt. Klangliche Homogenität durch alle Tonlagen und alle dynamischen Graduierungen hindurch ist ein Hauptcharakteristikum“. Gewisse Ähnlichkeiten mit Kathleen Ferrier stellen sich ein. Die Forrester aber hat ihre natürliche Begabung technisch stärker unter Kontrolle und damit perfektioniert. Sie kann sie als die geborene Liedgestalterin gelten, auch wenn sie ihren internationalen Ruhm in erster Linie mit Kantaten, Oratorien und Opern errungen hat. Sie ist genau auf dem Wort. Ihre Betonungen, Steigerungen oder Zurücknahmen, die als Verinnerlichung besser beschrieben sind, haben stets den richtigen inhaltlichen Bezug. Mit seinen mehr als drei Stunden ist das Album ein einziger Triumph der Gattung.

Die Sängerin mit Kantaten von Johann Sebastian Bach, die bei Amadeus auf CD erschienen sind.

Maureen Forrester mit Kantaten von Johann Sebastian Bach, die bei Amadeus auf CD erschienen sind.

Lieder – darunter reichlich Mahler – sind in der der Diskographie der Forrester nicht der kleinste Posten. Legendären Status haben die Rückert-Lieder mit dem Radio-Symphonie-Orchester Berlin unter Ferenc Fricsay bei Deutsche Grammophon sowie die Lieder eines fahrenden Gesellen und die Kindertotenlieder mit dem Boston Symphony Orchestra unter Charles Munch bei RCA. Die Lieder aus des Knaben Wunderhorn mit Heinz Rehfuss unter Felix Prohaska sind bei Vanguard Classics und Praga herausgekommen, bei harmonia mundi nochmals Kindertotenlieder unter István Kertész. Schumanns Liederkreis op. 39 gab es bei Gala Records, bei Palexa Lieder von Wolf, Ravel, Schönberg und Schreker. Gemeinsam mit Alexander Young nahm EMI Songs von Purcell auf, Vanguard hat die wunderbare Händel-Arien-LP/ CD wie überhaupt reichlich Forrester in Händel-Opern und –Oratorien. Great American Theater Songs des Musicalkomponisten Stephen Sondheim waren bei ProArte im Katalog. Nach den CD-Ausgaben muss man suchen. Vieles ist vergriffen. Die berühmten Mahler-Aufnahmen mit Munch sind derzeit nur in der sehr umfangreichen Living Stereo Collection zu haben, nicht einzeln. Da kommt die große Audite-Box gerade recht. Auch deshalb, weil sich unter ihren Plattenaufnahmen sonst relativ wenige Lieder mit Klavierbegleitung befinden.

Ihre Begleiter bei den RIAS-Aufnahmen gehören zu den besten Vertretern ihres Fachs. Raucheisen war schon genannt. Er sitzt bei den meisten Einspielungen am Klavier, also nicht nur bei Loewe. Hertha Klust, die oft den jungen Dietrich Fischer-Dieskau begleitet hat und damit nicht unbeteiligt war an dessen Aufstieg, betreut die Mahler-Lieder, die Zigeunerlieder, den Melodien-Zyklus Le Travail du Peintre nach Paul Eluard von Poulenc sowie die Mélodies Passagères, die Barber auf Verse von Rilke schrieb. Sie sind als Reminiszenz an das französische Lied dem Komponisten Poulenc gewidmet, wodurch sich eine reizvolle Verbindung innerhalb des Albums ergibt. Die Pianistin Klust hatte sich selbst als Mezzosopranistin ausbilden lassen und wirkte von 1949 an als Korrepetitorin an Städtischen Oper Berlin, aus der dann die Deutsche Oper wurde. Sie verstand etwas von Stimmen. Kritisch merkt Henrich an, dass „die Sängerin mit ihren Berliner Begleitern nicht ganz in dem Einklang stand, den ihre Einspielungen mit Newmark hören lassen“. Gewisse Ungenauigkeiten bei einigen Titeln dürften aber auch darauf zurückzuführen sein, dass der Aufnahmeplan äußerst eng war und der Pianist Felix Schröder bei Brittens A Charm of Lullabies und Poulencs La Fraicheur et le Feu kurzfristig für Aribert Reimann einspringen musste.

In einer Produktion von Mentottis "Medium" von 1977, die bei VAI veröffentlicht wurde, ist die Forrester auch im Film zu sehen.

In einer Produktion von Menottis „Medium“ von 1977, die bei VAI veröffentlicht wurde, ist Maureen  Forrester auch im Film zu sehen.

Ein Wort zum RIAS: Das CD-Programm auf der audite-Ausgabe ist – wenn man so will – ein alliiertes Programm. Barber, Britten und Poulenc repräsentierten als Komponisten die westlichen Nachkriegs-Siegermächte USA, Großbritannien und Frankreich. Ihre Musik – damals im wahrsten Sinne des Wortes zeitgenössisch – traf auf deutsche Musik, die Musik der Besiegten. Solche emotionale Symbolik passte zum RIAS, der in der Schöneberger Kufsteiner Straße als Reaktion auf die Weigerung der sowjetischen Besatzungsmacht gegründet worden war, den anderen Siegermächten Sendezeit im Berliner Rundfunk im Haus des Rundfunks in der Charlottenburger Masurenallee zur Verfügung zu stellen. „Eine freie Stimme der freien Welt“. Vom 24. Oktober 1950 an wurde jeden Sonntag um 12 Uhr das Geläut der Berliner Freiheitsglocke vom Schöneberger Rathaus übertragen. Im Osten war der RIAS als Propagandainstrument verschrien und wurde ausschließlich auf diese Rolle reduziert. Der Sender schonte die DDR nicht. Seine besten Argumente aber waren nach meinen eigenen Erinnerungen seine kulturelle Ausstrahlung. Der bereits in der Anfangszeit gegründete RIAS-Kammerchor und das RIAS-Symphonie-Orchester setzten Markenzeichen, die auch jenseits der Zonengrenze dankbar wahrgenommen wurde. Der Sonntagmittag war für Friedrich Luft – die „Stimme der Kritik“ reserviert. Sein enormes Wissen, seine Leidenschaft und seine Wortgewandtheit steckten auch uns im Osten an. Ich verdanke ihm viel. An die Besprechung eines der Konzerte von Maureen Forrester kann ich mich jedoch nicht erinnern. Sie ist im Westteil Berlins oft live aufgetreten. Ich habe aber keinen Zweifel, dass dieser feinsinnige Mann von ihrer Stimme genau so angerührt gewesen ist wie ich. Rüdiger Winter

Ehrwürdig in die Zukunft

 

Die Wiener Philharmoniker dürften in jedem musikinteressierten Haushalt präsent sein. Einspielungen, in denen sie mitwirken, sind Legion. Neue Produktionen werden oft genau so geschätzt wie die historischen Dokumente, die nicht selten Kultstatus erlangten. Mitschnitte aus der Wiener Staatsoper oder von den Salzburger Festspielen, sind nie aus den Katalogen verschwunden. Es gibt kaum Dirigenten, Instrumentalsolisten oder Sänger von Rang, die nicht mit diesem Orchester zusammengearbeitet hätten. Die berühmten Neujahrskonzerte erreichen durch die Fernsehübertragungen in alle Welt ein Publikum, das in die Millionen geht. Die Wiener Philharmoniker sind ein gewichtiges Kapitel Musikgeschichte für sich. Jetzt ist eine umfangreiche Dokumentation im Amalthea Verlag Wien erschienen (ISBN 978-3-99050-081-1). Unser Wiener Korrespondent Daniel Hauser hat sich durch die beiden Bände hindurch gearbeitet. 

 

Im wahrsten Sinne des Wortes gewichtig kommt das neue zweibändige Werk Die Wiener Philharmoniker daher. Der in Paris lebende französische Musikwissenschaftler und Musikkritiker Christian Merlin, geboren 1964, erhebt damit den Anspruch, ein modernes Standardwerk verfasst zu haben. Tatsächlich ist Merlins Ansatz insofern revolutionär, als er versucht, das Orchester nicht als Kollektiv, sondern als die Summe seiner Mitglieder zu begreifen und seine Betrachtung gleichsam aus der Nanoperspektive heraus aufzieht. Bereits der Name unterstützt diese Vorgehensweise, ist doch, anders als beim ursprünglich Berliner Philharmonisches Orchester genannten deutschen Pedant, immer die Rede von den Wiener Philharmonikern.

Der erste Band widmet sich dem Orchester und seiner Geschichte, der zweite den Musikern und Musikerinnen, wobei jeweils der gesamte Zeitraum von 1842 bis heute betrachtet wird. Bereits einleitend betont Merlin, dass die Philharmoniker in ihrem ursprünglich multikulturellen und multiethnischen Charakter ein Spiegelbild der Habsburgermonarchie gewesen seien, der erst später auf eine postulierte „Wiener Identität“ reduziert worden sei und in jüngster Zeit wieder vermehrt an den Geist der Gründerjahre anknüpfe. Um sich seine Einzigartigkeit zu bewahren, habe sich das Orchester der zunehmenden Globalisierung und Internationalisierung widersetzt und andere aufstrebende Orchester als gefährliche Konkurrenten begriffen. Tatsächlich wurde stets die Tradition von der Beethoven-Nachfolge über Brahms und Bruckner betont. Merlin hebt die Janusköpfigkeit der Wiener Philharmoniker hervor, die sich ja aus Mitgliedern des Wiener Staatsopernorchesters zusammensetzen und eben in erster Linie ein Opernorchester sind. Nur als Orchester der Wiener Staatsoper kennen sie auch eine Hierarchie, sind im Verein der Wiener Philharmoniker doch alle Mitglieder gleichgestellt und teilen sich die Einnahmen zu gleichen Teilen. Mit einigem Recht, so Merlin, lese man also eher die Geschichte des Staatsopernorchesters, sind die Philharmoniker doch untrennbar mit der Wiener Hof- und später Staatsoper verbunden, von der auch alle großen Impulse für ihre eigene Entwicklung ausgingen.

Der Preuße Otto Nicolai gilt als der Gründer der Wiener Philharmoniker/ OBA

Zunächst thematisiert der Autor die Gründung der Wiener Philharmoniker durch den Preußen Otto Nicolai im Jahre 1842. Von der Idealbesetzung war man bei diesen frühen philharmonischen Konzerten noch weit entfernt, so dass fallweise auf externe Aushilfemusiker zurückgegriffen werden musste. Bereits kurz nach der Gründung gab es zudem Konflikte zwischen dem Dirigenten und einzelnen Orchestermusikern, die auf ihre weitgehende Unabhängigkeit pochten. Nicolai sollte die Oberhand behalten, doch war die Autonomiebestrebungen des Orchesters auf Dauer nicht mehr von der Hand zu weisen. Der frühe Tod Nicolais am 11. Mai 1849 im Alter von gerade 39 Jahren mag diese Weichenstellung noch verstärkt haben. Auf Nicolai folgte Franz Ignaz von Holbein, unter dem es erste Vorstöße in Richtung Pensionsfonds gab. Derartige Überlegungen wurden nötig, da es nach wie vor keinerlei finanzielle Absicherung im Alter und im Krankheitsfalle gab. Die nachfolgende Direktion des unbeliebten Julius Cornet hatte lediglich Interimscharakter. Ganz entscheidend war hingegen diejenige von Carl Eckert, der bereits 1853 Kapellmeister und 1858 schließlich Direktor geworden war. Unter ihm setzte sich die Vergrößerung des Orchesters fort und wurden 1860 die prägenden Abonnementkonzerte ins Leben gerufen. Nach den Statuten von 1862 nahm der Dirigent nach wie vor die vorherrschende Stellung ein. Von Bedeutung war in dieser Phase das Engagement des Geigers Josef Hellmesberger sen., der nicht nur ob seiner Meisterschaft gerühmt wurde (so von Eduard Hanslick), sondern auch das seit Jahrzehnten brachliegende Kammermusikleben in Wien mit seinem Quartett wiederbelebte.

 

Eine neue Ära in der Geschichte des Orchesters begann mit der Eröffnung des neuen Opernhauses. Foto: Winter

Eine neue Ära begann 1869 mit der Eröffnung des seinerzeit scharf kritisierten neuen Opernhauses. Keiner seiner beiden Architekten, August Sicard von Sicardsburg und Eduard van der Nüll, erlebte diese. Für das Orchester bedeutete das neue große Haus zusätzliche Arbeit. Hinzu kamen außerordentliche Konzerte, darunter etwa von Richard Wagner geleitete in den Jahren 1862 und 1863. Bald schon kam es zu neuen Konflikten zwischen dem Operndirektor und dem Orchester, das weiter um seine Unabhängigkeit kämpfte und dem vorgeworfen wurde, die Opernvorstellungen zugunsten der Konzerte zu vernachlässigen. Die Zusammensetzung des Orchesters in dieser Zeit darf mit Fug und Recht als multiethnisch bezeichnet werden. Die verschiedenen Länder der Donaumonarchie waren genauso präsent wie der überdurchschnittlich hohe Anteil an Juden im Orchester. Gründe hierfür waren das Emanzipationsgesetz von 1867 sowie die Folgen des österreich-ungarischen Ausgleiches vom selben Jahr. Die neue Hofoper brachte zudem den größten Zuwachs in der Geschichte des Orchesters.

Gustav Mahler Foto: Sammlung Manskopf

Von enormer Wichtigkeit war die von 1897 bis 1907 andauernde Dekade unter der Stabführung des Hofoperndirektors Gustav Mahler. Seine Reformarbeit wird häufig auf die Modernisierung des Repertoires und der Regie reduziert. Dabei wird übersehen, welch großen Anteil Mahlers Perfektionismus an der weiteren Professionalisierung des Orchesters hatte. Auf dessen Initiative gehen auch die Auslandstourneen der Wiener Philharmoniker zurück. Den Anfang machte 1900 eine Reise nach Paris, die sich finanziell indes als Misserfolg entpuppte. Nach dem entnervten Rückzug Mahlers als Leiter der Abonnementkonzerte (1901) und einem kurzen und erfolglosen Zwischenspiel des einstigen Wunderkindes Josef Hellmesberger jun. (1903) behalf man sich in der Folge mit Gastdirigenten. Die Senkung des Durchschnittsalters im Staatsopernorchester war Mahlers wichtigste Reform. Tatsächlich setzte eine spürbare Verjüngung ein. In seiner zehnjährigen Amtszeit wurden nicht weniger als 79 neue Orchestermitglieder engagiert. In etwa die Hälfte, 35, blieb mehr als 30 Jahre mit dem Orchester verbunden und prägten es nachhaltig, so dass Mahler letztlich eine wichtige Weichenstellung weit über seine aktive Zeit als Operndirektor hinaus einleitete. Nicht unkritisch wurde die zunehmende Internationalisierung der Orchestermusiker beäugt. Neben Niederländern und einem Griechen waren es insbesondere deutsche Musiker, welche Mahler ins Orchester holte. Nicht nur wegen seines oft willkürlich erscheinenden Umgangs mit Mitgliedern des Orchesters war Mahler höchst umstritten. Allerdings gab es durchaus eine Fraktion, die bedingungslos hinter ihm stand. Welche Rolle Antisemitismus spielte, bleibt strittig.

Franz Schalk. Foto: Sammlung Manskopf

Das Jahrzehnt nach Mahler war aufgrund des Ersten Weltkrieges politisch überaus stürmisch, für das Orchester indes eine Ruhephase. 1908 erfolgte die Gründung des Vereins Wiener Philharmoniker, die damit erstmals auch rechtlich von der Hofoper unabhängig wurden. Erst jetzt erhielten die Philharmoniker endgültig ihren bis heute gültigen Namen. Die ebenfalls 1908 zustande gekommene Berufung Felix Weingartners zum Operndirektor (bis 1911) und Leiter der Abonnementkonzerte (bis 1927) sollte sich als wichtigstes personelles Ereignis erweisen. Dem Zusammenbruch der Monarchie im November 1918 folgte die Umwandlung der Hofoper in die Staatsoper, was aufgrund der Umsichtigkeit des neuen Direktors Franz Schalk reibungslos über die Bühne ging. Obgleich in erster Linie Dirigent, hatte Schalk bei den Philharmonikern einen schweren Stand, zogen diese doch andere Dirigenten vor. Gleichwohl vermied Schalk einen offenen Konflikt. Zwischen 1919 und 1924 wurde er durch Richard Strauss als Operndirektor unterstützt. Unter der Direktion Schalk/Strauss kam es zu den ersten Salzburger Festspielen (1922) sowie zur bislang größten und kompliziertesten Tournee der Philharmoniker nach Südamerika (1923), auf der nicht weniger als vier Mitglieder ihr Leben ließen. Auf die erste Auslandstournee Mahlers nach Paris (1900) folgten Reisen nach England (1906), München (1910), in die Schweiz (1917), nach Berlin (1918) und in die Tschechoslowakei (1921). In die 1929 endende Ära Schalk fielen zudem die Anfänge der später so wichtig werdenden Rundfunkübertragungen. 1924 kam es zudem zur ersten Plattenaufnahme der Wiener Philharmoniker: Der Donauwalzer unter der musikalischen Leitung von Josef Klein.

Die Wiener Philharmoniker mit Arturo Toscanini nach einer Probe in Salzburg 1935/ Hist. Archiv Wiener Philharmoniker

Bereits 1928 folgten mehrere Beethoven-Sinfonien unter Schalk. Ein 1922 unternommener ambitionierter Versuch einer massiven Orchester-Vergrößerung fiel bereits 1925 von der Regierung verordneten Sparmaßnahmen zum Opfer. Nach dem Ausscheiden Weingartners folgte diesem 1927 Wilhelm Furtwängler, seit 1922 Chefdirigent der Berliner Philharmoniker, als Leiter der Philharmonischen Abonnementkonzerte nach. Auch wenn Franz Schalk mit seinem Reformvorhaben aufgrund der seinerzeit angespannten wirtschaftlichen Situation nicht durchdrang, darf seine knapp elfjährige Amtszeit doch als wichtiger als bislang angenommen gelten. Von großer Bedeutung war die Amtszeit von Clemens Krauss als Staatsoperndirektor (1929 – 1934) und Hauptdirigent der Abonnementkonzerte (1930 – 1933). Zum ersten Mal seit 1911 und zum letzten Mal überhaupt lagen Operndirektion und Leitung der Abonnementkonzerte in einer Hand. Tatsächlich sollte es danach bis zum heutigen Tage nur mehr Gastdirigenten und keine festen Leiter der letzteren mehr geben. Krauss hatte trotz seiner unbestreitbaren musikalischen Fähigkeiten von Anfang an einen schweren Stand sowohl in der Staatsoper als auch bei den Philharmonikern, besaß er doch eine unverkennbare Liebe für die Moderne und auch zeitgenössische Komponisten. Obwohl er das spieltechnische Niveau des Orchesters weiter steigerte, gingen die Besucherzahlen während seiner Ära zurück. Auf seine Initiative gingen die Verpflichtung des gerade 19-jährigen argentinisch-russischen Geigers Ricardo (Richard) Odnoposoff als Konzertmeister wie auch das Engagement des später so wirkungsmächtigen Willi Boskovsky zurück. Vom zunehmenden Widerstand ermüdet, gab Clemens Krauss seine Positionen in Wien in den Jahren 1933/34 entnervt auf und ging nach München. Die Direktion des gealterten Felix Weingartner (1935/36) blieb Episode. Von nun an dominierten Gastdirigenten wie Bruno Walter, Otto Klemperer, Arturo Toscanini und insbesondere der in München geschasste Hans Knappertsbusch das Geschehen. Knappertsbusch hatte zwischen 1938 bis 1941 faktisch die künstlerische Leitung der Staatsoper inne, auch wenn er mit keinem entsprechenden Titel ausgestattet wurde.

Clemens Krauss Foto: Sammlung Manskopf

Der unseligen Zeit des Nationalsozialismus in Österreich (1938 – 1945) widmet Merlin breiten Raum. Nicht weniger als siebzehn Philharmoniker wurden in diesem Zeitraum unmittelbare Opfer der Nazis, darunter dreizehn Aktive und vier Pensionisten. Neun dieser siebzehn gingen ins Exil, fünf kamen im KZ ums Leben, zwei verstarben noch vor ihrer beabsichtigten Deportation, ein einziger verblieb in Wien. Die nur wenige Tage nach dem „Anschluss“ eingeleiteten Zwangspensionierungen jüdischer Musiker machten ab März 1938 den Anfang. So maßgebliche Musiker wie Arnold Rosé und Friedrich Buxbaum wurden auf diese Art in geradezu entwürdigender Weise aus dem Orchester gedrängt. Tonangebend war in diesen Jahren Wilhelm Jerger, der im März 1938 kommissarischer Leiter und zwischen Dezember 1939 und Mai 1945 schließlich offizieller Vorstand der Wiener Philharmoniker war. Jerger, ein strammer Nationalsozialist, war bereits seit 1932 Parteimitglied der NSDAP und seit 1938 zudem in der SS. Seine Rolle ist höchst umstritten. Von ihm nach dem Krieg versuchte Relativierungsversuche halten einer jüngst vorgenommenen kritischen Überprüfung nicht stand. Gleichwohl bescheinigt ihm Merlin, dass er „zwar autoritär, aber kein Diktator“ gewesen sei. Immerhin gab es tatsächlich seinerseits vorgenommene Interventionsversuche, um jüdischen Orchestermitgliedern beizustehen; bis auf einen einzigen blieben diese indes erfolglos. Der wichtigste Staatsoperndirektor in der NS-Zeit war der zwischen 1943 und 1945 erstmals amtierende Karl Böhm, dessen Stellung zu den Nationalsozialisten ebenfalls umstritten ist.

Die Wiener Philharmoniker mit Richard Strauss in Rio 1923/ Foto Hist. Archiv Wiener Philharmoniker

Der Vereinsstatus der Philharmoniker stand zwischenzeitlich durchaus auf der Kippe. Anders als die Berliner Philharmoniker wurden die Wiener indes niemals zum „Reichsorchester“ und konnten ihre Autonomie zumindest teilweise verteidigen. Kurioserweise kam es ausgerechnet in der NS-Zeit zu einer massiven Vergrößerung des Orchesters, obwohl der Aderlass infolge des Ausschlusses jüdischer Mitglieder gewaltig war. Aufgrund einer von Wilhelm Furtwängler vorgelegten Liste gelang es zumindest, einige sogenannte „jüdisch Versippte“ und „Mischlinge“ im Orchester zu halten. Gleichwohl ging auch Furtwängler hier mitunter willkürlich vor. Die Frage, inwieweit die Orchestermitglieder mit dem Nationalsozialismus verstrickt waren, wurde in den letzten Jahren häufig aufgeworfen. Bereits der österreichische Historiker Oliver Rathkolb stellte fest, dass nicht weniger als 60 Philharmoniker, was beinahe der Hälfte der Aktiven entsprach, Mitglied der NSDAP waren. Andererseits gab es keinesfalls eine Bevorzugung für Parteimitglieder, wenn es um Stellenausschreibungen ging. Merlin zieht das Resümee, dass sich das Orchester der Doktrin des Regimes „im besten Fall mit passivem Fatalismus, im schlimmsten Fall mit schuldhafter Mittäterschaft beugte“. Zu einer Entnazifizierung nach dem Zweiten Weltkrieg kam es innerhalb des Orchesters nur marginal. Jerger war freilich unhaltbar geworden. Die meisten anderen der wenigen Betroffenen wären indes ohnehin in den Ruhestand geschickt worden oder standen kurz davor. Den österreichischen Behörden ging die Aufrechterhaltung des musikalischen Niveaus des Orchesters vor. Selbst scharfe Gegner des Nationalsozialismus plädierten für Milde im Umgang mit ehemaligen Parteimitgliedern und -anwärtern. Die Besatzungsmächte ließen die Autonomie des Orchesters unangetastet und konnten sich aufgrund interner Uneinigkeit noch nicht einmal auf die Entlassung stark belasteter Orchestermitglieder verständigen.

Clemens Krauss kehrte sofort nach Kriegsende von München nach Wien zurück und dirigierte zunächst mit ausdrücklicher Billigung der Sowjets, bevor er mit einem bis 1947 andauernden Berufsverbot belegt wurde. Zwischen 1945 und 1955 kam es infolge der Zerstörung des Opernhauses zu einer Trennung in die „Staatsoper im Theater an der Wien“ und die „Staatsoper in der Volksoper“. Musiker des Volksopernorchesters hatten keine Chance, zu Philharmonikern aufzusteigen. Das Volksopernorchester wurde vom amerikanischen Label Westminster unter dem missverständlichen Namen „Orchestra of Vienna State Opera“ kostengünstig für Schallplattenaufnahmen herangezogen. Als Dirigent wirkte insbesondere Hermann Scherchen.

Das Cover dieser noch von der EMI veröffentllichten CD zeigt Herbert von Karajan vor  dem Stammhaus der Wiener Philharmoniker – dem Musikverein.

Die Anfänge des berühmten Wiener Neujahrskonzertes gehen auf den Clemens Krauss im Jahre 1939 zurück. Abgesehen von den Jahren 1946/47, in denen es Josef Krips leitete, stand Krauss dem Neujahrskonzert bis zu seinem Tode 1954 vor. Das Orchester einigte sich sodann auf Erich Kleiber, der jedoch ablehnte (Furtwängler erhielt in einer weiteren Abstimmung lediglich zwei Stimmen!). Schließlich nominierte man Konzertmeister Willi Boskovsky, der das Neujahrskonzert bis 1979 leiten und stark prägen sollte. Erst danach wurden wieder Gastdirigenten dafür verpflichtet. Den Anfang machte Lorin Maazel im Jahre 1980. Die prägenden Dirigenten der frühen Nachkriegsjahre waren Hans Knappertsbusch, Wilhelm Furtwängler und Clemens Krauss. Aufgrund des persönlichen Gegensatzes mit Furtwängler spielte Herbert von Karajan am Pult der Philharmoniker in dieser Zeit keine Rolle, dies freilich ganz zum Vorteil der konkurrierenden Wiener Symphoniker. Karl Böhm kehrte 1951 zurück. Daneben gab es enge Verbindungen mit André Cluytens, Rafael Kubelík, Pierre Monteux, Carl Schuricht und insbesondere Dimitri Mitropoulos. Von Wichtigkeit und als Genugtuung darf die neuerliche Verpflichtung des jüdischen Dirigenten Bruno Walter bezeichnet werden.

Der Mitschnitt aller Sinfonien Beethovens mit den Wiener Philharmonikern unter der Leitung von Leonard Bernstein am Pult der Wiener Philharmoniker wurde im Fernsehen gezeigt und ist bei Deutsche Grammophon erschienen.

Nach der Wiedereröffnung der Staatsoper im Jahre 1955 kam es zu immer ausgedehnteren Auslandstourneen der Wiener Philharmoniker (1956 Japan und USA, 1959 Welttournee). Ein dringend notwendiger Aufholprozess wurde unter der Direktion Böhms (1954 – 1956) und insbesondere Karajans (1956 – 1964) eingeleitet. Letzteren charakterisiert Merlin als „sicher de[n] Einzige[n], der sich mit Gustav Mahler in Hinblick auf seinen Ruf und die in ihn gesetzten Erwartungen vergleichen ließ“. Tatsächlich betätigte sich Karajan lediglich als Gastdirigent der Philharmoniker, hatte die Staatsoper jedoch fest in seiner Hand. Obwohl er einige Alleingänge bei Personalentscheidungen tätigte und somit in die Autonomie des Orchesters eingriff, wussten die Philharmoniker sehr gut, was sie an diesem Dirigenten hatten. Das „summarische Niveau“ überstrahle die bisherigen Vorbilder, so das Orchester. Konnte ein Rückzug Karajans von der Operndirektion 1962 aufgrund philharmonischer Intervention noch vermieden werden, kam es 1964 zum endgültigen Bruch. Erst 1977 sollte Karajan an die Wiener Staatsoper zurückkehren, gar erst 1983 zu seinem Abonnementkonzert im Musikverein.

Die zunehmende Konkurrenz durch ausländische Orchester, die in ihrem Niveau den Wiener Philharmonikern nicht mehr nachstanden, mag die beispiellose Intervention des Decca-Produzenten John Culshaw erklären, der mehrfach seine Wunschvorstellungen hinsichtlich der Orchesterbesetzung durchbringen konnte. Angeführt wurden Probleme bei diversen Aufnahmen, die einen solchen Schritt nötig machten (Le Sacre unter Georg Solti wurde deswegen sogar nicht zur Veröffentlichung freigegeben). Tatsächlich verdankten die Wiener Philharmoniker der britischen Plattenfirma einen erheblichen Teil ihres weltweiten Renommees. Zuvörderst muss hier die erste und noch heute als Referenz betrachtete Stereoeinspielung von Wagners Ring des Nibelungen angeführt werden, die in den Jahren zwischen 1958 und 1965 zustande kam.

Die erste Gesamtaufnahme des „Ring des Nibelungen“ von Richard Wagner durch die Decca gehört zu den bleibenden Leistungen des Orchesters.

Anfang der 1960er Jahre tat sich erstmal die Frauenfrage auf. Lange nach diversen amerikanischen, britischen und französischen Orchestern und auch nach den Berliner Philharmonikern (1982) wurde erst 1997 (!) die erste Frau als vollwertiges Vereinsmitglied zugelassen. Dem vorausgegangen war schließlich eine Intervention des zuständigen Ministeriums. In den 1960er Jahren kam es auch zu einer vierten massiven Orchestervergrößerung, welche den Philharmonikern im Grunde genommen ihre heutige Gestalt verlieh. Mittlerweile spielen immerhin elf Frauen bei den Wiener Philharmonikern. Eine jüngere Generation von Dirigenten trat nun auf den Plan. Von den „Alten“ war einzig Böhm übriggeblieben. Hinzu kamen späterhin so bedeutend werdende junge Dirigenten wie Lorin Maazel (ab 1962), Zubin Mehta (ab 1962), Claudio Abbado (ab 1965) und Seiji Ozawa (ab 1966). Abbado sollte es 1986 zum Musikdirektor der Staatsoper, Ozawa 2002 gar zum Staatsoperndirektor bringen. In den frühen 1970er Jahren kam Riccardo Muti hinzu. Als besonders wichtig sollte sich allerdings die Zusammenarbeit mit Leonard Bernstein erweisen, der zwischen 1966 und 1990 eine ganz essentielle Rolle im Wiener Musikleben spielte (Merlin spricht von einem „Höhepunkt“). Unter „Lennys“ Stabführung kam es zur lange ausstehenden systematischen Beschäftigung des Orchesters mit Gustav Mahler. Nach Böhms Ableben 1981 konnte mit der Wiederverpflichtung Karajans 1983 ein Ausgleich geschaffen werden. Der Tod Karajan 1989 und Bernsteins 1990 sowie der 150. Geburtstag der Philharmoniker 1992 markierten eine Zeitenwende. Neben der Aufnahme von Frauen und einer spürbaren Verjüngung waren die letzten Jahrzehnte von einer neuerlich zunehmenden Internationalisierung der Wiener Philharmoniker geprägt, wobei ost(mittel)europäische und insbesondere ehemalige habsburgische Kronländer präsent sind (Ungarn, Tschechien, Slowakei, Kroatien, Slowenien). Freilich wäre es auch heute übertrieben, von einem „internationalen Orchester“ zu sprechen, sind doch zwei Drittel gebürtige Österreicher/innen.

 

Hans Knappertsbusch/ ORF

Im zweiten Band schließlich listet Merlin akribisch die Biographien sämtlicher Orchestermusiker und -Musikerinnen auf. Er geht hier auch auf Staatsopernmitglieder ein, die nie bei den Philharmonikern aufgenommen wurden. In weiteren Kapiteln werden die Entwicklung des Orchesterstandes, die Abfolge der Vereinsmitglieder und die Nachfolgen am Pult behandelt. Auch den Philharmoniker-Familien widmet der Autor einen eigenen Abschnitt. Von besonderem Interesse ist das Kapitel zu den Rekorden. Das jüngste Mitglied (Otto Stehlik) trat etwa mit nur 14 Jahren ein und zwei Mitglieder (Arnold Rosé und Mathias Meyer) gehörten dem Orchester über ein halbes Jahrhundert lang an. Insgesamt eine unverzichtbare Fleißarbeit, die ihrem Anspruch, das neue Standardwerk zu sein, sehr nahekommt. Nur vereinzelt hätte man sich noch ausführlichere Details gewünscht, etwa hinsichtlich der Opernreform Karajans, der Intrigen um die Staatsoperndirektoren allgemein (man denke nur Egon Hilbert und Lorin Maazel) und bezüglich konzertanter Opernaufführungen durch die Wiener Philharmoniker wie den erste Aufzug der Walküre unter Knappertsbusch von 1963 (Foto oben: die Wiener Philharmoniker/ Foto Terry Linke; Dank auch an Silvia Kargl vom Historischen Archiv der Wiener Philharmoniker). Daniel Hauser

Richard Wagner intim

 

Mathilde Wesendonck und seine spätere Frau Cosima dürften die wichtigsten Frauen im Leben Richard Wagners gewesen sein. Als Beleg dafür können auch diverse Kompositionen außerhalb der Musikdramen gelten. Sie sind oft sehr persönlich gehalten und intim. Mitunter klingen direkte Bezüge zu den Opern auf wie bei den WensendonckLiedern. Hänssler Classic kommt das Verdienst zu, diese persönlichen Stücke, die mehr als Gelegenheitskompositionen sind, auf einer neuen CD versammelt zu haben: „Declarations of Love“Complete piano works and piano songs for Mathilde and Cosima (HC16058). Es singt die bulgarische Sopranistin Maria Bulgakova, der russische Pianist Andrej Hoteev spielt einen Flügel der Bayreuther Klaviermanufaktur Steingruber & Söhne. Wie Hoteev im Booklet berichtet, hat er Wagner als Klavierkomponisten „1985 in St. Petersburg durch den großen Svjatoslav Richter kennengelernt, dessen Kenntnisse des Repertoires, und keineswegs nur des klavieristischen, umfassend war“. Richter soll in Wagner den größten aller Komponisten gesehen haben. Zu hören ist einleitend die so genannte WesendonckSonate mit der Nummer 85 des Werkverzeichnisses WWW. Wagner hatte sie als Dank für die finanzielle Unterstützung durch den wohlhabenden Kaufmann Otto Wesendonck geschrieben, der sie seine Gattin Mathilde übergeben sollte. In der Folge begann die innige und folgenreiche Beziehung zu der Frau, deren prominentestes Resultat die fünf Lieder nach ihren eigenen Gedichten werden sollte. Folgerichtig finden sie sich auch in der ursprünglichen Klavierfassung in der neuen Sammlung.

Maria Bulgakova muss sich einer gewaltigen Konkurrenz stellen. Ihr ruhiger, dunkel timbrierter Sopran passt gut. Sie bemüht sich um Textverständlichkeit, hat aber auch mit scharfen Tönen zu kämpfen. Mitunter fällt auch die Klavierbegleitung etwas hart aus. Die eigentliche Wirkung dieser Aufnahme ergibt sich erst im Zusammenhang mit den übrigen Titeln, die Cosima zugedacht sind – „Vier weiße Lieder“. Als Referenz an ihre Herkunft als Tochter von Liszt und der französischen Gräfin Marie d’Algout sind drei in französischer Sprache – Dors mon enfant“, Attente“ sowie Mignonne, während der als Geburtstagsgeschenk entstandene Tannenbaum in Deutsch geschrieben ist. Cosima, die an einem 24. Dezember geboren wurde, feierte diesen Tag aber stets mit Verspätung am ersten Weihnachtstag. In ihrem musikalischen Erfindungsreichtum bleiben diese Stücke meilenweit hinter den WesendonckLiedern zurück. Komplettiert wird das Programm der CD mit zwei kleinen Klavierstücken, dem hier „Schlaflos“ genannten Albumblatt für Mathilde und der Piano-Elegie „Schmachtend“ für Cosima. Alle Kompositionen sind im Laufe der Zeit auch auf anderen Labels veröffentlicht worden. Der Reiz dieser Neuerscheinung besteht in der biographischen Zuordnung. Es hätte sich allerdings gut gemacht, wäre auf dem Cover nicht nur Mathilde, sondern auch Cosima gezeigt worden. Barbara Ranke

Die „Schöne Magelone“ neu entdeckt

 

Das Booklet gibt sich zugeknöpft. Kein Wort darüber, was es denn nun auf sich hat mit den neuen Zwischentexten von Martin Walser nach Thieck für Die schöne Magelone von Johannes Brahms. Der Bariton Christian Gerhaher hat den Liederzyklus für Sony aufgenommen (88985311022). entdecktBegleitet wird er – wie stets bei derartigen Programmen – von Gerold Huber. Seine Texte spricht der inzwischen neunzigjährige Walser selbst. Sehr pointiert, klar und nachdrücklich, als sei er nicht nur Schriftsteller, sondern auch als Rezitator geübt. Ihm ist gut zuhören. Wer also mehr wissen will über diese besondere Fassung, muss sich zur eigenen Recherche im Internet aufmachen. Die „Neue Musikzeitung“ (nmz) weiß zu berichten, dass die Idee vom Literaturwissenschaftler Dieter Borchmeyer, der bis 2013 Präsident der Bayerischen Akademie der Schönen Künste gewesen ist, ausgegangen sei. „Borchmeyer, der sich intensiv mit Walsers Werk auseinandergesetzt hat, brachte Gerhaher und Walser zusammen“ heißt es dort. Dabei habe Gerhaher geäußert, gerne einmal die Magelone interpretieren zu wollen, „den Tieckschen Text aber allzu bieder und antiquiert finde“. Spontan habe Walser angeboten, „das Opus des Romantikers in seiner eigenen Sprache nachzuerzählen“. Nun hätte es sich angeboten, die Neuerscheinung genau mit dieser Geschichte anzureichern und auch die Unterschiede des Originals zur neuen Textedition zu dokumentieren. Abgedruckt im Booklet sind nur die fünfzehn Lieder selbst, die sprachlich unangetastet geblieben sind, wie sich beim Vergleich mit der literarischen Vorlage herausstellt. Für Gerhaher, den Romantiker unter den deutschen Baritonen, ist die Liedersammlung wie auf die Stimmbänder geschrieben. Parallel zur Neufassung als CD-Doppelalbum hat Sony auch eine Ausgabe ohne die Zwischentexte auf den Markt gebracht.

 

Das Brahms-Album ist eine schöne Ergänzung zu einer großen Box mit dreizehn CDs aus dem Hause Sony, die seit ihrem Erscheinen nichts von ihrer Exklusivität eingebüßt hat: Christian Gerhaher – The Art of Song  (88883751482). Lieder sind der größte Posten in der Sammlung, begleitet von Gerold Huber, wenn es sich um reine Klavierlieder handelt. Huber und Gerhaher sind seit Studienzeiten durch enge künstlerische Zusammenarbeit verbunden. Das zahlt sich aus in Vollendung des Zusammenspiels, wie es zum Beispiel im Liederkreis op. 39 von Robert Schumann seines Gleichen sucht. Die wichtigsten Liederzyklen sind aufgenommen worden in die Edition. Neben dem Liederkreis auch Dichterliebe und einige andere kleinere Werkgruppen des Komponisten, der Gerhaher nach meinem Eindruck ganz besonders gut liegt. Die schöne Müllerin und Winterreise von Schubert sind dabei, dazu noch eine weitere CD mit Schubert unter dem Titel etwas unverbindlichen Titel „Abendlieder“. Mojca Erdmann ist die jugendliche Sopran-Partnerin im Italienischen Liederbuch von Hugo Wolf. Gustav Mahlers Lied von der Erde ist mit Tenor (Klaus Florian Vogt) und Bariton besetzt, am Pult steht Kent Nagano. Er dirigiert auch die Orchesterfassungen der Lieder eines fahrenden Gesellen, der Kindertotenlieder und der Rückert-Lieder. Die Gesellenlieder wurden noch einmal in der Kammer-Ensemble-Version aufgenommen, die Arnold Schönberg arrangiert hat. Dass auch Johannes Brahms mit den Vier ernsten Gesängen vertreten ist, versteht sich von selbst. Lässlich finde ich die CD mit Auszügen aus Schöpfung und Jahreszeiten von Haydn, Schumanns Paradies und die Peri sowie Bachs Weihnachtsoratorium unter Nicolaus Harnoncourt und Mendelssohns Elias unter Herbert Blomstedt. Für die Gesamtaufnahmen, die existieren, wäre auch noch Platz gewesen. Kein Mensch hört heutzutage solche Ausschnitte, zumal sich die Leistung von Gerhaher in diesen großen Oratorien nur aus dem Zusammenhang erfahren lässt und nicht aus einzelnen Schnipseln.

Christian Gerhaher. Foto: © Jim Rakete, Sony Classical

Gerhaher, 1969 geboren, studierter Mediziner, musikalisch hervorragend gebildet, bei Legenden des Gesangs in die Schule gegangen, international hoch geehrt, auf dem Höhepunkt seiner Karriere stehend. Bei ihm ist so eine Edition schon jetzt angemessen, sie ist zigfach verdient. Mit Superlativen gewöhnlich zögerlich, scheue ich mich nicht, Gerhaher den begabtesten Liedersänger deutscher Zunge zu nennen. Er hat ein unverwechselbares Timbre. Sein heller Bariton mit der leichten offenen Höhe besitzt diesen jugendlichen Grundton, der beim Publikum gut ankommt. Er nimmt es schnell für sich ein. Das Gestalterische wirkt bei ihm weniger als das Ergebnis gründlichen Arbeitens und Probierens, es ist wie selbstverständlich vorhanden, als sei es ihm angeboren. Als sei es die einfachste Sache der Welt, Lieder zu singen. Wem das gelingt, der hat als Künstler gewonnen. Das unterscheidet Gerhaher für mich auch von seinem Lehrer Dietrich Fischer-Dieskau, dessen Interpretationen bei aller Großartigkeit mit den Jahren immer akademischer und belehrender wirkten. Gerhaher hat die Gabe, hart Erarbeitetes in Natürlichkeit umzusetzen. Er ist einer, der die Traditionen seiner Kollegen aus der Vergangenheit mit einer gehörigen Portion Frische versehen in die Gegenwart holt. Obwohl er einen konservativen Gesangsstil pflegt, klingt er nicht so. Was macht dieser Künstler mit den Texten, die er allesamt sehr gut studiert haben dürfte. Er weiß, wer Eichendorff ist oder Geibel. Daran hat wer genau hinhört überhaupt keinen Zweifel. Der Respekt vor den Dichtern beginnt bei ihm damit, dass er jedes, ausnahmslos jedes Wort wie zum Mitschreiben deutlich herüberbringt. Seine Aufnahmen sind wie Lehrstunden für den Umgang mit den literarischen Quellen. Er belebt damit neu, was einst gang und gäbe war, nur natürlicher und damit zeitgemäßer im Ausdruck. Mir scheint, dass Gerhaher großen Gefallen hat an der Frage nach dem Vorrang von Wort oder Musik, wie sie auch in Capriccio von Richard Strauss aufgeworfen wird. Den Olivier hatte er auf der Bühne gesungen! Ein netter Zufall.

In der CD „Romantische Arien“ ist drin was drauf steht. Keine Mogelpackung, sondern künstlerische Wertarbeit vom Allerfeinsten – Romantik pur. Am Pult des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks steht der 1975 in Oxford geborene Daniel Harding mit einem feinen Gespür fürs deutsche Fach. Diese Besetzung ist schon mal eine sichere Bank. „Blick ich umher in diesem edlen Kreise.“ Gerhaher eröffnet sein Programm mit dem Auftritt des Wolfram von Eschenbach in Sängerkrieg aus Wagners Tannhäuser. Er ist ein sehr scheuer und introvertierter Wolfram, nimmt die berühmte Szene wie ein Lied, ganz verinnerlicht, nicht an einen edlen Kreis gerichtet, sondern ganz in sich gekehrt. Da ist die Stelle, wo Wolfram aufblickt, „zu einem nur der Sterne, der an dem Himmel, der mich blendet, steht“. Wie Gerhaher dieses „blendet“ in den Sprechgesang verlegt, als fürchte er sich, das ist so genial wie erschütternd. Das mag ja im Studio gut gehen, nicht aber auf der Bühne, könnte man einwenden! Weit gefehlt. Ich erinnere mich noch ganz genau an den konzertanten Tannhäuser unter Marek Janowski in Berlin, wo Gerhaher diesen Moment in genau der gleichen intimen Weise zum Ausdruck brachte, dass einem ein leichter Schauer überkam wie nun beim Wiederhören auf CD.

Sechs Nummern weiter tritt Wolfram noch einmal mit seiner großen Szene aus dem dritten Aufzug in Erscheinung: „Wie Todesahnung, Dämmrung deckt die Lande… O du, mein holder Abendstern“. Hier ist Wolfram nun wirklich allein mit sich, Gott und der Welt. Wenn denn Einsamkeit sich würde steigern lassen, hier geschieht es. Diese beiden Schlüsselszenen romantischen Gesangs werden verknüpft mit eher seltenem Repertoire: Arien aus Schuberts Der Graf von Gleichen und Alfonso und Estrella, Nicolais Heimkehr des Verbannten sowie – jetzt etwas prominenter – Webers Euryanthe. Diese Mischung geht sehr gut. „Romantische Arien“ heißt die CD! Deshalb sollten wohl nicht nur Perlen aneinander gereiht, sondern eine Epoche anhand gemischter Beispiele zum Klingen gebracht werden. Harding hält sich im Hintergrund, er überlässt dem Sänger das Feld ganz. So soll es im Idealfall auch sein. Rüdiger Winter

Faszination der „kleinen Sache“

 

Das Marienleben: Der Liederzyklus von Paul Hindemith nach dem gleichnamigen großen Gedicht aus mehreren Teilen von Rainer Maria Rilke hat seit jeher auf Sängerinnen eine starke Anziehungskraft ausgeübt. Rilke allerdings setzt im Titel zwischen Marien und Leben einen Bindestrich also Marien-Leben. Dabei dürfte auch eine inhaltliche Absicht im Spiele gewesen sein. Für den von einer strenggläubigen katholischen Mutter geprägten Dichter ist das Leben Marias nicht ausschließlich himmlischer, sondern auch betont irdischer Natur – von der Geburt bis zum Tod, der im Gedicht die größte dreigliedrige Strophe beansprucht. Inspiration empfing der weitgereiste Rilke aus Gemälden der italienischen Renaissance. Die Gottesmutter in den verschiedenen Phasen ihres irdischen und weltlichen Daseins ist eine zentrale Gestalt in der Kunst. Naxos hat jetzt eine neue Einsielung herausgebracht (8.573423). Während der Dichter sein Werk in diversen Briefen gern als „eine ganz kleine Sache“ oder als „kleine Nebenarbeit“ abtat, war Hindemith davon fasziniert. Paul Conway zitiert im Booklet-Text aus einem Brief des Komponisten an seinen Verleger, dass er bislang nicht besseres geschaffen habe als diese Lieder. Er arbeitete zwischen 1922 und 1923 daran. Das Gedicht Rilkes war zehn Jahre früher erschienen. „Die Zufriedenheit war indes nicht von langer Dauer“, so Conway. „Hindemith beschloss, das Werk zu überarbeiten, um den Gesang enger an den Text und die Klavierstimmer anzupassen und überdies den Zyklus stilistisch einheitlicher zu gestalten.“ Diese Arbeit beanspruchte nicht weniger als fünfundzwanzig Jahre und wurde 1948 abgeschlossen.

Für ihre Aufnahme wählt die Sopranistin Rachel Harnisch diese Version, die auch die größte Verbreitung fand. Begleitet wird sie von Jan Philip Schulze. Die Sängerin ist Schweizerin und steht am Beginn einer internationalen Karriere. Erfolge sicherte sie sich als sie als Pamina, Fiordiligi, Marzelline, Michaela und Rachel. Mit ihrem schwebenden Sopran bringt sie ideale Voraussetzungen für die Lieder mit. Wenn erforderlich, schwingt sie sich auch zu dramatischen Höhen auf. Sie klingt jung. Das ist auch ein Vorteil. Es hätte allerdings nicht geschadet, wäre noch mehr Wert auf die textliche Ausgestaltung und Verständlichkeit gelegt worden. Schließlich sind die Lieder so komponiert, dass die Stimme auch den Worten folgen kann. Hindemith hatte das immer im Auge. Die Lieder des Zyklus fliegen dem Zuhörer allerdings nicht mal eben so zu wie klar strukturierte Volkslieder oder Kirchengesänge für die Gemeinde. Zu empfehlen ist es, sich die Rilkesche Vorlage unterstützend heranzuziehen. Leider wird sie im Booklet nicht mitgeliefert. Sie ist aber – wenn in Buchform nicht zu Hand – im Internet zu finden.

Die Neufassung des Zyklus unterscheidet sich deutlich von der ursprünglichen Komposition. Lediglich das zwölfte Lied, „Stillung Mariae mit dem Auferstandenen“, blieb unverändert. Erstmals aufgeführt wurde sie von Annelies Kupper 1948 in Hannover. Davon hat sich auch eine Aufnahme beim Label Christophorus erhalten. Bei dieser Sängerin klingen die Lieder mütterlicher als bei der neuesten Einspielung. Die Produktion mit Erna Berger von 1953 wurde besonders berühmt, weil sie auch mehrfach als Schallplatte erschienen war. Aus ihrer Interpretation klingt ein überirdischer Ansatz. The Intense Media nahm einen CD-Umschnitt in seine Erna-Berger-Edition aus zehn CDs „Glockenklang der Seele“ auf. Noch zu haben ist auch die Einspielung von Gerda Lammers bei Cantate, während die Aufnahme mit Gundula Janowitz bei Jecklin Disco seit langem vergriffen scheint. Gerda Hartmann hat den Zyklus für Discover, Veronica Lenz-Kuhn für Thorofon, Maya Boog für cpo, Judith Kellock für Koch, Soile Isokoski für Ondine und Elisabeth Meyer-Topsoe für Danacord eingespielt. Eine orchestrierte Variante gibt es bei Finlandia mit Karita Mattila. Auch die erste Fassung von Hindemiths Marienleben ist aufgenommen worden – und zwar von Roxolana Roslak gemeinsam mit Glenn Gould bei Sony. Rüdiger Winter

Zwischen Oper und Oratorium

 

Viktorianische Empfindlichkeiten waren es, die Antonin Dvorák bewogen, seine 1885 für England komponierte Kantate für Soli, Chor und Orchester op. 69 Die Geisterbraut zu nennen. Der Titel der als Vorlage dienenden Ballade von Karel Jaromir Erben war „Svatebni Košile“, wörtlich: „Die Brauthemden“. Aus heutiger Sicht erscheint solche Prüderie unwirklich. Dieses Werk steht mit seinem seltsam zwitterhaften Charakter irgendwo zwischen kurzer Oper und Oratorium. Die Handlung entbehrt durchaus nicht des im neunzehnten Jahrhundert so beliebten Gruselfaktors, geht es doch um ein junges Mädchen, das von seinem untoten Geliebten nach einer wilden Jagd durch die Nacht beinahe zu einer mitternächtlichen Hochzeit auf einem gespenstischen Friedhof gedrängt wird. Sie selbst flehte um seine Rückkehr und wollte lieber sterben, als ohne ihn zu leben. Nach und nach entledigt sie sich des Gebetbuches, des Rosenkranzes und schließlich gar ihres goldenen Kreuzes. Erst zuletzt erkennt sie ihren Irrtum. Allein ihr unerschütterlicher Glaube, gipfelnd in einem stillen Gebet zur Jungfrau Maria, kann sie schließlich vor einem ähnlich furchtbaren Schicksal bewahren. Der moralisierende Stoff mag dem streng katholischen Dvorák entgegengekommen sein.

Das österreichische Plattenlabel Capriccio legt jetzt eine brandaktuelle Neueinspielung vor, die sich insgesamt grofler Meriten erfreut (C5315). Der Chor, hier die exzellente Wiener Singakademie (Einstudierung: Heinz Ferlesch), spielt eine ganz wesentliche Rolle und trägt, das Geschehen kommentierend, zur unheimlichen Atmosphäre gehörig bei. Expressiv und gefühlvoll in der Titelrolle die Sopranistin Simona Šaturová, verführerisch und gar nicht abschreckend der Tenor Pavel Breslik als der Tote. Deutlich ehrfurchtgebietender Adam Plachetka als wortgewaltiger Erzähler. Tatsächlich spielt eher der Bassbariton die männliche Hauptrolle.

Nach einer aufwühlenden Introduktion folgen insgesamt achtzehn nahtlos ineinander übergehende Vokalnummern. Prächtig und mit dem nötigen Temperament das ORF Radio-Symphonieorchester Wien unter seinem Chefdirigenten und künstlerischen Leiter Cornelius Meister, der mit seinem feurigen Dirigat den leidenschaftlichen Charakter der Kantate unterstreicht. Sehr gut auch der Klang dieser an zwei aufeinanderfolgenden Tagen im Juni 2016 im Wiener Konzerthaus entstandenen Live-Aufnahme. Weniger vorbildlich die Gestaltung des Booklets: Der Text ist nur auf Tschechisch und Englisch abgedruckt, die einzelnen Track-Namen gar nur in tschechischer Sprache. Auf Deutsch nur die knappe Werkeinführung und die Künstlerbiographien. Das geht bei einer österreichischen Produktion besser. Daniel Hauser

Wenn Liebe in Hass umschlägt

 

Als Orpheus und Eurydike von Ernst Krenek am 23. August 1990 bei den Salzburger Festspielen aufgeführt wurde, war der Komponist noch selbst zugegen. Er wurde just am selben Tag Neunzig. Das Werk schrieb er als Dreiundzwanzigjähriger auf einen Text des Malers und Schriftstellers Oskar Kokoschka, der darin seine traumatischen Erlebnisse im Ersten Weltkrieg und die beschwerliche Beziehung zu Alma Mahler, der umtriebigen Witwe des Komponisten Gustav Mahler, verarbeitete. Kreneks Oper war in Salzburg eingebunden worden in einen konzertanten Orpheus-Zyklus in der Felsenreitschule. Vorausgegangen waren die Opern von Claudio Monteverdi, Christoph Willibald Gluck und Joseph Haydn. Eine festspielwürdige Idee, die in der Gegenwart seltener anzutreffen ist als in früheren Jahren.

Insofern wäre es reizvoll gewesen, hätte Orfeo, schon des eigenen Namens wegen in seiner Festspielreihe den gesamten Zyklus aufgegriffen und nicht nur das Werk von Krenek (C923 1621). Für sich genommen erweist es sich als ziemlich schwere Kost. Die Einbindung hätte ihm gut getan. Der Stoff hat über die Jahrhunderte zahlreiche Komponisten inspiriert, seit es die Oper als Kunstform gibt. Krenek war nicht der letzte in dieser langen Reihe, der sich ihm zuwandte. Hin und wieder taucht sein Werk auf Spielplänen auf. In Berlin hatte es vor sieben Jahren im Konzerthaus am Gendarmenmarkt ebenfalls eine konzertante Aufführung mit szenischen Elementen unter der Leitung von Lothar Zagrosek gegeben.

Im Booklet findet sich dankenswerter Weise das Libretto. Nur dadurch wird es möglich, dem Werk an den Lautsprechern zu folgen. Eine Inhaltangabe reichte nicht. Wer ohne Text zuhört, bleibt zwar immer wieder an starken Wortgebilden eindringlichen musikalischen Momenten hängen, ein tieferer Sinn lässt sich daraus kaum erfassen. Die Handlung endet in der Katastrophe. Eurydike gibt sich als die Geliebte des Hades zu erkennen. Orpheus irrt, von Wahnsinn geschlagen, umher. In den Ruinen seines verfallenen Hauses, das er einst mit der Geliebten bewohnte, findet er zwar seine Leier wieder. Doch das Spiel ist nicht mehr das, was die Menschen hören wollen. Er wird gebunden und kommt in der Schlinge zu Tode. Schon in einer anderen Welt erscheint ihm Eurydike als ihr eigener Geist. Orpheus: „Ich hasse dich.“ Mit einem Nachspiel schließt das Werk versöhnlich, gar ironisch: „Das ewige Licht leuchtet ihnen.“ Die Musik ist hell, schwebend – wie nicht von dieser Welt. Als würden sich Vögel singend in die Lüfte heben. Ein wunderbarer Opernschluss. Das Publikum scheint sehr gebannt gewesen zu sein.

In den zeitgenössischen Kritiken kommen die beteiligten Solisten sehr gut weg. Für Dunja Vejzovic, die die Eurydike sang, war Salzburg eine Art Heimspiel, seit sie dort unter Herbert von Karajan als Kundry und Ortrud aufgetreten war. Zitiert wird im Booklet Hans-Heinrich Jungheinrich, der an der dieser Sängerin „Glut und Farbe einer femme fatale“ hervorhebt, „die sich in ihren Gesängen zu rätselhafter matriarchalischer Großartigkeit aufrecke“. Dieser Eindruck teilt sich noch heute mit, wenn sie den nur etwas verständlicher hätte singen können. Über weite Strecken ist kein Wort zu verstehen. Ronald Hamilton, der Mitte der 1980er Jahre an der Ostberliner Deutschen Staatsoper den Stolzing in den Meistersingern von Nürnberg gegeben hatte und auch anderswo als Heldentenor in Erscheinung getreten ist, findet im Booklet keine wertende Erwähnung. Er tut sich schwer mit der Rolle, die er betont charaktervoll gestaltet. Großen Eindruck macht Celina Lindsley als Psyche. Bo Skovhus, inzwischen Don Giovanni, Amfortas, Wolfram oder Eugen Onegin, ist noch in ein zwei Nebenrollen, als Krieger und als Narr, mit dabei. Es singt der ORF-Chor. Das ORF-Symphonieorchester Wien wird von Pinchas Steinberg geleitet. Er habe den Nerv von Kreneks Musik genau getroffen, urteilte Musikkritiker Jungheinrich nach der Vorstellung. „Nichts verbreiterte sich zum leeren Effekt, alles blieb schlank, gelenkig, glasklar und strukturell durchleuchtet.“ Ein Eindruck, den auch die CD-Ausgabe in ihrem bestechenden Klang, widerspiegelt. Rüdiger Winter

Auf der Suche nach Heimat

 

Ein junger Mann, 1982 in Regenburg geboren, inzwischen vornehmlich in London lebend, ist auf der Suche nach Heimat. Was ist Heimat für einen, der noch ein Kind war, als der Eiserne Vorhang in Europa fiel, der sich immer völlig frei bewegen konnte, heute hier, morgen dort. Der nie etwas anderes gekannt hat als diese grenzenlose Freiheit. Ist Europa schon die Heimat geworden für einen wie ihn? Oder schwingt da im tiefsten Innern doch eine Sehnsucht nach einem ganz konkreten Ort mit? Nach einer Stadt, einem Dorf, einem Landstrich. Heimat ist ein schwieriges Wort. Es wurde und wird noch immer missverstanden und missbraucht. Dabei ist es ein schönes Wort.

Bei jungen Leuten, die sich nicht mit dem historischem Ballast der Großväter herumschleppen müssen, hat es wieder eine Chance, völlig unverkrampft gebraucht zu werden. Bei dem jungen Mann, den offenbar keine Schwierigkeiten mit dem Wort plagen, handelt es sich um den Bariton Benjamin Appl. Er hat seiner ersten CD bei Sony den Titel Heimat gegeben (88985393032). Seit einiger Zeit ist der Sänger Exklusivkünstler der Firma. Daran knüpfen sich viele Hoffnungen, für den Künstler wie auch für sein Publikum. Nach Überzeugung des Gramophone Magazins stieg er bereits zum „Spitzenreiter der neuen Generation der Liedersänger“ auf. So weit würde ich nicht gehen. Noch nicht. In diesen Blumenstrauß der Huldigung ist viel Vorschusslorbeer eingebunden. Appl steht am Anfang. Was auch zu hören ist. Die Register sind noch nicht ausgeglichen. Hohe Töne reißt er mitunter nach oben, anstatt sie aus den unteren Lagen anschwellen zu lassen. Dann klingt es hohl. Für sich genommen ist das Timbre sanft und eingängig. Appls Stimme verfügt auch über einen hohen Wiedererkennungswert, klingt etwas älter, als er in Wirklichkeit ist. Er ist sehr gut zu verstehen. Das sind beste Voraussetzungen für einen Liedsänger. Wenn er intensiv an der Vervollkommnung seiner Technik arbeitet, wird er zur Spitze aufsteigen, wo ich ihn noch nicht sehe. Mit Bedacht tastet er sich nach vorn. Respekt vor der Herausforderung drückt sich bei ihm in Vorsicht und Zurückhaltung aus. Nicht bitte jetzt schon die Winterreise!

So könnte der junge Franz Schubert ausgesehen haben. Bewiesen ist es nicht. Die Kreidezeichnung soll von Leopold Kuppelwieser stammen, der zum Freundeskreis Schuberts gehörte. Die meisten Lieder auf der neuen Appl-CD stammen von ihm/ Wiki

Und dennoch soll das vorauseilende Werturteil des Musikmagazins nicht kleingeredet werden. Vor allem jene Musikfreunde dürften es gern zur Kenntnis nehmen, die sich mit Liedern beschäftigen, die ihren Fischer-Dieskau, Prey, Wunderlich, Goerne oder Gerhaher sehr gut kennen und schätzen, die aber immer Ausschau nach neuen Talenten, Eindrücken und Stimmen halten. Es ist sehr erfreulich, dass sich Sängerinnen und Sänger verstärkt Liedern zuwenden. Auch die jungen. Der Musikmarkt bewegt sich in diese Richtung. Appl ist da nur ein Beispiel, wenngleich ein besonders gutes und hoffnungsvolles. Er lässt Gefühle zu, nicht nur sublimiert als Kunst, sondern in Wort und Schrift. Das ist sympathisch und nimmt ihn gewiss zusätzlich für ein. Für das Booklet hat er einen persönlichen Text verfasst: „Jeder von uns kennt aufgrund verschiedener Erfahrungen die Empfindung von Geborgenheit, die einen durch einen Ort, eine Situation oder Personen vermittelt wird. Manchmal erfährt man aber auch Einengung, Vorurteil oder Schmerz“, schreibt er. Dichter und Komponisten, hätten sich seit Jahrhunderten damit beschäftigt. „In unserer Zeit ist diese Thematik noch aktueller und drängender denn je, wo viele ihre Heimat verlieren oder aufgeben.“ Heimat sei etwas, was Menschen wirklich bewege. In den Liedern der CD sieht er ein Stück seiner „Lebensreise“. Es seien Texte, die trösteten, Freude bereiteten, Erinnerungen wachriefen, aber auch Lieder, die von Aufbruch und Findung berichteten, „nicht zuletzt aber als Wegbegleiter und Wegbereiter von Vertrautheit und Halt“. Andere wiederum spiegelten Momente wider, in denen ein Stück Heimat verloren gegangen sei. Entsprechend ist die Auswahl getroffen. Die Literatur zum Thema Heimat ist groß. Dichter und ihre Komponisten fühlten sich zu allen Zeiten ausgestoßen, an den Rand der Gesellschaft in Außenseiterpositionen gedrängt. Auf einen Prolog mit Franz Schuberts „Seligkeit“ folgen die Themen Wurzeln, Räume, Menschen, Unterwegs und Sehnsucht, ausschließlich von deutschsprachigen Komponisten bestritten.

Die neue CD von Benjamin Appl mit Schubert-Liedern hält einen Abend in der Londoner Wigmore Hall fest und erscheint in Kürze.

Zu Schubert, der mit Liedern am häufigsten vorkommt, treten Max Reger, Johannes Brahms, Franz Schreker, Hugo Wolf, Richard Strauss und Adolf Strauss hinzu. Adolf Strauss? Über diesen 1902 geborenen Komponisten ist wenig bekannt. Er schrieb den Tango „Ich weiß bestimmt, ich werd’ dich wiedersehen“ im KZ Theresienstadt unmittelbar vor dem Todestransport in die Gaskammern von Auschwitz. Musikalisch kann dieser Titel, der an Barmusik denken lässt, mit den anderen Liedern nicht mithalten, zumal er zwischen „Wanderer an den Mond“ und „Heimweh“ von Schubert geklemmt ist. Durch die tragischen Umstände seines Entstehens schon. Appl hat gut daran getan, in seinem Programm, das man sich auch als Liederabend vorstellen kann, mit diesem Lied auf nachdenkliche Weise innezuhalten bei seiner Suche nach Heimat. Zugleich aber empfiehlt er sich als Begabung für dieses leicht gestrickte und eingängige Genre jenseits der hohen Schule des Liedgesangs. Appl hat Sexappeal in der Stimme. Die abschließende CD-Abteilung „Grenzenlos“ wird vom Franzosen Francois Poulenc und den Engländern Benjamin Britten, Ralph Vaughan Williams, Sir Henry Bishop (1786-1855), Peter Warlock (1894-1930), John Ireland (1879-1962) bestritten, bevor das Programm mit einem Prolog ausklingt, bestehend aus zwei Liedern des Norwegers Edvard Grieg„An das Vaterland“ und „Ein Traum“. Hier schließt sich der Kreis. Heimat und Vaterland als immerwährender Traum. Ein schöner Gedanke.

 

Zuletzt hatte Benjamin Appl bei Champs Hill diverse Lieder aufgenommen. Dem Vernehmen nach soll er der letzte Schüler von Dietrich Fischer-Dieskau gewesen sein. Zwischen 2010 bis 2013 studierte er an der Guildhall School of Music and Drama in London, wodurch sich auch der Kontakt zu dem englischen Label ergeben haben dürfte. Appl ist nicht festgelegt auf eine Richtung. Er singt sowohl Opern als auch Oratorien und Lieder. Damit liegt er ganz auf der Linie seines berühmten Lehrers. Dem Aussehen nach ist er ehr der Popstar, dem die Fans zu Füßen liegen. Das muss im gediegenen Klassikgeschäft kein Nachteil sein. „Stunden, Tage, Ewigkeiten“ ist die CD mit Liedern nach Heinrich Heine betitelt (CHRCD112). Heine, der als der letzte Dichter, der Schlusspunkt der Romantik gilt, hat Komponisten magisch angezogen. Franz Schubert sind einige seiner bedeutendsten Lieder auf seine Texte gelungen: „Der Atlas“, „Ihr Bild“, „Die Stadt“, „Der Doppelgänger“. Diese vier Titel aus dem Schwanengesang hat Appl aufgenommen. Sie gelingen ihm gut. Appl lässt sich Zeit beim Singen. Dadurch kann er alle textlichen und musikalischen Details ausbreiten. Bei der Programmauswahl haben sich die Produzenten nicht nur auf Altbekanntes verlegt. Auftakt ist das Lied „Gruß“ in der Vertonung von Edvard Grieg, gefolgt von den Sechs Liedern von Heine des russischen Komponisten und Pianisten Anton Rubinstein, der viele Lieder hinterlassen hat. Die erweisen sich als Entdeckung und mehren den Wert dieser Neuerscheinung.

Heinrich Heines Dichtung hat Komponisten und ihre Interpreten immer wieder magisch angezogen. Auch Benjamin Appl hat ihm eine CD gewidmet. Foto: Wikipedia

Seinem Höhepunkt strebt die Programmauswahl mit Roberts Schumanns Dichterliebe zu. Begleiter ist – wie auch bei der ersten Sony-Produktion James Baillieu. Im hübsch aufgemachten Booklet kommt der Sänger, wie jetzt bei der Sony-CD ebenfalls zu Wort. Obwohl er ja durch seine Stimme und nicht durch das geschriebene Wort erklärend Eindruck machen soll, ist das für sich genommen eine gute Idee. Zumal Appl auch hier sehr persönlich wird: „Mit meinen Deutungen suche ich bewusst einen jungen, frischen Interpretationsansatz für die vorwiegend liebesbezogenen Textvertonungen.“ Und weiter: „Die Komponisten waren im vergleichbaren Alter, meistens jedoch noch jünger als ich jetzt. Ihre persönlichen Erlebnisse hatten sie sicher damals dazu bewegt, vorliegende Texte auszuwählen und in ihre musikalische Sprache einzukleiden. Durchlebt man doch in jungen Jahren erfüllte wie auch enttäuschende Stunden der Liebe besonders intensiv.“ Sein Vortragsstil auf dieser CD wirkt selbstbewusst und frisch, und doch nicht nassforsch. Er vergeht nicht vor Erfurcht vor diesen Meisterwerken, er nähert sich mit einer gewissen Lockerheit an. Das macht die Aufnahme zum Hörvergnügen. Nur hier und da hinterlässt er noch einen akademischen Eindruck. So, als würde er die Lieder in einem Seminar vortragen, in dem auch andere Studenten und Professoren sitzen. Habe ich alles richtig gemacht? Er hat! Dieser Sänger ist auf einem sehr guten Weg. Es besteht nicht der geringste Zweifel für mich, dass noch viel von ihm zu hören sein wird. Rüdiger Winter

Das große Foto oben ist ein Ausschnitt des Covers der Lieder-CD von Benjamin Appl, die bei Sony herausgekommen ist. Ohne Schriftzug findet es sich auch im Innern der Neuerscheinung. Foto: Lars Borges / Studio Borges

„Singen muasst können!“

 

„Stimm‘ brauchst kane, singen muasst können.“ Dieses Bonmot ist von Julis Patzak überliefert. Er galt als kluger Mann, wirkte als Professor an der Wiener Musikakademie. Bis in sein achtundsechzigstes Lebensjahr war als sängerisch tätig. Das wundert nicht, denn Patzak hatte sein Stimme auf ein solides technisches Fundament gebaut. Genau darauf zielt sein Spruch. Stimmlich ist er nach wie vor Geschmackssache. An Ihm scheiden sich die Geister. Sein Tenor ist sehr individuell und eigensinnig, ziemlich klein, wenn nicht gar dünn. Immerhin hat er damit Floresten, Palestrina sowie den Mime gesungen. Und – als sei es nicht nur ein Bedürfnis, sondern auch eine ständige Pflichtübung – Lieder ohne Ende. Zu Schubert, Schumann und Wolf kamen Lieder aus seiner Geburtsstadt – von Grinzing, Fiakern und dem Stephansdom. Womit das Thema einer CD erreicht ist, die bei Naxos erschien: Viennese Operetta Gems (8.110292). Keine Frage, dass auch Patzak zu den Mitwirkenden gehört. Er singt den so genannten Lagunenwalzer „Ach, wie so herrlich zu schaun“ aus der Nacht in Venedig von Johann Strauß und aus Boccaccio von Franz von Suppé die Romanze „Hab ich nur deine Liebe“, die eigentlich Fiametta zugedacht ist. Dieser Geschlechtertausch ist insofern typisch für Patzak, als er sich dem berühmten Stück ausschließlich aus der Perspektive des Sängers annähert und nicht der Figur. Der Gedanke an einen Irrtum kommt so gar nicht erst auf. Schade, dass der Auftritt des Adam aus der in Wien uraufgeführten Operette Der Vogelhändler nicht auch noch einbezogen wurde. Sie ist für mich wie ein Brennspiegel der unverwechselbaren Gesangskunst von Patzak, in die er alles hinein gelegt hat, mehr noch als in die genannten Titel.

Dafür sind aber auch noch viele andere berühmte Namen aufgeboten: Elisabeth Schumann („Mein Herr Marquis“ aus der Fledermaus), Walther Ludwig und die selten auf Tonträgern anzutreffende Lillie Claus („Schenkt man sich Rosen in Tirol“ aus dem Vogelhändler), Franz Völker „Ich hab‘ kein Geld“ aus dem Bettelstudent), Marcel Wittrisch („Komm‘, Zigan“ aus der Gräfin Mariza) oder Richard Tauber („Gehen wir ins Chambre séparée“ aus dem Opernball). Bei einem Ausflug in die Operette ist die international gefeierte Opernsängerin Dusolina Giannini mit Wittrisch in dem Duett „Lippen schweigen“ aus der Lustigen Witwe dokumentiert. Tief anzurühren versteht Joseph Schmidt mit dem Lied „Ich bin ein Zigeunerkind“ aus Lehárs Zigeunerliebe. „Vem oss har vigt?“ Das ist Schwedisch und heißt „Wer uns getraut?“ Zwei muttersprachliche Opernstars, der Tenor Jussi Björling und die Sopranistin Hjördis Schymberg, garnieren mit diesem Duett aus dem Zigeunerbaron die köstliche Wiener Melange. Rüdiger Winter

Eine Oper, zwei Dirigenten

 

Gut Ding will Weile haben. Dies gilt dieser Tage für die russische Melodia, die dankenswerterweise ihre Archive öffnet, eine fast fünfzig Jahre alte Einspielung der Oper Der goldene Hahn von Nikolai Rimski-Korsakow ausgräbt und erstmals auf CD herausbringt (MEL CD 10 02331). In mancherlei Hinsicht ist diese letzte Oper Rimskis Meisterwerk. Komponiert in den Jahren 1906 und 1907, erfolgte ihre Uraufführung erst am 24. September 1909 (jul.) in Moskau. Zu diesem Zeitpunkt war der Komponist schon über ein Jahr lang tot. Die Gründe für die späte Erstaufführung liegen in der russischen Zensur begründet, die eine implizite Systemkritik vermutete. Obschon von Rimski-Korsakow nicht intendiert, konnte man den ausschweifenden und zügellosen König Dodon doch auf das seinerzeit in seinen letzten Zügen liegende Zarentum beziehen, so wenig Kaiser Nikolaus II. auch mit dem Dargestellten gemein haben mochte.

Als Grundlage für das von Wladimir Bjelski entworfene Libretto diente das gleichnamige Märchen von Alexander Puschkin (1834), welches seinerseits wiederum auf der „Sage vom arabischen Astrologen“ des amerikanischen Schriftstellers Washington Irving von 1832 beruhte. Tatsächlich muss Rimski-Korsakows Oper Der goldene Hahn neben Der unsterbliche Kaschtschei und Die Legende von der unsichtbaren Stadt Kitesch zu den tiefgründigsten seiner Werke gezählt werden. Ihnen gemein ist die späte Entstehungszeit im letzten Lebensjahrzehnt des Komponisten, als Rimski auf dem Höhepunkt seines Schaffens stand. Den Rahmen der Oper stellt der mysteriöse Astrologe dar, der im Prolog zunächst die nachfolgende Handlung ankündigt und im abschließenden Epilog davor warnt, das düstere Finale allzu ernst zu nehmen. Das markante Astrologenthema sollte ein halbes Jahrhundert später in Prokofjews siebter und letzter Sinfonie abermals auftauchen und wohl für dessen noch unbeschwerte Jugendzeit vor der dem Ersten Weltkrieg und der Oktoberrevolution mit all ihren Folgen stehen.

Nikolai Rimski-Korsakow auf einem Gemälde von Walentin Serow, das 1898 entstand. Foto: Wikipedia 

Der sichtlich überforderte und regierungsmüde König Dodon vertraut sich und sein Reich dem Rat des Astrologen an, der absurderweise einen goldenen Hahn, der bei jeder Gefahr mit den Schwingen schlägt und lauthals kräht, als Lösung für alle Probleme vorschlägt. Die Belohnung Dodons schlägt der gewitzte Mann zunächst aus. Des Königs Söhne, die sich als nicht minder unfähig erweisen, ziehen beim ersten Alarmruf in den Krieg, während sich Dodon nach der geheimnisumwitterten Königin von Schemacha sehnt. Nur widerwillig rückt auch der König schließlich ins Feld aus, wo er seine geschlagene Armee und seine toten Söhne vorfindet. Tatsächlich stößt er auch auf die von ihm begehrte Königin, und in der Folge stellt sich heraus, dass sich die beiden Prinzen im Streit um sie gegenseitig umbrachten. Dodon, der der Königin vollends verfällt, will sie zur Frau nehmen und ihr sein Reich vermachen. Jetzt tritt abermals der Astrologe in Erscheinung, der nun unverhofft eben jene Königin als seine Belohnung einfordert. Dies kostet ihm das Leben, erschlägt ihn Dodon doch wutentbrannt, worauf sich freilich die Szene verdunkelt und er nun seinerseits vom goldenen Hahn zu Tode gehackt wird. Die Königin von Schemacha sucht mit dem Hahn ihr Heil in der Flucht, während sich das Volk mit der neuartigen Situation abfindet.

Wie so häufig, erweist sich die sowjetische Einspielung von Melodia als mustergültig. Es handelt sich um die CD-Premiere der 1968 entstandenen ersten Studioeinspielung dieses Werkes mit dem Rundfunk-Symphonieorchester der UdSSR. Merkwürdig ist die Nennung zweier Dirigenten, nämlich Alexei Kowalew und Jewgeni Akulow. Eine mögliche Erklärung hierfür — das Booklet liefert keinerlei Informationen — ist die separat erschienene Schallplatteneinspielung des zweiten Aktes mit Galina Oleinitschenko, angeblich ebenfalls unter der Stabführung der genannten Orchesterleiter. Womöglich kam es hier zu einer später nicht mehr aufzuklärenden Verwechselung, so dass man vorsichtshalber beide Dirigenten aufführte. In der Gesamtaufnahme jedenfalls singt Klara Kadinskaja die Rolle der Königin und wird dieser durch kraftvolle Höhe und mädchenhafte, verführerische Tongebung absolut gerecht. Alexei Korolew weiß gerade durch seine nicht mehr ganz auf ihrem Zenit befindliche Stimme und durch überlegene Gestaltung als alternder König zu überzeugen. Gennadi Pischtschajew kommt als Astrologe dem Rimski-Korsakow vorschwebenden Ideal eines „tenore altino“ sehr nahe und berührt mit typisch östlich-slawischem Timbre. Die Nebenrollen sind ebenso hochkarätig besetzt: Der Bassist Leonid Ktitorow gibt den umsichtigen General Polkan und die charakteristische Altistin Antonina Kleschewa die Aufseherin Amelfa. Auch die Prinzen Gwidon und Afron werden durch den Tenor Juri Jelnikow und den Bariton Alexander Poljakow vorzüglich ausgefüllt und bestechen durch geschmeidige Stimmführung. Schließlich verleiht Nina Poljakowas teils schneidender Sopran der Titelrolle eindringliche Präsenz. Der Große Rundfunkchor der Sowjetunion fügt sich tadellos ins Gesamtbild ein, während das Dirigentenduo Kowalew/Akulow das Ensemble zu Höchstleistungen anfeuert. Die von G. Braginski und N. Andrejewa verantwortete Tontechnik mit ihrem vollen Stereoklang rundet den sehr gelungenen Eindruck dieser Produktion ab.

Die nicht eben umfangreiche Diskographie des „Goldenen Hahns“ wird durch diese nunmehr wieder greifbare Einspielung ganz ohne Frage bereichert. Sie kann sich gut neben den beiden Aufnahmen Jewgeni Swetlanows (CD: Melodia 1988; DVD: NHK 1989) behaupten, ergänzt diese um eine weitere Facette und repräsentiert das sowjetische staatliche Plattenlabel zu seinen Glanzzeiten.Daniel Hauser

PS.: Eine Nachfrage bei Melodia konnte das Geheimnis um die zwei Dirigenten lüften: Tatsächlich begann Alexei Kowalew die Einspielung bereits im Jahre 1962, wurde aber nach einem Konflikt entlassen. Erst sechs Jahre später gelang die Vollendung der Aufnahme dann in einem zweiten Anlauf unter Jewgeni Akulow. Interessanterweise wurde Kowalews Name, entgegen den damals gängigen sowjetischen Gepflogenheiten, nicht unterdrückt und bereits auf der LP-Ausgabe ausdrücklich genannt. 

Karl Richter zeitlos

 

Wer sich für Karl Richter interessiert, hat die Qual der Wahl. Gleich mehrere Firmen und Labels pflegen und verwalten sein akustisches und filmisches Erbe mit Sorgfalt und Tüchtigkeit. Jetzt liegt Profil Edition Günter Hänssler in diesem Bemühen aktuell vorn. Und zwar mit einer neuen Edition, die aus einunddreißig CDs (LC 13287) besteht. Die Aufmachung ist schlicht und einzig auf den Maestro abgestellt. Beschwörend hebt er die feingliedrigen Hände. Hände, die nicht nur Chor und Orchester leiten konnten, sondern auch am Cembalo oder an der Orgel meisterhaft in die Tasten griffen. Richter war ein Allroundtalent. Für seine vielseitige Begabung hatte er sich das Rüstzeug zunächst in Dresden und später in Leipzig erworben. Als Kind sang er im Kreuzchor. Thomaskantor Karl Straube, der noch mit Max Reger befreundet war, erkannte seine Begabung und holte ihn nach Leipzig, wo er auch auf dessen Nachfolger, Günther Ramin, traf. 1950 wurde er Thomasorganist. Schon bei etlichen Aufnahmen von Bachkantaten durch Ramin saß er am Cembalo. Faktisch gehören sie zu seiner Diskographie, die aber auch ohne diese frühen Zeugnisse umfassend genug ist. Gemessen an der Vielzahl der Titel müsste er über hundert geworden sein. Richter wurde aber nur vierundfünfzig Jahre alt – am 15. Oktober 1926 in Plauen geboren, starb er am 15. Februar 1981 in einem Münchener Hotel an Herzversagen. Kein Alter.

Spürte er, dass ihm nicht viel Zeit bleiben würde? Unrast war seine Lebensform. Er brannte. Nach seiner Übersiedlung in den Westen des geteilten Deutschland wurde München zum Zentrum seines Wirkens, wo er Bach-Chor und Bach-Orchester zu internationalem Ansehen verhalf und an der Musikhochschule lehrte. In der bayerischen Landeshauptstadt absolvierte er mit beiden Ensembles ein strenges Programm und trat auch als Solist in Erscheinung. Nebenher wurden Platten produziert – und ständig gereist. Immer wieder um den Erdball. Johann Sebastian Bach war, einem Markenzeichen gleich, der beherrschende Name auf den Programmzetteln. Diese Vorliebe hatte er aus Sachsen mitgebracht und sich sein ganzes Leben lang bewahrt. Seine eigene Klangvorstellung verfeinerte er immer mehr und trug sie in die Welt hinaus. Allein von der H-moll-Messe sind gut neunzig Aufführungen im In- und Ausland belegt. Und doch wollte er nicht auf Bach festgelegt werden. In seinem Repertoire finden sich auch Mozart, Haydn, Händel, Dvorak, Brahms und Bruckner. Beim Gedenkkonzert für seinen verstorbenen Freund Rudolf Kempe 1976 in München leitete er die vierte Sinfonie von Schumann. Hingezogen fühlte sich Richter zu Verdis Requiem. Ein Mitschnitt von 1969 mit Ingrid Bjoner, Hertha Töpper, Waldemar Kmentt und Gottlob Frick ist 2008 bei Altus erschienen. Ausflüge ins Reich der Oper sind ehr selten gewesen. Händels Giulio Cesare hat er 1968 in Buenos Aires dirigiert und für die Deutsche Grammophon eingespielt, wo auch Glucks Orfeo ed Euridice als Studioproduktion erschien.

Hänssler ist mit seiner Zusammenstellung um Vielseitigkeit bemüht ist. Also nicht nur Bach. Die Musikalischen Exequien von Heinrich Schütz haben nach einer langen Wanderung durch die Kataloge nun einen neuen Platz in dieser Box gefunden. Sie werden ehr beiläufig, wenn nicht gar willkürlich auf einer CD mit Ausschnitten aus Haydns Schöpfung und Jahreszeiten sowie Mendelssohns Elias verknüpft. Dabei hat diese Einspielung in der Richterschen Diskographie einen ganz besonderen Stellenwert. Sie ist nämlich noch mit dem Münchener Heinrich Schütz Kreis entstanden, einem nach dem Zweiten Weltkrieg gegründeten Ensemble, aus dem 1954 der Bach-Chor hervorgegangen ist. Richter hatte die Leitung dieses Kreises 1951 kurz nach seiner Niederlassung in München übernommen. Die Exequien sind die erste offizielle Plattenaufnahme des Chores für die Deutsche Grammophon, Ende November 1953 im Herkulessaal der Münchner Residenz realisiert. Beteiligt ist Prominenz der Münchner Bach-Pflege dieser Jahre wie die Sopranistin Elisabeth Lindermeier, die mit Rudolf Kempe verheiratet war und als Taumännchen in der berühmten Hänsel-und-Gretel-Aufnahme unter Fritz Lehmann in kaum einem Plattenschrank fehlt. Nach dem Ende ihrer Kariere als Opern- und Konzertsängerin verschlug es die Altistin Ruth Michaelis als Professorin an die Opernschule in Istanbul, wo sie türkische Volkslieder sammelte und herausgab. Später ging sie in die USA, wo sie auch starb. Der Tenor Friedrich Brückner-Rüggeberg galt als Experte für alte Musik mit Schwerpunkt Schütz und Monteverdi. Nicht verwundern muss die Mitwirkung des Bassisten Max Proebstl, der ehr mit Kaspar, Bartolo oder Falstaff in Verbindung gebracht wird denn mit Schütz oder dem Baron Starhemberg in der Uraufführung von Hindemiths Harmonie der Welt. Diese Spezis ist sehr selten geworden, wenn nicht gar ausgestroben.

Als Führer durch die Edition bieten sich die siebenbändigen Zeitdokumente über Karl Richter von Johannes Martin, Conventus Musiccus, an – hier Band 2 (ISBN 978-3-00-032826-8).

Die mehrer als sechzig Jahre Aufnahme der Exequien muss die Konkurrenz mit den vielen neueren Produktionen nicht scheuen. Richter gelingt es, die hochindividuellen Stimmen zusammenzuführen und zusammenzuhalten. Niemand schert aus. Hinter den Dienst an der Kunst hat das eigene Profil zurückzustehen. Chor und Solisten sind so positioniert, dass es wie frühes Stereo klingt. Richter hebt das Werk aus einer gewissen Erdenschwere ins Lichte und Klare empor. Es gibt also viele Gründe, diese Aufnahme besonders herauszustellen. Sie erschien zunächst im Rahmen der so genannten Archiv Produktion der Deutschen Grammophon. Deren Ursprung reicht in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg zurück. Es sollte zunächst versucht werden, Orgeln und wertvolle Instrumente, die nicht den Zerstörungen anheim gefallen waren, akustisch zu dokumentieren. Daraus wurde mit den Jahren eine monumentale Sammlung, die immer weiter über das ursprüngliche Ziel hinaus wuchs. Die ersten Aufnahmen erschienen noch auf Schelllack, die Hülle am Rand vernäht. So waren sie unverwechselbar und sehr haltbar zugleich. Beigegeben waren umfängliche, musikwissenschaftlich fundierte Informationsblätter. Ein großer Teil des Plattenbestands wurde im Laufe der auf CD übernommen. Im schmalen Booklet der Edition wird zwar auf die „symbiotische Beziehung“ Richters zu dem verdienstvollen Label ganz allgemein verwiesen, der Zusammenhang mit konkreten Aufnahmen wird aber nicht hergestellt. Ja, es wird nicht einmal – wie übrigens bei allen Werken – das Aufnahmejahr genannt. Das ist schwach, sehr schwach und schränkt Nutzen und Bedeutung der Sammlung ein. Schließlich will eine Edition, die diesen Namen verdient, mehr sein als ein Sammelsurium. Literatur, mit deren Hilfe Ordnung in das Chaos gebracht werden kann, gibt es reichlich. Roland Wörner, der an der Betreuung des Nachlasses des Dirigenten beteiligt war, hat in seinem Buch „Karl Richter – Musik mit dem Herzen“, 2001 im Panisken Verlag erschienen, Aufnahmedaten in einer Diskographie akribisch aufgelistet. Auf die Platteneinspielungen geht auch Johannes Martin in seinen siebenbändigen, reich bebilderten und mit Faksimiles versehenen Zeitdokumenten zu Richter ein, die bei Conventus Musicus herausgekommen sind.

Das Buch von Roland Wörner (Panisken-Verlag ISBN 3-935965-01-X) ist als Ergänzung hilfreich, weil es die Aufnahmedaten nennt, die in der Edition weggelassen wurden.

Zurück zur Edition. Flötenkonzerte gibt es von Mozart und Haydn. Sie sind – wie andere Titel auch – bereits separat erschienen Die Flöte bei den Konzerten spielt der Schweizer Aurèle Nicolet, der oft mit Richter zusammengearbeitet hat. Zwischen beiden stimmte die Chemie. Ihr Zusammenspiel ist von gegenseitiger Zurückhaltung geprägt, der Solist bekommt immer den Vorrang, kann sein virtuoses Können voll entfalten und trägt die grundsolide Interpretation durch Richter mit. Er reißt nie aus. Es ist viel Heiterkeit in diesen Aufnahmen, zumal die Flöte immer eine gewisse Naturnähe schafft. Mit dabei ist auch das berühmte Konzert KV 314, das ursprünglich als Oboenkonzert komponiert wurde. Ein Einfall jagt den nächsten. Es lohnt sich, die Aufnahmen mehrfach zu hören, also nicht gleich wieder in die Schachtel einzuordnen. Sie verbreitet viel Ruhe und Ausgeglichenheit. Dramatisch kommt Mozarts Requiem daher. Mit Maria Stader (Sopran) und Hertha Töpper (Alt) sind zwei gestandene Sängerinnen mit entsprechender Erfahrung in diesem Genre aufgeboten. Der gradlinige holländische Tenor John van Kestern ist nicht so oft auf Platten anzutreffen. Insofern ist seine Mitwirkung auch eine diskographische Bereicherung. Er hat nach wie vor seine Anhänger. Etwas aus der Rolle fällt Karl Christian Kohn mit seinem robusten Bass, der mit Kaspar oder Geisterbote besser bedient wäre denn mit Mozart. Sein „Tuba Mirum“ lässt tatsächlich aufschrecken, auch aus dem Quartett ragt er zu stark heraus. Richter war bei der Auswahl seiner Solisten oft sehr eigenwillig. Nicht alle Entscheidungen sind nachzuvollziehen. Er geht das Requiem groß an. Es klingt wuchtig. Als sollten die Toten aufgeweckt werden. Nicht umsonst ist Franz Eder an der Posaune extra erwähnt. Händel bringt es mit acht Orgelkonzerten, bei denen Richter selbst das Instrument bedient, und vier Concertos auf drei CDs. Die Tempi sind in Teilen sehr gedehnt, was den Vorteil hat, dass das Zusammenspiel zwischen Orgel und Orchester plastisch wird und auch schon mal an ein Pingpong-Spiel denken lässt. Richter zelebriert diese prachtvoll und festlich klingenden Konzerte. Er überträgt die eigene Freude an der Musik auf seine Hörer. Kompakt und schwungvoll zugleich ist Joseph Haydn mit seiner Paukenschlag-Sinfonie und der Uhr-Sinfonie angelegt. Richter zeigte sich von der schon in seiner Zeit aufkommenden historisch informierten Aufführungspraxis (HIP) unbeeindruckt und unangefochten.

Maria Stader, Hertha Töpper, Ernst Haefliger, Keith Engen, Dietrich Fischer-Dieskau: Die Sänger dieser H-moll-Messe aus der Archiv Produktion Deutsche Grammophon werden in der Edition nicht genannt. 

Was nun die großen Chorwerke von Johann Sebastian Bach, anbelangt, werden – so vorhanden – die frühen Einspielungen angeboten. Dem Booklet ist – wie schon gesagt – die zeitliche Verortung jedoch nicht zu entnehmen. Im Falle der H-moll-Messe von 1964 ist auch gleich noch die Besetzung weggelassen worden. Wo die Namen stehen sollten findet sich der lediglich der Eintrag „Solisten/soloists“. Wer sich einigermaßen auskennt und gut zuhört, weiß, dass an dieser Stelle Maria Stader (Sopran), Hertha Töpper (Alt), Ernst Haefliger (Tenor), Dietrich Fischer-Dieskau (Bariton) und Kieth Engen (Bass) genannt werden müssten. Richter besetzte üppig. Für die inhaltliche und musikalische Botschaft der Messe wollte er eine angemessene Form finden. „Et exspecto resurrectionem mortuorum, et vitam venturi saeculi.“ (Wir erwarten die Auferstehung der Toten und das Leben der kommenden Welt.) Die grandiose Steigerung am Ende des Credo und den fast nahtlosen Übergang ins Sanctus trieb er – unterstützt von Adolf Scherbaum mit seiner Trompete – regelrecht auf die Spitze. Auferstehung wird bei Richter zur Schreckensvision. Haefliger wirkte auch in der Matthäus-Passion von 1958 als Evangelist und Sänger der Tenor-Arien mit. Er ging auf die vierzig zu und war auf dem Höhepunkt seines Könnens. Kein Wunder, dass Richter ihn schätzte und oft einsetzte. Haefliger war hochmusikalisch, dabei unverwechselbar und absolut sicher im Text, den er bis ins Kleinste auslotetet und auskostet. Sein Evangelist ist kein neutraler Berichterstatter, er nimmt Anteil an dem, was zu verkünden ist. Als gehe es ihn selbst an. Die Töpper, deren Vornamen im Booklet mal mit und mal ohne „h“ geschrieben wird, fällt wieder durch sichere Stimmführung und weniger durch Ausdruckstiefe auf, wie sie die Höffgen oder die Ludwig beherrschten. Für Irmgard Seefried, die als Sopran besetzt ist, kam die Aufnahme etwas spät. Das Herrenensemble komplettieren zuverlässig Engen (Jesus), Fischer-Dieskau (Arien) und Proebstl (Judas, Petrus, Pilatus, Hohepriester). Verzichtet wurde auf die Johannes-Passion, die Richter 1964 ebenfalls für die Deutsche Grammophon einspielte. Warum? Sie liegt bei dieser Firma – wie auch die Matthäus-Passion und die H-moll-Messe – auch in einer alternaiven Filmversion vor.

Die Edition wird ohne die Johannes-Passion von 1964 mit Evelyn Lear, Hertha Töpfer, Ernst Haefliger, Hermann Prey und Kieth Engen angeboten. Warum?

Richters erstes Weihnachtsoratorium von 1955 für die Decca muss nicht mit der späteren verglichen werden, die allein durch die Mitwerkung von Fritz Wunderlich Kultstatus hat. Sie ist in ihrer schlichten Würde eigenständig genug und stellt eine achtenswerte Alternative dar. Wieder ist unverwüstliche, inzwischen 92jährihge Hertha Töpper dabei, diesmal ohne „h“. Der Sopran, besetzt mit der Amerikanerin Chloë Owen, hat nicht sehr viel zu tun. Und das auch gut so, denn die Sängerin, deren verfügbare Aufnahmen neben dem Weihnachtsoratorium mit der Micaela in einem Telefunken-Carmen-Querschnitt und den Sieben frühen Liedern von Berg unter Ansermet schnell ausgemacht sind, fügt sich stilistisch nicht ein. Den Evangelistischen und die Tenorarien singt Gert Lutze, der 1960 nach Westdeutschland übersiedelte, alsbald den Sängerberuf aufgab und sich nach dem Medizinstudium als Hautarzt betätigte. 2007 ist er mit neunzig Jahren gestorben. Richter kannte ihn noch aus Leipzig, wo Lutze im Thomanerchor sang, 1946 für den erkrankten Tenor in der Matthäus-Passion einsprang und fortan sehr erfolgreich als Solist wirkte. Er ist schon an Plattenaufnahmen von Günther Ramin beteiligt. Ein Jahr nach seinem Tod hat ihn der legendäre österreichische Rundfunkmoderator Gottfried Cervenka in einer seiner Apropos-Oper-Sendungen wiederentdeckt. Natürlich kannte Cervenka „die eine oder andere Platte mit Lutze, doch die große Sensation kam erst mit der Übernahme der DDR-Rundfunkbestände in das Deutsche Rundfunkarchiv. Nicht weniger als 365 Einträge finden sich dort mit Gert Lutze, dazu noch weitere 121 unter dem Pseudonym Charles Geerd, denn Unterhaltungsmusik wollte der renommierte Bach-Interpret offenbar nicht unter seinem wirklichen Namen aufnehmen. Grob geschätzt hat Lutze in nur 14 Jahren – zwischen 1946 und 1960 – also annähernd genau so viele Aufnahmen eingespielt wie zum Beispiel der etwa gleichaltrige Rudolf Schock in vier Karrierejahrzehnten“, so Cervenka. „Neben vielen Bach-Einspielungen gibt es da eine ganze Reihe von kompletten Opern und Operetten, Oratorien, Lieder, Schlager – die Vielseitigkeit dieses Künstlers scheint geradezu unglaublich.“ Lutze hat eine leicht geführte helle Stimme, klingt jungenhaft. Am ehesten ist er mit Gerhard Unger vergleichbar. Horst Günter und Keith Engen teilen sich bei diesem Weihnachtsoratorium, das auch in anderen Ausgaben auf den Markt gekommen ist, in den Bass bzw. Bariton. Was noch? Die Goldberg-Variationen, Partiten, die Brandenburgischen Konzerte, die Orchester-Suiten, reichlich Kantaten und das Magnificat. Einunddreißig CDs wollen gefüllt sein. Obwohl an den Informationen sträflich gespart wurde, erweist sich die Edition als letztlich doch Fundgrube für gut informierten Musikfreunde und solche, die es werden wollen. Rüdiger Winter

Karl Richter bei der Arbeit: Das große Foto oben ist ein Ausschnitt aus dem Titelbild der neuen Edition von Profil Günter Hänssler.

Kompaktes Wissen auf 800 Seiten

 

„Der Leser dieses Lexikons sollte nicht vergessen, dass es sich um ein Nachschlagewerk und nicht um eine Anweisung zum Singen handelt. Es ist ein Lexikon für alle und es handelt vom Singen und Sprechen, insbesondere von den zahllosen faszinierenden und manchmal scheinbar nicht enden wollenden winzig kleinen Hinweisen darauf, wie wir singen und warum wir singen.“ Einer, der es wissen muss, ist der Bariton Thomas Hampson. Sein Markenzeichen ist die Vielseitigkeit. Mozart, Puccini, Wagner, Britten, Mahler, Lehár, Busoni sind nur einige Komponisten, denen er sich zuwandte. Lieder bilden einen festen Bestand seines Wirkens. Er hat das Geleitwort für das Lexikon der Gesangsstimme geschrieben, das im Laaber Verlag erschienen ist (ISBN 978-3-89007-546-4).

Äußerlich flößt das Buch mit seinen achthundert Seiten und fast zweieinhalb Kilogramm Gewicht durchaus Ehrfurcht ein. Das Papier ist relativ schwer, was einen gewissen Schutz bei häufiger Benutzung bietet. Denn dieses Werk will gebraucht und verwendet werden. Es gehört nicht hinter Glas oder in die oberste Reihe des Regals. Obwohl ich Bücher liebe und immer wieder neue und gebrauchte anschaffe, kann ich mir für später durchaus auch eine parallele Onlineausgabe vorstellen. Sie hätte den Vorteil, dass rasch aktualisiert und ergänzt werden kann. Auf einem Tablett ist sie transporttauglich. Immerhin gibt es im Anhang bereits Hinweise auf das Netz mit Adressen zum Thema allgemein, zu Datenbanken mit Tonaufnahmen, zu Wettbewerben, Festivals und Software. Alles solide. YouTube, wo sich mit den Jahren ein ganzes Gebirge von Dokumenten – nicht immer in bester Qualität und klarer Herkunft – aufgetürmt hat, kommt nicht vor. Wer sich für Gesang aller Gattungen interessiert, der ist mit diesem Buch hervorragend bedient. Eigenes Wissen kann abgefragt und überprüft werden.

Entscheidend aber ist der Zugewinn an neuen Fakten, Erkenntnissen und Sichtweisen. Geboten wird viel – nämlich „Geschichte, wissenschaftliche Grundlagen, Gesangstechniken, Interpreten“. So steht es im Untertitel, nicht als Versprechen, sondern als konkretes Angebot in schwarz auf weiß. Gesang als Teil der Kulturgeschichte. Eines dürften die Herausgeber Ann-Christine Mecke, Martin Pfleiderer, Bernhard Richter, Thomas Seedorf und die zahlreichen Autoren, die im Angang einzeln vorgestellt werden, nicht im Sinn gehabt haben, aus Besuchern von Opernvorstellungen und Liederabenden lupenreine Fachexperten zu machen. Es soll aber durchaus dazu ermuntert werden, persönliche Eindrücke gründlicher zu hinterfragen. Dazu gibt das Buch genügend Anstöße. Es kann nicht schaden, wenn an die Stelle von Enthusiasmus, der gewiss sein Gutes und Befreiendes hat, mehr kritische Wahrnehmung tritt. Das Publikum lässt manchen Sängern vor allem im hochdramatischen Wagner- und Strauss-Fach zu viele Freizügigkeiten durchgehen.

In das Lexikon sind, dem Alphabet folgend, zahlreiche Sängerbiographien eingebaut. Zwischen den Genres wird nicht getrennt. Frank Sinatra und Bessie Smith kommen ebenso vor wie Leo Slezak und Peter Schreier. Der Verzicht auf Anna Netrebko und Jonas Kaufmann dürfte der Absicht geschuldet sein, vornehmlich abgeschlossene und für den fachspezifischen Ansatz des Lexikons typische Karrieren heranzuziehen und sich nicht von populären Aktualitäten und Beliebtheitsskalen treiben zu lassen. Nicht einmal Hampson wurde für sein kluges Geleitwort mit einem eigenen Artikel bedacht. Das spricht für Objektivität bei der Auswahl. Schließlich ist das Lexikon in erster Auflage erschienen, der noch viele weitere folgen mögen.

Das Teatro Regio di Turino auf einem Gemälde von Giovanni Michele Graneri aus dem Jahr 1752. Das Bild findet sich im Lexikon auf Seite 714.

Zwischen „Schwa-Laut“ (Zentralvokal, schwachtoniges e, Murmelvokal, Reduktionsvokal – wie in der zweiten Silbe von „Blume“ … ) und „Schwellton“ (mit dem Verweis auf Messa di voce) findet sich Elisabeth Schwarzkopf. Nach einem so kurzen wie prägnanten biografischen Abrisse, der auch die Debatte um ihre Mitgliedschaft in der NSDAP nicht ausklammert, wird ihr zugestanden, dass sie in den lyrischen Strauss-Partien wenig Konkurrenz fürchten musste, „weil sie in exemplarischer Weise zwischen den Kantilenen und dem Parlando-Charakter der Musik zu wechseln verstand, ohne jemals die Wortgestaltung zu vernachlässigen“. Die „Balance zwischen musikalischer Gestaltung und sprachlicher Artikulation“ habe auch ihren Liedgesang geprägt und „insbesondere dazu beigetragen, dem Liedschaffen Hugo Wolfs einen festen Platz im Repertoire zu sichern“. Und dann folgt eine Passage, die der Sängerin vom unvoreingenommenen Standpunkt eines Lexikons aus, Gerechtigkeit widerfahren lässt. So habe ich das empfunden. „Häufig wurde Schwarzkopf dafür kritisiert, dass sie ihre Fähigkeiten zum Färben der Stimme manieristisch überzogen und im Ausdruck häufig distanziert gewirkt habe.“ Diese Einwände, die sie selbst einmal süffisant mit der Bemerkung wegwischte, einer schreibe sie vom anderen ab, beträfen „jedoch gestalterisch von Schwarzkopf selbst gewählte Wege der Interpretation und keine stimmtechnischen Defizite“.

Parlando oder Liedgesang – Begriffe, die im Artikel Verwendung finden, können im Lexikon direkt oder zumindest thematisch vertieft und weiterverfolgt werden. Solcherart sind die Verknüpfungen dieses Nachschlagewerkes. Fachbegriffe stehen nicht für sich. Sie werden – auch für musikalische Laien sehr verständlich – an praktischen Beispielen und Sängerbiographien, die zudem mit Literaturhinweisen versehen sind, verdeutlicht und abgehandelt. Insofern sprengt die Neuerscheinung sogar den Rahmen des klassischen Lexikons, das von seinen Nutzern in der Regel erst dann herangezogen wird, wenn ein Begriff oder Sachverhalt der Erklärung bedarf. Ich habe sofort einige Stunden damit verbracht, darin zu lesen oder auch nur zu blättern wie in einem ganz gewöhnlichen Sachbuch. Wenn Abbildungen nicht gerade den bei diesem Thema notwendigen Blick in den menschlichen Rachenraum eröffnen, verbreitet das Gesangsstimme-Lexikon durchaus Sinnlichkeit. Es ist ihm eine große Verbreitung zu wünschen. Singen habe ich bei der Lektüre – wie von Thomas Hampson im Geleitwort prophezeit – allerdings nicht gelernt. Rüdiger Winter

 

Das Bild oben zeigt Maria Malibran: Der belgische Maler Henri Decaisne hat die legendäre Sängerin auf seinem Gemälde von 1830 als Desdemona in Rossinis Oper Otello dargestellt. Es findet sich im Farbbildteil des Lexikons auf Seite 718. Im entsprechenden Artikel heißt es. „Malibran hat, wie zur damaligen Zeit üblich, einige Partien in transponierter Gestalt gesungen und Arien und ganze Szenen in die von ihr gesungenen Werke eingelegt. So ersetzte sie beispielsweise bei ihrer Darbietung von Bellinis Capuleti e i Montecchi das Finale der Oper durch die analoge Szene aus Nicola Vaccais Giulietta e Romeo.“ Das machte ihr in moderner Zeit die Kollegin Marilyn Horne nach, wie auf zwei Mitschnitten aus Dallas und New York zu hören ist….

Tiefe Einblicke in Bruckners Seele

 

Gerd Schaller als Bruckner-Interpret: Der Dirigent Gerd Schaller, Leiter des von ihm gegründeten „Ebracher Musiksommers“, hat sich in den letzten Jahren zu einem Bruckner-Spezialisten entwickelt. Im Rahmen „seines“ Festivals entstanden in den Jahren 2007 bis 2011 Live-Aufnahmen der Sinfonien Nr. 1 – 4, 7 und 9 des österreichischen Tonsetzers. Gerd Schaller leitete in den Konzerten die „Philharmonie Festiva“, ein Orchester, dessen Kern die Münchner Bachsolisten sind, die inzwischen ihr Repertoire erheblich erweitert haben und nun gemeinsam mit Musikern und Solisten führender Orchester Münchens auftreten.  Die unvollendet gebliebene 9. Sinfonie wurde in der Aufnahme von 2010 mit einem Finale versehen, das William Carragan aus Material der nachgelassenen Kompositionsskizzen erstellt hat, eine Arbeit, die wegen des Rückgriffs auf Themen der ersten drei Sätze und vor allem wegen der Ausflüge in die Klangwelt Richard Strauss‘ umstritten ist.

Nun hat sich Gerd Schaller selbst in verschiedenste Bibliotheken begeben, die vielfältigen Kompositionsskizzen gesichtet und eine neue Fassung erstellt. Dabei hat Schaller sämtliche Entwurfsmaterialien bis hin zu frühesten Skizzen berücksichtigt. Von seiner Erfahrung als Bruckner-Interpret hat er sich auch insoweit leiten lassen, als er Ergänzungen stets in der typischen Bruckner-Stilistik vorgenommen hat. Nach Schallers Überzeugung ging es dem überaus frommen Bruckner darum, mit seiner „dem lieben Gott“ gewidmeten letzten Sinfonie noch einmal die Essenz des gesamten eigenen musikalischen Schaffens zu zeigen. Dies gab Schaller die Rechtfertigung, Material aus früheren Sinfonien und anderen Werken zu verwenden, zumal sich Bruckner im 3.Satz selbst zitiert („Miserere“ der d-Moll-Messe und Themen aus der 8.Sinfonie). Zur gewaltigen polythematischen Schluss-Apotheose im Finale nutzte Schaller neben Zitaten aus den Sinfonien 4 bis 8 auch Material aus den Chorwerken „Helgoland“ und – in einer fragmentarischen Skizze enthalten – aus dem „Te Deum“. So wird die Wandlung des im 1.Satz vorgestellten Moll-Themas der letzten Dinge in D-Dur erreicht, als wollte Bruckner so die Hoffnung auf siegreiches, ewiges Leben verdeutlichen.

Die Live-Aufnahme aus dem Juli 2016 zeigt erneut, wie das in allen Instrumentengruppen vorzügliche Orchester unter der kompetenten Leitung Gerd Schallers trotz der teilweise gewaltigen Klangballungen stets durchsichtig zu musizieren weiß. Zugleich flacht die Spannung der vielen lang gezogenen und ineinander verschränkten Melodiebögen niemals ab, ein Verdienst des erfahrenen Orchesterleiters. Das Scherzo mit seinen eruptiven Ausbrüchen, die im Trio die nur noch schwach durchscheinende  Ländler-Idylle fast verschwinden lassen, gelingt ebenso überzeugend wie Bruckners letzter vollständiger Sinfonie-Satz, das feierliche „Adagio“. Die in diesem Konzert uraufgeführte Neufassung des Finales wirkt durch die konsequente Beibehaltung des Brucknerschen Stils sehr geschlossen und hinterlässt in der ausgewogenen Interpretation durch Gerd Schaller und die „Philharmonie Festiva“ einen tief bewegenden Eindruck vom Kompositionsvermögen Anton Bruckners (PH16089, 2 CD).

 

Im Juli 2015 wurden ebenfalls im Rahmen des „Ebracher Musiksommers“ die so genannte „Große Messe“ f-Moll sowie die Vertonung des 146. Psalms aufgeführt. Gerd Schaller leitete den Philharmonischen Chor München und das bewährte Festival-Orchester, die „Philharmonie Festiva“.  In der unter Bruckners Leitung am 16.Juni 1872 zum Hochamt in der Wiener Hofkirche St. Augustin uraufgeführten Messe verschmilzt der Komponist Grundzüge des Barock mit denen der Romantik. So zeigt sich Bruckners enge Beziehung zu Bach in einigen Fugen, von denen die am Schluss des Gloria besonders hervorgehoben werden soll, eine kompositorisch komplizierte und chorisch anspruchsvolle, aber höchst ausdrucksstarke Passage. In den einzelnen Teilen der Messe gibt es immer wieder Hinweise auf Jenseitiges, die dieser Messe ihren unverwechselbaren Ausdrucksstil verleihen. So werden die „Christe“-Anrufe im Kyrie von der Solo-Violine umspielt, was ebenso wie das von Solostreichern umhüllte Tenorsolo im Credo „Et incarnatus est“ in der sphärischen Tonart E-Dur musikalisch über alles Irdische hinausweist. Ähnliches gilt für die Violin­-Skalen, die dem „Crucifixus“ ein geheimnisvolles Schweben verleihen, und den instrumental basslosen Beginn des Sanctus. Aber auch Glaubenshoffnung und jubelndes Gotteslob finden sich in der Großen Messe: Die erwähnte Fuge im Gloria mündet ein in strahlendes C-Dur. Im dritten Teil des Credo, der auf den Anfang zurückweist, wird mit den stetig eingeworfenen „Credo“-­Rufen fast die musikalische Form gesprengt, bis die „Amen“-­Zusammenfassung das Glaubensbekenntnis grandios abschließt. Sanctus und Benedictus werden wie üblich jeweils durch ein geradezu aufjubelndes Hosanna beendet. Im Agnus Dei gibt es noch einmal Brucknersche Klangfülle und fast trotziges Aufbegehren; schließlich aber wird sich dem Willen Gottes ergeben und um Frieden gebeten – ein ruhiger, versöhnlicher Schluss.

All dies findet in der Interpretation von Gerd Schaller beredten Ausdruck: Dabei imponiert der stets ausgewogene und zugleich transparente Klang des Philharmonischen Chors München (Einstudierung: Andreas Herrmann). Es wird ausgesprochen kontrastreich musiziert; meisterhaft sind die feinen Piani des Chors, die fast unverbunden neben gewaltigen Ausbrüchen stehen. Ein im Ganzen gutes Solisten-Ensemble trägt zum positiven Eindruck der Live-Aufnahme bei: Mit angenehm aufblühendem Sopran gefällt Ania Vegry, während Clemens Bieber mit glanzvollen Tenortönen und geschmeidiger Stimmführung aufwartet. Der charaktervolle Mezzo von Franziska Gottwald und der dunkle Bass von Timo Riihonen fügen sich sicher ein.

Weitgehend unbekannt ist die vermutlich um 1860 entstandene Vertonung des 146. Psalms, die erst 1971 uraufgeführt wurde. Auch in diesem gut halbstündigen Werk erkennt man den typischen Bruckner-Stil, der allerdings noch nicht so kunstvoll und kompliziert ist wie in seinen späteren Werken. Neben kompakten Chören enthält die Psalm-Kantate schöne solistische Ariosi sowie eine kunstvolle Schluss-Fuge. Alles erfährt eine gelungene Ausdeutung durch die genannten Künstler und Ensembles.

Die Doppel-CD wird durch sechs im September 2015 eingespielte Orgelstücke von Anton Bruckner ergänzt, die Gerd Schaller versiert auf der Eisenbarth-Orgel der Abteikirche Ebrach vorstellt (PH16034, 2 CD).  Gerhard Eckels

 

Anton Bruckner und Günter Wand, zwei Namen, die zusammengehören. Dennoch tut man Wand unrecht, ihn allein auf Bruckner festzulegen. Dieser Sinfoniker prägte aber nun einmal die letzte Phase seines erfolgreichen Wirkens. Bruckner begleitete ihn bis zum Schluss. Auch ich wollte ihn unbedingt mit Bruckner hören und erinnere mich mit Dankbarkeit an entsprechende Konzerte, die sich mir tief eingegraben haben und Maßstäbe setzten. Noch für 2002 war in Berlin ein Konzert mit den Philharmonikern geplant, bei der die 6. Sinfonie erklingen und aufgenommen werden sollte. Der Tod 2001 vereitelte dieses Vorhaben, was besonders zu beklagen ist, weil diese Bruckner-Sinfonie nie aus dem Schatten des übrigen Werkes herausgetreten ist. Wand hat nie einen Bogen darum gemacht. Es gibt mindesten zwei Einspielungen, die mit dem Deutschen Sinfonie-Orchester Berlin ist auch beim Label Profil Edition Günter Hänssler veröffentlicht worden, das dem Dirigenten große Aufmerksamkeit mit einer eigenen Edition gewidmet hat. Jetzt sind gebündelt nochmals sieben Teile erschienen (PH12044/ 1-7), darunter Bruckners Sinfonien Nummer 3, 7, 8 und 9. Es wurden ausschließlich Aufnahmen mit dem NDR Sinfonieorchester ausgewählt, dessen Chefdirigent Wand von 1982 bis 1991 war. 1987 wurde er zudem zum Ehrendirigenten berufen. Bis zum Ende seines Lebens blieb er diesem Klangkörper eng verbunden.

Die Edition legt ein eindrucksvolles Zeugnis für die Fruchtbarkeit und den hohen künstlerischen Standard dieser Zusammenarbeit ab. Neben Bruckner wurden die Posthorn-Serenade und die g-Moll-Sinfonie von Wolfgang Amadeus Mozart, das Oboenkonzert in c-Moll mit Paulus van der Merwe von Joseph Haydn und das Klavierkonzert von Robert Schumann mit Gerhard Oppitz aufgenommen. Eine sehr gute Mischung. Das späteste Dokument, die gigantische Achte von Bruckner,  stammt aus dem Jahre 2000. Aufnahmeort ist durchweg die Hamburger Musikhalle mit ihrer hervorragenden Akustik, die den Zweiten Weltkrieg überlebt hatte. Es wird nicht eindeutig ersichtlich aus den Booklet, ob es sich um Liveaufnahmen oder um Produktionen ohne Publikum handelt. Durch Bearbeitungen können heutzutage Beifall und sämtliche Nebengeräusche herausgefiltert werden. Für einige Werke wie die 3. Sinfonie von Bruckner gibt es nur eine Tagesangabe, im konkreten Fall den 23. Dezember 1985, die meisten anderen Aufnahmetermine erstrecken sich über mehrere Tage was für Studiobedingungen spricht. Einige vertiefende Informationen hätten dieser Edition gut getan.

Wands Bruckner ist monumental und lyrisch zugleich. Er nähert sich ihm nicht separat, sondern aus einer großen Traditionslinie heraus, als seien Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert und Brahms immer mit im Spiel. Selbst im groß angelegten ersten Satz der 8. Sinfonie gibt es Momente, die an Beethovens Pastorale oder die zarte Besonnenheit in der 3. Sinfonie von Brahms erinnern. Musikalische Steigerungen nehmen bei Wand ihren Ausgangpunkt oft aus fein gesponnenen Gedanken. Sein Bruckner ist durch und durch menschlich. Wer sehr genau hinhören kann und die erforderliche Ausdauer mitbringt, dem werden tiefe Einblicke in Bruckners Seele und seine Gefühlswelt offenbart. Da ist nichts Spektakuläres unterwegs. Dieser Dirigent verlangt, dass man sich einlässt. Deshalb werden ihm Tonträger, so wunderbar sie auch in dieser Edition sind, nicht ganz gerecht. Ich wollte ihn immer auch sehen bei der Arbeit. Ich werde nie vergessen, wie sich dieser zarte, durchgeistigte alte Mann mit sparsamen Bewegungen das riesige Orchester unterwarf, wie alle gleichermaßen in seinen Bann gerieten – die Musiker und die Zuhörer im Saal. AErfreulich ist, dass das Label Hänssler bei seinen Editionen die Zusammenarbeit mit dem öffentlich-rechtlichen Hörfunk sucht. Bei Günter Wand ist der Norddeutsche Rundfunk mit im Boot, sein Logo prangt auf allen CD-Hüllen.

Der Sender ist neben ZDF und 3Sat auch Partner bei Arthaus, wo Wands Deutung der 5. Sinfonie von Anton Bruckner herausgekommen ist (107 243). Es handelt sich um den Mitschnitt des Eröffnungskonzerts des 13. Schleswig-Hollstein Musik Festivals 1998 in Lübeck. Es spielt ebenfalls das NDR-Sinfonieorchester. Berührend an diesem Film ist, dass die nach außen hin sehr sparsame Arbeitsweise des betagten Dirigenten genau eingefangen ist. Das Auge hört sozusagen mit. Die Blumen am Schluss des umjubelten Konzerts überreicht die damalige Ministerpräsidentin Heide Simonis höchst selbst.

CD Thielemann dresden HänsslerNoch einmal zurück zu Hänssler. In der Editionen Staatskapelle Dresden, die inzwischen auf mehr als dreißig Teile angewachsen ist, wirkt der Mitteldeutsche Rundfunk MDR als Partner mit. Dies führt zu einer interessanten Erweiterung des Repertoires. Den Gebühren zahlenden Hörern wird auf diese Weise etwas zurück gegeben. Vol. 34 der Dresdner Reihe ist ein für den Chefdirigenten des Orchesters, Christian Thielemann, sehr typisches Programm mit Ferrucio Busonis Nocturne Symphonique, Hans Pfitzners Klavierkonzert in Es-Dur mit Tzimon Barto, und der Romantischen Suite von Max Reger (PH 12016). Die Werke sind zwar aus zwei unterschiedlichen Konzerten von 2011 zusammengestellt, sie hätten aber auch an einem Abend gespielt werden können. Diesmal lässt das Booklet keine Wünsche offen. Alle Werke werden analysiert und durch literarische Vorlagen wie bei der Reger-Suite nach Eichendorff ergänzt. Komponisten, Dirgent und Solist werden in Wort und Bild vorgestellt. So soll es sein. Rüdiger Winter

Vasily Petrenko lässt Wände wackeln

 

Vasily Petrenko arbeitet sich bei Naxos an Dmitri Schostakowitsch ab. Nach sämtlichen Sinfonien nun die beiden Klavierkonzerte (8.573666). Das Label hatte eine glückliche Hand, als es diesen Dirigenten für die Produktionen gewann. Am Klavier sitzt Boris Giltburg. Er wurde 1984 in Moskau geboren, ist also acht Jahre jünger als Petrenko. Seine Familie wanderte Anfang der 1990er Jahre nach Israel aus, dessen Staatsbürger der mehrfach ausgezeichnete Pianist nun ist. Wiederholt ist er auch in Deutschland aufgetreten. Es tut Schostakowitsch gut, dass sich noch relativ junge Musiker seiner Werke annehmen. Sie sind nicht in die historischen Wirren verstrickt, in denen sie entstanden und deren Ausdruck sie sind. Sie haben einen freieren Zugang. Obwohl zwischen der Entstehung der Konzerte ein Vierteljahrhundert liegt, wirken sie wie siamesische Zwillinge. Die Einfälle sind überbordend, mitunter grell. Im 1. Klavierkonzert von 1933 tritt als Soloinstrument noch eine Trompete (Rhys Owens) hinzu. Das 2. Konzert, etwas weniger schrill und frech, schuf Schostakowitsch 1957 für seinen Sohn Maxim, der es auch uraufführte. Wer an Schostakowitsch die langsamen Sätze schätzt, wird sie auch bei diesen Werken – ein Lento und ein Andante – als Höhepunkte empfinden. Sie sind sehr in sich gekehrt und jeweils an zweiter Stelle positioniert. Petrenko und Giltburg haben hörbare Freude an den Stücken, die sich auch auf die Zuhörer überträgt.

 

Die jüngste aktuelle Gesamteinspielung besorgte Vasily Petrenko für Naxos. Ihr entnahmen wir als Ausschnitt das Foto des jungen Komponisten oben.

Es ist nicht davon auszugehen, dass die Mitglieder des Königlichen Chores in Liverpool mehrheitlich der russischen Sprache mächtig sind. Sie müssen sich die einschlägigen Passagen phonetisch beigebracht haben. Sonst wären ihnen womöglich einige Worte im Halse stecken geblieben. Was nämlich Dmitri Schostakowitsch durch den Textdichter seiner 2. und 3. Sinfonie den Damen und Herren zumutet, dürfte ihnen auch nach fast hundert Jahren noch bitter aufstoßen. Die Ermordung von Zar Nikolaus II. und seiner Familie durch die Bolschewiki im Jahre 1918 ist im Königreich nicht vergessen, wenngleich sich Georg V. geweigert hatte, dem bedrängten Zaren Asyl zu gewähren, was wiederum darauf zurückzuführen war, dass die Zarin eine auf der Insel verhasste hessische Prinzessin gewesen ist. Wie dem auch sei. Der Zar war ein Cousin des britischen Königs Georg V. Beide sahen sich sehr ähnlich und waren lange Zeit freundschaftlich eng verbunden.

Und nun das: „Oktober, Kommune, Lenin“, tönt der Schlachtruf im Chorsatz der 2. Sinfonie. Lenin selbst hatte die Ermordung des Zaren gebilligt, wenn nicht gar persönlich angeordnet. Das geht schwer runter. Und in der dritten Sinfonie, die dem 1. Mai, dem Kampftag der Arbeiter, huldigt, wird ausdrücklich daran erinnert, dass „unter dem Pfeifen zorniger Kugeln, Bajonett und Gewehr in den Fäusten“ der Zarenpalast genommen worden sei. Das Alte müsse niedergebrannt werden. Die Verse des stalinistischen Parteigängers Alexander Besymenski sind schwer erträglich und nur aus ihrer Zeit heraus zu erklären. Großbritannien und die Sowjetunion Stalins waren im Zweiten Weltkrieg Verbündete gegen Hitler. Nicht aus Liebe, sondern aus politischer Vernunft und historischem Zwang. Auf den heißen Krieg folgte der kalte. Der Sozialismus erwies sich als Irrweg. Er scheiterte an sich selbst, ist Geschichte. Das Königreich lebt fort.

Schostakowitsch Petrenko 3. SinfonieDer Komponist hatte sich nach seinem sinfonischen Erstling, einem kühnen Geniestreich, auf den sich Bruno Walter, Arturo Toscanini und Leopold Stokowski stürzten, als Auftragskomponist auf die Seite der bolschewistischen Regimes geschlagen. Im Westen wurde ihm das schwer verübelt. Es dauerte Jahre, bis hinter den pompösen Kulissen seiner Musik der Spott und der Sarkasmus an den Verhältnissen der Stalinzeit erkannt wurden. Trotz alledem bewahrten sich die Britten für Schostakowitsch eine merkwürdige Schwäche. 1958 wurde er Ehrendoktor der University of Oxford, schließlich Träger der Goldmedaille der Royal Philharmonic Society. Adrian Boult und John Barbirolli haben Sinfonien von ihm aufgeführt – allerdings aus dem textfreien Bestand.

Es braucht einen jungen Dirigenten, der sich über Befindlichkeiten hinwegsetzt, wenn er sich im Königreich an einen geschlossenen Zyklus macht. Vasily Petrenko ist so einer. Er hat für Naxos die kompletten Sinfonien mit dem Royal Liverpool Philharmonic Orchestra, dessen Chef er ist, eingespielt (8.501111). Zunächst kamen die Aufnahmen einzeln heraus. Eingepackt in Schuber mit bunten Bildern des Dirigenten, wie ihn garantiert auch jede Modelagentur unter Vertrag nehmen dürfte. Jünger aussehend, als er in Wirklichkeit ist, selbstbewusst, von sich und seinem Talent überzeugt. Posen, die auch einiges über seinen musikalischen Stil ausdrücken. Sie machen sich gut. Ob derlei Fotos auch verkaufsfördernd sind, sei dahin gestellt. Nun sind die CDs in einer Box gebündelt worden, versehen mit Porträts des charismatischen Komponisten aus allen Lebensphasen, wie sie auch schon in der ersten Ausgabe unter der farbigen Verpackung zum Vorschein kamen.

Mitte des vergangen Jahres hatte ich Petrenko mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin in der Philharmonie gehört. Auf dem Programm stand die 11. Sinfonie. Es waren auffallend viele junge Leute im Publikum, was sehr ermutigend ist. Offenkundig hören sie Schostakowitsch gern. Auf dem Nachhauseweg klärte mich ein Bekannter auf. Schostakowitsch habe eben viel mit Techno zu tun, weil er so irre laut sei. Petrenko, nicht verwandt mit Kirill Petrenko, dem designierten Nachfolger von Simon Rattle am Pult der Berliner Philharmoniker, hat sich bereits weltweit einen Namen als Konzertdirigent gemacht, was auch zahlreiche preisgekrönte Einspielungen belegen. Seit 2013 leitet er die Osloer Philharmonie, parallel dazu seit 2006 das Liverpooler Orchester. Und als wäre das nicht genug, wirkt er noch als Erster Gastdirigent des Michailowski-Theaters in seiner Heimatstadt St. Petersburg, die bei seiner Geburt 1976 noch Leningrad hieß. Und die Geschichte dieser leidgeprüften Stadt, die auch die Heimat des Komponisten ist, bildet den thematischen Hintergrund einiger seiner Sinfonien. Im Booklet werden Analysen und Deutungen geliefert, versehen mit vielen historischen Details. Sie sind hochinteressant und wichtig. Wenn aber die Musik anhebt, ob von der CD oder bei einer Aufführung, wenn also der ganze große Saal tönt, die Wände wackeln und die musikalische Form regelrecht explodiert, regiert nur noch das Gefühl, weniger der Gedanke an neueste Forschungsergebnisse.

1-CD Schostakowitsch Naxos mit KatzeEine CD-Aufnahme kann dem Live-Eindruck nicht ersetzen. Auch die neueste Einspielung nicht, bei der die denkbar beste Technik zum Einsatz gelangt. Wie jetzt bei Naxos. Sie kommt an Grenzen und macht mit aller Deutlichkeit klar, dass Schostakowitsch seine Sinfonien nicht für Aufnahmestudios und Mikrophone komponiert hat. Seine Musik braucht den Raum, das Auditorium. In Wohnzimmern klingt sie wie eingesperrt. Noch die besten Lautsprechersysteme macht sie klein. Da nützt es auch nichts, den Regler bis zum Anschlag aufzudrehen. Es bleibt Schostakowitsch light. Einspielungen der Sinfonien werfen solche Fragen vor allem deshalb auf, weil die Besetzungen oft extrem sind. Sie sind nicht als Kritik zu verstehen, am wenigsten an der verdienstvollen Neuerscheinung. In der dritten Sinfonie kommt im Original sogar eine Sirene zum Einsatz, auf die Petrenko allerdings verzichtet. Er lässt deren eiskalten scharfen Klang, der auch in Großbritannien böse Erinnerungen weckt, durch das Blech simulieren. Eine Praxis, die sich durchzusetzen scheint. Petrenko versucht die Quadratur des Kreises, indem er die ausladenden musikalischen Dimensionen auf die Maße der Tonträger zurechtstutzt. Anders geht es nicht. Sonst wären derlei Aufnahmen, die einem die Werke näher bringen, durch die man sie genau kennenlernen kann, ja sinnlos.

Es gibt aber auch immer wieder diese ganz intimen Momente – vor allem in Spätwerken. Anstelle hämmernder Verse aus revolutionärer Zeit sind es jetzt Gedichte von Jewtuschenko in der 13. Sinfonie und von Garcia Lorca, Apollinaire, Küchelbecker und Rilke in der 14. Die ist kammermusikalisch besetzt. Schostakowitsch reduziert die Mittel. Gewidmet ist sie Benjamin Britten, der 1970 auch die erste Aufführung im Ausland – und zwar beim Aldeburgh Festival – leitete. Und schon wieder ist da ein Bezug zu England. Als Solist tritt in beiden Werken der Bassist Alexander Vinogradow, gleicher Jahrgang wie der Dirigent, in Erscheinung. In der 14. Sinfonie kommt noch die Sopranistin Gal James hinzu. Vinogradow, ein international sehr beschäftigter Opernsänger, bringt genau diese Erfahrungen in die sinfonischen Gesänge ein und beschwört auf diese Weise Erinnerungen an Mussorgskis Lieder und Tänze des Todes. Seine Auftritte gehören für mich zu den bewegendsten Momenten des ganzen Zyklus. Rüdiger Winter

 

Die „kecke“ Sechste

 

Seine „Keckste“ nannte Anton Bruckner die Sinfonie Nr. 6 in A-Dur, welche er in für ihn erstaunlich kurzer Zeit, zwischen 24. September 1879 und 3. September 1881, komponierte. Tatsächlich sticht dieses Werk unter seinen späteren Sinfonien heraus. Wer die Monumentalität der fünften, achten und neunten Sinfonie sucht, wird hier enttäuscht werden. Am ehesten kommt ihr noch die Siebente nahe, doch deren Popularität erreichte die Sechste nicht einmal ansatzweise. Es handelt sich nachgerade um die am meisten vernachlässigte seiner Sinfonien, sieht man einmal von den Frühwerken bis einschließlich der Zweiten ab. Große Bruckner-Dirigenten wie Hans Knappertsbusch (der ansonsten alle zwischen der Dritten und Neunten in seinem Repertoire hatte) machten einen Bogen um dieses „unbrucknerische“ Opus, das in seiner ganzen Art nicht ins Klischeebild dieses Komponisten passen will. Vergeistigt, geradezu theologisch überhöht ist hier wenig. Nächst der „Kathedral-Sinfonie“ Nr. 5, die mit einer Apotheose auf die Dreifaltigkeit beschlossen wird, wirkt die Sechste wie ein Zwerg. Und doch: Sie als Rückschritt abzutun wäre ungerecht.

Christian Thielemann, der nicht wenigen als der führende lebende Bruckner-Exeget gilt, widmet sich dieser sechsten Sinfonie nun im Zuge seiner schon zu einem Großteil fertiggestellten Gesamtaufnahme, die auf DVD bzw. Blu-ray herauskommt  (Unitel C Major 738208 / DVD, 738304 / Blu-ray). Bestritten wird dieses ambitionierte Unterfangen mit der Staatskapelle Dresden, der Thielemann seit 2012 als Chefdirigent vorsteht. In gewisser Weise ist es bezeichnend, dass auch er sich erst jetzt, nachdem er die vierte, fünfte, siebte, achte und neunte Sinfonie bereits vorgelegt hat, mit der sechsten beschäftigt. Es handelt sich hierbei um einen Live-Mitschnitt aus der Semperoper Dresden vom 13. und 14. September 2015. Den mit Majestoso umschriebenen Kopfsatz, welchen man bereits als einen Höhepunkt des Werkes ansehen könnte, eröffnet Thielemann eher breit, dabei besonders den in Bruckners Klangmassen zuweilen etwas untergehenden Holzbläsern Gehör verschaffend. Der markante und das Werk prägende Hauptrhythmus zu Beginn wird von den Violinen formvollendet dargeboten. Besonders die ausgefallene Coda – einer der gelungensten Abschlüsse eines Bruckner’schen Kopfsatzes – vermögen die Dresdner beispielhaft wiederzugeben (man achte hier gerade auf das Zusammenspiel von Horn und Oboe). Mit sechzehn Minuten Spielzeit liegt Thielemann hier im Rahmen und hat praktisch dieselbe Spielzeit wie Bernard Haitink mit dem selben Orchester (Profil/Hänssler, 2003).

Das Adagio ist, wie so häufig bei Bruckner, ein besonderer Ohrenschmaus. Thielemann scheint die Satzbezeichnung Sehr feierlich ernst zu nehmen. Beinahe achtzehn Minuten, über drei Minuten mehr als weiland Otto Klemperer (EMI, 1964), lässt er sich hier Zeit und kann mit seinem überlegenen Orchester einen betörenden Klangteppich der Streicher entfalten. Der Charakter eines Trauermarsches, den der Satz stellenweise aufweist, ist spürbar. Den idealen Kontrast dazu bietet das belebte Scherzo, in welchem es dem Dirigenten gelingt, den markanten Rhythmus, der ein wenig an den Anfang des Werkes erinnert, herauszuarbeiten. Im mit Langsam bezeichneten Trio wechseln sich Pizzicato-Stellen der Streicher mit Hornsignalen ab. Die Unterscheidbarkeit dieses langsamen Trios mit der dem sonstigen Satz zugeordneten Anweisung Bruckners Nicht schnell ist problemlos erkennbar. Die Satzzeit ist mit 8:27 wieder verblüffend nahe an jener Haitinks (Klemperer etwa eine Minute gemächlicher).

Bewegt, doch nicht zu schnell soll das Finale angegangen werden. Der Wechsel von anfänglichem Moll zu feierlichem Dur wird von der Staatskapelle beispielhaft umgesetzt. Eine positive Aura macht sich im weiteren Verlauf des Satzes breit. Mit vierzehneinhab Minuten liegt Thielemann genau zwischen Haitink und Klemperer. Mit einer Reminiszenz an den Kopfsatz klingt das Werk glanzvoll aus. Diese Einspielung liefert ein überzeugendes Plädoyer für die wenig beachtete Sechste und darf zumindest unter den Aufnahmen des einundzwanzigsten Jahrhunderts einen Spitzenrang für sich verbuchen. Unterstützt wird der positive Eindruck durch die plastische Tontechnik und die angenehme Bildregie. Daniel Hauser

 

 

Christian Thielmann tastet sich also langsam an eine Gesamtaufnahme heran. Man darf gespannt sein, ob er sich auch dem Frühwerk wird widmen, das bei diesem Komponisten ja schon aus der Mitte des Lebens kommt. Einige seiner berühmte Kollegen hatten in der Vergangenheit einen Bogen darum geschlagen, was aus heutiger Sicht nicht mehr nachzuvollziehen ist. Neben der Sechsten sind inzwischen die Sinfonien 4, 5, 8 und 9 auf dem Markt. Cmajor / Unitel Classica veröffentlichte sie unter einem gemeinsamen Dach: Anton Bruckner The Symphonies.

Die optimale Wiedergabe dürfte manchen Käufer dieser Produkte vor ein Problem stellen. Wie hören, wie sehen? Herkömmliche Fernsehlautsprecher genügen nicht, um das einzufangen, was geboten wird für das Geld. Eine mit dem Bildschirm verbundene Anlage muss es schon sein. Für die Blu-ray-Versionen kommt noch ein spezieller Player hinzu. So zieht das eine das andere nach sich. Nicht zuletzt auch zur Freude der Industrie, die die technischen Voraussetzungen mit immer neuen Raffinessen versieht. Einmal mehr stellt sich die Frage, ob Sinfonien in bewegten Bildern überhaupt Sinn machen, den Hörgenuss verstärken und die inhaltliche Wirkung, die von Musik ausgeht, zu steigern vermögen. Diese kolossalen Werke Bruckners sind keine TV-Events wie das Wiener Neujahrskonzert. Die der alten Pracht nachempfundene Semperoper hat auch dem Auge etwas zu bieten. Die Kameras wandern schon mal zu diesem oder jenem Detail. Jeweils zu Beginn kommt der große Kronleuchter auf die Zuschauer zu. Erkennt man jemanden im Publikum? Bekannte Gesichter sind in der Mittelloge auszumachen. Dort sitzt nämlich bei der 8. Sinfonie der deutsche Bundespräsident mit seiner Lebensgefährtin.

In Baden-Baden, wo die 4. und die 9. Sinfonie aufgenommen wurden, läuft optisch alles auf die Musiker zu. Der Raum ist nicht im Bild. Dabei ist der trotz seiner gigantischen Ausmaße sehr eindrucksvoll. Hinter dem Dirigenten erhebt sich eine dunkle Wand. Erst als sich der Schluss der 9. Sinfonie wie im Nichts verliert – einer der ganz großen Momente bei Thielemann – rücken heftig klatschende Menschen ins Bild. Und man wundert sich, wo die so plötzlich herkommen. Nach so viel Bruckner am Stück reicht es erst einmal. Selbst der hartgesottene Enthusiast braucht danach eine ganz große Pause. Schließlich sind die Sinfonien nicht komponiert worden, damit sie dereinst als Mitschnitte auf einem Bildschirm ablaufen wie eine Fernsehserie. Am Ende weiß man, welcher Musiker auf welcher Seite einen Ohrring trägt, wer besonders schöne Manschettenknöpfe sein Eigen nennt. Aber es geht einem auch auf, wer den letzten Frisörtermin verpasst hat. Es entsteht eine bizarre Nähe zu Menschen, die man gar nicht kennt. Der Maestro jedenfalls fällt stets durch seinen perfekt sitzenden Frack auf. Damit wirkt er inzwischen wie ein Exot. Ich finde gut, dass Thielemann an der traditionellen Kleiderordnung festhält. Sie drückt nach meiner Auffassung auch Respekt vor dem Werk aus.

Die Musik klingt klar, nicht vergrübelt. Gar nicht mal so ausladend. Über weite Strecken diskret und zurückgenommen. Gelegentliche Undeutlichkeiten im sich aufbäumenden Blech dürften den Umständen der Aufnahme in Dresden geschuldet sein, fallen also nicht auf das Orchester zurück. Es klingt wie aus dem Studio, in Baden-Baden noch mehr als in der Semperoper. Hustet denn gar niemand mehr? Die endlos wirkenden Generalpausen, zu denen sich Thielmann immer wieder bekennt, die er auskostet und bis auf die Spitze treibt, können sich in absoluter Stille erst richtig aufbauen. Sie sind eine seiner Stärken. Es wird deutlich, wie anstrengend es ist und wie viel Kraft es kostet, diese Pausen zu halten. Für den Mann am Pult wie für die Musiker. Die 8. Sinfonie spielt Thielemann in der Fassung von Robert Haas aus dem Jahr 1939. Haas hatte als erster eine Bruckner-Gesamtaufgabe herausgegeben. Diese Fassung hatten – wie im Booklet ausdrücklich erwähnt – vor Thielemann „schon andere bedeutende Bruckner-Interpreten wie Wilhelm Furtwängler, Herbert von Karajan, Günter Wand und Bernard Haitink den Vorzug“ gegeben. Sie sei – auch für Thielmann – „schlüssiger und formal stringenter“.

Thielemann arbeitet Strukturen deutlich heraus. Er deckt sie nicht zu, er musiziert mehr, als dass er interpretiert. Details treten mitunter sehr deutlich hervor. Besonders dann, wenn die Sinfonien wie Kammermusik klingen. Das sind für mich die schönsten und ergreifendsten Momente. Unter seinen Händen ist Bruckner weniger der gigantische und einsame Monolith, sondern wird Teil seiner Zeit, der historisch ereignisreichen und musikalisch üppigen zweiten Hälfe des neunzehnten Jahrhunderts. Die Aufnahmen klingen erstaunlich uneitel. Damit beschwört Thielemann das Bild des traditionellen deutschen Kapellmeisters, als der er sich wohl auch in erster Linie versteht. Den Stardirigenten haben offenkundig die Medien aus ihm gemacht. Ich bin fest davon überzeugt, dass er der nicht sein will. Rüdiger Winter