Kompaktes Wissen auf 800 Seiten

 

„Der Leser dieses Lexikons sollte nicht vergessen, dass es sich um ein Nachschlagewerk und nicht um eine Anweisung zum Singen handelt. Es ist ein Lexikon für alle und es handelt vom Singen und Sprechen, insbesondere von den zahllosen faszinierenden und manchmal scheinbar nicht enden wollenden winzig kleinen Hinweisen darauf, wie wir singen und warum wir singen.“ Einer, der es wissen muss, ist der Bariton Thomas Hampson. Sein Markenzeichen ist die Vielseitigkeit. Mozart, Puccini, Wagner, Britten, Mahler, Lehár, Busoni sind nur einige Komponisten, denen er sich zuwandte. Lieder bilden einen festen Bestand seines Wirkens. Er hat das Geleitwort für das Lexikon der Gesangsstimme geschrieben, das im Laaber Verlag erschienen ist (ISBN 978-3-89007-546-4).

Äußerlich flößt das Buch mit seinen achthundert Seiten und fast zweieinhalb Kilogramm Gewicht durchaus Ehrfurcht ein. Das Papier ist relativ schwer, was einen gewissen Schutz bei häufiger Benutzung bietet. Denn dieses Werk will gebraucht und verwendet werden. Es gehört nicht hinter Glas oder in die oberste Reihe des Regals. Obwohl ich Bücher liebe und immer wieder neue und gebrauchte anschaffe, kann ich mir für später durchaus auch eine parallele Onlineausgabe vorstellen. Sie hätte den Vorteil, dass rasch aktualisiert und ergänzt werden kann. Auf einem Tablett ist sie transporttauglich. Immerhin gibt es im Anhang bereits Hinweise auf das Netz mit Adressen zum Thema allgemein, zu Datenbanken mit Tonaufnahmen, zu Wettbewerben, Festivals und Software. Alles solide. YouTube, wo sich mit den Jahren ein ganzes Gebirge von Dokumenten – nicht immer in bester Qualität und klarer Herkunft – aufgetürmt hat, kommt nicht vor. Wer sich für Gesang aller Gattungen interessiert, der ist mit diesem Buch hervorragend bedient. Eigenes Wissen kann abgefragt und überprüft werden.

Entscheidend aber ist der Zugewinn an neuen Fakten, Erkenntnissen und Sichtweisen. Geboten wird viel – nämlich „Geschichte, wissenschaftliche Grundlagen, Gesangstechniken, Interpreten“. So steht es im Untertitel, nicht als Versprechen, sondern als konkretes Angebot in schwarz auf weiß. Gesang als Teil der Kulturgeschichte. Eines dürften die Herausgeber Ann-Christine Mecke, Martin Pfleiderer, Bernhard Richter, Thomas Seedorf und die zahlreichen Autoren, die im Angang einzeln vorgestellt werden, nicht im Sinn gehabt haben, aus Besuchern von Opernvorstellungen und Liederabenden lupenreine Fachexperten zu machen. Es soll aber durchaus dazu ermuntert werden, persönliche Eindrücke gründlicher zu hinterfragen. Dazu gibt das Buch genügend Anstöße. Es kann nicht schaden, wenn an die Stelle von Enthusiasmus, der gewiss sein Gutes und Befreiendes hat, mehr kritische Wahrnehmung tritt. Das Publikum lässt manchen Sängern vor allem im hochdramatischen Wagner- und Strauss-Fach zu viele Freizügigkeiten durchgehen.

In das Lexikon sind, dem Alphabet folgend, zahlreiche Sängerbiographien eingebaut. Zwischen den Genres wird nicht getrennt. Frank Sinatra und Bessie Smith kommen ebenso vor wie Leo Slezak und Peter Schreier. Der Verzicht auf Anna Netrebko und Jonas Kaufmann dürfte der Absicht geschuldet sein, vornehmlich abgeschlossene und für den fachspezifischen Ansatz des Lexikons typische Karrieren heranzuziehen und sich nicht von populären Aktualitäten und Beliebtheitsskalen treiben zu lassen. Nicht einmal Hampson wurde für sein kluges Geleitwort mit einem eigenen Artikel bedacht. Das spricht für Objektivität bei der Auswahl. Schließlich ist das Lexikon in erster Auflage erschienen, der noch viele weitere folgen mögen.

Das Teatro Regio di Turino auf einem Gemälde von Giovanni Michele Graneri aus dem Jahr 1752. Das Bild findet sich im Lexikon auf Seite 714.

Zwischen „Schwa-Laut“ (Zentralvokal, schwachtoniges e, Murmelvokal, Reduktionsvokal – wie in der zweiten Silbe von „Blume“ … ) und „Schwellton“ (mit dem Verweis auf Messa di voce) findet sich Elisabeth Schwarzkopf. Nach einem so kurzen wie prägnanten biografischen Abrisse, der auch die Debatte um ihre Mitgliedschaft in der NSDAP nicht ausklammert, wird ihr zugestanden, dass sie in den lyrischen Strauss-Partien wenig Konkurrenz fürchten musste, „weil sie in exemplarischer Weise zwischen den Kantilenen und dem Parlando-Charakter der Musik zu wechseln verstand, ohne jemals die Wortgestaltung zu vernachlässigen“. Die „Balance zwischen musikalischer Gestaltung und sprachlicher Artikulation“ habe auch ihren Liedgesang geprägt und „insbesondere dazu beigetragen, dem Liedschaffen Hugo Wolfs einen festen Platz im Repertoire zu sichern“. Und dann folgt eine Passage, die der Sängerin vom unvoreingenommenen Standpunkt eines Lexikons aus, Gerechtigkeit widerfahren lässt. So habe ich das empfunden. „Häufig wurde Schwarzkopf dafür kritisiert, dass sie ihre Fähigkeiten zum Färben der Stimme manieristisch überzogen und im Ausdruck häufig distanziert gewirkt habe.“ Diese Einwände, die sie selbst einmal süffisant mit der Bemerkung wegwischte, einer schreibe sie vom anderen ab, beträfen „jedoch gestalterisch von Schwarzkopf selbst gewählte Wege der Interpretation und keine stimmtechnischen Defizite“.

Parlando oder Liedgesang – Begriffe, die im Artikel Verwendung finden, können im Lexikon direkt oder zumindest thematisch vertieft und weiterverfolgt werden. Solcherart sind die Verknüpfungen dieses Nachschlagewerkes. Fachbegriffe stehen nicht für sich. Sie werden – auch für musikalische Laien sehr verständlich – an praktischen Beispielen und Sängerbiographien, die zudem mit Literaturhinweisen versehen sind, verdeutlicht und abgehandelt. Insofern sprengt die Neuerscheinung sogar den Rahmen des klassischen Lexikons, das von seinen Nutzern in der Regel erst dann herangezogen wird, wenn ein Begriff oder Sachverhalt der Erklärung bedarf. Ich habe sofort einige Stunden damit verbracht, darin zu lesen oder auch nur zu blättern wie in einem ganz gewöhnlichen Sachbuch. Wenn Abbildungen nicht gerade den bei diesem Thema notwendigen Blick in den menschlichen Rachenraum eröffnen, verbreitet das Gesangsstimme-Lexikon durchaus Sinnlichkeit. Es ist ihm eine große Verbreitung zu wünschen. Singen habe ich bei der Lektüre – wie von Thomas Hampson im Geleitwort prophezeit – allerdings nicht gelernt. Rüdiger Winter

 

Das Bild oben zeigt Maria Malibran: Der belgische Maler Henri Decaisne hat die legendäre Sängerin auf seinem Gemälde von 1830 als Desdemona in Rossinis Oper Otello dargestellt. Es findet sich im Farbbildteil des Lexikons auf Seite 718. Im entsprechenden Artikel heißt es. „Malibran hat, wie zur damaligen Zeit üblich, einige Partien in transponierter Gestalt gesungen und Arien und ganze Szenen in die von ihr gesungenen Werke eingelegt. So ersetzte sie beispielsweise bei ihrer Darbietung von Bellinis Capuleti e i Montecchi das Finale der Oper durch die analoge Szene aus Nicola Vaccais Giulietta e Romeo.“ Das machte ihr in moderner Zeit die Kollegin Marilyn Horne nach, wie auf zwei Mitschnitten aus Dallas und New York zu hören ist….