Alles ist Ausdruck

 

Kathleen Ferrier – remembered. Eine neue, bei SOMM Recordings in England erschienene CD, verspricht schon auf dem Titel „previously unpublished BBC broadcasts“ (SOMMCD 264). Wer sich mit dieser Sängerin beschäftigt, horcht bei so einer Information natürlich sofort auf und macht sich auf die Suche in den eigenen Beständen. Kann das wirklich sein? Immer noch unbekannte Aufnahmen, die bisher nicht den Weg auf Tonträger gefunden haben? Es ist immer riskant, Titel als Neuigkeit auszugeben, die sich am Ende doch in einer der vielen Boxen versteckt finden. Der Ferrier haben sich nicht nur große namhafte Firmen bemächtigt, wo sie unter Vertrag stand. Auch kleine Labels und der so genannte graue Markt hatten und haben sie im Programm. In den zehn Jahren bis zu ihrem frühen Tod am 8. Oktober 1953 hat sie mehr aufgenommen als manche Kollegen im Laufe langer Karrieren. Schallplatten und Rundfunkaufnahmen namentlich der BBC haben den legendären Ruf der Ferrier begründet und in die Zukunft getragen. Zeitzeugen, die sie noch selbst auf der Bühne und im Konzert erlebten, werden weniger.

Es ist viel und gern philosophiert über diese Sängerin, deren Timbre den Gedanken aufkommen lässt, als habe sie geahnt, dass ihr nicht viel Zeit bleiben würde. Der Grundton ist tragisch. Als liege über der empfindlichen Stimme ein Schatten. Es ist eine Naturstimme, die keinen technischen Gesetzen folgt, wie sie Sänger während einer gründlichen Ausbildung lernen. Alles ist Ausdruck. Die Ferrier war eine Quereinsteigerin, die zuerst in Chören sang und gut Klavier spielte. Die Drei Psalmen des englischen Komponisten Edmund Rubbra (1901-1986) einzeln gezählt, kommt die CD auf insgesamt sind neunzehn bisher unveröffentlichte Lieder. Sieben stammen von Franz Schubert (Der Musensohn, Wandrers Nachtlied II, Lachen und Weinen, Suleika I und II, Der Vollmond strahlt und Die junge Nonne), fünf von Johannes Brahms (Sonntag, Nachtigall, Wir wandelten und gleich zweifachfach die Botschaft). Hugo Wolf ist mit Auf einer Wanderung vertreten und Gustav Mahler mit der Klavierversion seines Urlicht, das orchestriert Eingang in dessen zweite Sinfonie fand, die Kathleen Ferrier unter Otto Klemperer für Decca eingespielt hat. Mit Song of Song von Joseph Jacobson – ebenfalls noch nie veröffentlicht – wird abermals das Interesse der Sängerin an zeitgenössischer Musik deutlich. Der Titel stammt aus dem Salomon-Lied. Jacobsen war ein strenggläubiger Jude, der 1897 in Hamburg geboren wurde. Weil er eine zunächst geplante Dirigentenlaufbahn nicht mit den Sabbatgeboten vereinbaren konnte, wirkte er bis 1939 an der Talmud Tora Schule seiner Heimatstadt. Im selben Jahr emigrierte er mit seiner Familie nach London, wo er vornehmlich jüdische Flüchtlingskinder aus Deutschland betreute und unterrichtete.

Nicht alle Titel – hinzu kommen weitere Lieder von Schubert und Brahms – klingen gleich gut. Das meiste auf dieser neuen CD von Somm stammt aus den Archiven der BBC, die Anfang der Fünfziger Jahre diese aussendete. Aber vor allem muss dem Toningenieur und Komponisten Kenneth Leech Ehre gezollt werden, der zwischen 1930 und 1950 unendlich viele Radioaufnahmen am Metallmatritzen und Tonbändern konservierte – seine umfangreiche Sammlung ruht nun im national Sound Archive der british Library. Nach fast siebzig Jahren kann von manchen Dokumenten wohl nicht mehr erwartet werden als hier zu hören ist. Unversehrt aber ist die starke Ausstrahlung der Interpretin, die sich auch durch manches Rauschen Gehör zu verschaffen weiß. Rüdiger Winter