Eine Oper, zwei Dirigenten

 

Gut Ding will Weile haben. Dies gilt dieser Tage für die russische Melodia, die dankenswerterweise ihre Archive öffnet, eine fast fünfzig Jahre alte Einspielung der Oper Der goldene Hahn von Nikolai Rimski-Korsakow ausgräbt und erstmals auf CD herausbringt (MEL CD 10 02331). In mancherlei Hinsicht ist diese letzte Oper Rimskis Meisterwerk. Komponiert in den Jahren 1906 und 1907, erfolgte ihre Uraufführung erst am 24. September 1909 (jul.) in Moskau. Zu diesem Zeitpunkt war der Komponist schon über ein Jahr lang tot. Die Gründe für die späte Erstaufführung liegen in der russischen Zensur begründet, die eine implizite Systemkritik vermutete. Obschon von Rimski-Korsakow nicht intendiert, konnte man den ausschweifenden und zügellosen König Dodon doch auf das seinerzeit in seinen letzten Zügen liegende Zarentum beziehen, so wenig Kaiser Nikolaus II. auch mit dem Dargestellten gemein haben mochte.

Als Grundlage für das von Wladimir Bjelski entworfene Libretto diente das gleichnamige Märchen von Alexander Puschkin (1834), welches seinerseits wiederum auf der „Sage vom arabischen Astrologen“ des amerikanischen Schriftstellers Washington Irving von 1832 beruhte. Tatsächlich muss Rimski-Korsakows Oper Der goldene Hahn neben Der unsterbliche Kaschtschei und Die Legende von der unsichtbaren Stadt Kitesch zu den tiefgründigsten seiner Werke gezählt werden. Ihnen gemein ist die späte Entstehungszeit im letzten Lebensjahrzehnt des Komponisten, als Rimski auf dem Höhepunkt seines Schaffens stand. Den Rahmen der Oper stellt der mysteriöse Astrologe dar, der im Prolog zunächst die nachfolgende Handlung ankündigt und im abschließenden Epilog davor warnt, das düstere Finale allzu ernst zu nehmen. Das markante Astrologenthema sollte ein halbes Jahrhundert später in Prokofjews siebter und letzter Sinfonie abermals auftauchen und wohl für dessen noch unbeschwerte Jugendzeit vor der dem Ersten Weltkrieg und der Oktoberrevolution mit all ihren Folgen stehen.

Nikolai Rimski-Korsakow auf einem Gemälde von Walentin Serow, das 1898 entstand. Foto: Wikipedia 

Der sichtlich überforderte und regierungsmüde König Dodon vertraut sich und sein Reich dem Rat des Astrologen an, der absurderweise einen goldenen Hahn, der bei jeder Gefahr mit den Schwingen schlägt und lauthals kräht, als Lösung für alle Probleme vorschlägt. Die Belohnung Dodons schlägt der gewitzte Mann zunächst aus. Des Königs Söhne, die sich als nicht minder unfähig erweisen, ziehen beim ersten Alarmruf in den Krieg, während sich Dodon nach der geheimnisumwitterten Königin von Schemacha sehnt. Nur widerwillig rückt auch der König schließlich ins Feld aus, wo er seine geschlagene Armee und seine toten Söhne vorfindet. Tatsächlich stößt er auch auf die von ihm begehrte Königin, und in der Folge stellt sich heraus, dass sich die beiden Prinzen im Streit um sie gegenseitig umbrachten. Dodon, der der Königin vollends verfällt, will sie zur Frau nehmen und ihr sein Reich vermachen. Jetzt tritt abermals der Astrologe in Erscheinung, der nun unverhofft eben jene Königin als seine Belohnung einfordert. Dies kostet ihm das Leben, erschlägt ihn Dodon doch wutentbrannt, worauf sich freilich die Szene verdunkelt und er nun seinerseits vom goldenen Hahn zu Tode gehackt wird. Die Königin von Schemacha sucht mit dem Hahn ihr Heil in der Flucht, während sich das Volk mit der neuartigen Situation abfindet.

Wie so häufig, erweist sich die sowjetische Einspielung von Melodia als mustergültig. Es handelt sich um die CD-Premiere der 1968 entstandenen ersten Studioeinspielung dieses Werkes mit dem Rundfunk-Symphonieorchester der UdSSR. Merkwürdig ist die Nennung zweier Dirigenten, nämlich Alexei Kowalew und Jewgeni Akulow. Eine mögliche Erklärung hierfür — das Booklet liefert keinerlei Informationen — ist die separat erschienene Schallplatteneinspielung des zweiten Aktes mit Galina Oleinitschenko, angeblich ebenfalls unter der Stabführung der genannten Orchesterleiter. Womöglich kam es hier zu einer später nicht mehr aufzuklärenden Verwechselung, so dass man vorsichtshalber beide Dirigenten aufführte. In der Gesamtaufnahme jedenfalls singt Klara Kadinskaja die Rolle der Königin und wird dieser durch kraftvolle Höhe und mädchenhafte, verführerische Tongebung absolut gerecht. Alexei Korolew weiß gerade durch seine nicht mehr ganz auf ihrem Zenit befindliche Stimme und durch überlegene Gestaltung als alternder König zu überzeugen. Gennadi Pischtschajew kommt als Astrologe dem Rimski-Korsakow vorschwebenden Ideal eines „tenore altino“ sehr nahe und berührt mit typisch östlich-slawischem Timbre. Die Nebenrollen sind ebenso hochkarätig besetzt: Der Bassist Leonid Ktitorow gibt den umsichtigen General Polkan und die charakteristische Altistin Antonina Kleschewa die Aufseherin Amelfa. Auch die Prinzen Gwidon und Afron werden durch den Tenor Juri Jelnikow und den Bariton Alexander Poljakow vorzüglich ausgefüllt und bestechen durch geschmeidige Stimmführung. Schließlich verleiht Nina Poljakowas teils schneidender Sopran der Titelrolle eindringliche Präsenz. Der Große Rundfunkchor der Sowjetunion fügt sich tadellos ins Gesamtbild ein, während das Dirigentenduo Kowalew/Akulow das Ensemble zu Höchstleistungen anfeuert. Die von G. Braginski und N. Andrejewa verantwortete Tontechnik mit ihrem vollen Stereoklang rundet den sehr gelungenen Eindruck dieser Produktion ab.

Die nicht eben umfangreiche Diskographie des „Goldenen Hahns“ wird durch diese nunmehr wieder greifbare Einspielung ganz ohne Frage bereichert. Sie kann sich gut neben den beiden Aufnahmen Jewgeni Swetlanows (CD: Melodia 1988; DVD: NHK 1989) behaupten, ergänzt diese um eine weitere Facette und repräsentiert das sowjetische staatliche Plattenlabel zu seinen Glanzzeiten.Daniel Hauser

PS.: Eine Nachfrage bei Melodia konnte das Geheimnis um die zwei Dirigenten lüften: Tatsächlich begann Alexei Kowalew die Einspielung bereits im Jahre 1962, wurde aber nach einem Konflikt entlassen. Erst sechs Jahre später gelang die Vollendung der Aufnahme dann in einem zweiten Anlauf unter Jewgeni Akulow. Interessanterweise wurde Kowalews Name, entgegen den damals gängigen sowjetischen Gepflogenheiten, nicht unterdrückt und bereits auf der LP-Ausgabe ausdrücklich genannt.