Archiv des Autors: Rüdiger Winter

Englische Opern aus Polen

 

Weder Gustav Holst (1874 – 1934) noch Ralph Vaughan Williams (1872 – 1958) gingen als Opernkomponisten in die Geschichte ein. Nichtsdestoweniger legte ersterer vier, letzterer sogar fünf Opern vor.  Allenfalls Sir John in Love von Vaughan Williams, welches Shakespeares Vorlage um den legendären trinkfesten Sir John Falstaff aufgreift und insofern in einer Reihe mit Nicolais Vertonung der Lustigen Weibern von Windsor und Verdis letzter Oper steht, erreichte eine größere Bekanntheit. Dieser Figur, wenn auch nicht auf die Lustigen Weiber Bezug nehmend, widmet sich auch Holst. At the Boar’s Head, betitelt als „A Musical Interlude in One Act“, aus dem Jahre 1924 basiert auf den Shakespeare’schen Historiendramen „Henry IV“, Part 1 und „Henry IV“, Part 2. Ebenfalls auf einem Theaterstück, wenngleich völlig anderen, ungleich dramatischeren Inhalts, beruht Vaughan Williams‘ Riders to the Sea (1925 – 1932), nämlich dem gleichnamigen, 1904 uraufgeführten Stück des irischen Dramatikers John Millington Synge. Das polnische Label Dux legt nun verdienstvollerweise diese beiden fast vergessenen Kurzopern in einer aktuellen Einspielung vom Beethoven Festival Warschau vor (Aufnahme: März 2016). Die musikalische Leitung hat der polnische Dirigent Lukasz Borowicz inne. Als Klangkörper fungiert die Warsaw Chamber Opera Sinfonietta, die im Falle des Vaughan Williams noch durch den Warsaw Philharmonic Women’s Chamber Choir ergänzt wird. Die Klangqualität ist vorzüglich, und obwohl es sich um Live-Mitschnitte handelt, sind Publikumsgeräusche praktisch nicht vorhanden (Dux 1307-8).

Im 55-minütigen Werk At the Boar’s Head, dessen Titel sich auf die legendäre Taverne in London Eastcheap bezieht, stehen Prince Hal, der spätere Heinrich V., und Falstaff im Mittelpunkt. Daneben verarbeitet Holst hier zwei Sonette Shakespeares und eine Handvoll traditioneller Lieder. Die Handlung ist sehr komprimiert, fast minimalistisch zu nennen; die Charakterisierung der beiden Hauptfiguren steht im Zentrum. Man startet gewissermaßen ohne Vorwarnung sofort, ohne orchestrale Eröffnung, mitten in der Szenerie. Der Bassbariton Jonathan Lemalus gibt einen noblen und altersweisen Falstaff, der Tenor Eric Barry mimt den Prinzen Hal als schmächtigen und etwas blassen Jüngling. Das Orchester beschränkt sich werkbedingt weitgehend aufs Begleiten. Allzu große Akzente kann Borowicz hier kaum setzen. Anders als in Sir John in Love handelt es sich nur bedingt um eine komische Oper (der Begleittext bescheinigt ihr gleichwohl einen typisch britischen Humor). Vielmehr spielen die bürgerkriegsähnlichen Zustände zur Regierungszeit des durch Usurpation auf den Thron gekommenen Heinrich IV. (reg. 1399 – 1413) eine wesentliche Rolle. Gegen Ende des Einakters zieht der Spannungsbogen dann doch deutlich an. Holsts Oper bleibt stets der Tonalität verhaftet; es handelt sich gleichsam um einen Nachzügler der Spätromantik. Die ersten Aufführungen am 3. April 1925 in Manchester und am 20. April 1925 in London ernteten nur lauwarmen Zuspruch. Man sprach von einem „brillanten Flop“, was nur sinnbildlich war für die lebenslange Geringschätzung Holsts als Opernkomponisten.

Der polnische Dirigent Lukasz Borowicz hat die zwei britischen Kurzopern ausgegraben / Koncert Polskiej Orkiestry Radiowej (próba) lutoslawski.org.pl

Das Meer übte seit Menschengedenken eine Faszination auf die irischen, englischen und schottischen Inselbewohner aus. Nicht zufällig entstanden gerade im späten 19. und im beginnenden 20. Jahrhundert zahlreiche britische Kompositionen, die sich des Meeres annahmen, darunter Elgars „Sea Pictures“ (1899), Delius‘ „Sea Drift“ (1904), Stanfords „Songs of the Sea“ (1904) und Bridges „The Sea“ (1911). Gerade 38 Minuten lang ist Vaughan Williams‘ Riders to the Sea, zwischen 1925 und 1932 komponiert, aber erst 1937 uraufgeführt. Bereits in „A Sea Symphony“ (1909) hatte auch er sich mit dieser Thematik beschäftigt. Schon die kurze instrumentale Einleitung ist durch eine deutlich prominentere Rolle des Orchesters gekennzeichnet, als es in der Oper von Holst der Fall ist. Vaughan Williams gelingt eine bedrohliche Darstellung der Urgewalten des Meeres, die durch Geräusche der Wellen noch theatralisch ergänzt wird. Anders als bei Holst stehen hier Frauen im Fokus. Die Hauptfigur Maurya hat beinahe ihre gesamte Familie – Ehemann, Schwiegervater, fünf Söhne – an die unberechenbare See verloren, lediglich einer ihrer sechs Söhne blieb ihr. Böse Vorahnungen plagen die Mutter – wie sich im weiteren Verlauf herausstellen soll, zurecht. Auch Bartley, der letzte Sohn, kann seinem unerbittlichen Schicksal nicht entrinnen, stürzt am Strand unglücklich von seinem Pferd und ertrinkt. Resigniert stellt Maurya – vibratoreich gesungen von der vielleicht etwas jung klingenden Mezzosopranistin Kathleen Reveille – schließlich fest, dass ihr das Meer, nun da es ihr alle Söhne genommen hat, nichts mehr antun könne. Besonders der durch den walisischen Bariton Gary Griffiths verkörperte Bartley, der einen irischen Akzent zu imitieren scheint, weiß für sich einzunehmen.

Die Orchestrierung ist im direkten Vergleich mit Holsts At the Boar’s Head ungleich ausgefeilter und verweist, nicht nur aufgrund des offensichtlichen Bezuges zum Meer, in ihrer dissonanten Düsternis bereits auf Brittens Peter Grimes. Die gespenstischen Vokalisen des Chors erinnern kurioserweise wiederum an Holsts „Planets“. In Riders of the Sea kann Borowicz das volle Potential des Orchesters ausspielen. Seine impulsive Leitung, die interessante Details zutage fördert, kann sich nahtlos neben die beiden bisher erhältlichen Aufnahmen von Meredith Davies (EMI) und Richard Hickox (Chandos) einreihen und liegt tempomäßig genau dazwischen (Davies 36:23, Hickox 41:43). Trotz seiner Kürze ist dieses sicher das gewichtigere Werk des neuen 2-CD-Albums aus Polen.

Was verbindet nun die beiden Kurzopern? Zum einen die Entstehungszeit. Beide Werke wurden in den 1920er bzw. frühen 1930er Jahren komponiert, als das Britische Weltreich zumindest äußerlich auf seinem absoluten Zenit stand. Mit seiner Intonierung eines Shakespeare-Stoffes trug Holst, bewusst oder nicht, auch zur Apotheose des Empire bei. Vaughan Williams scheint zumindest hier einen deutlich pessimistischeren Blick auf die damalige Gegenwart zu haben (auch wenn er, wie erwähnt, mit Sir John in Love kurze Zeit später ebenfalls auf den englischen Nationaldichter Shakespeare zurückgreifen sollte). In Riders to the Sea – noch dazu nach der Vorlage eines Iren – kann keine Rede sein von „Britannia, rule the waves“. Die irische Frage, die einen blutigen Bürgerkrieg hervorgerufen hatte, war seinerzeit noch nicht abschließend geklärt. War es also gar dezente Kritik an der britischen Machtpolitik? Gesichert ist zumindest, dass Vaughan Williams den ihm angebotenen Ritterschlag ausdrücklich ablehnte.

Warum widmet man sich aber gerade in Polen zwei kaum bekannten Werken großer britischer Komponisten des 20. Jahrhunderts? Möglich wären die gerade in jüngster Zeit engen Verbindungen beider Länder. Nach dem EU-Beitritt der ostmitteleuropäischen Länder waren es vor allem Polen, die nach Großbritannien strömten – eine Öffnungspolitik, die gerade in diesen Tagen massiv in Frage gestellt wird. Vielleicht können Lukasz Borowicz und die Seinen anhand dieser polnisch-britischen Produktion ihren bescheidenen Teil dazu beitragen, die Wogen wieder etwas zu glätten. Die Doppel-CD wird ergänzt durch ein umfangreiches Booklet, das die kompletten Libretti zweisprachig, in Polnisch und Englisch, enthält. Der Text in deutscher Sprache wäre zwar wünschenswert gewesen, allerdings ist es bei einer polnischen Produktion englischer Opern verständlich, dass darauf verzichtet wurde. Abgerundet wird das Beiheft durch lesenswerte Einleitungen zu den Werken, die Hintergrundinformationen liefern.  Daniel Hauser

Stunden der Liebe

 

Junge Sänger sind bei Champs Hill Records gut aufgehoben. Dazu gehört auch der Bariton Benjamin Appl. Er stammt aus Regenburg, wo er 1982 geboren wurde und bei den Domspatzen erste musikalische Erfahrungen sammelte. Dem Vernehmen nach soll er der letzte Schüler von Dietrich Fischer-Dieskau gewesen sein. Zwischen 2010 bis 2013 studierte er an der Guildhall School of Music and Drama in London, wodurch sich auch der Kontakt zu dem englischen Label ergeben haben dürfte. Appl ist nicht festgelegt auf eine Richtung. Er singt sowohl Opern als auch Oratorien und Lieder. Damit liegt er ganz auf der Linie seines berühmten Lehrers. Dem Aussehen nach ist er eher der Popstar, dem die Fans zu Füßen liegen. Das muss im gediegenen Klassikgeschäft kein Nachteil sein. Stunden, Tage, Ewigkeiten ist die CD mit Liedern nach Heinrich Heine betitelt (CHRCD112). Heine, der als der letzte Dichter, der Schlusspunkt der Romantik gilt, hat Komponisten magisch angezogen. Franz Schubert sind einige seiner bedeutendsten Lieder auf seine Texte gelungen: Der Atlas, Ihr Bild, Die Stadt, Der Doppelgänger. Diese vier Titel aus dem Schwanengesang hat Appl aufgenommen. Sie gelingen ihm sehr gut. Appl lässt sich Zeit. Dadurch kann er alle textlichen und musikalischen Details ausbreiten.

Bei der Programmauswahl haben sich die Produzenten nicht nur auf Altbekanntes verlegt. Auftakt ist das Lied Gruß in der Vertonung von Edvard Grieg, gefolgt von den Sechs Liedern von Heine des russischen Komponisten und Pianisten Anton Rubinstein, der viele Lieder hinterlassen hat. Die erweisen sich als Entdeckung und mehren den Wert dieser Neuerscheinung. Seinem Höhepunkt strebt die Programmauswahl mit Roberts Schumanns Dichterliebe zu. Im hübsch aufgemachten Booklet kommt der von James Baillieu begleitete Sänger selbst zu Wort. Obwohl er ja durch seine Stimme und nicht durch das geschriebene Wort erklärend Eindruck machen soll, ist das für sich genommen eine gute Idee. Zumal Appl sehr persönlich wird. „Mit meinen Deutungen suche ich bewusst einen jungen, frischen Interpretationsansatz für die vorwiegend liebesbezogenen Textvertonungen“, so Appl. Und weiter: „Die Komponisten waren im vergleichbaren Alter, meistens jedoch noch jünger als ich jetzt. Ihre persönlichen Erlebnisse hatten sie sicher damals dazu bewegt, vorliegende Texte auszuwählen und in ihre musikalische Sprache einzukleiden. Durchlebt man doch in jungen Jahren erfüllte wie auch enttäuschende Stunden der Liebe besonders intensiv.“ Sein Vortragsstil wirkt selbstbewusst und frisch, nicht nassforsch. Er vergeht nicht vor Erfurcht vor diesen Meisterwerken, er nähert sich ihnen mit einer gewissen Lockerheit an. Das macht die Aufnahme zum Hörvergnügen. Nur hier und da hinterlässt er einen akademischen Eindruck. So, als würde er die Lieder in einem Seminar vortragen, in dem auch andere Studenten und Professoren sitzen, die genau aufpassen. Habe ich alles richtig gemacht? Er hat! Dieser Sänger ist auf einem sehr guten Weg. Es besteht nicht der geringste Zweifel für mich, dass noch viel von ihm zu hören sein wird. Rüdiger Winter

Arrangiert und pur

 

Angesichts der Fülle an Aufnahmen von Liedern Gustav Mahlers ist es eine gute Idee, wieder einmal auf Bearbeitungen zurückzugreifen. Nicht, dass der Komponist solche Arrangements nötig hätte. In der Regel sind sie nicht auf Verbesserung und Korrekturen aus, sondern zeugen von der intensiven Beschäftigung mit den Originalen. Und sind eine Verbeugung zugleich. So dürfte es auch für Arnold Schoenberg gelten, der Mahler hoch verehrte. Nach eigenem Bekunden bezog er aus dessen Werken wichtige Anregungen für das eigene Schaffen. Beide Komponisten sind sich auch persönlich begegnet. Schoenberg war nur vierzehn Jahre jünger als Mahler. Nach dessen Tod unterhielt seine Witwe Alma enge Kontakte zu Schoenberg und unterstützte ihn gelegentlich finanziell aus dem Erbe ihres Mannes. Naxos hat von Schoenberg arrangierte Lieder Gustav Mahlers vorgelegt – im Doppelpack die Lieder eines fahrenden Gesellen und das Lied von der Erde (8.573536). Es begleitet das Attacca Quartet, ein mehrfach preisgekröntes junges Ensemble aus den USA, und die Virginia Art Festival Chamber Players unter der Leitung der Dirigentin JoAnn Falletta, die sich vornehmlich eines Repertoires fern des Mainstreams annehmen. Der englische Bariton Roderick Williams, der auch als Komponist hervorgetreten ist, zelebriert die Gesellen-Lieder. Für eine sehr deutliche Artikulation gibt er einiges an Ursprünglichkeit und den volksliedhaften Ton. Erst zum Schluss hin wirkt sein Vortrag etwas gelöster. Dem Timbre nach passt er aber sehr gut.

Das Lied von der Erde will auch gesungen sein, zumal die Konkurrenz wie bei dem vorangegangenen Zyklus ebenfalls überwältigend ist. Stünde da nicht der Name Schoenbergs mit auf dem Programm, die Produktion hätte es nicht leicht. Sie bezieht ihre Wirkung aus dem Arrangement, wenngleich der Einsatz eines Flügels etwas verstörend wirkt. Ansonsten aber bekommt die kleine Besetzung dem schwermütigen Stück von Abschied und Vergänglichkeit sehr gut. Charles Reid, vor allem als Mozart-Sänger erfolgsverwöhnt, stemmt die hohe Lage und bleibt in der Ausdeutung der Texte zu flach und allgemein. Bei der britisch-kanadischen Mezzosopranistin Susan Platts mit dem schönen samtigen Ton fällt die Neigung zum Tremolieren auf. In ihren Liedern kann es aber durchaus als Ausdrucksmittel durchgehen.

In der originalen Fassung mit Klavierbegleitung durch Alfredo Perl hat Gerhild Romberg die Rückert-Lieder, die Lieder eines fahrenden Gesellen und die Kindertotenlieder eingespielt. Sie sind bei MDG erschienen (903 1972-6). Dieses Label wirbt damit, dass „alle Einspielungen … in der natürlichen Akustik speziell ausgesuchte Konzerträume aufgezeichnet“ werden. Verzichtet würde auf „jede klangverändernde Manipulation mit künstlichem Hall, Klangfiltern, Begrenzern“. Dies verstehe sich für ein audiophiles Label von selbst. „Das Ziel ist die unverfälschte Wiedergabe mit genauer Tiefenstaffelung, originaler Dynamik und natürlichen Klangfarben.“ Nachzulesen ist diese sympathische Selbstverpflichtung im Booklet, das auch alle Texte enthält. Man ist geneigt, vom Bio der Aufnahmetechnik zu sprechen. Der Klang wirkt zunächst etwas trocken. Mit der Zeit aber tut er dem Ohr gut, weil er so sanft ist. Mit ihrem ruhigen und in den Lagen ausgewogenen Mezzo bringt die Sängerin, die ausschließlich bei Konzerten in Erschienung tritt, die günstigsten Voraussetzungen für das Verfahren mit. Eine rundum geklungene Produktion. Barbara Ranke

Wiederhören mit alten Bekannten

 

Der Zeitpunkt für diese Box ist ungünstig gewählt. Nach der Übernahme der EMI hatte Warner zunächst sämtliche Studio-Recitals mit Elisabeth Schwarzkopf und inzwischen auch ihre Schelllack-Aufnahmen in sehr schönen Editionen neu auflgelegt. Der Bestand wurde in der ursprünglichen Folge seines Erscheinens und in den nachempfundenen Cover-Originalen wohl verpackt herausgebracht. So wie es dieser großen Frau entspricht, wie es ihr zur Ehre gereicht. An ihren zahlreichen Platten lässt sich die Karriere der Sängerin genau nachvollziehen. Sie gleichen einem musikalischen Lebenslauf. Daran knüpft auch das Label The Intense Media mit seiner Zusammenstellung unter dem Titel „Milestones of a Legend“ an (600338). Die zehn CDs enthalten weitestgehend dieselben Titel wie die Warner-Boxen. Aufgefüllt wurde vor allem mit Ausschnitten aus Gesamtaufnahmen, die jeder Sammler im Regal hat. Ausgesprochen schlicht gibt sich die äußere Erscheinung. Für den kleinen Geldbeutel kommt die Neuerscheinung richtig. Daran besteht aber auch ihr einziger Vorteil. Wenn es denn ein Vorteil ist, die Schwarzkopf in die preislichen Niederungen zu ziehen. Dabei hat das Label mit seinen beliebten Collectionen meistens einen guten Griff getan und Spürsinn bewiesen, weil sie auch Aufnahmen enthalten, die seit Jahren vom Markt verschwunden oder noch nie auf CD erschienen sind. Die Schwarzkopf aber ist gemäß ihrer musikhistorischen Bedeutung omnipräsent auf dem Markt. Wer mit ihr punkten will, muss schon mit Ausgrabungen aufwarten, die die Welt noch nicht gehört hat.

Hier nun sind die ganz alten Bekannten zusammen – das Capriccio-Finale und die erste Studio-Aufnahme der Vier letzten Lieder von Strauss unter Ackermann, der exklusive Querschnitt durch seine Oper Arabella, Arien und Lieder von Mozart, die süffige Operettenplatte, das Christmas-Album, Auszüge aus Wolfs Italienischem Liederbuch und weitere Lieder dieses Hauskomponisten der Sängerin sowie Lieder von Mozart und Schubert. Sogar die etwas trockenen Mährischen Duette von Antonin Dvorák mit Irmgard Seefried wurden nicht vergessen. Alles zum sehr kleinen Preis. Barbara Ranke

Mogelpackung

 

Das Hauslabel des Sängers Theo Adam war Eterna. Es gehörte zum VED Deutsche Schallplatten und ist mit der DDR untergegangen. Nach der Wende sind die meisten Aufnahmen bei der Edel AG gelandet. Dort vertritt Berlin Classics die Klassikbranche und hat sich mit den Jahren vieler, wenn nicht gar der meisten Produktionen aus dem Osten Deutschlands angenommen und neu aufgelegt. Das Edel-Label Brilliant Classics hat diverse Opern und Oratorien herausgegeben. Auch Platten von Adam gehören dazu. Er war gut im Geschäft. Ersten Aufnahmen entstanden 1954. Seine Diskographie zählt mehr als hundert Aufnahmen aller Genres. Neue Veröffentlichungen können sich an einem großen Vorrat bedienen. Inzwischen ist Adam Neunzig, krank und lebt völlig zurückgezogen. Gelegentlich des runden Geburtstages am 1. August 2016 wurde von Berlin Classics eine Edition aufgelegt (0300824BC). Sie ist immer noch die aktuellste Veröffentlichung, die sich dem Sänger widmet. Wer im Netz nach entsprechenden Titeln sucht, stößt zuerst auf diese Zusammenstellung. Wird sie Adam gerecht? Im Großen und Ganzen schon. Es gibt Szenen aus Opern und geistliche Arien. Adam kommt aus dem Dresdner Kreuzchor, dessen Mitglied er zwischen 1937 und 1944 war. Dem dort gepflegten Repertoire hat er sich sein Leben lang verbunden gefühlt. Die Kantaten Wachet auf, ruft uns die Stimme, Gott ist mein König oder Also hat Gott die Welt geliebt von Johann Sebastian Bach gehören zu den frühesten Einspielungen, die zwischen 1959 und 1960 in Leipzig mit dem Thomanerchor unter Kurt Thomas als deutsch-deutsche Projekte in Angriff genommen worden. Aus dem Westen waren dazu Elisabeth Grümmer und Marga Höffgen angereist. Ob Ausschnitte aus diesen Produktionen Sinn machen und den Werken gerecht werden, sei dahin gestellt. Sie finden sich in der Sammlung neben Nummern aus dem Weihnachtsoratorium und der Matthäus-Passion, die Mitte der 1970er Jahren sogar von den beiden prominentesten Knabenchören der DDR, den Kruzianern und den Thomaner, gemeinsam bestritten wurde. Für mich gehören die geistlichen Werke zu Adams besten Leistungen. Die Stimme mit dem unverwechselbaren goldenen Ton kann sich in Ruhe entfalten. Und in der Ruhe lag auch Adams Kraft.

„Die hundertste Rolle“: Eines der lesenswerten Erinnerungsbücher von Theo Adam aus dem Henschelverlag (ISBN 3-362-00009-6).

Auf Mozart, Wagner und Strauss reduziert sich das Opernangebot. Für eine relativ knapp bemessene Edition muss das genügen, zumal mit diesen drei Komponisten Schwerpunkte in Adams Laufbahn erfasst werden. In den Opernhäusern und bei diversen Festspielen war er vielseitiger und tüchtiger. Friedrich Cerhas Baal 1981 bei den Salzburger Festspielen – seiner hundertsten Rolle – hat er sogar eines seiner lesenswerten Bücher gewidmet. Mit Wagner brachte er es zu internationalem Ruhm. Bayreuth war schon 1952 auf Adam aufmerksam geworden. Sein Debüt war der Seifensieder Hermann Ortel in den Meistersingern von Nürnberg unter Hans Knappertsbusch, sein Abschied 1980 der Gurnemanz im Parsifal. Die Edition greift auf eine Eterna-Langspielplatte mit der von Otmar Suitner geleiteten Berliner Staatskapelle zurück. Es gibt den Holländer-Monolog, Wotans Abschied und Feuerzauber, den Flieder-Monolog aus den Meistersingern, Markes Klage aus Tristan und „Wehvolles Erbe, dem ich verfallen“, die verzweifelte Offenbarung des Amfortas aus Parsifal. Alle Rollen hat Adam oft gesungen. Er brachte eine starke Bühnenpräsenz ein. Als jung gebliebener Hans Sachs liebte ich ihn am meisten. Für Stolzing war er eine durchaus ernstzunehmende Konkurrenz. Diesen Aspekt der Handlung gestaltete er sehr bewegend und überzeugend. Er war nicht der alte und weise Schuster, er war vor allem Poet und Träumer. Stimmlich hielt er sich wacker bis zum letzten Ton. Wenn er zur Schlussansprache ansetzte, vermittelte er den Eindruck, als könne es noch mal von vorn losgehen. So groß waren seine stimmlichen Reserven in dieser Rolle, die er aus dem Effeff beherrschte.

Im Studio blieb er hinter seinem Vermögen auf der Bühne etwas zurück. Mir kommt es so vor, als strengte er sich in dem Bestreben an, ja alles richtig und vollkommen zu machen. Dafür zahlte er mit Spontaneität. Eine Eigenschaft, der er mit vielen Kollegen teilt. Für mich war Theo Adam vor allem ein Bühnentier. Dieser Eindruck bleibt auch nach den Strauss- und Mozartaufnahmen der Zusammenstellung zurück. Als an der Berliner Staatsoper Die Frau ohne Schatten gegeben wurde, sang den Färber Barak der Tscheche Antonin Svorc. Er stattete diesen einfachen, vierschrötigen Mann aus dem Volk mit großen menschlichen Qualitäten aus. Das Publikum litt mit ihm. Als Adam die Rolle im Westen singen wollte, probierte er sich an seinem Stammhaus Unter den Linden damit aus. Gegen Svorc mit seinem erdigen Bariton kam er nicht an. Sein Barak hatte das Abitur und war etwas Besseres. Ochs auf Lerchenau im Rosenkavalier wirkt merkwürdig gestelzt. Mit Mozart war Theo Adam live überzeugender als vor dem Mikrophon. Bei Figaro näselt er. Das Lachen, das durch die Szene „Wer hungrig bei der Tafel sitzt“ in Zaide geht, nehme ich ihm nicht ab. Nun lacht es sich tatsächlich sehr schwer beim Singen. Hier noch schwerer.

Die Verpackung erinnert an eine russische Matrjoschka, bei der die ineinander gesteckten bunten Holzpuppen immer kleiner werden. Ist die erste Klarsichtfolie um die Banderole mit dem Hinweis auf eine Edition zum 90. Geburtstag, der sich auch im Text des Einlegeblatts wiederholt, entfernt, fällt der Inhalt in drei einzelne CDs auseinander, die ihrerseits wieder mit durchsichtig Hüllen umschlossen sind. Jetzt muss das Küchemesser her, um den widerborstigen Kunststoffmantel aufzuschlitzen. Geschafft. Nächstes Hindernis, um endlich an den Inhalt zu kommen, sind Pappmäntel. Nach einigem Schütteln und Ziehen fallen schließlich die ganz normal in Hartplastik gewandeten CDs heraus. In Zeiten, das für jede Tüte im Supermarkt gezahlt werden muss, um den Verbrauch der Umwelt zuliebe zu drosseln, ist das die reinste Verschwendung. Des Pudels Kern aber ist ein schmales Booklet mit der schriftlichen Würdigung des Bass-Baritons und der Ankündigung seines 80. Geburtstages. Eine Zweitverwertung also, die sich als Mogelpackung entpuppt. Als würden dieselben Blumen nach zehn Jahren noch einmal überreicht.  Rüdiger Winter

Berlioz und der Blick ins Jenseits

 

Der Dirigent Michael Gielen, 1927 in Dresden geboren, geht auf die Neunzig zu. Nicht zuletzt aus diesem Anlass erscheint die Michael Gielen Edition von SWR Music, die mittlerweile bei Box Vol. 4 angelangt ist (SWR19028CD). Nach Bach und den Wiener Klassikern (Vol. 1), Bruckner (Vol. 2) sowie Brahms (Vol. 3) nun also die anderweitige Romantik und Spätromantik, wobei der Bogen von Carl Maria von Weber (1786 – 1826) bis Josef Suk (1874 – 1935) gespannt wird und den Zeitraum von 1968 bis 2014 umfasst. Die Schwerpunkte liegen auf Berlioz (Le carnaval romain, Symphonie fantastique, Requiem), Schumann (Szenen aus Goethes Faust, Sinfonie Nr. 1), Wagner (diverse Orchesterauszüge aus den Opern), Tschaikowsky (Sinfonien Nr. 4 und 6) und Dvořák (Cello- und Violinkonzert, Sinfonie Nr. 7), Komponisten also, die man eher nicht mit dem Namen Michael Gielen in Verbindung bringt. Beteiligt sind das SWR-Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg, das Rundfunk-Sinfonieorchester Saarbrücken sowie das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR. Ziel dieser ambitionierten Edition ist es, einen repräsentativen Gesamtüberblick über das Schaffen des 2014 aus gesundheitlichen Gründen vom Dirigentenpult zurückgetretenen Gielen zu vermitteln, dessen Repertoire entgegen landläufiger Annahmen sehr in die Breite ging. Aufgrund seiner ihm nachgesagten Eigenwilligkeit wurde er von den großen Schallplattenlabels kaum bedacht, so dass man auf die Rundfunkarchive angewiesen ist.

CD 1 der neun CDs umfassenden Ausgabe widmet sich zunächst Mendelssohn Bartholdy, von dem der Dirigent nach eigener Aussage sehr wenig, vor sehr vielen Jahren“ machte. Die berühmte Ouvertüre zum Sommernachtstraum klingt in Gielens Lesart keineswegs kühl und unemotional, wie es das Klischee bei Gielen will. Die erste CD wird auch in der Folge von Ouvertüren und Vorspielen dominiert. Smetanas Verkaufte Braut und Webers Freischütz dürfen ebenso wenig fehlen wie Wagners Lohengrin (hier die Vorspiele zum ersten und dritten Aufzug) und Die Meistersinger von Nürnberg (plus das Vorspiel und der Liebestod aus Tristan auf CD 7). Mit großer Ernsthaftigkeit geht Gielen an Wagner heran, den er entgegen anderslautender Vermutungen aus seiner Zeit als Frankfurter Operndirektor (1977-1987) nur allzu gut kennt und gar einen aufsehenerregenden Ring des Nibelungen in der Regie von Ruth Berghaus auf die Beine stellte. Freilich könnte sich Gielens Wagner-Bild kaum deutlicher von jenen pathosdurchtränkten und zu einer extremen Agogik neigenden Interpretationen eines Hans Knappertsbusch unterscheiden. Gielens österreichische Wurzeln (sein Vater Josef Gielen war Direktor des Wiener Burgtheaters) kommen im abschließenden, sehr wienerisch vorgetragenen und bei einem Gastspiel in Minnesota aufgezeichneten Kaiserwalzer von Johann Strauß Sohn zum Vorschein, der keine Vergleiche mit berühmteren Walzerdirigenten zu scheuen braucht.

Die CDs 2 und 3 sind gänzlich dem lange verkannten Robert Schumann gewidmet. Besonders für die selten gespielten Faust-Szenen setzte sich Gielen energisch ein und bezeichnet Schumanns Vertonung als „weniger süßlich“ als jene Mahlers in dessen monumentaler achten Sinfonie, einem Produkt der Gigantomanie des Fin de siècle. Interessant, dass der als Vertreter der originalen Intentionen des jeweiligen Komponisten bekannte Gielen bis zuletzt an den spätromantischen Retuschen in Schumanns Orchestrierung festhielt. Noch bei seinem letzten Konzert mit dem SWR-Sinfonieorchester im Januar 2014 (seinem vorletzten überhaupt) ließ er die „Frühlingssinfonie“ in der heute überwiegend kritisch beäugten Mahler-Bearbeitung spielen. Orchestrierungsfragen beiseitegelegt, erzielt Gielen in jedem Falle eine zeitlose Interpretation, welche das frühe Werk als große Sinfonik anerkennt und in ihrem Gestus an die legendäre Einspielung von Otto Klemperer von 1965 erinnert. Ergänzt wird das Schumann’sche Œuvre durch die beiden Ouvertüren zur Braut von Messina und zum Manfred, wobei Gielen letztere als die gelungenere Komposition erachtet.

CD 4 wird nach dem nach einleitenden und nach Gielens Worten „ganz netten“ zweiten Klavierkonzert von Weber (mit Ludwig Hoffmann) durch Berlioz‘ Symphonie fantastique (mit geradezu schwelgerischem Ball) dominiert, die im gespenstischen letzten Satz untrüglich morbide Anklänge hat. Die bis zum Gehtnichtmehr gesteigerte Expressivität der Referenzaufnahme von Igor Markewitsch (DG The Originals) scheint Gielen gar nicht anzustreben; ihm geht es vielmehr um die Offenlegung der Strukturen des Werkes. Das Jenseitige scheint Gielen bei Berlioz zu lieben, widmete er sich doch auch dessen vergleichsweise selten gespieltem Requiem, der sogenannten Grande Messe des Morts (CD 8), deren Aufführung er 1979 nicht ohne Mühen durchsetzte. Dabei erwies er sich als Anwalt des in Teilen als dilettantisch verschrienen französischen Komponisten und betonte den „großen Fortschritt“ hinsichtlich Timbre und Klangfarbe, der eben mit anderweitigen Opfern erkauft werden musste.

Antonín Dvořák, der die fünfte CD zur Gänze (Violinkonzert mit Josef Suk, Sinfonie Nr. 7) und die sechste zur Hälfte (Cellokonzert mit Heinrich Schiff) belegt, sieht Gielen nicht unkritisch und bescheinigt ihm eine „ungeschickte“ Instrumentation. Womöglich hat er sich deshalb nur peripher mit diesem Komponisten beschäftigt. Das Cellokonzert bewege ihn mitnichten, so Gielen. Auch sei er mit seiner früheren Aufnahme der siebten Sinfonie für die BBC unzufrieden, so dass er sich glücklich schätzte, dieses Werk 2011 noch einmal aufnehmen zu können. Das Ergebnis spricht für sich. Um bei den Slawen zu bleiben: Tschaikowsky und Gielen (CD 6 und 7), das erscheint zunächst einmal widersprüchlich. Wie passt der angeblich so nüchtern-analytische deutsch-österreichische Dirigent zum hyperemotionalen Russen? Erstaunlich gut, wird man konstatieren müssen. Die Vierte und die Sechste, die nach Gielens Urteil „genial“ zu nennende Symphonie Pathétique, hat er mit dem SWR-Orchester gemacht. Freilich wird man keine gefühlsbetonte Auslegung á la Leonard Bernstein erwarten dürfen. In ihrer unaufgeregten Klarheit eher an Dirigenten wie George Szell und Otto Klemperer (in der vierten Sinfonie mit beinahe exakt denselben Spielzeiten wie dieser) erinnernd, geht Gielen indes nie so weit, die Werke zu sezieren und ihres romantischen Grundcharakters zu berauben. Es gib durchaus eruptive Ausbrüche in der Pathétique – ein fulminanter, bestens ausgeleuchteter dritter Satz. Da bedauert man das Fehlen der fünften Sinfonie in Gielens Deutung.

Die neunte und letzte CD schließlich beherbergt zwei sinfonische Dichtungen: Sergei Rachmaninows Toteninsel und Josef Suks (der Schwiegersohn von Dvořák und Großvater des gleichnamigen, in der Edition ebenfalls portraitierten Geigers) wenig bekanntes Sommermärchen. Gegen den Kitschvorwurf bei Rachmaninow verwahrt sich Gielen; der Toteninsel bescheinigt er „Größe, Ernst und Überzeugungskraft“. Im Sommermärchen erkennt er ein unbekanntes „Meisterwerk“, das ihn ergriffen habe, auch wenn es nicht gänzlich auf einem Level mit dessen Zeitgenossen Mahler sei. Insgesamt eine sehr erfreuliche Neuerscheinung, die auch klangtechnisch bestens aufbereitet wurde und selbst die ältesten in der Box enthaltenen Aufnahmen ohne nennenswerte Einschränkungen abbildet. Die Gestaltung der Ausgabe erweist sich als gewohnt hochwertig und enthält ein informatives Booklet in deutscher und englischer Sprache, welches gut recherchierte Details zu den enthaltenen Aufnahmen liefert und auch Gielen selbst zu Wort kommen lässt. Man darf gespannt sein, ob diese Edition auf gleichbleibend hohem Niveau fortgesetzt wird. Es wäre zu hoffen. Daniel Hauser

Salzburger „Brettl“

 

Arnold Schönberg ist die Klammer, die zwei Salzburger Konzerte verbindet. Sie sind in der Festspielreihe bei Orfeo erschienen. Zwanzig Jahre liegen dazwischen. Es wurde sich nicht eben gerissen um den Österreicher Schönberg in Salzburg. Mit einer gewissen Regelmäßigkeit taucht er aber in den Programmen auf. Auch der nach ihm benannte Chor, der 1972 gegründet wurde, hält die Erinnerung an den Komponisten wach, der die Musik des zwanzigsten Jahrhunderts maßgeblich geprägt hat. Nun also gleich zwei Neuerscheinungen, die mit seinem Namen verbunden sind. Der Vortritt soll Jessye Norman und ihrem Liederabend vom 6. August 1991 gehören (C 926 161 B). Sie singt eine Auswahl der 1901 entstandenen Brettl-Lieder von Schönberg. Damit kam die Norman bei der Kritik sehr gut an. Im Publikum lassen gelegentliches Lachen und herzlicher Beifall ebenfalls auf Zustimmung schließen. Es ist schöner Brauch bei der Orfeo-Festspieledition, in den Booklets zeitgenössische Pressestimmen wiederzugeben. Die Norman habe „jede textliche wie musikalische Pointe dieser typischen Fin-de-Siecle-Produkte mit ihrer wohldosierten Frivolität“ ausgespielt und „ließ auch ihrer komödiantischen Ader die Zügel schießen“, urteilte „Die Presse“. Und die „Münchner Abendzeitung“ empfand sie bei ihrem Vortrag „kokett-frivol wie eine Diseuse jener Zeit“.

Inzwischen ist mehr als ein Vierteljahrhundert verstrichen. Was 1991 noch als kokett und frivol wahrgenommen worden sein mag, dürfte heute diese Wirkung verfehlen. Ja, es stellte sich mir sogar die Frage, ob derlei Begriffe überhaupt noch in ihrer ursprünglichen Bedeutung verstanden werden in einer Gegenwart, in der kaum ein Film ohne handfeste Sexszenen auskommt und Fäkalsprache salonfähig geworden ist. Das einundzwanzigste Jahrhundert liebt es unverstellt, derb und drastisch und nicht angedeutet und hintersinnig, wie es die Norman versuchte. Sie hat nicht die richtige Stimme für diese Lieder, und das Große Festspielhaus mit seinen mehr als zweitausend Plätzen ist die völlig falsche Location. Schönberg hatte seine Lieder für das Kabarett „Über-Brettl“ in Berlin komponiert. Dort wurde Kleinkunst nach Pariser Vorbild verabreicht als ganz bewusster Gegenentwurf zur etablierten bürgerlichen Hochkultur. Der Name des Etablissements war eine ironische Anspielung auf Nietzsches Übermensch-Idee. Im luxuriösen Salzburg mit seinen horrenden Eintrittspreisen verdrehen sich diese Lieder in ihr Gegenteil. Sie wollen auch nicht so recht in die Programmabfolge passen, die mit Richard Strauss (All’ mein’ Gedanken, Nachtgesang, Du meines Herzens Krönelein, Allerseelen und Ständchen) beginnt, gefolgt von drei Nummern aus Peter Tschaikowskis Six chantes. Als sichere Bank werden noch Wagners Wesendonck-Lieder zwischengeschoben. In ihrer lyrisch-dramatischen Mischung gelingt dieser Zyklus der Sängerin am besten, weil er ihrer Stimme entgegen kommt. Die Norman ist in ihrem Element, von James Levine am Klavier wissend, leidenschaftlich und sicher begleitet.

Mit der letzten Zugabe scheint das Publikum regelrecht aufzuatmen. Levin hat die ersten Takte noch nicht angeschlagen, schon erfasst freudige Erregung den riesigen Saal. Die Habanera aus Carmen! Was nun folgt, ist eine grelle Parodie. Soll es aber offenbar nicht sein. Der Irrtum ihrer Interpretation, wie er sich schon in der verunglückten Plattengesamtaufnahme der Oper offenbart hatte, wird noch einmal neu aufgelegt. Warum? Es gab eine Zeit, da konnte Jessye Norman singen, was sie wollte. Der Erfolg war ihr sicher. Sie hätte auch gar nicht singen brauchen. Ihre Auftritte glichen prunkvollen Inszenierungen mit Tendenz zur Revue. Ich gebe unumwunden zu, dass ich sie damals auch deshalb heiß und innig liebte. Je länger sie im Geschäft war, um so fantastischer – und wichtiger – wurden ihre Roben. Als sollten sie die aufkommenden Defizite in der Stimme kaschieren. Mitunter war das Interesse an ihrer Aufmachung stärker als die Erwartung an die jeweiligen Programme. Normans Kleiderordnung folgte eigenen Gesetzen. Ihre Vermarktung als Sängerin, die manches schuldig blieb, schloss die Verpackung mit ein. So wie in Paris, als sie sich am 14. Juli 1989, dem 200. Jahrestag der französischen Revolution, auf der Place de la Concorde in eine flatternde Trikolore einwickeln ließ, um die Marseillaise anzustimmen.

 

Szenenwechsel. Die andere neue CD im Orfeo-Katalog führt ins intime Mozarteum (C925 161 B). Dort gab es am 27. Juli 2011 das Konzert eines so genannten Salzburger-Festspiel-All-Stars-Ensembles, das seinen sperrigen Namen zurecht verdient. International renommierte Solisten, unter ihnen der Geiger Renaud Capuçon, der Cellist Clemens Hagen, der Oboist Albrecht Meyer, der Schlagzeuger Martin Grubinger und die Sopranistin Christiane Karg, hatten sich zusammengefunden, um den Schatz- und den Kaiser-Walzer von Johann Strauss sowie die 4. Sinfonie von Gustav Mahler aufzuführen. Nicht im Original, sondern als Bearbeitungen für Kammerensemble von Anton Webern, Arnold Schönberg und Erwin Stein. Der aus Österreich stammende Komponist, Dirigent und Musiktheoretiker Stein war ein Schüler Schönbergs. Wenn etwas festspielwürdig gewesen ist, dann dieses Konzert, das seinerzeit für Furore sorgte. Zu Recht. Im Mitschnitt ist die knisternde Stimmung konserviert. Der Sessel vor den Lautsprechern wird zum Platz im Saal. So dicht ist die Atmosphäre. Nichts geht unter. Es ist sogar zu hören, wenn die Bögen der Streicher auf die Seiten aufsetzen. Gewiss lag es nicht in der Ansicht der Solisten, sich in der klanglichen Einheit eines klassischen Kammerensembles darzustellen. Vielmehr bringen sie ihre Individualität deutlich vernehmbar ein und erzielen dadurch eine atemberaubende Wirkung. In den Bearbeitungen aus dem Umkreis von Schönberg rücken Strauß und Mahler erstaunlich eng zusammen. Eine wunderbare CD, die viele Abnehmer finden möge. Rüdiger Winter

Präzise und beseelt

 

Dmitri Schostakowitschs 1969 komponierte und Benjamin Britten gewidmete vierzehnte und somit vorletzte Sinfonie gehört gewiss nicht zu den am leichtesten zugänglichen Werken des sowjetischen Komponisten. Sie ist mehr ein Liederzyklus denn eine Sinfonie. Angelegt für ein kleines Streichorchester mit Perkussionsinstrumenten, mit einer Sopranistin sowie einem Bassisten besetzt, hat sie unter seinen fünfzehn Sinfonien kein Äquivalent. Der Tod ist das alles umspannende Thema der insgesamt elf Lieder mit Texten von Federico García Lorca, Guillaume Apollinaire (einmal mit Bezug auf Clemens Brentano), Wilhelm Küchelbecker und Rainer Maria Rilke. Das Zentrum bildet der in sechs der Lieder bemühte französische Dichter Apollinaire, der gleichsam von den übrigen eingerahmt wird. Die atheistisch-pessimistische Grundhaltung des Werkes, das keine Erlösung kennt, führte zum Bruch mit dem tiefgläubigen Literaturnobelpreisträger Alexander Solschenizyn. An großen Aufnahmen herrscht trotz des schwierigen Sujets kein Mangel. Bereits die in Anwesenheit des Komponisten mitgeschnittene Welterstaufführung vom 21. Juni 1969 mit Margarita Miroschnikowa und Jewgeni Wladimirow unter Rudolf Barschai zählt zu den überzeugendsten Darbietungen. Die 1973 entstandene Aufnahme mit Galina Wischnewskaja und Mark Reschetin unter Mstislaw Rostropowitsch steht im Rufe, die Referenzeinspielung zu sein. Bei beiden handelt es sich um waschechte sowjetische Produktionen, denen eine in dieser Form nicht mehr erreichbare Authentizität anhaftet.

Dass es gleichwohl noch Raum für moderne Interpretationen gibt, hat der griechische Dirigent Teodor Currentzis bewiesen (Alpha 159). Mit Julia Korpatschewa und Pjotr Migunow stehen ihm zwei ausgezeichnete, mit dem entschlackten Konzept von Currentzis harmonierende Solisten zur Verfügung. Migunow liegen sowohl die gespenstischen Momente (so im einleitenden De profundis) wie auch die verzweifelten (Im Kerker der Santé) und die expressiven Ausbrüche, in denen er voll aus sich herausgehen kann (in der Antwort der Zaporoger Kosaken an den Sultan von Konstantinopel). Korpatschewa mag vielleicht nicht das Stimmvolumen der Miroschnikowa und Wischnewskaja aufbringen, doch beeindruckt ihre himmlische Tongebung (interessanterweise gerade in Der Selbstmörder). Sie beweist zugleich, dass eine leichtere Stimme kein Leichtgewicht sein muss. Auch die gemeinsam vorgetragenen Stücke (so besonders die aufgelöste Stimmung in der Loreley) wissen zu fesseln. Currentzis erfindet das Werk nicht neu, doch kommt das präzise und zugleich beseelte Spiel seines Ensembles MusicAeterna der vierzehnten Sinfonie sichtlich zu Gute. Die durch den vibratoarmen Klang des Orchesters erzielte unverfälschte Klarheit unterstützt geradezu den Rückbezug auf die Alte Musik, aus der Currentzis und die Seinigen kommen. Insofern ist die spätmittelalterliche russische Ikone des Erzengels Michael von Andrei Rubljow auf dem Cover der CD durchaus passend. Zurück zu den Anfängen.

Dem informativen Begleittext zufolge handelt es sich bei der Vierzehnten um die atheistische Antwort auf Brittens War Requiem. Den Charakter einer „Requiem-Sinfonie“ kann man tatsächlich nicht ganz von der Hand weisen. Jenseits aller Spekulationen kann ergänzt werden, dass die exzellente Klangqualität den tadellosen Eindruck unterstützt, den diese Produktion hinterlässt. Das ist Schostakowitsch für das 21. Jahrhundert. Es bleibt zu hoffen, dass dies kein einmaliger Ausflug des exzentrischen Griechen in dieses Repertoire bleibt. Daniel Hauser

„Werk statt Leben“

 

Das Max-Reger-Jahr 2016 geht in sein Finale. Und noch einmal gibt es Bewegung auf dem Musikmarkt – in Form von drei neuen CDs. Firmen, Labels und Verlage – das lässt sich mit Fug und Recht rückblickend feststellen – haben den größten Teil der Erinnerungsarbeit geleistet. Als überfällig erwies sich die große Biographie „Werk statt Leben“ von Susanne Popp. Lücken in den Katalogen wurden geschlossen, neue Ansätze für die Beschäftigung mit dem vielseitigen Werk dieses Komponisten gefunden. Hundert Jahre nach seinem Tod hat sich Reger ins Gespräch gebracht – und hoffentlich viele neue Bewunderer gefunden. Mit Vol. 1 startet Rondeau eine Edition, die den Werken für Männerchor gewidmet ist (ROP6126). In dieser konzentrierten Form dürfte diese Sammlung bisher einzigartig sein. Eingespielt wurden fünf Gruppen, darunter „Sechs geistliche Lieder nach Gedichten von Eichendorff“ von Hugo Wolf, der sie ursprünglich für gemischten Chor gesetzt hatte. Reger sah in Wolf einen Schicksalsgenossen, weil der es genau so schwer hatte, sich mit seinem Werk durchzusetzen wie er selbst. Stets ging er respektvoll mit den Originalen um, ließ sie im Kern unangetastet. So verfuhr er auch bei den zahlreichen kunstvollen Volkslied-Adaptionen, die den Schwerpunkt der CD bilden. Der Respekt vor diesen Melodien, aus denen Reger Impulse für das eigene Schaffen fand, schwingt in der so feinsinnigen wie pointieren Interpretation durch das Ensemble Vocapella Limburg unter seinem Leiter Tristan Meister allenthalben mit. In dem jungen Ensemble haben sich ehemalige Limburger Domsingknaben aus der Region zusammengeschlossen. Der CD ist eine große Verbreitung zu wünschen, zumal sie durch ein so genanntes Crowdfunding zustande kam. Dabei finden sich Spender mit dem Ziel zusammen, ein ganz konkretes Projekt zu verwirklichen.

 

Reger ThomaskircheMit ihrer ebenfalls bei Rondeau herausgekommenen CD folgen die Mezzo-Sopranistin Susanne Langner und Thomasorganist Ullrich Böhme bei der Programmauswahl den Beziehungen des Komponisten zu Johann Sebastian Bach und Leipzig (ROP6133). Daniel Ernst zitiert denn auch in seinem Booklet-Beitrag Reger mit den Worten, dass er Bach „alles, alles“ zu verdanken habe. Am Beginn steht die gewaltige Phantasie über „Ein feste Burg ist unser Gott“ op. 27, den Abschluss bildet die Phantasie und Fuge über B-A-C-H op. 46. Dazwischen erklingt die Trauerode aus den Sieben Orgelstücken op.145 zum Gedenken an die im Krieg 1914/16 Gefallenen. Umrankt werden diese rein instrumentalen Stücke von geistlichen Liedern, ebenfalls von der Orgel begleitet. Je nach Bedarf hatte Reger auch das Harmonium oder das Klavier als Untermalung vorgesehen. Susanne Langner, die aus Dresden stammt und am Mozarteum in Salzburg bei Elisabeth Wilke studiert hatte, findet einen sehr schlichten und verinnerlichten Ton. Sie trägt die Lieder klar, wortverständlich und schnörkellos vor. Aufgenommen wurde in der Leipziger Thomaskirche. Böhme spielt die berühmte Sauer-Orgel, auf der bereits sein legendärer Ahne im Amt, der spätere Thomaskantor und Reger-Vertraute Karl Straube, Werke des Komponisten zur Uraufführung gebracht hatte.

 

Reger Piano QuintettDas Klavierquintett op. 64 und die Cello-Sonate op.116 enthält eine CD von ET’CETERA (KTC1562). Sie wurde in einer Kirche in der belgischen Kleinstadt Maasmechelen produziert. Solisten sind der Pianist Kolja Lessing, der Cellist Michael Groß sowie die Parnassus Akademie mit Julia Calic und Holger Koch (Violine) sowie Madeleine Przybyl (Viola). Lessing hat – wie im Booklet nachzulesen ist – „durch seine Verbindung von interpretatorischer und wissenschaftlicher Arbeit dem Musikleben prägende Impulse verliehen“. Er ist auch der Autor des Einführungstextes. Darin heißt es: „Vorliegende Einspielung zweier herausragender, höchst gegensätzlicher Werke aus Regers riesigem kammermusikalischen Oeuvre versteht sich als Tribut zu diesem Reger-Jubiläum, indem sie mit dem Klavierquintett op. 64 einen Höhepunkt seiner frühen Schaffensperiode als Rarissimum präsentiert, mit der kaum neun Jahre später entstandenen vierten Cellosonate op. 116 ein immer noch zu entdeckendes Meisterwerk erneut zur Diskussion stellt.“

 

Im Schaffen von Max Reger bilden die Bearbeitungen von Werken anderer Komponisten einen ansehnlichen Posten. Mal waren es Fingerübungen, mal wurden damit Wünsche von Sängern oder Verlegern erfüllt. Immer folgte er einem tiefen Bedürfnis. Bach ragt innerhalb dieser Werkgruppe nochmals heraus. Sein ganzes Leben lang arbeitete sich Reger an seinem Hausgott ab. Als diene er ihm auf diese Weise. Bei seinen unzähligen Auftritten als Solist hatte er stets Bach vorrätig, richtete sogar die Brandenburgischen Konzerte für zwei Klaviere ein. Und vieles mehr. Umgekehrt war es bei Klavierliedern aus fremder Feder, die er mit Orchesterbegleitung versah. Dabei ließ er sich auch von ganz praktischen Erwägungen leiten. Orchesterkonzerte wurden zu seiner Zeit mitunter von Klavier-Liedgruppen unterbrochen. „Es sei für sein Ohr „oftmals direkt eine Beleidigung“ nach einer Orchester-Nummer eine „Sängerin hören zu müssen, die da zu der im riesigen Saal immer ‚spindeldürren’ Klavierbegleitung Lieder singt“, schrieb er an den Simrock-Verlag. Nachzulesen in der Max-Reger-Biographie Werk statt Leben, von der weiter unten noch ausführlich die Rede sein wird.

Reger Orchesterlieder CapriccioBei Capriccio ist eine CD solcher Arrangements herausgekommen (C5275). Berücksichtigt sind alle vier Titel von Hugo Wolf, darunter „Und willst du deinen Liebsten sterben sehen“ und „Sterb’ ich, so hüllt in Blumen meine Glieder“ aus dem Italienischen Liederbuch. Von Johannes Brahms gibt es mit Ausnahme der „Vier ernsten Gesängen“ sämtliche sechs bearbeiteten Lieder. „Feldeinsamkeit“, „Sapphische Ode“ oder „Immer leiser wird mein Schlummer“ gehören zu dessen bekanntesten Schöpfungen. „Ich liebe dich“ und „Eros“ von Edvard Grieg sind die einzigen Hinwendungen zu dem Norweger. Ebenfalls mit sechs Titeln – „Erlkönig“, „Prometheus“ und drei „Gesänge des Harfners“ ist Franz Schubert präsent. Von ihm hat Reger insgesamt fünfzehn Lieder orchestriert, die komplett bereits bei cpo und MDG herausgekommen sind.

Mit der Neuerscheinung ist diese Werkgruppe weitestgehend komplett auf Tonträgern zugänglich. In Zusammenarbeit mit Deutschlandradio Kultur, SWR und der Deutschen Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz, die die Begleitung übernommen hat, wirken gleich drei Solisten mit, die allesamt auch Opernerfahrungen mitbringen: Stefanie Irányi (Sopran), Rainer Trost (Tenor) und Paul Armin Edelmann (Bariton). Das hört man auch – und soll es wohl hören. Nachträglich orchestrierte Lieder – und folgen sie noch so genau und diskret den Vorlagen wie bei Reger – sind eben keine Klavierlieder mehr. Es tritt etwas hinzu, was nicht da war, die Gesangsstimme ist weniger auf sich allein gestellt. Sie wirkt wie eingebettet, geht manchmal gar im Orchesterklang auf. Dadurch stellt sich auch eine gewisse Gefälligkeit ein, die das Letzte ist, was einem bei Reger einfällt und die so nicht in der ursprünglichen Absicht der Schöpfer gelegen haben dürfte. Dennoch ist diese CD, die schon in ihrer äußeren Aufmachung sehr einschmeichelnd wirkt, eine Empfehlung wert, weil sie die zum Teil sehr bekannten Lieder in ein ganz neues Licht stellt und auch zum Rückgriff auf das Original anregt.

 

Reger Orgelwerke SmidtOriginal sind die Orgelwerke, die Ulfert Smidt für Rondeau Production eingespielt hat (ROP6131). Aufgenommen wurde die CD im Mai dieses Jahres an der Goll-Orgel der Marktkirche in Hannover. Und schon ist sie auf dem Markt. So schnell kann es gehen. Regers Orgelwerke sind in den Katalogen der Labels fast schon übermächtig. Dadurch wurde der Eindruck befördert, er sei vornehmlich ein Orgelkomponist gewesen. Kunden haben die Qual der Wahl. Es liegen mindestens zwei Gesamtaufnahmen des Orgelwerks vor. Der Komponist selbst galt als Meister auf dem Instrument, das er nicht nur als „Kircheninstrument“ verstand, – wie er es in einem in Booklet zitierten Brief ausdrückte. Vielmehr sei es ein „Konzertinstrument ersten Ranges“. Reger mutete seinen Solisten viel zu. Smidt hat die zwei monumentalen Choralphantasien op. 40 „Wie schön leucht’t uns der Morgenstern“ mit gut achtzehn Minuten und „Straf’ mich nicht in deinem Zorn“ mit fünfzehn Minuten in den Mittelpunkt seiner Programmfolge gestellt. Aus den „Zwölf Stücken für die Orgel“ op. 59 erklingen sechs Nummern, darunter die Fuge. Diese kann ebenso wie die Morgenstern-Phantasie auf YouTube gehört und gesehen werden. Eine schöne, werbewirksame Idee! Der Link wird im Booklet gleich mitgeliefert (www.rondeau.de/CD/ROP6131).

 

Reger MDR RundfunkchorMit Chormusik von Reger wartet das Label Querstand auf (VKJK 1627). Es singt der MDR-Rundfunkchor. Diesen Namen trägt er erst seit 1992. Berühmt geworden ist er als Rundfunkchor Leipzig. So hieß das Ensemble seit 1946, maßgeblich geprägt von Herbert Kegel, der fast dreißig Jahre lang an seiner Spitze stand. Schließlich überlebte der Chor die DDR, in der er großes Ansehen genossen hat und mit Auszeichnungen dekoriert worden war. Im Booklet der Neuerscheinung wird dieser historische Hintergrund völlig ausgeblendet und der Eindruck erweckt, als habe der Chor mit seinem jetzigen Namen ganz selbstverständlich schon immer mit Herbert von Karajan und anderen bedeutenden Dirigenten der westlichen Hemisphäre zusammengearbeitet. Kegel wird mal eben noch in einer Auszählung erwähnt. Als Karajan 1970 in Dresden für die EMI die Meistersinger von Nürnberg einspielte, wurde der Chor hinzugezogen – aber als Rundfunkchor Leipzig. So ist das in allen Veröffentlichungen dokumentiert. Der Chor hat es also gar nicht nötig, seine Vergangenheit wie einen Stallgeruch abzuschütteln, er singt dadurch ja nicht besser, als er es ohnehin vermag. Gerade die von Florian Helgath als Gast dirigierten drei A-Cappella-Motetten op. 110 von Reger „Mein Odem ist schwach“, „Ach, Herr, strafe mich nicht“ und „O Tod, wie bitter bist du“, die das Zentrum der CD bilden, sind in ihrer Durchsichtigkeit und Transparenz höchsten Maßstäben verpflichtet.

 

Reger Warner CD-EditionGroße Orchester haben sich im Reger-Jahr um seine Werke nicht gerade gerissen. Plattenlabels sind – wie bereits gesagt – viel mutiger gewesen. Sie haben das vielseitige Werk systematisch erschlossen – und sind noch dabei. Warner hat in seiner „The Centenary Collection“ Einspielungen zusammengefasst, von denen einige bereits in die Jahre gekommen sind (0190295974824). Hamburg, Bamberg, Stockholm, London, Berlin, Straßbourg und Wien tauchen als Produktionsstandorte auf. Der weit gereiste Reger hat viele Städte im In- und Ausland besucht. Nicht als Tourist. Er war als Dirigent und Solist immer in eigener Sache unterwegs, um die Welt mit seinem Werk bekanntzumachen. Internationalität kommt nicht von ungefähr. Er hat sie selbst gelebt. Aufnahmen so unterschiedlicher Provenienz dürfen auch als Spuren der ihm eigenen Tüchtigkeit und Unrast gelten.

Auf acht CDs lässt sich einiges unterbringen. Es werden alle Genres berührt – Kompositionen für Orchester, Orgel und Chor, Kammermusik und Lieder. Einsteiger sind mit der Box nur teilweise bedient, weil einige zentrale Werke wie das Klavier- und das Violinkonzert, der 100. Psalm sowie die vier Tondichtungen für Orchester nach Arnold Böcklin fehlen. Die Romantische Suite ist in der Originalfassung ebenfalls nicht berücksichtigt, dafür aber in der Bearbeitung für Chamber Ensemble durch Arnold Schönberg und Rudolf Kolisch, die zwischen 1919 und 1920 entstand. Schönberg schätzte Reger. Beide waren fast gleichaltrig. Der 1896 in Niederösterreich geborene Geiger Kolisch war Schönbergs Schüler und wurde 1924 sein Schwager. Allein ihre feinsinnige Bearbeitung der Suite, von der weiter unten noch zu lesen ist, lohnte für mich die Anschaffung der Edition. Ausführende sind Les Solistes de l’Opera National de Lyon. Entstanden ist die Aufnahme 1994. Sie kommt dem Original insofern entgegen, weil sie dessen impressionistisch anmutenden Beginn auf das gesamte Stück überträgt. Dadurch wirkt sie weniger massig als die Ausführung für großes Orchester. Sie nimmt Reger, der selbst unentwegt fremde Stücke bearbeitete und variierte, nichts weg. Im Gegenteil. Sie eröffnet im Vergleich mit der ursprünglichen Form neue Hörerfahrungen. Insofern hätte es sich gut gemacht, beide Fassungen gleich nebeneinander zu haben.

Ausschnitt aus einem Porträt des Komponisten. Es stammt aus der Sammlung Manskof der Universität Frankfurt am Main.

Ausschnitt aus einem Porträt des Komponisten. Es stammt aus der Sammlung Manskof der Universität Frankfurt am Main.

Klassiker der Reger-Diskographie sind die Hiller- und die Mozartvariationen mit dem Philharmonischen Staatsorchester Hamburg und den Bamberger Symphonikern unter Joseph Keilberth, der auch – ebenfalls mit den Bambergern – die Ballett-Suite eingespielt hat. Christoph Bossert ist unter anderen mit den Dreizehn Choralvorsielen an der Orgel des Palais des Fêtes in Straßbourg zu hörten, Franz Lehrndorfer mit der gewaltigen Phantasie über den Choral „Ein’ feste Burg ist unser Gott“ an der an der Orgel der St. Franziskus-Xaverius-Kirche in Düsseldorf. Der englische Pianist Mark Latimer spielt Bach- und Telemann-Variationen am Klavier. Sabine Meyer, Erich Höbarth, Peter Matzka, Thomas Riebl und Rudolf Leopold sind die Solisten beim Klarinetten-Quartett in A-Dur, Regers letztem Opus. Es wurde erst nach seinem Tod bei einer Gedenkfeier uraufgeführt. Nur angetippt ist die mit rund 300 Klavierliedern zahlenmäßig umfangreichste Werkgruppe. Olaf Bär und sein Pianist Helmut Deutsch haben mit fünf Weihnachtsliedern den größten Posten abbekommen. Dietrich Fischer-Dieskau ist mit Aribert Reimann am Klavier mit Sommernacht und Warnung vertreten, Christa Ludwig, begleitet von Gerald Moore, mit Der Brief und Waldeinsamkeit, einem der schönsten und zugleich eingängigsten Liedern aus der mittleren Schaffensepoche. Die Aufmachung der Sammlung ist nicht ohne Witz. Sie zeigt eine Folge von vier Karikaturen Regers von Willy von Beckerath als Dirigent 1909 in der Hamburger Musikhalle. Die Druckgrafik wurde von Reger sogar signiert. Sie hing an der Wand über seinem Schreibtisch in Jena. Der Mann hatte Humor.

 

Nun zu der neuen Biographie: Max Reger kannte ich schon als Zwölfjähriger. Nicht, dass dieser Komponist bekannt dafür wäre, Kinder durch zündende Einfälle für Musik einzunehmen. Das ganz bestimmt nicht. Reger hat gegen Ende seines kurzen Lebens Kinderlieder komponiert – und Kindern nahe stehender Familien gewidmet. Die sind aber eher etwas für Erwachsene, die nicht leugnen, selbst einmal Kind gewesen zu sein. Reger war auf einer Spielkarte eines so genannten Musikerquartetts abgebildet. Gemeinsam mit meinen Geschwistern vertrieb ich mir gern die Zeit damit. Alle Komponisten, die mir später wichtig wurden, habe ich zuerst als Bild in diesem Kartenspiel wahrgenommen. Wir verglichen die Abgebildeten mit Leuten in der Nachbarschaft. Gluck sah aus wie Urgroßtante Hulda. Sogar für Berlioz mit seiner wilden Frisur fanden wir eine leibhaftige Entsprechung in der Wirklichkeit. Nur Reger kriegten wir nicht unter. Er sperrte sich und führte in der kindlichen Phantasie von Anfang an ein Eigenleben.

Reger BiographieAls die Familie vom Land nach Jena zog, wurde mir bald die Musikalienhandlung, die den Namen Max Regers trug, der magischste aller Orte. Hausherr Hans Lehmann, der später Geschäftsführer der Jenaer Philharmonie wurde und inzwischen Achtzig ist, waltete mit Umsicht und Freundlichkeit über die Schätze. Eine knarrende Treppe führte hinauf ins Obergeschoss, wo die Schallplatten lagerten. Schöner konnte das Elysium nicht sein. Ob die Wolkenkratzer von New York, der Dogenpalast in Venedig oder das Bayreuther Festspielhaus – kein Ort hat mich später so fasziniert wie einst dieses Musikhaus, das ich eines Tages mit der ersten eigenen Schallplatte, der Neunten von Beethoven, verließ. Längt ist das Gebäude abgerissen. Ein Musikhaus gibt es auch in Jena nicht mehr, wohl aber die Erinnerung an Reger.

Ein junger Mann mit süddeutschem Dialekt, offenkundig einer von den 25000 Studenten in Jena, hilft mir, den Weg zu Regers Villa in der Beethovenstraße wiederzufinden. Die Jugend kennt sich also aus. Das macht Mut. Reger hatte zu Jena eine enge Beziehung. Dort wurden Teile des 100. Psalms uraufgeführt. Sein Ansehen in der Stadt war hoch. Die Universität machte ihm zum Ehrendoktor der Philosophischen Fakultät. Darauf war er sehr stolz und bedankte sich zudem mit dem Weihegesang, der bei der Einweihung des neuen Universitätsgebäudes am 1. August 1909 uraufgeführt wurde. In Jena, wo er regen Kontakt zur geistigen Elite unterhielt, hatte er schließlich mit der Villa sein erstes – und letztes – eigenes Wohnhaus. In Jena wollte der Gehetzte Ruhe finden. Eine trügerische Vorstellung. Es war zu spät. Er starb in Leipzig. Wie Bach, der sein Gott gewesen ist. Dort lehrte er am Konservatorium, dort wirkte der Freund und Berater Karl Straube, der manches seiner schwierigen Orgelwerke aus der Taufe gehoben hatte. In einem Hotelbett ist er gestorben. Mitten in der Nacht. Mutterseelenallein, sozusagen unterwegs. Das Haus in Jena gibt es noch. Nicht immer war es so schön renoviert wie jetzt. Die Gedenktafel hat überdauert. Es wird von der Universität genutzt. Ich werde freundlich eingelassen und stehe nun in dem Zimmer, in dem letzte Werke entstanden. Eine Tür führt nach draußen auf einen Balkon, darunter die Terrasse, auf der Reger mit seiner Frau Elsa und den beiden adoptierten Mädchen gesessen hat. Ein Foto findet sich in der Max-Reger-Biographie „Werk statt Leben“ von Susanne Popp, die bei Breitkopf & Härtel herausgekommen ist (ISBN 978-3-7651-0450-3). Es spricht Bände, sagt mehr als Worte über die zerrüttete Beziehung zu seiner Frau Elsa aus, die in dem Buch ausgiebig thematisiert wird.

Max Reger war stets nach der neuesten Mode gekleidet. Foto: Sammlung Manskopf Uni Frankfurt

Max Reger war stets nach der neuesten Mode gekleidet. Foto: Sammlung Manskopf der Universität Frankfurt

Der Buchtitel spielt mit Worten und Gedanken. Reger, so scheint es, hat gelebt, um zu schaffen. Etwas anderes gab es für ihn nicht. Für sich selbst, seine Familie und seine Umgebung war er eine Zumutung. Faste alle zitierten Äußerungen und brieflichen Verlautbarungen drehen sich um seine Musik. Als habe er nichts anderes gekannt – und zugelassen. Das Buch folgt akribisch allen Lebensstationen und ordnet die Werke – mit Opuszahlen sind es 146, unnummeriert kommen nochmals rund 50 hinzu – dort ein, wo sie zeitlich hingehören. Leben und Werk zerfallen nicht in zwei unterschiedliche Abteilungen. In der Verflechtung, die konsequent durchgehalten wird, besteht eine der großen Stärken des Buches, das zudem exzellent geschrieben ist. Es macht Spaß, sich durch die 464 Textseiten zu arbeiten. Aussagekräftige Kapitelüberschriften geben eine zusätzliche Orientierung. Der Apparat mit dem Werkverzeichnis verstärkt den wissenschaftlichen Anspruch. Ein Buch also, das, einmal gelesen, nicht im Regal abgestellt wird. Es ist auch noch Nachschlagewerk über Reger und seine Zeit. Die Autorin gilt als Koryphäe in Sachen Reger. Sie leitet das Max-Reger-Institut in Karlsruhe, gab Bücher heraus und veröffentlichte 2010 das Werkverzeichnis.

Der 100. Todestag des Komponisten ist ohne viel Aufhebens über die Bühne gegangen. Reger starb im Alter von 43 Jahren. Allenfalls bemühten sich die Städte, in denen er wirkte – Leipzig, Meiningen, Jena, München, Hamburg -, um lokale Erinnerung und Würdigung. Hat sich Reger, der in seiner Zeit gefeiert wurde, dem Studenten mit Fackelzügen huldigten, überlebt? Die Autorin Buch gibt viele Anstöße, dieser Frage nachzugehen. Zitiert wird der Geiger Yehudi Menuhin, der Regers Musik 1929 kennenlernte: „Er ist einer jener nicht exportierbaren Komponisten, wie sie in allen Kulturkreisen vorkommen, die den Geist ihres Landes so stark in sich konzentrieren, dass ihre Musik anderswo unverständlich bleibt.“ Versenke man sich aber zu tief in ihre Substanz, verliere man jede Orientierung. „Reger ist seit Bach vielleicht der größte Meister der Kunst der Fuge. Wirklich näher gekommen bin ich ihm nicht.“ Er habe sich leichter bewundern als lieben lassen, so Menuhin weiter. Der deutsch-holländische Komponist Julius Röntgen nannte Reger 1905 einen augenblicklichen „Mode-Componist“. Es sei, „als ob ich in einem contrapunktischen Urwald bin, worin ich vergeblich nach Musik suche. Aber seine Richtung ist mir sympathisch, weil er nicht, wie die Modernen, Philosophie und alles mögliche Teufelszeug herbeiholt, um zu componieren. Er will nichts anderes als Musik machen“, schrieb Röntgen und bracht umgehend in einen Stoßseufzer aus: „Wäre es nur auch alles Musik.“ Fritz Steinbach, Regers Vorgänger als Dirigent an der Spitze der Meininger Hofkapelle hatte beobachtet, dass dessen Anhänger vor allem in Professorenkreisen zu finden seien. Die Autorin geht noch weiter: „Sprach aus dem Interesse an Regers Schaffen nur jene konservativ-akademische Grundhaltung, die man schon den Brahms-Anhängern nachsagte? Oder war das Interesse dem größeren Antrieb, Unverstandenem auf die Spur zu kommen … zu verdanken? Lag es an dem Gespür, dass sich eine neue Logik anbahnte und Entwicklung nicht mehr vorhersehbar war, dass eine kleine Änderung der Bedingungen unvorhersehbare Folgen haben konnte, Fragen, wie sie die moderne Physik mit dem wenige Jahre zuvor entdeckten Planck’schen Wirkungsquantum und der im gleichen Jahr aufgestellten Relativitätstheorie Einsteins zu neuen Ufern führen sollte?“ Sind seine komplizierten und oft undurchschaubaren musikalischen Strukturen deshalb so schwer zu verstehen? Reger als der Wissenschaftler unter den Komponisten? Er selbst sprach ja mehrfach davon, seine Musik berechnet zu haben.

Diese Villa in Jena hat Max Reger mit seiner Familie im Jahr 1915 bezogen. Sie gehört jetzt der Universität. Foto: Winter

Diese Villa in Jena hat Max Reger mit seiner Familie 1915 bezogen. Sie gehört jetzt der Universität. Foto: Winter

Nun muss niemand ein Studium der Physik oder Mathematik hinter sich bringen, um Reger näher zu kommen. Wer aber – und das ist eine sehr theoretische Überlegung – noch nie ein Werk von ihm gehört haben sollte, der hätte nach der Lektüre eine ziemlich genaue Vorstellung davon, wie es klingt. Autorin Susanne Popp besitzt die seltene Gabe, Musik so beschreiben zu können, dass sie aus Worten herausklingt. Zumindest aber wird der enthusiasmierte Leser die Lektüre immer wieder in dem Bedürfnis unterbrechen, den gewonnenen sprachlichen Eindruck anhand einer CD überprüfen zu wollen. Das macht viel Spaß. Ist es wirklich so, wie es geschrieben steht? Am besten haben mir die Auslassungen über die Romantische Suite, op. 125, die als Nachtmusik auf Gedichte von Eichendorff konzipiert war, gefallen. Reger hatte die ersten Eindrücke dazu auf den nächtlichen Bahnfahrten zwischen Leipzig und Meiningen, wo er die Hofkapelle leitete, empfangen. „Wenn ich da durchs Fenster in die mondbeglänzte waldige wunderschöne Gegen schaue, kam mir der Wunsch, und mit ihm kamen die Melodien.“ Der Wald erscheine in Regers Phantasie als idealer Ort, seinen Traumgespinsten nachzuhängen, heißt es im Buch und weiter: „Die Texte Eichendorffs geben ihm mit Mondschein, und Dunkel, Rauschen und Dämmer, Marmorbildern und Zauberwesen Anregungen zu eigenen Assoziationen…“ Reger liebte die nächtlichen Bahnfahrten nicht zuletzt deshalb, weil er Angst hatte, zu Bett zu gehen. In diesem Abschnitt ist viel zu erfahren über sein hochsensibles Innenleben, zu dem die raumgreifende äußere Erscheinung, an der sich Zeitgenossen oft stießen, einen starken Kontrast bildet. Er konnte derb und laut sein, erzählte Witze, rauchte unentwegt und trank schon mal mit Kutschern große Mengen Bieres. Die Autorin lässt nichts weg. Leibhaftig tritt die Gestalt des Komponisten aus den Buchseiten hervor. So raumgreifend, wie er jedes Foto dominiert. Seine Frau Elsa wird mit der Bemerkung zitiert: „Er ist ein Mensch, der im Schatten aufgewachsen ist, aber er bedarf der Sonne.“ Am Ende der Romantischen Suite geht sie mit der Wucht eines Vulkanausbruches auf. „Der ist so, wie wenn Sie jemandem den Kopf festhalten, damit er in die Sonne blickt, so hell und gleißend“, schreibt er an seinen zeitweiligen Dienstherrn, den Herzog von Meiningen.

Gedenktafel für den Komponisten an der Villa in der Beethovenstraße in Jena. Foto: Winter

Gedenktafel für den Komponisten an der Villa in der Beethovenstraße in Jena. Foto: Winter

Reger hat keine Opern komponiert. Für operalounge.de wo sich alles um dieses Genre dreht, stellte sich die Frage nach dem Warum. Mit fünfzehn Jahren besuchte er 1888 Vorstellungen von Parsifal und den Meistersingern in Bayreuth – und war hin und weg. Der Jüngling, der – wie es im Buch heißt – außer Militärkapellen nie zuvor ein Orchester gehört hatte – vernahm nun gleich zwei der besten Dirigenten ihrer Zeit, Felix Mottl und Hans Richter. Später erinnert er sich, dass er „14 Tage lang geheult“ habe und dann „Musiker geworden“ sei. Obwohl der Einfluss Wagners im Werk nicht zu leugnen ist, sah er dessen „gefährliche Sogwirkung auf die Epigonen“ sehr kritisch. Er hielt Abstand und fand auch keinen Zugang zur italienischen Oper. Cavalleria rusticana verspottete er kurz nach der Uraufführung als „tragische Operette“, die bald vergessen sein werde. In diesem Irrtum liegt die Distanz. „Aber was sollen wir in der Opern nach Wagner bringen? Sollen wir noch mehr Wagnern?“ Ständig auf der Suche nach Texten für neue Lieder, wurde er bei Stefan Zweig fündig, der seinerseits von den Vertonungen Regers angetan war und – nicht uneigennützig – ein Libretto in Aussicht stellte. Brieflich hielt sich Reger bedeckt: “Was nun Ihren ,Operntext‘ betrifft, so bin ich selbstredend auf das Höchste gespannt, denselben kennen zu lernen. Aber: ob ich je – ich als ganz absoluter Musiker – eine Oper komponieren werde, das weiß ich noch nicht, bezweifle es aber sehr.“ Ähnlich reagierte er 1904 auf das Libretto-Angebot eines gewissen Otto Losch. Er, Reger, habe zu Oper und Musikdrama „absolut keine Begabung“. Nur der dürfte fürs „Theater komponieren … der sozusagen von Jugend auf“ – und nun kommt es – mit dem „Scheinleben des Theaters vertraut“ sei.

Wie feinsinnig und genau Reger mit dem Wort umzugehen verstand, davon zeugen seine Lieder und Gesänge. Sie haben das Ausdrucksspektrum dieses Genres beträchtlich erweitert und erweitern es noch. Kritik, wie sie von seinem einstigen Lehrer, dem Musikwissenschaftler Hugo Riemann kam, der von der „Vergeudung stärkerer Ausdrucksmittel“ sprach, wirken in der Umkehrung gar wie eine Würdigung. Reger wurde ein Meister des Liedgesanges. Ein Vergleich mit dem Zeitgenossen Richard Strauss drängt sich auf. In dreizehn Fällen haben sich beide die gleichen Texte vorgenommen. Bis auf eine Ausnahme wurden sie von Reger nach Strauss komponiert. Die Autorin bemüht den Musikwissenschaftler Wolfram Steinbeck. Nach dessen Feststellung präsentierte Reger sein „Gegenkonzept musikalische Textauffassung, dem zwar die Wirkungsmacht und die Emphase der Lieder von Strauss fehlen, das dagegen harmonische Subtilität und sensible Detailarbeit in die Waagschale wirft“.

 

Kuhse singt RegerAufstrebende Sänger am Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts haben sich für Reger begeistert, darunter die spätere Schwiegermutter von Peter Anders, Lula Mysz-Gemeiner. Eine der frühesten Liedeinspielungen stammt von der Altistin Ernestine Schumann-Heink. Sie nahm 1908 für Victor Des Kindes Gebet auf. Einzelne Titel auf Schelllackplatten gibt es zudem von Marcella Roeseler, Elisabeth Böhm van Endert und Selma Kurz. Eine systematische Annäherung versuchte der Pianist Michel Raucheisen mit seiner legendären Edition beim Reichsrundfunk in Berlin. Für dreiundvierzig Lieder standen ihm Emmi Leisner, Maria Müller, Walther Ludwig, Karl Wolfram, Lorenz Fehenberger und die junge Elisabeth Schwarzkopf zur Verfügung, die sich später Reger nie wieder zuwandte. Von Erna Berger existiert eine schöne Aufnahme von Mariae Wiegenlied, dem bekanntesten Reger-Lied, aus ihrer späten Zeit. Christa Ludwig hat Reger zumindest gestreift, und Hermann Prey widmete sich ihm in seiner großen Liedersammlung. Einzig Dietrich Fischer-Dieskau nahm Orchester- und Klavierlieder schwerpunktmäßig auf. In der DDR war es die Sopranistin Hanne-Lore Kuhse, die sich intensiv mit Max Reger beschäftigte. Neun Lieder dominieren eine Platte von 1973, die inzwischen auch mehrfach auf CD (Berlin Classics) herausgekommen ist. Sie erfasst mit ihrer Auswahl das ganze Spektrum Regerschen Liedschaffens, bewegt sich zwischen Melancholie und an Bergs Lulu erinnernden Extremen. Stilistisch kann sie mit Aufnahmen neueren Datums durchaus mithalten.

 

Erst nach der Jahrtausendwende gab es neue Anläufe, Lieder von Reger konzentriert einzuspielen. Im Jahr 2000 gingen die Mezzosopranistinnen Iris Vermillion für cpo und Frauke May für Arte Nova ins Studio. Der Bariton Thomas Pfeiffer nahm 2007 eine CD bei Bayer Records auf. Ein Jahr später folgte ihm der Tenor Markus Schäfer mit einem reinen Reger-Programm auf NCA.

Reger Lieder HyperionAus Großbritannien kommt eine neue CD mit der englischen Sopranisten Sophie Bevan. Auf der Bühne hat sie Pamina in der Zauberflöte, Susanna im Figaro, Sophie im Rosenkavalier und Rollen in Werken von Händel und Monteverdi gesungen. Sie steht noch am Anfang ihrer Kariere. Umso erstaunlicher ist die Hinwendung zu Reger. Dabei dürfte auch der Plattenverlag hyperion nachgeholfen haben, der für seine Ausgrabungen und ungewöhnlichen Programme bekannt ist. Am Klavier ihrer CD wird die Sängerin vom schottischen Pianist Malcolm Martineau begleitet, der vornehmlich als Liedbegleiter wirkt (hyperion CDA68057). Die Sammlung geht insofern kein Risiko ein, als sie die Zugnummern enthält, darunter auch das bereits erwähnte Mariae Wiegenlied, das seine Popularität vor allem seiner Schlichtheit und Anmut verdankt. Im Vergleich mit anderen Liedern ist es ausgesprochen melodiös und verfügt über einen hohen Wiedererkennungswert, was bei Reger etwas heißen will. Es finden sich gleich mehrere der Titel, die auch von Strauss vertont wurden wie Morgen und Waldseligkeit. Die lyrische Stimme kommt den fein gestrickten Liedern entgegen und rückt sie in die Nähe des französischen Impressionismus. Technisch bereiten die Kompositionen der Sängerin keine Probleme. Schwierigkeiten offenbaren sich stattdessen im Umgang mit der deutschen Sprache. Im Booklet, das die unablässigen harmonischen Schwankungen, die häufigen Dynamik- und Tempowechsel und ein Verwischen der rhythmischen Akzente als typisch für Regers Liedschaffen hervorhebt, sind die Texte zum Mitlesen auch in der Muttersprache abgedruckt. Wie der Biographie zu entnehmen ist, hat Reger London besucht, wo die neue CD produziert worden ist. Verehrer hatten dort 1909 ein kleines musikalisches Fest zu seinen Ehren veranstaltet. Nachwirkungen seitens Regers sind offenbar nicht überliefert. Ein erst 1946 veröffentlichter Erinnerungsbericht des Verlegers Willy Strecker, der als junger den Fremdenführer für Reger in der britischen Metropole gab, verharrt weitestgehend im Anekdotischen, lässt aber nicht unerwähnt, dass sein Kunstverstand genau so groß war wie sein Appetit auf Weißwürste. Rüdiger Winter

 

Max Reger

Max Reger mit seiner Frau Elsa und den Adoptivtöchtern Lotti und Christa sowie dem Dackel 1905 auf dem Balkon der Villa in Jena, der noch genau so erhalten ist. Einen zufriedenen Eindruck machen nur die Kinder. Das Foto, das auch im Buch abgedruckt ist, überließ uns das Fotozentrum der Friedrich-Schiller-Universität Jena zur Veröffentlichung. Dafür herzlichen Dank.

 

Zu viel Henze, wenig Meyerbeer, kein Mayr

 

Ein gutes, erklärendes Handbuch kann sich für einen Opernbesuch mitunter als notwendiger erweisen als das schicke Abendkleid für die Dame oder der feiner Zwirn für den Herrn. Zumal heutzutage. Regisseure neigen dazu, Werke aus ihrem historischen Kontext zu reißen, Figuren des Mittelalters in Jeans zu stecken, statt eines Waldes eine gähnend leere Bühne zu präsentieren. Nicht immer wird auf Anhieb klar, wer denn nun wer ist, und warum jemand mit einer Maschinenpistole herumfuchtelt, statt das Schwer zu schwingen. Aktualisierungen der alten Stoffe erschließen sich nicht in dem Maße, in dem die Handlung voranschreitet. Und nicht immer passt es. Wer sich also vor einer Aufführung schlau machen beziehungsweise das eigenen Wissen überprüfen will, ist mit dem Handbuch der Oper gut bedient. Es ist in vierzehnter, grundlegend überarbeiteter Auflage als Gemeinschaftsproduktion der Verlage Bärenreiter (ISBN 978-3-7618-2323-1) und Metzler (ISBN 978-3-476-02586-9) erschienen. Mit der ISBN-Nummer 978-3-7618-7093-8 wird es auch als eBook angeboten. Für unterwegs ist das praktisch, denn das 950 Seiten umfassende Konvolut passt nicht in jede Handtasche. Es ist regaltauglich. Berücksichtigt sind nunmehr 340 Opern vom Frühbarock bis zur Gegenwart. Die frappierende Aktualität der neuen Ausgabe stellt sich bereits auf dem Einband dar. Gezeigt wird eine Szene aus Miroslav Srnkas Oper South Pole, die 2016 an der Bayerischen Staatsoper München uraufgeführt wurde, von Hans Neuenfels in Szene gesetzt und von Kirill Petrenko dirigiert. Sie kam ins Fernsehen und fand bei Publikum und Presse begeisterte Aufnahme. Das Werk selbst wird auch gebührend behandelt. So breit gefächert, wie es dieser brandneue Titel erwarten lässt, ist das Repertoire des Handbuches allerdings nicht.

Allenthalben klaffen schmerzhafte Lücken. Während von Rameau sechs Werke Berücksichtigung fanden, wird Meyerbeer mal eben nur mit zweien, nämlich Hugenotten und Prophet, abgespeist. Dabei ist gerade dieser Komponist in letzter Zeit erfreulich oft auf den Spielplänen erschienen. Mit Vasco da Gama wurde die ursprüngliche Fassung seiner Africaine neu entdeckt. Die Deutsche Oper Berlin hat ihren Meyerbeer-Zyklus mit Dinorah begonnen und mit  Les Huguenots fortgeführt. Nürnberg, Kiel und Würzburg stehen Meyerbeer-mäßig nicht nach.

Zudem kommen deutsche Opern  viel zu kurz. Zar und Zimmermann und Wildschütz reichen für Lortzing eben so wenig wie der Vampyr für Marschner, dem wenigsten noch sein Hans Heiling zu gönnen gewesen wäre. Otto Nicolai muss sich mit seinen ewigen Lustigen Weibern bescheiden, obwohl mit Aufführungen von Templario und Heimkehr des Verbannten endlich seine in Italien gewonnene Belcanto-Meisterschaft Anerkennung findet. Vergeblich sucht man auch Johann Simon Mayr, der inzwischen nicht mehr nur als Lehrer von Donizetti wahrgenommen wird. Bei allem Respekt für Hans Werner Henze stellt sich die Frage, ob es denn gleich neun (!!!) seiner Opern sein müssen. Und Manfred Trojahn ist mit fünf (!!!) Titeln auch mehr als gut bedient, während Wagner-Regény, Siegfried Wagner, Otmar Gerster oder Siegfried Matthus leer ausgehen. Die Reihe solcher Beispiele ließe sich fortsetzen.

Jene Werke aber, die Eingang in das Handbuch gefunden habe, sind exzellent und erschöpfend abgehandelt. In diesen gut lesbaren Texten offenbart sich die hohe Qualität dieser überarbeiteten Auflage. Bei allen Werken wird weitgehend nach dem gleichen Muster verfahren, was den raschen Zugang erleichtert. Es finden sich alle Personen, Orte und Schauplätze, es gibt Hinweise auf die Gliederung, die Zusammensetzung des Orchesters und die Spieldauer. Handlung, stilistische Stellung, Textdichtung und Geschichtliches werden getrennt und ausführlich behandelt, Unterschiede in einzelnen Fassungen verständlich herausgearbeitet. Sogar bei Verdis Don Carlos, dem Prüfstein für die genaue Dokumentation der unterschiedlichen Bearbeitungen in Opernführern, bleiben keine Fragen offen. Das Problem des Handbuches sind nicht die Texte, sondern die Proportionen.

Handbuch der OperDabei haben es sich die Herausgeber nicht leicht gemacht. Wo sollen sie anfangen, wo enden? Was aufnehmen, was weglassen? Ein Buch von fast tausend Seiten kommt auch an Grenzen. Beiträge früherer Auflagen und verstorbener Autoren waren mit neuen Texten zu verbinden. Im Vorwort wird das genau erklärt. Gleich am Beginn macht der Musikschriftsteller Robert Maschka deutlich, dass Opernführer letztlich nur die „in den Opernhäusern stattfindenden Veränderungen“ reflektieren. Das ist nachzuvollziehen, wird aber nicht konsequent genug durchgehalten, wie die Beispiele Nicolai, Meyerbeer oder Mayr zeigen. Eine Presse-Information zur Neuerscheinung versieht Bärenreiter mit der etwas altbackenen Überschrift „Oper zum Schmökern“. Und es werden einige Fragen aufgeworfen, die sich im Handbuch beantwortet finden sollen. „Wie heißt Wotans Schwester?“ Hm! Wer sollte das sein? Der hat ja gar keine. Freia, die am ehesten in Frage käme, kann es nicht sein. Die ist nämlich Frickas, der Gattin Wotans, Schwester und damit dessen Schwägerin. Fricka nennt sie denn auch im Rheingold ihr „holdes Geschwister“ und Freia selbst fleht Wotan als „Schwäher“ an. Er soll sie vor der Zudringlichkeit der Riesen schützen. Schwäher ist eine sprachlich veraltete Form für Schwager oder auch für Schwiegervater.

Und – so wird weiter gefragt – „Wer fordert seinen Herrn zum Tänzchen heraus?“ Ja, wer denn wohl? Der gestandene Opernfreund hat natürlich diverse deutsche Übersetzungen von Mozarts Figaro im Kopf. Er weiß, dass sich die Frage aus Figaros Kavatine im ersten Akt herleitet, mit der er dem Grafen den Kampf ansagt, weil er nicht von Susanna lassen will. Mal ist von Tanz, mal von Tänzchen die Rede. Je nach Übersetzer – ballare eben. Aus dem Buch erfährt man die Antwort auf die Frage jedenfalls nicht, zumal das Stück heute stets im italienischen Original gegeben wird. Während die Oper in der Erstnennung des Titels im entsprechenden Kapitel des Handbuches sehr richtig als Le nozze di Figaro gelistet ist, nennt es im Widerspruch dazu bei etlichen fremdsprachigen Werken den alten deutschen Titel zuerst – Iphigenie in AulisDer Barbier von SevillaDas Mädchen aus dem goldenen WestenDer TroubadourDie Macht des SchicksalsHugenotten und Prophet waren schon genannt. Diese verwirrende Handhabung, die den Lesern nicht nützt, erklärt sich auch aus der langen Entstehungsgeschichte des umfangreichen Nachschlagewerks. Bei Monteverdi konnten sich die Autoren nicht für ein einheitliches Verfahren entscheiden. Beim Ritorno di Ulisse wurde der deutsche Titel (Die Heimkehr des Odysseus) bevorzugt, bei L’incoronazione di Poppea der italienische. So unterschiedlich tauchen beide Stücke auch im Register auf. Angleichungen wären sinnvoll gewesen. Dem Handbuch ist also eine 15. grundlegend überarbeitete Auflage zu wünschen. Rüdiger Winter

 

„Hinauf! Hinauf strebt’s!“

 

Elisabeth Schwarzkopf ist bei Warner angekommen. Eines muss man dem Unternehmen lassen. Es geht allen ursprünglichen Bedenken zum Trotz sorgsam mit den Übernahmen der EMI um. Die Schwarzkopf war allein schon wegen ihrer Heirat mit dem einst mächtigen EMI-Produzenten Walter Legge noch ein bisschen mehr als nur eine Exklusivkünstlerin. EMI und Schwarzkopf, das war eins. Nun wurden Aufnahmen dieser Sängerin aus der Schelllack-Ära, die zwischen 1946 und 1952 entstanden, komplett in einer Edition versammelt (0190295955175). Fünf CDs, randvoll gefüllt. Der silberne Rücken der Box sticht aus dem Regal hervor. Selbst in dieser nur vorgetäuschten Kostbarkeit ist die Aufmachung der Künstlerin und ihrem Programm angemessen. Es ist vielseitig, reicht von Mozart über Puccini, Verdi, Charpentier, Bizet, Beethoven, Händel und Strauss bis hin zu Wolf, Schubert, Schumann, Brahms und Methner. Konturen ihres späteren Wirkens, bei dem sie sich schließlich neben dem Liedgesang nur noch auf wenige Opernpartien konzentrieren sollte, werden bereits deutlich. Übrig bleiben würden vor allem Mozart, Strauss und ein breit aufgestelltes Lied-Repertoire mit Hugo Wolf im Zentrum. Nicht als Anfängerin wurde Elisabeth Schwarzkopf mit ihren damals gut dreißig Jahren unter Vertrag genommen. Bereits 1939 hatte sie für die Teldec erste Aufnahmen gemacht, in diversen Produktionen des Reichsrundfunks Berlin mitgewirkt, sogar in Spielfilmen und gemeinsam mit dem Pianisten Michael Raucheisen viele Lieder erarbeitet. Sie brachte Erfahrungen in Studios mit. Unter diesen Bedingungen fühlte sie sich wohl. Was nicht auf Anhieb gelang, konnte wiederholt werden, einmal, zweimal, dreimal. Bis zur Perfektion, bis zu dem Resultat also, was dafür gehalten wurde.

Schwarzkopf Schelllacks Warner EditionMit 106 Szenen Arien, Duetten und Liedern erweist sich die Edition als Fundgrube. Wo anfangen? Bei „Martern aller Arten“ aus der Entführung aus dem Serail. Die Arie vom 23. Oktober 1946 ist der früheste Titel. Eine Woche später, am 2. November, wurde „L’amerò, sarò costante“ aus Il re pastore im Stil einer großen getragenen Konzerarie eingespielt. Vom Italienischen ins Englische wechselt die Sängerin mit der Szene „First and chief on golden wing“ aus Händels Oratorium L’allegro il penseroso ed il moderato, die in schwindelnden Höhen schließt, um dann gleich noch – alles an diesem einen Tag – Mozarts lateinische Motette Esultate, jubilate nachzulegen. Wenn das nicht professionell ist, was dann? Vielfalt ist Programm. In der Kopplung mit Bachs Kantate  „Jauchzet Gott in allen Landen“ hatte eine spätere Produktion der Motette von 1948 auf LP Kultstatus erlangt. Beide Werke stehen nun auch in der neuen Sammlung als Zwillinge direkt beieinander. Wie nicht anders zu erwarten in einer Schelllack-Kollektion, wird zwischen den Genres, den Sprachen und Aufnahmeorten hin und her gesprungen. Bald wird die Produktion in das berühmte Studio 1 an der Abbey Road in London verlagert. Dort gelangten auch die Arien der Pamina „Ach ich fühl’s“ und der Violetta „È strano!“ in englischer Übersetzung auf Platte. In Covent Garden ist die Sängerin so auch in beiden Rollen aufgetreten. Auf Arien aus Puccinis La Bohème (Mimi), Gianni Schicchi (Lauretta) und Turandot (Liù) folgen – als müsst’s so sein – Weihnachtslieder. Ein ähnlich greller Schnitt wird auf einer anderen CD praktiziert, wenn sich nämlich die englische vorgetragenen „Stille Nacht“ („Silent Night“) versöhnlich an die Szene „Tot denn alles“ aus Wagners Tristan und Isolde reiht. Darin übernahm die Schwarzkopf die Einwürfe der Brangäne (!!!). Aus dem Zusammenhang gerissen hinterlässt diese Besetzung Verwunderung. Ursprünglich ergänzte der Ausschnitt eine Platte des Bassisten Ludwig Weber, in deren Zentrum König Markes Klage stand. Elisabeth Schwarzkopf war mal wieder „eben“ eingesprungen.

"Der Nussbaum" von Robert Schumann als Schelllackplatte. Das von Gerald Moore begleitete Lied wurde 1951 eingespielt.

„Der Nussbaum“ von Robert Schumann als Schelllackplatte in der Begleitung von Gerald Moore. Die Einspielung entstand 1951 in London und ist auch in der Edition zu finden. 

In der umfangreichen Diskographie von Elisabeth Schwarzkopf gibt es einige solcher Besonderheiten, die mich immer berührt haben. Ihre erste Aufnahme unter der Leitung von Walter Legge mit der jungen Schwarzkopf war die Gesamtaufnahme der Zauberflöte mit Thomas Beecham am Pult. Sie entstand 1937 und 1938 in der alten Philharmonie in Berlin, die im Krieg zerstört wurde. Die Schwarzkopf sang im Chor. Sie war Mitglied der Favres Solisten Vereinigung, einem aus Solisten bestehenden Ensemble, wie es später in der DDR Helmut Koch beim Berliner Rundfunk als Solistenvereinigung weiterführte. Der Chor in dieser Produktion ist also kein gewöhnlicher Opernchor. Wer genau hinhört und mit der Stimme der jungen Schwarzkopf vertraut ist, wird sie unter Kopfhörern heraushören. Deshalb wird diese Zauberflöte auch in der Diskographie der Sängerin „A Career on Record“ von Alan Sanders und J. B. Steane als frühestes Dokument gelistet. Natürlich gibt es noch mehr Aufnahmen aus dieser Zeit, darunter Verdis konzertante Rundfunk-Alzira aus Berlin, bei der sie im allerletzten Moment für die Hauptrolle einsprang, eben weil sie dieser gut aufgestellten Chorvereinigung angehörte. Sie konnte das ihr unbekannte Stück exakt vom Blatt singen. Szenen aus Boris Godunow entstanden 1950 in London. Das Philharmonia Orchestra wird dabei von Issay Dobrowen geleitet. Legge hatte sich dafür den jungen Boris Christoff geholt, der am Beginn seiner Weltkarriere stand. Für mich gehört diese Aufnahme zum Besten, was Christoff hinterlassen hat, so dicht und authentisch wirkt sie. In der Todesszene lieh Elisabeth Schwarzkopf dem herbeigerufenen Zarewitsch Fjodor ihre Stimme. In den CD-Veröffentlichungen, die ich kenne, wird die Schwarzkopf aber nicht genannt, wohl aber in der erwähnten Diskographie. Ein großes Geheimnis gab es um die hohen Töne, die sie ihrer Kollegin Kirsten Flagstad bei der TristanStudioproduktion im zweiten Aufzug lieh. Als das publik wurde, war die Flagstad sehr gekränkt und wollte eigentlich gar keine Aufnahmen mehr machen. Es sollte – zum Glück – anders kommen. Dem Mythos der Aufnahme mit Wilhelm Furtwängler am Pult konnte dieser kleine Trick nie etwas anhaben. Zum Schluss muss noch das wohl seltsamste Dokument in der Schwarzkopf-Diskographie genannt werden. Sie spricht in der Fidelio-Einspielung Otto Klemperers für die Marzelline von Ingeborg Hallstein den Dialog. In den Angaben zu der Produktion ist diese Tatsache diskret beiseite gelassen.

Zurück zur Warner-Sammlung, in der es noch eine dieser typischen Schwarzkopf-Immortellen gibt, bei der sie sich als praktische Aushilfe im Hintergrund zur Verfügung stellte. Herbert von Karajan nahm 1947 im Wiener Musikverein sein erstes Brahms-Requiem auf. „Sie erholte sich gerade von einer Operation und erschien bleich und matt zu den Sitzungen“, zitiert Alan Sanders, der auch als Booklet-Textautor in Erscheinung tritt, Legge. „Als ihr auffiel, dass Karajan und ich am Verzweifeln waren, weil die Soprane im Chor immer wieder schief sagen, erklärte sie sich bereit, sich zu ihnen zu stellen, damit sie den Ton halten konnten.“ Berücksichtigt ist leider nur das Sopran-Solo „Ihr habt nun Traurigkeit“, in dem sich die Rekonvaleszenz der Sängerin als Entrücktheit niederzuschlagen scheint.

Eine Fundgrube an Informationen sind die Memoiren von Elisabeth Schwarzkopf und Walter Legge - hier in der Originalfassung. In deutscher Sprache ist das Buch 1982im NOK-Hübner Verlag erschienen (ISBN 3-88453-018-8).

Eine Fundgrube an Informationen sind die Memoiren von Elisabeth Schwarzkopf und Walter Legge – hier in der Originalfassung. In deutscher Sprache ist das Buch 1982im NOK-Hübner Verlag erschienen (ISBN 3-88453-018-8).

„Die glücklichsten Zeiten meines Lebens hatte ich im Aufnahmestudio. Es war wie Bildhauerei oder Malerei, nur eben mit Klang. Ich liebte die Proben, und zwar nicht nur meine eigenen, sondern auch die anderer Künstler“, greift Sanders eine Äußerung der Sängerin in seinem Text auf. Ohne Zweifel, die Wirkung des Resultats dieser Arbeit ist noch immer zu spüren. Auch wenn das stimmliche Ideal, das die Schwarzkopf verkörpert, mit heutigen Vorstellungen und Erwartungen nicht mehr kompatibel ist. Ich staune über ihren Gesang wie über ein Kunstwerk aus vergangener Zeit, das so niemand mehr herstellt oder herstellen kann, das aber gerade aus dieser Tatsache seine Einmaligkeit, Kostbarkeit und seine Wert bezieht. Deshalb ist es nur logisch, wenn sie selbst ihre Arbeit mit Malerei oder Bildhauerei verglich. Für mich bleibt sie ein Bespiel dafür, was Menschen mit ihrer Stimme leisten können, was möglich ist an Klangfarbe und Ausdruck – wenn sie sich denn das Letzte abverlangen. Die Schwarzkopf hat es unter großen Anstrengungen vermocht. Zeugnis davon legt die neue Edition ab. In ihrem Perfektionsdrang war sie gnadenlos, gnadenlos gegen sich selbst. Dabei ist einiges an ursprünglicher Natürlichkeit verloren gegangen. Was ihr Kritiker später als Manieriertheit würden vorhalten, tritt in den frühen Einspielungen noch nicht so deutlich hervor. Ist diese fundamentale Kritik gerecht? Meiner Meinung nach nicht. Denn es hieße, das Phänomen Schwarzkopf zu verkennen, wollte man Schlichtheit erwarten, wo sie hohe Schule des Gesangs am Altar der Kunst zelebrierte. Übersteigerungen und Übertreibungen liegen im Wesen ihrer Stimme und ihres Wollens. Niederungen waren ihre Sache nicht. „Hinauf! Hinauf strebt’s!“ Die Zeile aus Goethes Gedicht Ganymed könnte Wahlspruch ihrer Arbeit gewesen sei. Sie hat das Lied sowohl in der Vertonung von Schubert als auch von Wolf gesungen. Wolf liegt ihr mehr. Im himmlischen musikalischen Aufstieg des Liedes hat die Stimme jenen überirdischen Touch, wie er selbst bei der Schwarzkopf selten ist. Aus der frühen Zeit gibt es keine Aufnahme. Erst 1956 wurde Wolfs Ganymed erstmals eingespielt.

Aus der ersten Aufnahme des Brahms-Requiems unter Herbert von Karajan von 1947 ist nur das Sopransolo übernommen.

Aus der ersten Aufnahme des Brahms-Requiems unter Herbert von Karajan von 1947 ist nur das Sopransolo übernommen. Die Gesamteinspielung ist aber unter dem EMI-Logo noch erhältlich.

Mit neunzehn Titeln ist Wolf auf schon auf den Schelllackplatten überproportional vertreten, wie die Edition nun offenbart. So sollte es bleiben. Wiegenlied im Sommer und Storchenbotschaft sind zweifach vorhanden. Der Wolf-Visionär Legge hatte schon in den dreißiger Jahren bedeutende Sänger – darunter Tiana Lemnitz, Elisabeth Rethberg, Karl Erb, John McCormak, Helge Rosvaenge, Herbert Janssen und Alexander Kipnis – für seine bis heute einzigartige Hugo Wolf Society gewonnen. Dieses Unternehmen hat sehr viel dazu beigetragen, den Namen des Komponisten in die Welt zu tragen. Darauf konnte die Schwarzkopf aufbauen. Zunächst klingt sie nicht so ausgeklügelt und raffiniert wie später, wo sie die Interpretation gelegentlich auf die Spitze trieb und des Guten zuviel in die Gesänge hineinlegte. Eine gewisse Einfachheit gereicht auch diesem Komponisten zur Ehre. Da sie bis zum Schluss fast ausnahmslos jeden ihrer Liederabende und selbst ihr allerletzte Platte „To My Friends“ bei der Decca, die 1979 abgeschlossen wurde, mit einer üppigen Wolf-Gruppe versah, waren die Möglichkeiten irgendwann ausgereizt.

Technische Wunder sind nicht zu erwarten. Das kann und soll auch nicht sein. Das Wunder ist die Kunst. Schließlich handelt es sich bei den Vorlagen der Zusammenstellung um Schelllacks. Kenner wissen, was das bedeutet. Sie schätzen den originalen Klang und erwarten auch in diesem Fall gar kein gestochenes, verfremdendes Stereo. Was technisch möglich ist, scheint möglich gemacht worden zu sein. Nicht mehr und nicht weniger. Nachdem Warner 2015 zum hundertsten Geburtstag von Elisabeth Schwarzkopf bereits ihre kompletten Recitals, die sie zwischen 1952 und 1974 für die EMI eingespielte, neu vorlegt hat, schließt sich mit dieser Wiederausgabe/Neuerscheinung ein Kreis. Rüdiger Winter

 

Schwarzkopf Box Warner

Das große Foto oben ist ein Ausschnitt des Covers der „neuen“ Edition mit den kompletten Schelllackaufnahmen von Elisabeth Schwarzkopf. Es unterscheidet sich nur leicht von der Aufmachung der Warner-Sammlung aller Recitals der Sängerin, die zwischen 1952 und 1974 bei der EMI entstanden und 2015 bei Warner neu herausgekommen sind (inks). Nun lächelt sie geheimnisvoll. Das Foto der Recital-Sammlung mit insgesamt 31 CDs zeigte sie ernster und nachdenklicher. Dazu auch die  Besprechung auf operalounge.de.

Wahnfried neu inszeniert

 

Ein neues Buch macht Lust auf einen Besuch in Bayreuth. Jetzt herrscht dort nämlich genau die Stille der Einkehr, um sich das Werk Richard Wagners, des einst berühmtesten Bewohners der Stadt, zu vergegenwärtigen. Das geht auch ohne stundenlange Opernvorstellung. Ist das Festspielhaus droben auf dem Grünen Hügel erst einmal winterfest gemacht wie eine Sommerfrische, gibt sich Bayreuth auf eine sympathische Weise verschnarcht. Eine gemütliche Bleibe findet sich, der Schweinsbraten, dem selbst mancher Vegetarier nicht widerstehen kann, schmeckt im Winter ohnehin besser als im Sommer. Dazu ein frisch gezapftes Maisel’s vom Fass. Was will man mehr.

Schnurstracks führt der Weg in die Richard-Wagner-Straße 48. Wahnfried – Das Haus von Richard Wagner. So auch der Titel des Buches von Markus Kiesel und Joachim Mildner, das in der Verlagsgesellschaft ConBrio erschienen ist (ISBN 978-3-940768). Kiesel, Musikwissenschaftler und Kulturmanager, hat über Siegfried Wagner promoviert. Mildner studierte Graphic Design, Kunstgeschichte und Architektur und arbeitete als Regieassistent am Opernhaus in Kassel. Ihr üppig ausgestatteter Band gleicht selbst einer Theaterinszenierung, die rechts neben die deutschen Textspalten gestellte englische Übersetzung der Übertitelung im Opernhaus. Es wird mit allen graphischen Raffinessen gespielt. Farbe trifft auf Schwarzweiß, ein Stich ist rot umrandet, auf den Fotos, die den Erweiterungsbau in magisches Licht tauchen, fällt nicht eine Linie, mal verdichtet sich eine Ansicht wie gestochen zur Miniatur, dann wieder wird ausladend geklotzt. Was die Herausgeber zu bieten haben, will mehr sein als ein Führer durch die Gedenkstätte nach dem Umbau. Und das ist es auch.

Wahnfried BuchAuf 175 großformatigen Seiten findet sich die wechselvolle Geschichte des Anwesens dargestellt von den ersten Ideen und Plänen bis in die unmittelbare Gegenwart. Fotos eröffnen einen Einblick in die vollgestopften offiziellen Räume, wie sie Wagner selbst noch bewohnt hatte. Schlafgemächer und Hinterzimmer bleiben ausgespart. Auch die Küche im Souterrain, von der es einen Speisenaufzug nach oben gab, ist offenbar nie abgelichtet worden. Ebenso die Badezimmer und Toiletten. Das schickte sich nicht. Fauteuils, Teppiche, Wandspiegel, Paravents, Vorhänge, Büsten und Palmenständer türmten sich. Eine Orgie des schlechten Geschmacks der Gründerzeit. Nach dem Tod des Hausherrn 1883 wurde der Zustand konserviert. Kein Federhalter durfte berührt, kein Stuhl verrückt werden. Barett und Hausmantel des Meisters verschwanden unter einer Glocke Mottenpulver. Umso heftiger war die verheerende Wirkung der Sprengbombe, die den zum Garten gelegenen Teil der Villa kurz vor Kriegende am 5. April 1945 traf. Vom Saal, in dem Wagner gern seine Getreuen versammelt hatte, auf Gemälden, Stichen und Ansichtskarten oft gezeigt, blieb nichts übrig. Bekanntlich war dort auch die Bibliothek untergebracht, die allerdings vor der Zerstörung gemeinsam mit wichtigen Archivalien in Sicherheit gebracht werden konnte. Der Eindruck, den Fotos vermitteln, ist verheerend. Ein passendes Zitat haben die Autoren im zweiten Aufzug des Lohengrin aus dem Munde des Grafen Telramund gefunden: „So zieht das Unheil in dies Haus!“ Wenn es sich denn nicht schon lange vorher in Gestalt Adolf Hitlers und seines Gefolges darin festgesetzt hätte. Der Diktator ging in Wahnfried ein und aus.

Wagners Grab 2

Ein Blick über das Grab Richard Wagners auf die Gartenfront des Hauses Wahnfried. Sie war im Krieg völlig zerstört worden. Foto: Winter

Nach der Lektüre habe ich nicht den geringsten Zweifel daran, dass sich diese Neugestaltung, die auch dezente Eingriffe in die historische Substanz erforderlich machte, die einzige Möglichkeit ist, diesen Ort zukunftsfähig zu machen. In wieweit die Virtualität des Buches dem direkten Vergleich mit der Wirklichkeit standhält, wird sich bei der persönlichen Inaugenscheinnahme herausstellen. Geöffnet ist das Museum Dienstag bis Sonntag zwischen 10 und 18 Uhr. Im Juli und August täglich. Fast reflexartig möchte man gleich ins Auto steigen oder eine Fahrkarte für die Bahn buchen. Ich bin jedenfalls sehr gespannt. Die Gefahr, in eine Touristenfalle zu tappen, ist ausgeschlossen. Ein „besonderer Dank“ an die Stadt Bayreuth und seine Oberbürgermeisterin Brigitte Merk-Erbe, der noch vor dem Inhaltsverzeichnis schriftlich abgestattet wird, sollte keinen Argwohn wecken. Schließlich hat Bayreuth neben Wagner, Schweinsbraten und Weißbier auch noch andere schöne Dinge zu bieten – Museen, Galerien und das einzigartige Markgräfliche Opernhaus aus dem achtzehnten Jahrhundert, welches in den Rang eines Unesco-Welterbes erhoben wurde.

Opernhaus Balkon

Bayreuth ist mehr als Richard Wagner. Wer die Stadt besucht, sollte sich nicht das Markgräfliche Opernhaus entgehen lassen. Foto: Winter

An meinen ersten Besuch in Wahnfried Anfang der neunziger Jahre erinnere ich mich noch sehr genau. Damals bin ich ehrfürchtig angereist und enttäuscht von dannen gezogen. Zwar hatte das Gebäude nach seinen schweren Bombenschäden im Krieg seine ursprüngliche Gestalt zurückerhalten. Saal und Halle wirkten aber abweisend und kühl, die oberen Etagen verströmten den biederen Charme eines Heimatmuseums. Nichts war mehr echt, nichts inspirierend. Devotionalien, die der Krieg übriggelassen hatte, wären so auch auf einem guten Flohmarkt zu finden gewesen. Es eröffnete sich keine rechte Distanz für den Betrachter. Stattdessen wurde ihm die Illusion vermittelt, im Haus Richard Wagner zu sein – wo sein „Wähnen Frieden fand“. Glaubt man den Fotos und den Berichten, soll das nun anders sein. Im Buch wird der Architekt der Generalsanierung und des Erweiterungsbaus, Volker Staab, interviewt. Auch wenn er zu „Wagner nie eine innige Beziehung hatte“, bringe er großen Respekt vor dem historischen Erbe mit, das er in Bayreuth vorgefunden hatte. Mit seiner Rekonstruktion habe er versucht, sich mit dem Inhalt und dem Ort authentisch auseinanderzusetzen.

Dieses Buch über Winifred Wagner führt auch nach Wahnfried. Die Autorin Brigitte Hamann ist am 4. Oktober 2015 gestorben.

Dieses Buch über Winifred Wagner bei Piper führt auch nach Wahnfried. Die Autorin Brigitte Hamann ist am 4. Oktober 2016 gestorben.

Einbezogen in die neue Gestaltung ist auch der Anbau von Wahnfried, das so genannte Siegfried-Wagner-Haus mit seinem Pavillon, wo dessen 1980 verstorbene Witwe Winifred wie ein leibhaftiges Menetekel residierte. Wie es dort in ihren letzten Jahren ausgesehen hat, davon konnten sich die Zuschauer eines Filminterviews überzeugen, das sie 1975 dem Filmemacher Hans-Jürgen Syberberg gegeben hat. Es ist im Fernsehen gezeigt worden und liegt auch als DVD vor. Während des Gesprächs bekannte sie sich ungebrochen zu ihren Freundschaft mit Hitler. Wenn der „hier zum Beispiel zur Tür hereinkäme“, sie wäre genau so fröhlich und glücklich, ihn zu „sehen und zu haben, als wie immer“. Als ich nach Wahnfried kam, hatte ich diese ungeheuerliche Bemerkung, die seinerzeit als handfester Skandal durch die Medien ging, und in der DDR gegen die Bundesrepublik ausgeschlachtet wurde, als geistiges Gepäck bei mir. So etwas vergisst sich nicht. Und das ist auch gut so. Wer den Ort aufsucht, muss darauf gefasst sein, auf dieses düstere Kapitel deutscher Geschichte zu stoßen.

Ein bisschen Familientherapie betreibt – wie nicht anders zu erwarten – Nike Wagner in ihrem sprachlich funkelnden Vorwort, das ich sehr gern gelesen habe. Als Tochter des Wagner-Enkels Wieland hatte sie ihre Kindheit in Wahnfried verbracht. Ihr Vater hatte den ausgebombten Bereich radikal ergänzen lassen. Das Gebäude wurde nach hinten ein „typischer Neubaus der Adenauerzeit“, wie es im Buch heißt. Fotos belegen das. Für viele Nachgeborene „mag es unvorstellbar sein, dass dieses von der Musikgeschichte geadelte und von der Baugeschichte geschundene Haus einmal eine Villa Kunterbunt“ gewesen sei. Eine Familienvillamit aller nur denkbaren Lebendigkeit und Turbulenz, voller kurioser, liebenswerter und schwer verträglicher Figuren, immer bewegt und durchtränkt von dem Anspruch, das Erbe halten und mehren zu wollen“. In einem Museum hätte er nicht leben wollen, zitiert Nike Wagner ihren Vater, der damit „dem neuen Leben aus den Ruinen“ seine Reverenz erwiesen habe. Rüdiger Winter

Das große Foto oben zeigt die Büste des Bayern-Königs Ludwig II. vor dem Eingang zum Haus Wahnfried. Foto: Winter

Das letzte Konzert

 

Arthaus hat Otto Klemperer, der unter den großen Dirigenten des 20. Jahrhunderts eine der interessantesten Gestalten ist, eine repräsentative Box gewidmet (4 058407 092896). Sie besteht aus zwei Filmen des 1932 geborenen niederländischen Filmemachers Philo Bregstein über das Leben Klemperers und dessen letztes Konzert auf jeweils einer DVD. Komplett ist das Konzert vom 26. September 1971 auf zwei CDs enthalten. Zusätzlich gibt es ein hochwertig aufgemachtes Büchlein in englischer, französischer und deutscher Sprache, welches spannende Hintergrundinformationen liefert zu den Filmen, dem Konzert und zu Klemperer ganz allgemein. Es darf als gelungene Draufgabe betrachtet werden.

Nach mehr als vier Jahrzehnten liegt nun Bregsteins hochgelobte Dokumentation „Otto Klemperer’s Long Journey through his Times“ endlich wieder vor, komplett restauriert und neu bearbeitet. Es handelt sich um die dritte Fassung des Films. Nach Klemperers Tod 1973 wurde die Erstfassung ausgestrahlt, die den Qualitätsstandards des Regisseurs nur bedingt genügte. 1984 erschien eine Bearbeitung, jetzt die Neufassung, die auch im Beiheft ausführlich erläutert wird. Darin zeichnet Bregstein den Lebensweg Klemperers nach, von den Anfängen als Assistent Gustav Mahlers über die Tätigkeit als Direktor der Berliner Kroll-Oper während der Weimarer Republik, die langjährige Phase des erzwungenen Exils in den USA während der nationalsozialistischen Diktatur, die beschwerliche Rückkehr nach Europa bis hin zu seinem späten „Indian Summer“ in den 1950er und 60er Jahren. Zwischen 1954 und 1971 entstanden die heute als legendär geltende Einspielungen Klemperers mit dem Philharmonia Orchestra (ab 1964 New Philharmonia Orchestra) für EMI.

Im Film kommen unter anderem der Komponist Paul Dessau (der Klemperers Interpretationen als „antikulinarisch“ charakterisiert und auf die Notwendigkeit des Mitdenkens des Publikums im Brecht’schen Sinne eingeht) und der Philosoph Ernst Bloch zu Wort (der Klemperer als „optisch, plastisch und vor allen Dingen geistig überragende Gestalt“ bezeichnet), daneben auch Lotte Klemperer, die Tochter. Klemperer selbst gibt zahlreiche Anekdoten zum Besten, beispielsweise die Bekanntschaft mit Strawinsky, Richard Strauss und Schönberg betreffend. Besonders geht er auf seine Begegnung mit Gustav Mahler ein, unter dem er Iphigenie in Aulis und Die Walküre noch selbst erlebte und dessen Empfehlungsschreiben er den Auftakt zu seiner eigenen Karriere zuschrieb. Dem Exil in Kalifornien, wo viele deutschsprachiger Künstler Zuflucht vor Verfolgung fanden, wird viel Raum gewidmet. In dieser Zeit ereilten ihn schwere gesundheitliche Beeinträchtigungen. Nie ganz erholt hat er sich vom operativen Eingriff, den ein Gehirntumor bedingte. Zurecht wird die Zeit nach dem verheerenden Zweiten Weltkrieg als seine Wiederauferstehung tituliert. Doch auch in diesen goldenen Jahren“ gab es mit dem Tod seiner Frau Johanna 1956 und dem folgenreichen Brandunfall 1958 Tiefpunkte. Klemperer, der beim Rauchen eingenickt war und dabei Feuer gefangen hatte, versuchte den Flammen in einer panischen Reaktion ausgerechnet mit brennbarem Alkohol Herr zu werden. Obwohl abgeschrieben, sollte er sich auch davon wieder erholen. Schließlich wurde 1964 das Philharmonia Orchestra in seiner ursprünglichen Gestalt durch EMI-Produzent Walter Legge aufgelöst, was Otto Klemperer, der sich selbst immer primär als Komponist begriff, letztlich auch überwinden musste. Sein manisch-depressives Naturell wird es ihm nicht erleichtert haben.

Es wird im Film sehr schön deutlich, dass Klemperer alles andere als ein Perfektionist war. Er äußert sich abfällig über die Schallplattengesellschaften, die jeden noch so kleinen Verspieler zu seinem Leidwesen tilgen wollten. Auch behagte es ihm wenig, weitgehend auf Beethoven reduziert zu werden. Tatsächlich war sein Repertoire ungeheuer groß und erstaunlich expressiv. Und es hieße, Klemperer zu verkennen, würde er nur in der späten Zeit wahrgenommen. Seit etwa 1967 wurden die Tempi immer langsamer, wie auch das Beiheft zutreffend bemerkt. Dies dürfte vorrangig gesundheitliche Gründe gehabt haben. Der heute als „typisch“ empfundene langsame Klemperer der letzten Jahre ist aufgrund seiner diskographischen Verfügbarkeit in Wahrheit überrepräsentiert.

Der zweite Film widmet sich — wenngleich seinerzeit so nicht beabsichtigt — Klemperers letztem Konzert, das in der Royal Festival Hall in London stattfand. Gespielt wurden die „König Stephan“-Ouvertüre und das vierte Klavierkonzert von Beethoven sowie die dritte Sinfonie von Brahms. Bregstein konzentriert sich auf die Probenarbeit, besonders auf den ersten Satz der Brahms-Sinfonie. Damit wird zwar die Arbeitsweise Klemperers gut beleucht, ein Ersatz des gesamten Konzerts ist es nicht. Außer dem besagten Satz sind nur Fragmente erhalten. Gleichwohl wird Klemperers körperlicher Verfall, auf den nicht gesondert eingegangen wird, überdeutlich. Beim eigentlichen Konzert kann er das Podium nur mit fremder Hilfe erreichen. Sobald der erste Takt erklungen ist, scheinen die Gebrechen wie weggeblasen.

Die Dritte von Brahms war eine Spezialität Otto Klemperers und ist somit zu seinem musikalischen Testament geworden. Verglichen mit seinen früheren Aufnahmen klingt dieser Mitschnitt von 1971 dunkler, in der Tempogestaltung zelebrierter, ohne je langsam herüberzukommen. Im Ganzen sind Untertöne des Abschieds durchaus vernehmbar. Auch im vierten Klavierkonzert spielt (ungewohnt) der Dirigent die Hauptrolle. Daniel Adni bleibt als Solist etwas blass, und es darf ohnehin bezweifelt werden, dass die Konzertbesucher seinetwegen in die Royal Festival Hall pilgerten. Die kaum gespielte „König Stephan“-Ouvertüre leitet das letzte Konzert ein. Sie ist König Stephan, dem Heiligen aus Ungarn, zugeeignet. Das prägnante, ohrwurmartige Hauptmotiv dient übrigens auch als Musik für das DVD-Menü. Klemperer nahm sie bereits

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Jahre zuvor im Studio auf. Es dürfte bis heute keine langsamere Aufnahme geben als diese allerletzte.

Klemperer TestamentTontechnisch ist nicht wirklich eine Verbesserung gegenüber des seit langem beim Label Testament vorliegenden „Last Concert“ feststellbar (SBT 1425). Trotz hingebungsvoller Restauration des Filmmaterials wurde bei der technischen Umsetzung insgesamt kein Wunder erzielt. Die Bildqualität ist allenfalls durchschnittlich zu nennen. Die eingespielten Interviews leiden mitunter an schwer verständlichem Klang. Überhaupt kann man sich des Eindrucks von einer Art Amateurproduktion nicht erwehren. Dafür spricht auch, dass versäumt wurde, das Konzert in Stereo einzufangen. Eigentlich ein Unding im Jahre 1971. Tontechnisch klingt auch die reine Audioumsetzung so, als sei sie zwanzig Jahre älter, fast nach einem inoffiziellen „In House“-Mitschnitt“. Es stellt sich die Frage, was sich die BBC — die es ja auch versäumte, Klemperers Live-Darbietung des Lohengrin von 1963 mitzuschneiden — dabei gedacht haben mag. Der Gesamteindruck ist gleichwohl ein positiver, auch wenn die Preisvorstellungen des Labels nicht unbedingt dazu geeignet sein werden, dieser Box zu einer allzu großen Verbreitung zu verhelfen. Daniel Hauser

Wunderlich geht immer

Eine neues Cover plus eine neue Zusammenstellung ergibt nicht zwangsläufig eine neue CD. Bei Warner singt Fritz Wunderlich Lieder von Franz Schubert, Hugo Wolf, Richard Strauss, Fritz Neumeyer, Heinrich Isaac, Heinrich Finck und Adam Krieger. In der Aufzählung steht auch Johann Sebastian Bach, was nicht ganz korrekt ist. Denn mit der Dreingabe dreier Nummern aus der Jagdkantate wird das Genre eigentlich verlassen (0190295928001). Sei’s drum. Was neu anmutet, ist in Wirklichkeit eine CD aus der 2016 erschienen Warner-Sammlung Fritz Wunderlich, die Tenor-Legende (190295921545). Verändert wurde lediglich die Abfolge der Nummern. Die zwei Tracks der Kantate wurden aus unerfindlichen Gründen in drei aufgesplittet. Mehr nicht.

Wunderlich WarnerSchon die Box selbst war bekanntlich nicht exklusiv. Ein Griff ins Regal, wo Wunderlich ein stattliches Fach füllt – und sie entpuppte sich als Eins-zu-Eins-Übernahme der EMI-Edition „Great Moments of … Fritz Wunderlich“ aus dem Jahr 2000. Nach der Übernahme durch Warner wurde der Eindruck erweckt, als hätten EMI und Electrola, die den Tenor zu Ruhm und Ansehen verhalfen, nie existiert. Lediglich die Aufnahmedaten geben gut informierten Sammlern Aufschluss darüber, unter welchem Label die jeweiligen Titel erstmals an die Öffentlichkeit gelangt sind. Inzwischen dürften sich auch die letzten Wunderlich-Verehrer an die Neuordnung des Marktes gewöhnt haben. Noch immer lässt das rauschhafte Klangbild nichts zu wünschen übrig. Einem allgemeinen Trend folgend, packte Warner die drei CDs der Edition ebenfalls in Hüllen, mit denen optische Anleihen bei originalen Langspielplatten genommen werden. Dabei wird durchaus großzügig verfahren. Ein Foto, das Wunderlich in weißer Linkerton-Uniform auf dem Cover des alten EMI-Querschnitts durch Puccinis Madame Butterfly zeigte, illustriert nun die Operetten-CD. Passt! Gesondert produzierte Arien und Duette sind gemischt mit Auszügen aus den Gesamtaufnahmen und Querschnitten der EMI.

2016 war ein Fritz-Wunderlich-Jahr. Begangen wurde der fünfzigste Todestag. Dieser Gedenktag will überhaupt nicht zu ihm passen. Und doch ist nicht daran zu rütteln. Am 17. September 1966 ist der Tenor an den Folgen eines Unfalls gestorben. Neun Tage vor seinem sechsunddreißigsten Geburtstag. Es fällt schwer, ihn sich mit Mitte Achtzig vorzustellen. Durch die tragischen Umstände seines Todes sind ihm ewige Jugend gegeben. Er bleibt der Strahlemann, der niemals altert. Nicht stimmlich, nicht in seiner äußeren Erscheinung. Dieses Phänomen gleicht dem Stoff, aus dem phantastische Romane bestehen. Mit Wiederauflagen seiner Platten, mit Ausgrabungen und immer neuen Zusammenstellungen, wird die Erinnerung an Wunderlich wach gehalten. Jetzt haben neben Warner die Deutsche Grammophon und BR Klassik, das Label des Bayerischen Rundfunks, reichlich Nachschub geliefert. Wunderlichs Aufnahmen waren nicht für einen Moment vom Markt. Es gibt auch Bücher und Filme. Seine Fans in aller Welt, die immer noch ein paar Aufnahmen mehr im Schrank haben, als offiziell im Umlauf sind, haben sich längst online verbrüdert und werden im Netz von der Fritz-Wunderlich-Gesellschaft mit Infos versorgt. Mit Wunderlich lässt sich offenkundig immer noch Geld verdienen. Gut so. Wunderlich geht immer. Spätestens im Advent wird das Weihnachoratorium hervorgeholt, in Stereo unter Karl Richter. Kaum einer singt es so schön wie Wunderlich.

Wunderlich Deutsche GrammophonDiese Aufnahme ist auch in der Sammlung Complete Studio Recordings on Deutsche Grammophon (4796438) enthalten. Wie Karteikarten stecken die 32 CDs platzsparend in einer himmelblauen Schachtel, darauf der Sänger im Glanzfoto als Tamino. Die Aufmachung macht viel her, zumal sich die einzelnen Alben in ihrer äußeren Erscheinung an den originalen Schallplattenhüllen orientieren. Nur beim Weihnachtsoratorium und bei L’Orfeo wurde gespart. Was wie die ersten Auflagen im Rahmen der eleganten Archiv Produktion der Grammophon aussehen soll, lässt eher an den Aufdruck einer Mehltüte im Supermarkt denken. Die drei „echten“ Opernproduktionen mit dem Gelbetikett – Zauberflöte (Tamino), Entführung aus den Serail (Belmonte) und Wozzeck (Andres) sowie Beethovens Missa Solemnis und Haydns Schöpfung (nach Wunderlichs Tod mit Werner Krenn vollendet) – sehen tatsächlich so aus, als stünden sie noch als Kassetten im Schaufenster eines Plattenladens, den es so nicht mehr gibt. Sie gehören zum eisernen Bestand vieler Sammlungen und können immer noch mithalten mit den zahlreichen Einspielungen, die danach auf den Markt gelangten. Nur Monteverdis Orfeo ist ein durch und durch historisches Dokument. So wurde der Divino Claudio 1955 gespielt – also meilenweit von dem entfernt, was heute als historisch informierte Aufführungspraxis (HIP) gilt. Man wusste es nicht anders. Immerhin kommt mit Bernhard Michaelis als erster Hirt bereits ein Sänger zum Einsatz, der heute als Countertenor bezeichnet werden würde. Der Monteverdi ist eine ganz frühe Grammophon-Produktion (damals noch in der Leinen-Kassette mit wissenschaftlicher Beilage).

Wunderlich singt Lieder

Eine der berühmten Einspielungen mit dem Gelbetikett: Die einzelnen CDs gleichen den alten Platten.

Danach wechselte Wunderlich die Aufnahmefirmen und kehrte erst nach 1960 zur DG zurück. Seine Tochter Barbara, die beim Tod des Vaters noch ein kleines Kind gewesen ist, spricht in einem Grußwort von einer „Wunschpartnerschaft“ mit der DG. Bei der EMI/ Electrola habe er Mühe gehabt, „seine künstlerischen Ziele umzusetzen“. Das Repertoire sei „hauptsächlich auf deutsche Spielopern und Operettenquerschnitte“ beschränkt gewesen. Es ist davon auszugehen, dass es bei der Grammophon große Pläne in die Zukunft gegeben hat. Am Ende zählt, was tatsächlich zustande kam. Jedenfalls gönnte sich nach der Electrola auch die Grammophon ihren Querschnitt durch die deutsche Spieloper Zar und Zimmermann, lässt Wunderlich als Marquis Chateauneuf seinem flandrisch Mädchen nochmals Lebewohl sagen. Ein weiterer Querschnitt, diesmal durch Verdis La Traviata, kommt als solcher viel zu spät. Während die Callas an der Scala in der opulenten Inszenierung von Luchino Visconti bereits in die Musikgeschichte eingegangen war, begab sich zehn Jahre später im gut fünf Autostunden von Mailand entfernten München Wunderlich mit einem deutschsprachigen Team aus Hilde Güden, Claudia Hellmann, Dietrich Fischer-Dieskau, Friedrich Lenz, und Karl-Christian Kohn ins Studio, um die Gläser „in vollen Zügen“ zu leeren. Mit dem ebenfalls deutsch gesungenen Eugen Onegin-Querschnitt wird nicht warm, wer das Werk im Original kennt. „Künstlerische Ziele“?

Wunderlich Matthäuspassion

Die Matthäus-Passion in der Grammophon-Box wurde 1964 für die DECCA in Ludwigsburg aufgenommen.

Der Seitenhieb auf die Electrola/EMI verfehlt für mich auch deshalb seine Wirkung, weil die dort produzierten Titel der Grammophon-Konkurrenz in nichts nachstehen und ihr in vielem überlegen sind an Frische und Glanz – der Fenton in den Lustigen Weibern von Windsor (wer hat je so betörend von der Lerche im Hain“ gesungen?), Hans in der Verkauften Braut (unvergssen neben der Lorengar), Walther von der Vogelweide im Tannhäuser, der Steuermann im Fliegenden Holländer oder der Baron Kronthal im Wildschütz. „Mag der Himmel Euch vergeben!“ Wann und von wem ist der Lyonel mit so viel Emphase gesungen worden wie im EMI-Martha-Querschnitt? Allein mit dieser Aufnahme hätte sich Wunderlich unsterblich gemacht. Sein Ruhm beruht zu einem erheblichen Teil auf diesen Aufnahmen, die große Verbreitung fanden und noch immer sehr beliebt sind.

Deshalb bringt es nicht sehr viel, sein akustisches Erbe nach Firmen und Labels einzuteilen und zu bewerten. Schließlich sind da ja auch noch die ungezählten Rundfunkproduktionen sowie die Mitschnitte aus Opernhäusern und Konzertsälen. Wunderlich war in seinem kurzen Leben äußerst tüchtig. Welcher andere Sänger hat in so wenigen Jahren so viel aufgenommen? Erst aus dieser Vielfalt setzt sich das Bild zusammen, das seine Verehrer in aller Welt von ihm haben. Mit der neuen Box trägt die Deutsche Grammophon das Ihre dazu bei. Wer sich durch die Alben arbeitet, sollte sich in der so verzweigten wie verzwickten Geschichte der Plattenlabels sehr gut auskennen oder einfach hinnehmen, dass unter „Complete Studio Recordings on Deutsche Grammophon“ auch Heliodor mit einer Zusammenstellung von Opernszenen, Decca mit der Matthäus-Passion unter Karl Münchinger, Philips mit Oster-Oratorium und Magnificat von Bach fallen – also aus den Beständen des erst recht spät zusammengekauften Universal-Konglomerats.

„Künstlerische Ziele“ im Gegensatz zu den EMI/Electrola-Aufnahmen? In der neuen Box ist da auch noch die Polydor mit einer starken Fraktion von fünf CDs. „Eine Weihnachtsmusik“, „Die bist die Welt für mich“, „Ein Lied geht um die Welt“, „Wunderlich populär“, „Wunderlich in Wien“. An diesen leicht gestrickten Alben, die gute Laune verbreiten sollen, ist kein Vorbeikommen. Mich erinnern sie an eine Musikbox, in die ein Geldstück gesteckt wurden – und schon ging’s los. Julius Patzak muss allerdings ganz schnell vergessen, wer den Wiener Liedern etwas abgewinnen will. Patzak verpackt eine ganze untergegangene Epoche in diese Gesänge. Bei ihm sind Ironie und Sentimentalität kein Widerspruch. Wunderlich aber verschickt bunte Postkarten vom Prater, aus Sievering, und das „kleine Hotel“ im verschwiegenen Gässchen auf der Wieden dürfte seine besten Tage längst hinter sich haben. Um bei Polydor zu bleiben. Mit einem Blick in die Online-Enzyklopädie Wikipedia erledigt sich die Frage von selbst, warum im Booklet nichts über das Label-Geflecht zu lesen ist. Der Text-Rahmen wäre gesprengt worden.

Wunderlich in Wien

Diese CD ist eine von fünf, die unter dem Label Polydor auf den Markt gekommen sind und nun in die Grammophon-Box aufgenommen wurden.

Schuberts Schöne Müllerin und Schumanns Dichterliebe sind zwei echte Grammophon-Klassiker, die als Zeugen für die Wunschpartnerschaft stehen. Begleitet von Hubert Giesen, hat der Liedersänger Wunderlich seine Begabung wie zu einem Konzentrat verdichtet. Mehr geht nicht. Beide CDs sind jeweils mit anderen Liedern aufgefüllt. Er sei erst „sehr spät zum Lied gekommen“, zitiert Thomas Voigt in seinem höchst sachkundigen Booklet-Text den Sänger. „Aber nicht deshalb, weil ich vorher keine Beziehung dazu hatte, sondern weil ich wusste, dass ich nur dann Lieder singen kann, wenn ich meine Stimme dafür absolut beherrsche“. Das sei die wichtigste Voraussetzung für das Lied. Auf den ersten Blick ist dieses Zitat wie gemacht für die neue Edition, in der die Lieder mit nur zwei CDs eine vergleichsweise bescheidene, dafür aber umso kostbarere Abteilung bilden. Sie sind die Wunderkammer der ganzen Sammlung. Leider gibt es für das beigefügte Interview keine Zeitangabe. Es dürfte aus den letzten Lebensjahren stammen. Entgegen seinen eigenen Angaben beschäftigte sich Wunderlich ziemlich zeitig mit Liedern, auch in sehr frühen Epochen. Dafür gibt es akustische Belege. Bereits 1955 hat er – um nur zwei Beispiele von vielen zu nennen – wenigsten sechs Nummern aus dem Italienischen Liederbuch von Hugo Wolf und fünf Lieder von Johannes Brahms gesungen. Voigt selbst erwähnt die erste Schöne Müllerin von 1959, die er das „Dokument eines unbekümmerten Newcomers“ nennt. Ja, das trifft es. Wunderlich klingt ungelenk, ziemlich hart, ist meilenweit von der Vollendung entfernt. Er ist mehr sein eigenes Versprechen, das er würde einhalten. Die ganze Bedeutung des Phänomens Wunderlich ist mir erst im Vergleich mit seinen ersten Schritten aufgegangen. Ich kenne keinen anderen Sänger, dessen Aufstieg so lückenlos dokumentiert ist. Es gibt in seiner Karriere diese deutliche Verschiebung nach vorn, als hätte er geahnt, dass ihm nicht viel Zeit bleiben würde.

 

Wunderlich BR KlassikMit seinem Eigenlabel BR Klassik kommt das Münchner Rundfunkorchester an Fritz Wunderlich nicht vorbei (900314). Er hat in drei der sehr beliebten Sonntagskonzerte im Kongresssaal des Deutschen Museums in München mitgewirkt. Sie wurden von dem Orchester bestritten. Zwei davon sind auf der CD mit jeweils einem Titel berücksichtigt. Die Chateauneuf-Arie „Lebe wohl, mein flandrisch Mädchen“ von 1965 (und nicht „Leb“ wohl“ wie gleich zweifach gedruckt steht) und der Robert-Stolz-Hit „Ob blond, ob braun, ich liebe alle Frau’n“ von 1966 sollen Wunderlichs „leichtere Seite seines Repertoires“ betonen, ist im Booklet zu lesen. Diesem Grundsatz folgt auch die übrige Auswahl, bei der sich Lortzing und Nicolai neben Fall, Millöcker, Lehár, Künneke, Spolansky und Willy Mattes wiederfinden. Nur die beiden Konzertauftritte sind live. Beim Hören fällt das auf. Der Sänger ist freier und lockerer als im Studio. Bei Stolz läuft der Vortrag auf den erwarteten Beifall hinaus. Im Mitschnitt der gesamten Veranstaltung tobt der Saal. Auf der CD ist dieser Teil erbarmungslos weggeschnitten. Alle Aufnahmen, heißt es, seien bisher unveröffentlicht gewesen. Das stimmt so nur eingeschränkt, weil sieben Nummern zuvor bereits bei The Intense Media auf CD in Umlauf gebracht wurden.

 

Bei dieser Firma jagt nämlich eine Wunderlich-Box die andere. Auf vier Editionen mit jeweils zehn CDs und eine Zweierbox folgte vor nicht allzu lange Zeit der große Wurf, der alles in den Schatten stellt, was es bisher gab: Fritz Wunderlich – Große Erfolge & Raritäten in einer 50 CD Collection (600271). Um das Andenken an den beliebten Tenor wird seit Jahren gewetteifert. Neben den Firmen mit den aktuellen Angeboten mischen Hänssler, Sony, Audite und Arts mit. Hingegen saßen Myto, Melodram oder Andromeda am Katzentisch der Wettbewerber wie die illegitime Verwandtschaft. Umso mehr wurden sie von Sammlern geliebt, weil sie die Raritäten oft zuerst hervorgeholt haben. Kaum einer wüsste mehr, wie eindringlich Wunderlich den Palestrina von Pfitzner gesungen hat, wäre der Wiener Mitschnitt von 1964 nicht von Myto auf den Markt lanciert worden. RCA hatte 2001 mit Szenen den Anfang einer offiziellen Aufarbeitung gemacht. Seither ist nichts mehr passiert. Selbst Intense Media macht einen großen Bogen im diesen Monolith. Dafür gibt es Wunderlich in Beethovens Christus am Ölberg vom Radio Hilversum (1957), Haydns Theresienmesse aus der Benediktiner-Abtei in Rohr (1962), im Messias von Händel aus der Stuttgarter Liederhalle von 1959, in Bachs h-Moll-Messe vom Deutschen Bachfest 1960 oder in der Johannespassion aus der Freiburger Stadthalle (1958). Das „andere“ Weihnachtsoratorium wurde in etwas gekürzter Form 1955 in der Markuskirche in Stuttgart unter der Leitung von August Langenbeck mitgeschnitten.

Um auf Intense Media zurückzukommen, die neigen dazu, sich selbst Konkurrenz zu machen. Die Perlen sind allerdings geschickt verteilt. Das muss man den Herausgebern lassen. So fasst die dem Umfang nach einmalige Edition nicht nur bereits erschienen Produkte zusammen. Durch neue Mischungen ergibt sich erstens ein neues Bild, und zweitens liegt noch diese und jene Aufnahme, an die sich niemand mehr genau erinnern kann, oben drauf. Ich hätte wetten mögen, dass die „Studentenlieder“ von Fritz Neumeyer (1900-1983) genauso exklusiv sind wie die Sieben Gesänge von Friedrich Zehm (1923-2007) aus dem Privatarchiv des Komponisten. Die Wette hätte ich verloren, denn der Neumeyer ist vor vielen Jahren in der bereits erwähnten Great-Moments-Box der EMI veröffentlicht worden. Und nun bei Warner. Mir scheint, dass mit der Vergesslichkeit der Kunden durchaus gerechnet wird. So ist der Markt. Darf es eine Portion Wunderlich mehr sein? Es darf. Insofern haben jede Box und jedes Album ihren Eigenwert – und die Verehrer des Sängers kommen wohl nicht umhin, immer wieder zuzugreifen, weil sich erst peu à peu herausstellt, was schon vorhanden ist und was nicht. Das Bibeloratorium In terra pax von Frank Martin dürfte neu sein. Neben Wunderlich singen in diesem Mitschnitt von 1953 Agnes Giebel, Marga Höffgen, der Bariton Herbert Brauer und der schweizerische Bassist Paul Sandoz. Wunderlich ist mit dreiundzwanzig Jahren der Jüngste. Es handelt sich um eine der frühesten Aufnahmen. Sein Debüt als Opernsänger stand erst noch bevor. Es gelingen ihm hinreißende solistische Passagen voller Klarheit, Prägnanz und Akkuratesse, wie sie für den Komponisten Martin typisch sind. Von allen Vier ist er auch am besten zu verstehen. Dieses Werk ist keine Empfehlung zum Frühstück am Sonntagmorgen. Es verlangt Aufmerksamkeit und Konzentration. Alle Mitwirkenden, namentlich Wunderlich, fordern sie selbstbewusst ein. Ihr Einsatz für diese Musik bewirkt Stille im Publikum.

Wunderlich 50-CD-BoxMit sattsam bekannten Aufnahmen wie Kempes Verkaufter Braut rennt Intense Media zwar offene Türen ein, kriegt aber dadurch immer wieder die Kurve, indem Arien und Duette des selben Werkes aus völlig anderer Quelle in die Trackfolge hineingeschoben werden. Größer als zwischen Smetana und Martin, die sich in der stattlichen Edition ziemlich nahe kommen, können Gegensätze nicht sein. Auch diese Sammlung lebt davon. Sie sind, einem Gütesiegel gleich, Ausdruck einer Bandbreite, die heute kein Sänger mehr so beherrscht wie einst Wunderlich. Neben Oper und Oratorium, singt er mit gleicher Inbrunst Operetten, Lieder und Schlager. Keine Scheu hat er – und das sei mit Hinweis auf die vielen Beispiele ausdrücklich hervorhoben – vor Musik des zwanzigsten Jahrhunderts. Sie verliert in seiner Kehle manchen Schrecken, den sie einmal ganz bewusst verbreiten wollte. Und Richard Strauss gerät durch diesen Sänger tatsächlich in die beabsichtigte Nähe zu Mozart. Große Szenen aus Die schweigsame Frau aus Salzburg, München und Buenos Aires legen davon Zeugnis ab.

Es wird der Versuch unternommen, dem Eindruck von einem Gemischwarenladens, in dem Anton Bruckner (Te Deum von den Salzburger Festspielen 1960 unter Karajan) neben Cesare Andrea Bixio (Sprich zu mir von Liebe, Mariu) steht, mit dem Ansatz eines Ordnungsprinzips entgegenzuwirken. „Bach-Kantaten“ ist eine CD überschrieben. Darauf findet sich, was draufsteht: Es ist euch gut, dass ich hingehe und Halt im Gedächtnis Jesum Christ (1958 live aus München unter Karl Richter). Die dritte Kantate Ich hatte viel Bekümmernis, 1955 für Dicophile Francaise produziert, wird an anderer Stelle – Ordnung hin oder her – einfach so dazwischen geschoben. Aus der Tatsache, dass Wunderlich gelegentlich auch Lieder von Adam von Fulda (1445-1505), Adam Reiner (1485-1520), Ludwig Senfl (um 1490-1543) oder Heinrich Finck (1445-1527) aufgenommen hat, wird nun eine Abteilung „Die Liebe zur ‚Alten Musik’“. Die allermeisten Titel sind keine Überraschung. Sie tauchen in anderer Anordnung bereits in einer früheren Intense-Box auf. Von Liebe zur Alten Musik war da noch nicht die Rede. Hatte er diese Neigung nun oder wird sie ihm nachträglich angedichtet? Wunderlich muss für vieles herhalten. Sei’s drum. Für mich stellt sich Wunderlich mit diesen Liedern in seiner ganzen Ursprünglichkeit und Einzigartigkeit dar. Wer sich darauf einlässt, gewinnt eine Vorstellung von den Urquellen der Musik. Alles kommt von dort. Die Lieder sind durch Schlichtheit Meisterwerke, klingen fast unschuldig und sind in meinen Ohren der vollkommenste Ausdruck dieser Stimme, die im Kern immer eine Naturstimme geblieben ist. Bis zum Schluss. Sein früher Tod hat den Sänger davor bewahrt, mit technischen Mitteln auszugleichen, was das große Talent – diese Spekulation sei gestattet – im Laufe der Jahre womöglich nicht hätte durchhalten können.

Als „zentrale Partie“ wird in der Edition gleich auf der ersten CD der Tamino in Mozarts Zauberflöte genannt. Darauf hat sich die Nachwelt geeinigt. Das ist gesetzt. Akustische Belege dafür stammen aus unterschiedlichsten Quellen, live und Rundfunk. Eine Rolle, die im Zentrum künstlerischen Wirkens steht, muss aber in der Umsetzung nicht zwangsläufig die beste, die gelungenste sein. Ich würde Wunderlichs Bach immer noch höher einstufen als seinen Mozart. „Wie stark ist nicht dein Zauberton“ mit dem Orchester der Hamburgischen Staatsoper unter Artur Rother trägt den Vermerk „Club“. Club? Gestandene Klassikfreunde wissen sofort, was damit gemeint ist. Für den Rest folgt die Aufklärung achtzehn CDs weiter in der gesonderten Abteilung „Opern nur für Clubmitglieder“. Nach Arien aus Turandot, Tosca, Butterfly, Bohéme, Rigoletto, Cavalleria rusticana und Liebestrank ist kleingedruckt zu lesen: „Diese Aufnahmen entstanden alle aufgrund eines Vertrages, den Fritz Wunderlich exklusiv mit dem Europäischen Phono-Club, Stuttgart, angeschlossen hatte, der später von Bertelsmann übernommen wurde.“ Seine Vermarktung für ein großes Publikum beginnt also schon frühzeitig. Sie ist kein nachträgliches Phänomen. Der Mehrwert der Box ist Wunderlichs Vielseitigkeit, die in frühen Jahren noch größer war als später – und die einen immer wieder in Staunen versetzt. Er scheute offenbar vor nichts zurück, traute sich mit der Unbekümmertheit der Jugend so gut wie alles zu. Bei ihm ist kein Zweifel zu spüren, keine Unsicherheit: Kann ich das auch? Wird das gelingen? Er tut’s einfach! Er springt ins Wasser, ohne sich erkundigt zu haben, wie tief es ist.

Jedenfalls bin ich schon jetzt bei dem Versuch gescheitert, die Inhalte der einzelnen Intense-Media-Veröffentlichungen einander genau abzugleichen. So groß kann gar kein Tisch sein, dass an die hundert CDs darauf Platz haben, zumal die glatten Hüllen die Eigenschaft haben, ins Rutschen zu geraten, wenn sie sich zu nahe kommen. Anläufe, sie zu übersichtlichen Häuflein zu stapeln, führen auch nicht zum Erfolg. Sie entgleiten einem unter der Hand und landen auf dem Fußboden. Eine Diskographie wäre in so einer Situation ebenfalls keine Lösung, der Menge Herr zu werden. Im Booklet der Sammlung wird auf die Gedenkstätte der Fritz-Wunderlich-Gesellschaft in seiner Heimatstadt Kusel verwiesen. Dort steht eine Datenbank mit 5254 Audiodateien – insgesamt 348 Stunden Musik – zur Verfügung. Ja, die müsste man jetzt online zugänglich haben. Denn Kusel ist weit. Von Berlin aus, wo ich lebe, sind es mehr als sechs Stunden mit der Bahn. Rüdiger Winter

163 Seiten sind schnell gelesen

 

Dieses Buch ist schnell gelesen. Nicht nur, weil es lediglich 163 Seiten umfasst. Die als „Das Leben der Sächsischen Hofopernsängerin Margarethe Siems“ annoncierte Neuerscheinung des Seifert Verlages verharrt über weite Strecken in der numerischen Dokumentation ihrer Auftritte und der entsprechenden Kritiken in der Presse (ISBN 978-3-902924-64-3). Die Quellenlage ist mau und trocken. Sie reicht nicht für eine informative Biographie. Erst zum Schluss hin, wenn die lesbischen Neigungen der Sängerin anhand von Briefen zum Thema werden, bekommt das Buch auch eine sehr menschliche Dimension. Dann ist es aber schon zu Ende.

margarethe-siems-389x622Autor Peter Sommeregger beklagt im Vorwort den „Tiefstand“ der Gesangsleitungen „in unserer Zeit“, bemängelt die „künstlerische Kompetenz nicht weniger Opernintendanten bzw. ihrer Besetzungsbüros“, holt zum Rundumschlag gegen Künstleragenturen aus, die „als rein kommerziell geführte Unternehmen wenig Interesse an einer kontinuierlichen Entwicklung ihrer Künstler haben, diese vielmehr möglichst schnell für große Aufgaben empfehlen und so gut an ihnen verdienen“ und knöpft sich schließlich auch noch jene Gesangspädagogen vor, die „selbst Sänger waren, aber erhebliche technische Defizite“ gehabt hätten. Vor dem Hintergrund dieser Schimpftirade

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nun steigt die Siems als leuchtendes Beispiel aus den Tiefen der Vergangenheit herauf. Sie wurde 1879 in Breslau geboren und ist 1952 in Dresden, der Stadt ihrer größten Erfolge, gestorben, „sanft in eine bessere Welt“ hinübergeschlafen. Sie gebot über eine phänomenale Technik, die es ihr gestattete, an der Uraufführung dreier Opern von Richard Strauss mitzuwirken – als Chrysothemis in Elektra (1909), als Marschallin im Rosenkavalier (1911) und als Zerbinetta in der ersten Fassung der Ariadne auf Naxos (1912). Ihr Nachruhm dürfte nicht zuletzt darauf zurückzuführen sein. Denn diese Uraufführungen waren spektakuläre Ereignisse. Ob mit oder ohne Siems.

Vergleichsweise zahlreiche Plattenaufnahmen haben sich erhalten, darunter Szenen aus dem Rosenkavalier. Der Autor verzichtet allerdings auf eine kommentierte Diskographie, die das Buch brauchbarer und wichtiger gemacht hätte. Es gibt lediglich als Fußnote den Hinweis auf einen CD-Anbieter, der sämtliche Titel über das Internet vertreibt. Bei den großen Netzanbietern und im Handel sind aktuell keine CDs verfügbar. Sammler kennen die Dokumente und rühmen sie. Bei aller Faszination, die davon ausgeht, wird aber auch schnell klar, dass sich daraus kein praktischer Nutzen für die Gegenwart ziehen lässt, genau so wenig, wie man angehenden Schauspielern nicht mehr Gustaf Gründgens oder Architekturstudenten das Colloseum in Rom wird vor die Nase halten können. Seit den großen Tagen der Siems sind mehr als hundert Jahre vergangen. Sie ist Geschichte geworden. Und nur noch als historisches Ereignis zu begreifen. Insofern wird sie nicht dadurch wichtiger für die Gegenwart, indem dieser ein etwas trüber Spiegel vorgehalten wird, der zudem Zerrbilder produziert (Foto oben: Margarethe Siems als Strauss´Marschallin/ Porträtsammlung Manskopf der Bibliothek der Goethe-Universität Frankfurt am Main). Rüdiger Winter