Arnold Schönberg ist die Klammer, die zwei Salzburger Konzerte verbindet. Sie sind in der Festspielreihe bei Orfeo erschienen. Zwanzig Jahre liegen dazwischen. Es wurde sich nicht eben gerissen um den Österreicher Schönberg in Salzburg. Mit einer gewissen Regelmäßigkeit taucht er aber in den Programmen auf. Auch der nach ihm benannte Chor, der 1972 gegründet wurde, hält die Erinnerung an den Komponisten wach, der die Musik des zwanzigsten Jahrhunderts maßgeblich geprägt hat. Nun also gleich zwei Neuerscheinungen, die mit seinem Namen verbunden sind. Der Vortritt soll Jessye Norman und ihrem Liederabend vom 6. August 1991 gehören (C 926 161 B). Sie singt eine Auswahl der 1901 entstandenen Brettl-Lieder von Schönberg. Damit kam die Norman bei der Kritik sehr gut an. Im Publikum lassen gelegentliches Lachen und herzlicher Beifall ebenfalls auf Zustimmung schließen. Es ist schöner Brauch bei der Orfeo-Festspieledition, in den Booklets zeitgenössische Pressestimmen wiederzugeben. Die Norman habe „jede textliche wie musikalische Pointe dieser typischen Fin-de-Siecle-Produkte mit ihrer wohldosierten Frivolität“ ausgespielt und „ließ auch ihrer komödiantischen Ader die Zügel schießen“, urteilte „Die Presse“. Und die „Münchner Abendzeitung“ empfand sie bei ihrem Vortrag „kokett-frivol wie eine Diseuse jener Zeit“.
Inzwischen ist mehr als ein Vierteljahrhundert verstrichen. Was 1991 noch als kokett und frivol wahrgenommen worden sein mag, dürfte heute diese Wirkung verfehlen. Ja, es stellte sich mir sogar die Frage, ob derlei Begriffe überhaupt noch in ihrer ursprünglichen Bedeutung verstanden werden in einer Gegenwart, in der kaum ein Film ohne handfeste Sexszenen auskommt und Fäkalsprache salonfähig geworden ist. Das einundzwanzigste Jahrhundert liebt es unverstellt, derb und drastisch und nicht angedeutet und hintersinnig, wie es die Norman versuchte. Sie hat nicht die richtige Stimme für diese Lieder, und das Große Festspielhaus mit seinen mehr als zweitausend Plätzen ist die völlig falsche Location. Schönberg hatte seine Lieder für das Kabarett „Über-Brettl“ in Berlin komponiert. Dort wurde Kleinkunst nach Pariser Vorbild verabreicht als ganz bewusster Gegenentwurf zur etablierten bürgerlichen Hochkultur. Der Name des Etablissements war eine ironische Anspielung auf Nietzsches Übermensch-Idee. Im luxuriösen Salzburg mit seinen horrenden Eintrittspreisen verdrehen sich diese Lieder in ihr Gegenteil. Sie wollen auch nicht so recht in die Programmabfolge passen, die mit Richard Strauss (All’ mein’ Gedanken, Nachtgesang, Du meines Herzens Krönelein, Allerseelen und Ständchen) beginnt, gefolgt von drei Nummern aus Peter Tschaikowskis Six chantes. Als sichere Bank werden noch Wagners Wesendonck-Lieder zwischengeschoben. In ihrer lyrisch-dramatischen Mischung gelingt dieser Zyklus der Sängerin am besten, weil er ihrer Stimme entgegen kommt. Die Norman ist in ihrem Element, von James Levine am Klavier wissend, leidenschaftlich und sicher begleitet.
Mit der letzten Zugabe scheint das Publikum regelrecht aufzuatmen. Levin hat die ersten Takte noch nicht angeschlagen, schon erfasst freudige Erregung den riesigen Saal. Die Habanera aus Carmen! Was nun folgt, ist eine grelle Parodie. Soll es aber offenbar nicht sein. Der Irrtum ihrer Interpretation, wie er sich schon in der verunglückten Plattengesamtaufnahme der Oper offenbart hatte, wird noch einmal neu aufgelegt. Warum? Es gab eine Zeit, da konnte Jessye Norman singen, was sie wollte. Der Erfolg war ihr sicher. Sie hätte auch gar nicht singen brauchen. Ihre Auftritte glichen prunkvollen Inszenierungen mit Tendenz zur Revue. Ich gebe unumwunden zu, dass ich sie damals auch deshalb heiß und innig liebte. Je länger sie im Geschäft war, um so fantastischer – und wichtiger – wurden ihre Roben. Als sollten sie die aufkommenden Defizite in der Stimme kaschieren. Mitunter war das Interesse an ihrer Aufmachung stärker als die Erwartung an die jeweiligen Programme. Normans Kleiderordnung folgte eigenen Gesetzen. Ihre Vermarktung als Sängerin, die manches schuldig blieb, schloss die Verpackung mit ein. So wie in Paris, als sie sich am 14. Juli 1989, dem 200. Jahrestag der französischen Revolution, auf der Place de la Concorde in eine flatternde Trikolore einwickeln ließ, um die Marseillaise anzustimmen.
Szenenwechsel. Die andere neue CD im Orfeo-Katalog führt ins intime Mozarteum (C925 161 B). Dort gab es am 27. Juli 2011 das Konzert eines so genannten Salzburger-Festspiel-All-Stars-Ensembles, das seinen sperrigen Namen zurecht verdient. International renommierte Solisten, unter ihnen der Geiger Renaud Capuçon, der Cellist Clemens Hagen, der Oboist Albrecht Meyer, der Schlagzeuger Martin Grubinger und die Sopranistin Christiane Karg, hatten sich zusammengefunden, um den Schatz- und den Kaiser-Walzer von Johann Strauss sowie die 4. Sinfonie von Gustav Mahler aufzuführen. Nicht im Original, sondern als Bearbeitungen für Kammerensemble von Anton Webern, Arnold Schönberg und Erwin Stein. Der aus Österreich stammende Komponist, Dirigent und Musiktheoretiker Stein war ein Schüler Schönbergs. Wenn etwas festspielwürdig gewesen ist, dann dieses Konzert, das seinerzeit für Furore sorgte. Zu Recht. Im Mitschnitt ist die knisternde Stimmung konserviert. Der Sessel vor den Lautsprechern wird zum Platz im Saal. So dicht ist die Atmosphäre. Nichts geht unter. Es ist sogar zu hören, wenn die Bögen der Streicher auf die Seiten aufsetzen. Gewiss lag es nicht in der Ansicht der Solisten, sich in der klanglichen Einheit eines klassischen Kammerensembles darzustellen. Vielmehr bringen sie ihre Individualität deutlich vernehmbar ein und erzielen dadurch eine atemberaubende Wirkung. In den Bearbeitungen aus dem Umkreis von Schönberg rücken Strauß und Mahler erstaunlich eng zusammen. Eine wunderbare CD, die viele Abnehmer finden möge. Rüdiger Winter