Wer sich für Karl Richter interessiert, hat die Qual der Wahl. Gleich mehrere Firmen und Labels pflegen und verwalten sein akustisches und filmisches Erbe mit Sorgfalt und Tüchtigkeit. Jetzt liegt Profil Edition Günter Hänssler in diesem Bemühen aktuell vorn. Und zwar mit einer neuen Edition, die aus einunddreißig CDs (LC 13287) besteht. Die Aufmachung ist schlicht und einzig auf den Maestro abgestellt. Beschwörend hebt er die feingliedrigen Hände. Hände, die nicht nur Chor und Orchester leiten konnten, sondern auch am Cembalo oder an der Orgel meisterhaft in die Tasten griffen. Richter war ein Allroundtalent. Für seine vielseitige Begabung hatte er sich das Rüstzeug zunächst in Dresden und später in Leipzig erworben. Als Kind sang er im Kreuzchor. Thomaskantor Karl Straube, der noch mit Max Reger befreundet war, erkannte seine Begabung und holte ihn nach Leipzig, wo er auch auf dessen Nachfolger, Günther Ramin, traf. 1950 wurde er Thomasorganist. Schon bei etlichen Aufnahmen von Bachkantaten durch Ramin saß er am Cembalo. Faktisch gehören sie zu seiner Diskographie, die aber auch ohne diese frühen Zeugnisse umfassend genug ist. Gemessen an der Vielzahl der Titel müsste er über hundert geworden sein. Richter wurde aber nur vierundfünfzig Jahre alt – am 15. Oktober 1926 in Plauen geboren, starb er am 15. Februar 1981 in einem Münchener Hotel an Herzversagen. Kein Alter.
Spürte er, dass ihm nicht viel Zeit bleiben würde? Unrast war seine Lebensform. Er brannte. Nach seiner Übersiedlung in den Westen des geteilten Deutschland wurde München zum Zentrum seines Wirkens, wo er Bach-Chor und Bach-Orchester zu internationalem Ansehen verhalf und an der Musikhochschule lehrte. In der bayerischen Landeshauptstadt absolvierte er mit beiden Ensembles ein strenges Programm und trat auch als Solist in Erscheinung. Nebenher wurden Platten produziert – und ständig gereist. Immer wieder um den Erdball. Johann Sebastian Bach war, einem Markenzeichen gleich, der beherrschende Name auf den Programmzetteln. Diese Vorliebe hatte er aus Sachsen mitgebracht und sich sein ganzes Leben lang bewahrt. Seine eigene Klangvorstellung verfeinerte er immer mehr und trug sie in die Welt hinaus. Allein von der H-moll-Messe sind gut neunzig Aufführungen im In- und Ausland belegt. Und doch wollte er nicht auf Bach festgelegt werden. In seinem Repertoire finden sich auch Mozart, Haydn, Händel, Dvorak, Brahms und Bruckner. Beim Gedenkkonzert für seinen verstorbenen Freund Rudolf Kempe 1976 in München leitete er die vierte Sinfonie von Schumann. Hingezogen fühlte sich Richter zu Verdis Requiem. Ein Mitschnitt von 1969 mit Ingrid Bjoner, Hertha Töpper, Waldemar Kmentt und Gottlob Frick ist 2008 bei Altus erschienen. Ausflüge ins Reich der Oper sind ehr selten gewesen. Händels Giulio Cesare hat er 1968 in Buenos Aires dirigiert und für die Deutsche Grammophon eingespielt, wo auch Glucks Orfeo ed Euridice als Studioproduktion erschien.
Hänssler ist mit seiner Zusammenstellung um Vielseitigkeit bemüht ist. Also nicht nur Bach. Die Musikalischen Exequien von Heinrich Schütz haben nach einer langen Wanderung durch die Kataloge nun einen neuen Platz in dieser Box gefunden. Sie werden ehr beiläufig, wenn nicht gar willkürlich auf einer CD mit Ausschnitten aus Haydns Schöpfung und Jahreszeiten sowie Mendelssohns Elias verknüpft. Dabei hat diese Einspielung in der Richterschen Diskographie einen ganz besonderen Stellenwert. Sie ist nämlich noch mit dem Münchener Heinrich Schütz Kreis entstanden, einem nach dem Zweiten Weltkrieg gegründeten Ensemble, aus dem 1954 der Bach-Chor hervorgegangen ist. Richter hatte die Leitung dieses Kreises 1951 kurz nach seiner Niederlassung in München übernommen. Die Exequien sind die erste offizielle Plattenaufnahme des Chores für die Deutsche Grammophon, Ende November 1953 im Herkulessaal der Münchner Residenz realisiert. Beteiligt ist Prominenz der Münchner Bach-Pflege dieser Jahre wie die Sopranistin Elisabeth Lindermeier, die mit Rudolf Kempe verheiratet war und als Taumännchen in der berühmten Hänsel-und-Gretel-Aufnahme unter Fritz Lehmann in kaum einem Plattenschrank fehlt. Nach dem Ende ihrer Kariere als Opern- und Konzertsängerin verschlug es die Altistin Ruth Michaelis als Professorin an die Opernschule in Istanbul, wo sie türkische Volkslieder sammelte und herausgab. Später ging sie in die USA, wo sie auch starb. Der Tenor Friedrich Brückner-Rüggeberg galt als Experte für alte Musik mit Schwerpunkt Schütz und Monteverdi. Nicht verwundern muss die Mitwirkung des Bassisten Max Proebstl, der ehr mit Kaspar, Bartolo oder Falstaff in Verbindung gebracht wird denn mit Schütz oder dem Baron Starhemberg in der Uraufführung von Hindemiths Harmonie der Welt. Diese Spezis ist sehr selten geworden, wenn nicht gar ausgestroben.
Die mehrer als sechzig Jahre Aufnahme der Exequien muss die Konkurrenz mit den vielen neueren Produktionen nicht scheuen. Richter gelingt es, die hochindividuellen Stimmen zusammenzuführen und zusammenzuhalten. Niemand schert aus. Hinter den Dienst an der Kunst hat das eigene Profil zurückzustehen. Chor und Solisten sind so positioniert, dass es wie frühes Stereo klingt. Richter hebt das Werk aus einer gewissen Erdenschwere ins Lichte und Klare empor. Es gibt also viele Gründe, diese Aufnahme besonders herauszustellen. Sie erschien zunächst im Rahmen der so genannten Archiv Produktion der Deutschen Grammophon. Deren Ursprung reicht in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg zurück. Es sollte zunächst versucht werden, Orgeln und wertvolle Instrumente, die nicht den Zerstörungen anheim gefallen waren, akustisch zu dokumentieren. Daraus wurde mit den Jahren eine monumentale Sammlung, die immer weiter über das ursprüngliche Ziel hinaus wuchs. Die ersten Aufnahmen erschienen noch auf Schelllack, die Hülle am Rand vernäht. So waren sie unverwechselbar und sehr haltbar zugleich. Beigegeben waren umfängliche, musikwissenschaftlich fundierte Informationsblätter. Ein großer Teil des Plattenbestands wurde im Laufe der auf CD übernommen. Im schmalen Booklet der Edition wird zwar auf die „symbiotische Beziehung“ Richters zu dem verdienstvollen Label ganz allgemein verwiesen, der Zusammenhang mit konkreten Aufnahmen wird aber nicht hergestellt. Ja, es wird nicht einmal – wie übrigens bei allen Werken – das Aufnahmejahr genannt. Das ist schwach, sehr schwach und schränkt Nutzen und Bedeutung der Sammlung ein. Schließlich will eine Edition, die diesen Namen verdient, mehr sein als ein Sammelsurium. Literatur, mit deren Hilfe Ordnung in das Chaos gebracht werden kann, gibt es reichlich. Roland Wörner, der an der Betreuung des Nachlasses des Dirigenten beteiligt war, hat in seinem Buch „Karl Richter – Musik mit dem Herzen“, 2001 im Panisken Verlag erschienen, Aufnahmedaten in einer Diskographie akribisch aufgelistet. Auf die Platteneinspielungen geht auch Johannes Martin in seinen siebenbändigen, reich bebilderten und mit Faksimiles versehenen Zeitdokumenten zu Richter ein, die bei Conventus Musicus herausgekommen sind.
Zurück zur Edition. Flötenkonzerte gibt es von Mozart und Haydn. Sie sind – wie andere Titel auch – bereits separat erschienen Die Flöte bei den Konzerten spielt der Schweizer Aurèle Nicolet, der oft mit Richter zusammengearbeitet hat. Zwischen beiden stimmte die Chemie. Ihr Zusammenspiel ist von gegenseitiger Zurückhaltung geprägt, der Solist bekommt immer den Vorrang, kann sein virtuoses Können voll entfalten und trägt die grundsolide Interpretation durch Richter mit. Er reißt nie aus. Es ist viel Heiterkeit in diesen Aufnahmen, zumal die Flöte immer eine gewisse Naturnähe schafft. Mit dabei ist auch das berühmte Konzert KV 314, das ursprünglich als Oboenkonzert komponiert wurde. Ein Einfall jagt den nächsten. Es lohnt sich, die Aufnahmen mehrfach zu hören, also nicht gleich wieder in die Schachtel einzuordnen. Sie verbreitet viel Ruhe und Ausgeglichenheit. Dramatisch kommt Mozarts Requiem daher. Mit Maria Stader (Sopran) und Hertha Töpper (Alt) sind zwei gestandene Sängerinnen mit entsprechender Erfahrung in diesem Genre aufgeboten. Der gradlinige holländische Tenor John van Kestern ist nicht so oft auf Platten anzutreffen. Insofern ist seine Mitwirkung auch eine diskographische Bereicherung. Er hat nach wie vor seine Anhänger. Etwas aus der Rolle fällt Karl Christian Kohn mit seinem robusten Bass, der mit Kaspar oder Geisterbote besser bedient wäre denn mit Mozart. Sein „Tuba Mirum“ lässt tatsächlich aufschrecken, auch aus dem Quartett ragt er zu stark heraus. Richter war bei der Auswahl seiner Solisten oft sehr eigenwillig. Nicht alle Entscheidungen sind nachzuvollziehen. Er geht das Requiem groß an. Es klingt wuchtig. Als sollten die Toten aufgeweckt werden. Nicht umsonst ist Franz Eder an der Posaune extra erwähnt. Händel bringt es mit acht Orgelkonzerten, bei denen Richter selbst das Instrument bedient, und vier Concertos auf drei CDs. Die Tempi sind in Teilen sehr gedehnt, was den Vorteil hat, dass das Zusammenspiel zwischen Orgel und Orchester plastisch wird und auch schon mal an ein Pingpong-Spiel denken lässt. Richter zelebriert diese prachtvoll und festlich klingenden Konzerte. Er überträgt die eigene Freude an der Musik auf seine Hörer. Kompakt und schwungvoll zugleich ist Joseph Haydn mit seiner Paukenschlag-Sinfonie und der Uhr-Sinfonie angelegt. Richter zeigte sich von der schon in seiner Zeit aufkommenden historisch informierten Aufführungspraxis (HIP) unbeeindruckt und unangefochten.
Was nun die großen Chorwerke von Johann Sebastian Bach, anbelangt, werden – so vorhanden – die frühen Einspielungen angeboten. Dem Booklet ist – wie schon gesagt – die zeitliche Verortung jedoch nicht zu entnehmen. Im Falle der H-moll-Messe von 1964 ist auch gleich noch die Besetzung weggelassen worden. Wo die Namen stehen sollten findet sich der lediglich der Eintrag „Solisten/soloists“. Wer sich einigermaßen auskennt und gut zuhört, weiß, dass an dieser Stelle Maria Stader (Sopran), Hertha Töpper (Alt), Ernst Haefliger (Tenor), Dietrich Fischer-Dieskau (Bariton) und Kieth Engen (Bass) genannt werden müssten. Richter besetzte üppig. Für die inhaltliche und musikalische Botschaft der Messe wollte er eine angemessene Form finden. „Et exspecto resurrectionem mortuorum, et vitam venturi saeculi.“ (Wir erwarten die Auferstehung der Toten und das Leben der kommenden Welt.) Die grandiose Steigerung am Ende des Credo und den fast nahtlosen Übergang ins Sanctus trieb er – unterstützt von Adolf Scherbaum mit seiner Trompete – regelrecht auf die Spitze. Auferstehung wird bei Richter zur Schreckensvision. Haefliger wirkte auch in der Matthäus-Passion von 1958 als Evangelist und Sänger der Tenor-Arien mit. Er ging auf die vierzig zu und war auf dem Höhepunkt seines Könnens. Kein Wunder, dass Richter ihn schätzte und oft einsetzte. Haefliger war hochmusikalisch, dabei unverwechselbar und absolut sicher im Text, den er bis ins Kleinste auslotetet und auskostet. Sein Evangelist ist kein neutraler Berichterstatter, er nimmt Anteil an dem, was zu verkünden ist. Als gehe es ihn selbst an. Die Töpper, deren Vornamen im Booklet mal mit und mal ohne „h“ geschrieben wird, fällt wieder durch sichere Stimmführung und weniger durch Ausdruckstiefe auf, wie sie die Höffgen oder die Ludwig beherrschten. Für Irmgard Seefried, die als Sopran besetzt ist, kam die Aufnahme etwas spät. Das Herrenensemble komplettieren zuverlässig Engen (Jesus), Fischer-Dieskau (Arien) und Proebstl (Judas, Petrus, Pilatus, Hohepriester). Verzichtet wurde auf die Johannes-Passion, die Richter 1964 ebenfalls für die Deutsche Grammophon einspielte. Warum? Sie liegt bei dieser Firma – wie auch die Matthäus-Passion und die H-moll-Messe – auch in einer alternaiven Filmversion vor.
Richters erstes Weihnachtsoratorium von 1955 für die Decca muss nicht mit der späteren verglichen werden, die allein durch die Mitwerkung von Fritz Wunderlich Kultstatus hat. Sie ist in ihrer schlichten Würde eigenständig genug und stellt eine achtenswerte Alternative dar. Wieder ist unverwüstliche, inzwischen 92jährihge Hertha Töpper dabei, diesmal ohne „h“. Der Sopran, besetzt mit der Amerikanerin Chloë Owen, hat nicht sehr viel zu tun. Und das auch gut so, denn die Sängerin, deren verfügbare Aufnahmen neben dem Weihnachtsoratorium mit der Micaela in einem Telefunken-Carmen-Querschnitt und den Sieben frühen Liedern von Berg unter Ansermet schnell ausgemacht sind, fügt sich stilistisch nicht ein. Den Evangelistischen und die Tenorarien singt Gert Lutze, der 1960 nach Westdeutschland übersiedelte, alsbald den Sängerberuf aufgab und sich nach dem Medizinstudium als Hautarzt betätigte. 2007 ist er mit neunzig Jahren gestorben. Richter kannte ihn noch aus Leipzig, wo Lutze im Thomanerchor sang, 1946 für den erkrankten Tenor in der Matthäus-Passion einsprang und fortan sehr erfolgreich als Solist wirkte. Er ist schon an Plattenaufnahmen von Günther Ramin beteiligt. Ein Jahr nach seinem Tod hat ihn der legendäre österreichische Rundfunkmoderator Gottfried Cervenka in einer seiner Apropos-Oper-Sendungen wiederentdeckt. Natürlich kannte Cervenka „die eine oder andere Platte mit Lutze, doch die große Sensation kam erst mit der Übernahme der DDR-Rundfunkbestände in das Deutsche Rundfunkarchiv. Nicht weniger als 365 Einträge finden sich dort mit Gert Lutze, dazu noch weitere 121 unter dem Pseudonym Charles Geerd, denn Unterhaltungsmusik wollte der renommierte Bach-Interpret offenbar nicht unter seinem wirklichen Namen aufnehmen. Grob geschätzt hat Lutze in nur 14 Jahren – zwischen 1946 und 1960 – also annähernd genau so viele Aufnahmen eingespielt wie zum Beispiel der etwa gleichaltrige Rudolf Schock in vier Karrierejahrzehnten“, so Cervenka. „Neben vielen Bach-Einspielungen gibt es da eine ganze Reihe von kompletten Opern und Operetten, Oratorien, Lieder, Schlager – die Vielseitigkeit dieses Künstlers scheint geradezu unglaublich.“ Lutze hat eine leicht geführte helle Stimme, klingt jungenhaft. Am ehesten ist er mit Gerhard Unger vergleichbar. Horst Günter und Keith Engen teilen sich bei diesem Weihnachtsoratorium, das auch in anderen Ausgaben auf den Markt gekommen ist, in den Bass bzw. Bariton. Was noch? Die Goldberg-Variationen, Partiten, die Brandenburgischen Konzerte, die Orchester-Suiten, reichlich Kantaten und das Magnificat. Einunddreißig CDs wollen gefüllt sein. Obwohl an den Informationen sträflich gespart wurde, erweist sich die Edition als letztlich doch Fundgrube für gut informierten Musikfreunde und solche, die es werden wollen. Rüdiger Winter
Karl Richter bei der Arbeit: Das große Foto oben ist ein Ausschnitt aus dem Titelbild der neuen Edition von Profil Günter Hänssler.