Ein junger Mann, 1982 in Regenburg geboren, inzwischen vornehmlich in London lebend, ist auf der Suche nach Heimat. Was ist Heimat für einen, der noch ein Kind war, als der Eiserne Vorhang in Europa fiel, der sich immer völlig frei bewegen konnte, heute hier, morgen dort. Der nie etwas anderes gekannt hat als diese grenzenlose Freiheit. Ist Europa schon die Heimat geworden für einen wie ihn? Oder schwingt da im tiefsten Innern doch eine Sehnsucht nach einem ganz konkreten Ort mit? Nach einer Stadt, einem Dorf, einem Landstrich. Heimat ist ein schwieriges Wort. Es wurde und wird noch immer missverstanden und missbraucht. Dabei ist es ein schönes Wort.
Bei jungen Leuten, die sich nicht mit dem historischem Ballast der Großväter herumschleppen müssen, hat es wieder eine Chance, völlig unverkrampft gebraucht zu werden. Bei dem jungen Mann, den offenbar keine Schwierigkeiten mit dem Wort plagen, handelt es sich um den Bariton Benjamin Appl. Er hat seiner ersten CD bei Sony den Titel Heimat gegeben (88985393032). Seit einiger Zeit ist der Sänger Exklusivkünstler der Firma. Daran knüpfen sich viele Hoffnungen, für den Künstler wie auch für sein Publikum. Nach Überzeugung des Gramophone Magazins stieg er bereits zum „Spitzenreiter der neuen Generation der Liedersänger“ auf. So weit würde ich nicht gehen. Noch nicht. In diesen Blumenstrauß der Huldigung ist viel Vorschusslorbeer eingebunden. Appl steht am Anfang. Was auch zu hören ist. Die Register sind noch nicht ausgeglichen. Hohe Töne reißt er mitunter nach oben, anstatt sie aus den unteren Lagen anschwellen zu lassen. Dann klingt es hohl. Für sich genommen ist das Timbre sanft und eingängig. Appls Stimme verfügt auch über einen hohen Wiedererkennungswert, klingt etwas älter, als er in Wirklichkeit ist. Er ist sehr gut zu verstehen. Das sind beste Voraussetzungen für einen Liedsänger. Wenn er intensiv an der Vervollkommnung seiner Technik arbeitet, wird er zur Spitze aufsteigen, wo ich ihn noch nicht sehe. Mit Bedacht tastet er sich nach vorn. Respekt vor der Herausforderung drückt sich bei ihm in Vorsicht und Zurückhaltung aus. Nicht bitte jetzt schon die Winterreise!
Und dennoch soll das vorauseilende Werturteil des Musikmagazins nicht kleingeredet werden. Vor allem jene Musikfreunde dürften es gern zur Kenntnis nehmen, die sich mit Liedern beschäftigen, die ihren Fischer-Dieskau, Prey, Wunderlich, Goerne oder Gerhaher sehr gut kennen und schätzen, die aber immer Ausschau nach neuen Talenten, Eindrücken und Stimmen halten. Es ist sehr erfreulich, dass sich Sängerinnen und Sänger verstärkt Liedern zuwenden. Auch die jungen. Der Musikmarkt bewegt sich in diese Richtung. Appl ist da nur ein Beispiel, wenngleich ein besonders gutes und hoffnungsvolles. Er lässt Gefühle zu, nicht nur sublimiert als Kunst, sondern in Wort und Schrift. Das ist sympathisch und nimmt ihn gewiss zusätzlich für ein. Für das Booklet hat er einen persönlichen Text verfasst: „Jeder von uns kennt aufgrund verschiedener Erfahrungen die Empfindung von Geborgenheit, die einen durch einen Ort, eine Situation oder Personen vermittelt wird. Manchmal erfährt man aber auch Einengung, Vorurteil oder Schmerz“, schreibt er. Dichter und Komponisten, hätten sich seit Jahrhunderten damit beschäftigt. „In unserer Zeit ist diese Thematik noch aktueller und drängender denn je, wo viele ihre Heimat verlieren oder aufgeben.“ Heimat sei etwas, was Menschen wirklich bewege. In den Liedern der CD sieht er ein Stück seiner „Lebensreise“. Es seien Texte, die trösteten, Freude bereiteten, Erinnerungen wachriefen, aber auch Lieder, die von Aufbruch und Findung berichteten, „nicht zuletzt aber als Wegbegleiter und Wegbereiter von Vertrautheit und Halt“. Andere wiederum spiegelten Momente wider, in denen ein Stück Heimat verloren gegangen sei. Entsprechend ist die Auswahl getroffen. Die Literatur zum Thema Heimat ist groß. Dichter und ihre Komponisten fühlten sich zu allen Zeiten ausgestoßen, an den Rand der Gesellschaft in Außenseiterpositionen gedrängt. Auf einen Prolog mit Franz Schuberts „Seligkeit“ folgen die Themen Wurzeln, Räume, Menschen, Unterwegs und Sehnsucht, ausschließlich von deutschsprachigen Komponisten bestritten.
Zu Schubert, der mit Liedern am häufigsten vorkommt, treten Max Reger, Johannes Brahms, Franz Schreker, Hugo Wolf, Richard Strauss und Adolf Strauss hinzu. Adolf Strauss? Über diesen 1902 geborenen Komponisten ist wenig bekannt. Er schrieb den Tango „Ich weiß bestimmt, ich werd’ dich wiedersehen“ im KZ Theresienstadt unmittelbar vor dem Todestransport in die Gaskammern von Auschwitz. Musikalisch kann dieser Titel, der an Barmusik denken lässt, mit den anderen Liedern nicht mithalten, zumal er zwischen „Wanderer an den Mond“ und „Heimweh“ von Schubert geklemmt ist. Durch die tragischen Umstände seines Entstehens schon. Appl hat gut daran getan, in seinem Programm, das man sich auch als Liederabend vorstellen kann, mit diesem Lied auf nachdenkliche Weise innezuhalten bei seiner Suche nach Heimat. Zugleich aber empfiehlt er sich als Begabung für dieses leicht gestrickte und eingängige Genre jenseits der hohen Schule des Liedgesangs. Appl hat Sexappeal in der Stimme. Die abschließende CD-Abteilung „Grenzenlos“ wird vom Franzosen Francois Poulenc und den Engländern Benjamin Britten, Ralph Vaughan Williams, Sir Henry Bishop (1786-1855), Peter Warlock (1894-1930), John Ireland (1879-1962) bestritten, bevor das Programm mit einem Prolog ausklingt, bestehend aus zwei Liedern des Norwegers Edvard Grieg – „An das Vaterland“ und „Ein Traum“. Hier schließt sich der Kreis. Heimat und Vaterland als immerwährender Traum. Ein schöner Gedanke.
Zuletzt hatte Benjamin Appl bei Champs Hill diverse Lieder aufgenommen. Dem Vernehmen nach soll er der letzte Schüler von Dietrich Fischer-Dieskau gewesen sein. Zwischen 2010 bis 2013 studierte er an der Guildhall School of Music and Drama in London, wodurch sich auch der Kontakt zu dem englischen Label ergeben haben dürfte. Appl ist nicht festgelegt auf eine Richtung. Er singt sowohl Opern als auch Oratorien und Lieder. Damit liegt er ganz auf der Linie seines berühmten Lehrers. Dem Aussehen nach ist er ehr der Popstar, dem die Fans zu Füßen liegen. Das muss im gediegenen Klassikgeschäft kein Nachteil sein. „Stunden, Tage, Ewigkeiten“ ist die CD mit Liedern nach Heinrich Heine betitelt (CHRCD112). Heine, der als der letzte Dichter, der Schlusspunkt der Romantik gilt, hat Komponisten magisch angezogen. Franz Schubert sind einige seiner bedeutendsten Lieder auf seine Texte gelungen: „Der Atlas“, „Ihr Bild“, „Die Stadt“, „Der Doppelgänger“. Diese vier Titel aus dem Schwanengesang hat Appl aufgenommen. Sie gelingen ihm gut. Appl lässt sich Zeit beim Singen. Dadurch kann er alle textlichen und musikalischen Details ausbreiten. Bei der Programmauswahl haben sich die Produzenten nicht nur auf Altbekanntes verlegt. Auftakt ist das Lied „Gruß“ in der Vertonung von Edvard Grieg, gefolgt von den Sechs Liedern von Heine des russischen Komponisten und Pianisten Anton Rubinstein, der viele Lieder hinterlassen hat. Die erweisen sich als Entdeckung und mehren den Wert dieser Neuerscheinung.
Seinem Höhepunkt strebt die Programmauswahl mit Roberts Schumanns Dichterliebe zu. Begleiter ist – wie auch bei der ersten Sony-Produktion James Baillieu. Im hübsch aufgemachten Booklet kommt der Sänger, wie jetzt bei der Sony-CD ebenfalls zu Wort. Obwohl er ja durch seine Stimme und nicht durch das geschriebene Wort erklärend Eindruck machen soll, ist das für sich genommen eine gute Idee. Zumal Appl auch hier sehr persönlich wird: „Mit meinen Deutungen suche ich bewusst einen jungen, frischen Interpretationsansatz für die vorwiegend liebesbezogenen Textvertonungen.“ Und weiter: „Die Komponisten waren im vergleichbaren Alter, meistens jedoch noch jünger als ich jetzt. Ihre persönlichen Erlebnisse hatten sie sicher damals dazu bewegt, vorliegende Texte auszuwählen und in ihre musikalische Sprache einzukleiden. Durchlebt man doch in jungen Jahren erfüllte wie auch enttäuschende Stunden der Liebe besonders intensiv.“ Sein Vortragsstil auf dieser CD wirkt selbstbewusst und frisch, und doch nicht nassforsch. Er vergeht nicht vor Erfurcht vor diesen Meisterwerken, er nähert sich mit einer gewissen Lockerheit an. Das macht die Aufnahme zum Hörvergnügen. Nur hier und da hinterlässt er noch einen akademischen Eindruck. So, als würde er die Lieder in einem Seminar vortragen, in dem auch andere Studenten und Professoren sitzen. Habe ich alles richtig gemacht? Er hat! Dieser Sänger ist auf einem sehr guten Weg. Es besteht nicht der geringste Zweifel für mich, dass noch viel von ihm zu hören sein wird. Rüdiger Winter
Das große Foto oben ist ein Ausschnitt des Covers der Lieder-CD von Benjamin Appl, die bei Sony herausgekommen ist. Ohne Schriftzug findet es sich auch im Innern der Neuerscheinung. Foto: Lars Borges / Studio Borges