In Bayreuth folgt in diesem Sommer 2017 auf die Neuinszenierung der Meistersinger durch Barrie Kosky Tristan und Isolde. In dieser Koppelung kommt das nicht oft vor. Sinnvoller wäre es natürlich umgekehrt. Denn mit den Meistersingern von Nürnberg lässt Wagner seinen Tristan hinter sich. „Mein Kind, von Tristan und Isolde / Kenn‘ ich ein traurig Stück: / Hans Sachs war klug und wollte / Nichts von Herrn Markes Glück.“ Sachs macht seinen Verzicht auf Eva, die er heimlich geliebt hat, öffentlich. Er überwindet sich, indem er einem neuen Glück den Weg bahnt. Eva bekommt ihren Walther, noch bevor das Wettsingen überhaupt begonnen hat. Es wird Formsache. Ein Konflikt löst sich auf. Mitten am Tage. Selig wie die Sonne! Dazu zitiert Wagner sich selbst. Im Orchester erklingt – wie aus dem Dunkel der Nacht – der berühmte Tristan-Akkord. Dieser musikalische Einfall voller Schmachten und Sehnen, nicht ganz eindeutig in seiner musikalischen Struktur, sondern eher unbestimmt und vage, hat ganze Generationen von Wissenschaftlern, Dirigenten und Musikkritikern beschäftigt. Literatur zuhauf hat sich angesammelt. Auch im Internet – das heute als wichtige Quelle dazugehört – ist dieser Akkord, der gleich zu Beginn des Tristan-Vorspiels erklingt, ein nicht enden wollendes Thema. „Der Akkord entzieht sich wegen seiner harmonischen Undurchsichtigkeit bis heute einer einfachen bzw. allgemein akzeptierten Deutung. Es hat immer wieder sehr unterschiedliche Versuche gegeben, ihn funktionsharmonisch zu interpretieren. Seine Vieldeutigkeit ist zudem typisch für die extrem chromatische und tonal unstete Harmonik der Tristan-Partitur, in der Ernst Kurth eine Krise der romantischen Harmonik sah“, heißt es im Wikipedia-Artikel. Der zitierte Kurth (1886 bis 1946) war ein renommierter Musiktheoretiker und Musikpsychologe aus der Schweiz.
Wer sich eine Gesamtaufnahme des Werkes anhören und auch den Akkord auf sich wirken lassen will, hat die Qual der Wahl. Sogar ein von Christian Thielemann dirigierter Mitschnitt der Inszenierung von Katharina Wagner, die in diesem Jahr wieder im Spielplan steht, liegt bereits auf DVD vor. Wie das Werk 1966 in Bayreuth geklungen hat – also vor mehr als einem halben Jahrhundert – das hat ein Mitschnitt der Deutschen Grammophon bewahrt, der jetzt in neuer Überspielung herausgekommen ist (479 7291). Es handelt sich um eine besondere Edition. Neben dem Remastering der originalen Gesamtaufnahme gibt es eine Blu-ray-Audio-Disc, die das lange Werk platzsparend aus einer Scheibe versammelt. Dieses Format verlangt einen geeignetes Abspielgerät, lässt sich aber auch in einem für Blu-ray-DVD’s ausgelegten Player am Fernseher abspielen. Auf dem Bildschirm erschient dann eine bebildertes Menü, mit dem sich die einzelnen Tracks bequem ansteuern lassen. Ist ein Verstärker mit guten Lautsprechern oder Kopfhörern zugeschaltet, erfüllt sich das Versprechen einer besonders hohen Klangtreue. Letztlich kann aber technisch nur verbessert werden, was auch vorhanden ist, interpretatorisch vorhanden ist. Keine noch so ausgeklügelte Technik könnte Unterlassungen und Versäumnisse von Dirigent und Solisten ausgleichen. In diesem Falle sind die Voraussetzungen für die Nacharbeit am Computer glänzend. Experten dürften ein leichtes Spiel gehabt haben. Denn schon bei ihrem ersten Erscheinen auf Langspielplatten klang die Aufnahme sehr gut. Die Grammophon hatte damals hineingelegt, was möglich war und dafür auch den Grand Prix du Disque, den international begehrten französischen Plattenpreis, bekommen.
Jetzt also tönt es noch brillanter, leuchtender, wo es leuchten muss, dunkler, wo Wagner die Nacht hernieder sinken lässt. Vom Klangbild her scheint die historische Distanz wie aufgehoben. Dass es sich aber doch nur um eine alte Produktion handeln kann, wird durch die sängerischen Leistungen offenbar. So rollendeckend, so deutlich und wissend zugleich singt heute kaum einer mehr. Birgit Nilsson war die Isolde, Wolfgang Windgassen der Tristan. Jung klingen sie beide nicht. Die Nilsson ging auf die fünfzig zu, Windgassen, zum Kehligen neigend, hatte sie überschritten. Erste Verschleißerscheinungen kündigten sich an. Sie überzeugen durch gestaltendes Singen. Es gibt für mich nicht einen Moment, in dem ich ihnen die Rollen nicht abnehmen würde. Dabei gehörte ich nie zu den leidenschaftlichsten Parteigängern dieser Interpreten. Mit den Jahren und in Ermangelung überzeugender Rollenvertreter haben sie in meiner Wahrnehmung an Bedeutung gewonnen. 1966 ging die Inszenierung von Wieland Wagner in ihr fünftes Jahr – ein Schicksalsjahr für Bayreuth. Noch während der Festspiele erkrankte der Enkel Richard Wagners schwer, musste zur Behandlung ins Krankenhaus. Er starb im Oktober desselben Jahres. Tristan wurde zu seinem Vermächtnis. „Vollendung der Leidenschaft im Tod: dieses mystische Moment deckt die tiefe Bedeutung des Tristan-Mythos auf, der in der Überlieferung der Sagen und Legenden durch die Jahrhunderte – nicht anders als der Mythos im Ring und im Parsifal – durch gesellschaftlich bedingte epische, malerische und moralische Zutaten verunklart und verdunkelt worden ist“, hatte er noch für das Booklet der Aufnahme geschrieben. Der Text wurde auch in alle späteren Ausgaben übernommen. Es sei deshalb kein Zufall, so Wieland Wagner weiter, dass der „Tristan- wie der Don-Giovanni-Mythos erst in der Oper, erst durch die Musik, ihren endgültigen, ja ihren vollendeten Ausdruck gefunden“ hätten.
Birgit Nilsson war für Wieland nicht die erste Wahl. In ihrer unverwechselbaren Offenheit kommt sie auf das Thema auch in ihren Memoiren „La Nilsson – Mein Leben für die Oper“ zu sprechen. Er habe sich eine „jungfräuliche Isolde vorgestellt, eine, die niemals zuvor die Partie gesungen hatte“. Die Schwedin hingegen hatte die Rolle nach eigenem Bekunden bereits 87-mal gesungen und konnte nicht nachvollziehen, dass sie ihr nicht angeboten wurde. Befürchtete Wieland, sie können „nicht mehr für neue Ideen empfänglich“ sein? Schließlich kam das Angebot doch noch, und sie willigte „nach einer halben Sekunde Bedenkzeit“ ein. Die Isolde wurde zu einem der Triumphe der Nilsson in Bayreuth. Bis 1970 blieb die Inszenierung im Spielpan. Mit der letzten Vorstellung verabschiedete sie sich gemeinsam mit Wolfgang Windgassen von den Festspielen. Ich erinnere mich noch ganz genau, wie wir im Kreis von Gleichgesinnten gebannt am Radio saßen. Uns war sehr wohl bewusst, dass eine Ära zu Ende gehen würde .
Doch zurück in das Jahr 1966. Christa Ludwig war neu in Bayreuth, sang lediglich in einer Vorstellung die Brangäne und kehrte nur für einen Sommer zurück, nämlich 1967 als Kundry im Parsifal. Mit ihrer Brangäne erweckte sie gelegentlich den Eindruck, selbst Anlauf auf die weibliche Titelrolle nehmen zu wollen. Selten dürfte die treue Dienerin so hochdramatisch angelegt worden sein. Es ist vorstellbar, dass Wieland daran Anstoß nahm. Beide kannten sich aus einer Berliner Aida-Produktion von 1961. Schon damals hatte es Unstimmigkeiten gegeben, aus denen die Ludwig in ihren Erinnerungen “ … und ich wäre so gern Primadonna gewesen“ gar keinen Hehl macht. Sie spricht von „Hassliebe“, die aber eine große Achtung vor seiner „überwältigenden Weitsicht“ nicht ausschließt. In diesem Buch lässt die Ludwig ihren ausführlichen Briefwechsel mit Wieland abdrucken, in dem sich beide Seiten höchst professionell begegnen. Diese Briefe, in denen um die bestmöglichste Wirkung des Werkes gerungen wird, geben eine Einblick der besonderen Art in die Werkstatt Bayreuth.
Nobel und jungmännlich klingt Eberhard Wachter als Kurwenal. Es war ebenfalls sein erster Festspielsommer. Waechter ließ seine gestandenen Vorgänger, darunter auch der gelegentlich murmelnde und ältlich wirkenden Hans Hotter, zurück. Martti Talvela, der Bilderbuchfinne mit dem mächtigen Bass, war 1966 zwar kein Neuling, den König Marke aber sang er zum ersten Mal. Als Debütant wirkte der hochattraktive Claude Heater, der außerhalb Bayreuths in Heldenpartien auftrat, als Melot mit. Erwin Wohlfahrt, war der Hirt im dritten Aufzug. Gerd Nienstedt, der bereits den Donner und den Biterolf gesungen hatte, war sich – auch das eine der Bayreuther Besonderheiten – für den Steuermann nicht zu schade. Wohl mit Blick auf die Plattenproduktion stellte sich Peter Schreier, damals mit großen Aufgaben weltweit unterwegs, als junger Seemann zur Verfügung, der im Stück das erste Wort hat. Er war ein Glücksfall. Seine Mitwirkung 1966 blieb eine Episode in seiner langen erfolgreichen Karriere.
In Bayreuth wurde in dieser Saison nicht herumgesessen. Windgassen sang neben den drei Tristan-Vorstellungen in drei Ring-Durchläufen alle Siegfriede, die Nilsson alle Isolden und neun Mal die Brünnhilde. In dieser Rolle alternierten mir ihr Astrid Varnay und Ludmila Dvorakova. Ob die Tristan-Aufnahme, die hinter den Kulissen schon ein Thema gewesen sein dürfte, den Solisten im Nacken saß, ist nicht überliefert. Bisher war ich immer davon ausgegangen, dass diese Einspielung unter ganz einmaligen Umständen zustande kam. Jeder Aufzug sei an drei verschiedenen Tagen einzeln vor ausgesuchtem und diszipliniertem Publikum, das dazu verpflichtete worden ja, nur nicht zu husten, aufgenommen worden. Die Sänger sollten sich verausgaben können, ohne an die folgenden Strapazen denken zu müssen. Das machte Sinn. In Wirklichkeit ist es auch so geschehen, wie der Musikwissenschaftler Franzpeter Messmer im Booklet bestätigt. „Doch bei den dann mitgeschnittenen zwei regulären Aufführungen vor dem großen Festspielpublikum war die musikalische Qualität höher als bei den einzelnen aufgenommenen Akten.“ Messmer zitiert in diesem Zusammenhang auch den Dirigenten Karl Böhm aus seiner Autobiographie: „Gerade bei einem Werk wie dem Tristan, der ein einziges Crescendo vom ersten sehnsüchtigen a-f der Celli bis zum letzten Liebestod-Akkord, erfüllt vom ungeheuerster Leidenschaft, sein muss, kann dies alles nur in einer Live-Aufnahme erreicht werden.“ Denn dieser letzte „entscheidende Ausdruck und die große Linie“ seien bei einer noch so minuziösen „Flickarbeit“ im Studio nicht möglich. Also wurde die Plattenproduktion doch aus dem Material der offiziellen Aufführungen bestritten? Es ist wohl so.
Die Plattenausgabe enthielt einen Bonus, der beim Umschnitt auf CD keinen Platz mehr fand. Jetzt kehrt er zurück, allerdings nur auf der Blu-ray-Scheibe. In diesen dreißig Minuten probt der Dirigent Vorspiel und erste Szene des dritten Aufzugs. Wer erwartet hat, Böhm erkläre den Musikern das Stück inhaltlich, philosophisch und bedeutungsschwer, wird enttäuscht. Er näherte sich der Musik einzig aus der Partitur mit Notenwerten oder Tempoangaben. Ein typische Zitat: „Jetzt muss das dritte Horn weich übernehmen, gel, auf drei.“ Mitunter wurde er laut, unwillig, sang eine Passage mich krächzender Stimme vor, schlug hörbar den Takt gegen das Pult. Die Probenarbeit ist streng und kleinteilig. Und daraus soll nun der Tristan werden? Das Wunder gelingt, wie es die Hörer an den Lautsprechern nachvollziehen können. Sie werden regelrecht hineingezogen, können diesem musikalischen Sog nicht entgehen. Zumindest mir ist es so ergangen. Nach mehr als fünfzig Jahren offenbart diese Aufnahme, was für ein bedeutender Wagner-Dirigent Karl Böhm doch gewesen ist. Rüdiger Winter
„O sink hernieder, Nacht der Liebe.“ Das große Foto oben ist ein Ausschnitt aus dem Cover der neuen Auflage von „Tristan und Isolde“ als Mitschnitt von den Bayreuther Festspielen 1966 bei der Deutschen Grammophon. Es hält eine Szene aus dem Liebesduett des zweiten Aufzugs fest und stammt von Siegfried Lauterwasser. Das Paar ist links positioniert. Auf früheren CD-Ausgaben war das Seitenverhälnis umgekehrt: Tristan liegt Isolde nicht mehr zur Rechten, sondern zur Linken zu Boden. Auch das zur Silhouette stilisierte Schiff im Hintergrund hat die Richtung gewechselt.