„Sind auf dem Weg zum Weißen Roß! Wo wir logieren bis übermorgen.“ Wer sich im Rosenkavalier ein bisschen auskennt, dem ist auch dieser Gasthof geläufig. Ochs bringt ihn ins Spiel, als er sich in Reisekleidern Zutritt zum Schlafgemach der Marschallin verschafft. Mit seiner bescheidenen Entourage ist er soeben in Wien angekommen und beabsichtigt, zunächst im „Weißen Ross“ zu logieren, bis sich die Türen des Palais seiner Zukünftigen, des „Fräulein Faninal“ öffnen. In der Oper ist nichts zufällig. In einem 1989 erschienen Aufsatz ging der österreichische Unternehmer Artur Hartlieb-Wallthor, der sich auch als Musikforscher betätigt, auf Spurensuche. Er fand – auch unter Verweis auf andere Quellen – heraus, dass es einen Gasthof „Zum Weiszen Rossz“ auf der Taborstraße gegeben habe. Erstmals ist die Straße 1409 erwähnt worden. Sie folgt dem Weg, den Ochs bei seiner Reise aus den Provinzen nach Wien nahm.
Der Librettist Hugo von Hofmannsthal, der ein außerordentlich gebildeter und mit den historischen Örtlichkeiten seiner Heimatstadt Wien, wo er 1874 geboren wurde, vertrauter Mann gewesen ist, hat derlei Örtlichkeiten und andere Bezüge, die der historischen Überprüfung standhalten, in seine Textvorlage eingebaut. Nicht allein, um das Geschehen mit tatsächlichen Fakten zu konkretisieren und zu unterfüttern. Es dürft mehr ein Spiel gewesen sein. Mitunter auch ein Versteckspiel, an dem sich der interessierte Leser selbst beteiligen kann. Anregungen in Hülle und Fülle bietet das Buch „Der Rosenkavalier – Textfassungen und Zeilenkommentar“ aus dem Hollitzer-Verlag (ISBN 978-3-99012-348-5). Herausgegeben wurde es von Dirk O. Hoffmann in Zusammenarbeit mit Ingeborg Haase und dem schon erwähnten Artur Hartlieb-Wallthor. Die Illustrationen stammen von Friederika Richter. Einmal in Besitz, fällt es schwer, das Buch wieder aus der Hand zu legen. Diese Erfahrung habe ich gemacht. In seiner Mischung aus wissenschaftlicher Akribie, unterhaltsamen Mitteilungen und gelegentlichen Mutmaßungen ist es eine vorzügliche begleitende Lektüre für die Beschäftigung mit der Oper von Richard Strauss. Neugierde auf die nächste Vorstellung ist geweckt. Kritisch geweckt. Mit diesem Buch im Kopf oder unter dem Arm werden Zuschauer Regisseuren so schnell nichts durchgehen lassen. Liegt eine der unzähligen Einspielungen im Player, kann das Buch zum Mitlesen nützlicher sein als ein herkömmliches Libretto. Nicht alle Plattenproduktionen sind vollständig. Es gibt große und kleine Striche, auf die in den Booklets fast nie eingegangen wird. Nicht allen Sängerinnen und Sängern gelingt es, den wienerischen Dialekt nachzuahmen. Es sei denn, sie stammen aus Wien. Er geht weit über die phonetische Aussprache hinaus. Im Rosenkavalier herrschen ganz eigene Gesetze für die Konversation und die sprachlichen Aspekte des Handlungsverlaufs, was einen Großteil seines Reizes ausmacht.
Der Text des Erstdrucks von 1911 wie er sich in Buchausgaben von Hofmannsthal findet, und das Libretto mit dem Hinweis auf den Komponisten Richard Strauss aus dem Verlag Adolf Fürstner werden als Paralleldruck gegenübergestellt. Schwarz auf weiß steht nun der poetische Titel fest: Der Rosenkavalier. Bis kurz vor Drucklegung hatte Strauss „Baron von Lerchenau“ präferiert. Alle Veränderungen sind gefettet. Zudem wird sichtbar, was weggelassen wurde und was hinzugekommen ist. Es entsteht das Abbild eines einzigartigen und hoch professionellen und hoch konzentrierten Arbeitsprozesses zwischen Dichter und Komponist, wie er sich auch im beiderseitigen Briefwechsel ausdrückt. Hofmanntshal hatte den ersten Aufzug Mitte Februar bis Anfang Mai 1909 niedergeschrieben. Die Uraufführung fand am 26. Januar 1911 statt. Deutlich tritt der Anteil von Harry Graf Kessler am Werden des Rosenkavalier hervor. Er darf getrost als Mitautor gelten, fühlte sich in dieser Position aber nicht genug gewürdigt, was zur Entfremdung mit Hofmansthal führte. Am Ende der jeweiligen Seiten gibt es grau unterlegt Erklärungen zu einzelnen Wörter, Örtlichkeiten, Gegenständen, Sachverhalten und den mundartlichen Wendungen, die die Realisierung dieser Komödie für Musik so schwierig, ja fast unmöglich machen. Gern gehen die Autoren auf Nummer sicher. Beispielsweise glauben sie erklären zu müssen, dass es sich bei einem Alkoven um eine „Bettnische, oft mit Vorhang“ handelt, ein Wisch als „wertloses Schriftstück“ gilt und partout mit unbedingt zu übersetzen ist. Ein bisschen Volkshochschule kann ja nicht schaden.
Der ausführliche Zeilenkommentar, der auch den eingangs nur angetippten Aufschluss über den Gasthof gibt, beansprucht fast die Hälfe der 280 Buchseiten. Er ist – wie ich finde – der spannendste Teil und dürfte in der Opernliteratur einzigartig sein. Gebohrt wird in den tiefen Schichten. Keiner Figur und keiner Verhaltensweise bleibt die Nachforschung erspart, auch den stummen Rollen nicht. Was ist Erfindung? Wofür gibt es reale Bezüge? Gesten und Textstellen werden entschlüsselt und analysiert. „Jedes Ding hat seine Zeit.“ Fast eine ganze Buchseite wird auf diesen berühmten Ausspruch der Marschallin verwendet, den die Autoren auf das Bibelzitat (Prediger Salomon) „Ein jegliches hat seine Zeit“ zurückführen und als Indiz für die Frömmigkeit und Bibelfestigkeit der Fürstin werten. Es wird auf Shakespeare („Komödie der Irrungen“) verwiesen, der sich dieser Weisheit genauso bediente wie Tschaikowski im Eugen Onegin oder Marlene Dietrich im Pete-Seegers-Song „Glaub, Glaub, Glaub“. Eine Frage aber, die mich schon lange umtreibt, fand ich nicht beantwortet. Auf Bitten des Barons obliegt es der Marschallin, einen von Hofmannsthal erdachten Aufführer, den späteren Rosenkavalier, für den ersten Bräutigamsbesuch im Hause Faninal zu bestimmen: „Wen denn nur … den Vetter Jörger? Wie? Den Vetter Lamberg?“ Beide Namen sind keine zufällige Erfindung. Im Kommentar heißt es: „Die Jörger gehörten zu den vornehmsten Familien zur Zeit Maria Theresias und die Lamberg waren ein altes österreichisches Adelsgeschlecht, das im 14. Jahrhundert in Krain bedeutende Besitzungen erwarb. Hofmansthal bezog sich auf die Familie schon in der Erzählung ,Der Verführer‘ (entstanden um 1900).“ Übereinstimmend finden sich die Namen beider Vetter im Paralleldruck. In Einspielungen und bei Aufführungen wird aber aus Jörger der Vetter Preysing und aus Lamberg der Vetter Lambert. Selbst in der italienisch gesungenen Produktion mit Marcella Pobbe als Marschallin aus Rom von 1963 ist das genau herauszuhören. Ist diese Änderung Bestandteil einer ganz bestimmten Edition? Geht sie auf Strauss zurück? Schließlich waren die Preysings ein altes Adelsgeschlecht seiner bayerischen Heimat, dem er sich womöglich verbunden fühlte, während die Provenienz des Namens Lambert ehr schlichter Natur sein dürfte. Solche Petitesten am Rande sind nicht als Kritik zu verstehen, allenfalls steigern sie die Lesefreude und sind Anlass, eigene Nachforschungen zu betrieben. Dem Buch aus dem Verlag Hollitzer in Wien ist eine große Verbreitung zu wünschen. Rüdiger Winter