Es ist, als sei der Vorhang der Zeit aufgegangen. Eine leere Bühne, Wieland Wagners Bühne. Finale Siegfried. „Leuchtende Liebe, lachender Tod!“ Brünnhilde und Siegfried sind eins. Wie zu einer antiken Statue zusammengewachsen. Eine Szene mit großer Symbolkraft. Für mich gehört sie zu den stärksten Erfindungen des Regisseurs. Sie ist in verschiedenen Varianten erhalten und liefert eine perfekte Illustration für den radikalen Neuanfang in Bayreuth, der künstlerisch auf ihn zurückgeht. Wielands Überzeugung: „Je griechischer also der Wagnersche Mythos inszeniert wird, desto mehr entspricht eine Inszenierung dem Urbild der Wagnerschen Vorstellungen.“ Bild und Zitat entstammen dem Buch Wieland Wagner – Revolutionär und Visionär des Musiktheaters von Till Haberfeld und Oswald Georg Bauer. Es ist soeben (im Juli 2017) im Deutschen Kunstverlag erschienen (ISBN 978-3-422-07412-5), pünktlich zu den diesjährigen Festspielen. 2017 wird der 100. Geburtstag des Regisseurs und Enkels Richard Wagners begangen. Er wurde am 5. Januar 1917 geboren.
Die beiden Autoren sind ausgewiesene Kenner. Haberfeld, zeitweise Mitglied im Verwaltungsrat der Opernhaus Zürich AG, besuchte bereits 1954 erstmals Bayreuth. Der Theaterwissenschaftler Bauer war dort über viele Jahre ein enger Mitarbeiter von Wolfgang Wagner, nach seines Bruders Tod alleiniger Chef der Festspiele. Von 1976 an leitete Bauer das Pressebüro. Sein zweibändiges Werk „Die Geschichte der Bayreuther Festspiele“ ist 2016 auf den Markt gekommen. Mehrheitlich stammen die in dem neuen Buch dokumentierten Arbeiten aus Bayreuth. Wielands Wirken war aber nicht allein auf diesen Ort fixiert. Seine Vielseitigkeit und Umtriebigkeit führte ihn auch an andere Häuser. Resultate dieser ertragreichen Nebenbeschäftigung sind der Glucksche Orpheus in München (1953), Fidelio (1954), Antigonae (1956) und Comedia de Christi Resurrectione (1957) von Orff, Rienzi (1957), Tristan (1958), Elektra und Salome (beide 1962), Lulu (1966) in Stuttgart, Carmen (1958) in Hamburg, Tristan (1959), Aida, Lohengrin (beide 1961), Salome (1961) und Meistersinger (1962) in West-Berlin, Otello (1965) Wozzeck (1966) in Frankfurt. Auch ganz frühe Versuche noch aus den dreißiger Jahren, in denen sich die Begabung etwas unbeholfen ankündigt, sind aus der Versenkung geholt worden.
Wahllos in die Seiten gegriffen, ist für denjenigen, der sich im Werk Richard Wagners ein wenig auskennt, jede einzelne Szene trotz ihrer Abstraktion auf Anhieb zu entschlüsseln. Noch durch ihre Haltung geben sich Figuren zu erkennen. Je tiefer Wieland Wagner ins Innere der Stücke und der Handelnden vordrang, umso mehr äußerer Ballast wurde abgeschüttelt. „Ich kann doch nicht glauben, dass ein Gralsritter von einem hölzernen Schwan durch den Ärmelkanal ans Ufer der Schelde gezogen wird“, so der Regisseur 1964 in dem Buch des Musikschriftstellers Walter Panofsky. Dieses Zitat ist Haberfeld und Bauer so wichtig, dass sie es in ihr eigenes Werk integrieren. Es geht noch weiter. Schließlich könne er, Wieland, auch nicht glauben, dass „Wotan und Loge vermittels einer Wandeldekoration in das Erdinnere gelangen und sich dann, den gebundenen Alberich zwischen sich, aus der Erdmitte in himmlische Höhen begeben“. Hier fange die „Lüge des realistischen Theaters“ an.
Die opulente Neuerscheinung ist – wenn man so will – ein Bilderbuch. Durch sein extrem breites Format kommt es den dargestellten Szenen auf der Bühne entgegen, nicht aber den gängigen Platzverhältnisse in einem Bücherregal. Es gibt sich also nicht nur durch Inhalt, sondern auch durch seine quere und sperrige Erscheinungsform auf eine ungewöhnliche Weise exklusiv. Es ließe sich wie ein Bild an die Wand hängen. So ästhetisch sieht es aus. Nur grau in grau und bruchstückhaft sind die Inszenierungen als bewegte Bilder überliefert. Das kann beklagt werden – oder auch nicht. Selbst mit den technisch perfektesten Kameras dürfte die Magie dieser Aufführungen nicht einzufangen gewesen sein. Ich halte es für einen Trugschluss, daran zu glauben. Gäbe es Filme, wir könnten uns nicht mehr danach verzehren. Das Buch bestärkt mich darin, dass diese Sehnsucht der produktivere Zustand ist. Und wer weiß, vielleicht sind die Abbildung, diese Momentaufnahmen, ja auch noch wirkungsmächtiger als Filme. Es ist ein Glücksfall, dass die Bayreuther Nachkriegsproduktionen von Wieland Wagner als Tondokumente überliefert sind. Die Firma Orfeo hat den Festspielen eine eigene Edition gewidmet, deren Vorzug im Vergleich mit den vorangegangenen Veröffentlichungen auf dem so genannten grauen Markt darin besteht, dass originale Bänder herangezogen werden konnten. Den fulminanten Auftakt zu dieser Edition bildete 2003 der Tristan von 1952 unter Herbert von Karajan – auch im Buch gebührend herausgestellt und als CD-Box immer noch zu haben. Dieser Mitschnitt kommt mir wie der lebendige Beweis vor, dass auch Ohren sehen können. Wer sich darauf einlässt, wird in das dramatische Geschehen mit voller Wucht hineingezogen. Viel anders kann es damals in der Aufführung auch nicht gewesen sein.
An der wichtigsten Wirkungsstätte Wielands – den Bayreuther Festspielen – ist fast nichts geblieben von ihm außer der Erinnerung – und sein Grab auf dem Stadtfriedhof. Nichts, was sichtbar wäre auf der Bühne, die oft wieder so vollgeräumt ist wie zu Großvaters Zeiten. Die Traditionslinie ist zumindest äußerlich scharf durchtrennt. Was immer auf dem Grünen Hügel oder in Stuttgart, Berlin und München angeboten wird, lässt nicht ahnen, dass es Wieland Wagner überhaupt gegeben hat. Seine Spuren sind verweht. Die schönen Fotos aus seinen Inszenierungen, die sich in dem Buch finden, sind historisch wie kaum etwas anderes, obwohl sie bei näherer Betrachtung überhaupt nicht historisch wirken. So könnte ich mir Oper auch heute noch vorstellen. Die Anstöße, die er gegeben, die genauen Rollenporträts, die er entworfen, mögen im Detail nicht immer mehr zeitgemäß sein, im analytischen Herangehen sind sie es schon. Im Buch ist so ein schriftlich fixiertes Porträt über Loge aus einem Programmheft von 1951 abgedruckt. Er hat mit einer Genauigkeit, einem Scharfsinn und einer Werkkenntnis gearbeitet, die ich heute sehr vermisse. Rüdiger Winter
Das Foto oben ist ein Ausschnitt der Vorderansicht des neues Buches. Fotograf ist Siegfried Lauterwasser. Es stammt aus der ersten Inszenierung von Richard Wagners Ring des Nibelungen durch seinen Enkel Wieland bei den Bayreuther Festspielen, die mehrere Spielzeiten auf dem Programm stand und mehrfach überarbeitet wurde. Wann das Bild entstand, konnte offenbar nicht genau ermittelt werden. Im Buch ist ein Zeitraum von 1956 bis 1958 genannt. Festgehalten ist darauf die Schlussszene aus Siegfried mit Wolfgang Windgassen und Martha Mödl. Unter der Lupe betrachtet, kommen allerdings Zweifel auf, ob es tatsächlich die Mödl ist. Das längere Gesicht lässt eher auf Astrid Varnay schließen, die sich in der Rolle der Brünnhilde mit der Mödl abwechselte.