Archiv des Autors: Rüdiger Winter

Wagner in China

 

Mit Siegfried nähert sich der Hongkong-Ring von Naxos der Fertigstellung: Wer kommt da herein? Ein alter Grantler mit Rauschebart und schiefem Hut, ganz so, wie ihn historische Fotografien von Wagner-Aufführungen zeigen. Er scheint dazu noch müde und erschöpft, denn „Heil dir, weiser Schmied!“ grummelt und bittet er, „Dem wegmüden Gast gönne hold des Hauses Herd!“. Matthias Goernes Wanderer, den er erstmals Anfang 2017 im konzertanten Ring in Hongkong sang, scheint bei weitem nicht so gelungen, wie man es von seinem Wotan in den vorangegangenen Ring-Teilen hörte und las, die sich mit diesem Siegfried und der Götterdämmerung im kommenden Jahr zum ersten Naxos-Ring formen werden (Siegfried 4 CD 8.660413-16). Goernes Ton ist verdunkelt, verdrückt, gaumig angedickt. Er singt ohne Autorität, eigentlich auch nicht sehr textdeutlich, mischt in das Quiz mit Mime aber auch immer schöne Passagen, auf die man bei einem so eminenten Liedsänger wartet. Da macht es ihm David Cangelosi aber nicht leicht. Der mir bislang unbekannte Amerikaner würde natürlich viel lieber den Radames oder Cavaradossi singen, auf jeden Fall etwas Italienisches, lieber Cavaradossi in, sagen wir mal, Pittsburgh als Dr. Blind in Chicago oder Goro und Spoletta an der Met, und entsprechend dreht er auf. Anfangs klingt das befremdlich. Der Klang irgendwie fingiert, nicht richtig sitzend, der Text wird auch nicht klar rübergebracht, doch dann fasziniert er immer mehr und im Zusammenwirken mit Siegfried klingt er deutlich jünger als sein Zögling, zumindest nicht älter, und macht aus den letzten Szene des ersten Aktes einen Wettstreit zweier heldischer Tenöre unterschiedlicher Gewichtung. Dabei ist Simon O’Neill kein Leichtgewicht. Live hörte ich ihn vor zehn Jahren in Straßburg, wo er mit seinem sauber und kraftvoll gesungenen Siegmund, dem festen und sicheren Ton und den lyrischen Zartheiten, eine Karriere andeutete. Wie gesagt, seine Stimme klingt bei seinem Siegfried-Debüt nicht mehr ganz frisch, wenngleich er das mühelos singt (Die Aufnahme entstand zwischen dem 6. und 25. Januar 2017, ist also nicht das Dokument eines einzigen Live-Konzerts), am Ende des zweiten Akts mit etwas metallisch hellen Tönen auftrumpft, heldischer kraftvoll den Brünnhildenfelsen erstürmt, wo er mit sehr schönen zarten und doch tragfähig Passagen die „selige Öde“ erkundet und einen gesammelten Ton für „Im Schlafe liegt eine Frau“ hat. Mit diesem Stehvermögen erinnert mich der Neuseeländer an seinen australischen Landsmann Stuart Skelton. Und nach 3 ½ Stunden hat O’Neill immer noch genug Power, um Heidi Meltons schön timbrierte, aber mit kurzer Höhe, beträchtlichem Wackler und am Rand der Überforderung singende Brünnhilde mitzureißen.

Gutes hörte man von diesem Ring. Niemand hätte vor drei Jahrzehnten geglaubt, dass das ehemalige Billig-Label jemals seinen eigenen Ring produzieren würde, dazu noch an seinem exotischen Stammsitz in Hongkong. Das ist respektabel gelungen. Doch der Preis kann angesichts der zahlreichen günstigen und billigen Veröffentlichungen ausgezeichneter älterer Aufnahmen nicht mehr das ausschlaggebende Verkaufsargument zu sein. Da scheint mir, dieser Siegfried vor allen durch die Besetzung, nicht mithalten zu können. Das Hong Kong Philharmonic Orchestra spielt ausgezeichnet, technisch ohne Fehl, sicherlich nicht mit der Bedeutungsschwere und Streicherqualität großer „Wagner-Orchester“. Der Klang lässt ebenfalls nichts zu wünschen übrig. In der 2000 Zuhörer fassenden Cultural Centre Concert Hall wird das Geschehen auf Wohnzimmer-Lautstärke und Intimität herangezoomt, und Jaap van Zweden dirigiert nicht nur das Fragespiel, als habe er alle Zeit der Welt; insgesamt benötigt er 4 Stunden 1:58 und gehört damit zu den langsamen Interpreten, was überhaupt nichts zu sagen hat, doch van Zweden verdeutlicht mehr, weist nachdrücklich auf Details hin, breitet aus, wo man sich etwas mehr Innenspannung wünscht. Während Goerne im zweiten Akt gegen Ende seiner Begegnung mit Alberich auflebt, sind Werner Van Mechelens unausgeglichener, mehrfach fast stimmlos scheinender Alberich und Falk Struckmanns bassschwacher Fafner keine Idealbesetzung. Herrischer, weniger majestätisch und triumphierend, doch auch immer noch etwas dumpf klosig klingt Goerne in der Erda-Szene, berühren kann er den Hörer nicht so leicht, das gelingt erst in den letzten Passagen des Wandrers („Kenntestes du mich, kühner Sproß“). Deborah Humble ist eine unruhige Erda, Valentina Farcas ein munter ansprechendes Waldvögelein. Rolf Fath

 

 

Kaum ein neuer Ring dürfte so viele Erwartungen geweckt haben wie dieser. Nach dem Rheingold (8.660374-75) war die Spannung groß, wie es denn weitergehen würde. Nun ist es weitergegangen. Naxos hat auch die Walküre auf den Markt gebracht (8.660394-97). Als Zusammenschnitt zweier konzertanter Aufführungen von 21. und 23. Januar 2016 in der Concert Hall des Hong Kong Cultural Center. Im selben Jahr aufgenommen – und veröffentlicht. Das ging schnell, ist kaum zu unterbieten und spricht für die Professionalität des Unternehmens. Der Vorteil besteht darin, dass das prestigeträchtige Projekt in so einem überschaubaren Rahmen im Gespräch bleibt. Für den 18. und 22. Januar sind bereits die Konzerte mit dem Siegfried angekündigt. Hält Naxos seine Arithmetik durch, dürfte die fertige Box des zweiten Tages des Ring des Nibelungen von Richard Wagner im kommenden Jahr genau um diese Zeit vorliegen. Es bleibt also spannend.

Spannend vor allem wegen Matthias Goerne, der den Wotan singt und nächstens den Wanderer. Ohne dessen Mitwirkung wäre diese  Produktion eine unter ganz vielen. Goerne drückt ihr ein Gütesigel auf. Würde Wotan nicht schon bei Wagner die Liste der mitwirkenden Personen anführen, er hätte sich diesen ersten Platz durch Leistung und Können gesichert. Für Goerne ist der Wotan ein Rollendebüt. Naxos darf sich glücklich schätzen, ihn dafür gewonnen zu haben. Er hat eine große Fan-Gemeinde, gilt als einer der vorzüglichsten Sänger der Gegenwart. Seine Domäne ist ja eher das Lied, dem er sich auch auf vielen CDs erfolgreich zugewandt hat. In Opernhäusern macht er sich rar. Auffällig ist, dass er dort vornehmlich Rollen singt, die auch Dietrich Fischer-Dieskau verkörpert hat – Papageno, Wolfram, Wozzeck, Lear und nun Wotan. Im Gegensatz zu seinem Lehrer, der es beim Rheingold beließ, hat er sich auch dem wortreichen Wotan in der Walküre gestellt. Goerne besitzt für die Rolle genug Ressourcen, mit denen er hauszuhalten versteht. Seit dem Rheingold bestand daran kein Zweifel. Seine Stimme klingt erstaunlich tief, dunkel und machtvoll, mitunter aber auch gaumig und leicht verwaschen. Als wäre Hall untergelegt. Es wird nicht klar, ob das eine Eigenart ist oder technisch gewollt.

In der Walküre kommt er an Grenzen, deren er sich bewusst sein dürfte, die er behutsam auslotet und nach meinem Eindruck nicht überschreitet. Die großen dramatischen Ausbrüche vor allem im zweiten Auszug haben Format und werden nicht herausgestoßen. Naturgemäß gelingen dem Liedsänger die getragenen Passagen am besten, in denen er die Stimme deklamatorisch anschwellen und schier endlos ausbreiten kann. Schon im Reingold hatte Goerne großen Eindruck gemacht, wenn er der versinkenden Erda in der vierten Szene zuruft: „Geheimnis-hehr / hallt mir dein Wort: / Weile, dass mehr ich wisse!“ Endlich wurde einmal wieder deutlich, dass hier etwas hallt und nichts gehalten wird. Solche betörenden Momente gibt es allenthalben auch in der Walküre. Ein Beispiel: „Lass’ ich’s verlauten / Lös’ ich dann nicht / meines Willens haltenden Haft?“ Und dann gibt es die berühmte Stelle, in der Goerne stimmlich wunderbar in sich gehen kann: „Was Keinem in Worten ich kund, / unausgesprochene / bleib’ es dann ewig: / mit mir nur rath’ ich, / red’ ich zu dir.“ Durch ihn werden die schwierigen Texte nicht nur absolut wortverständlich mitgeteilt. Sie werden auch gedeutet, ausgelotet, auf ihren Sinn hin abgeklopft. Plötzlich klingt manche Alliteration gar nicht mehr komisch, sondern wird in ihrer konkreten Situation zum einzig möglichen Ausdrucksmittel. Mitlesend wird einem klar, was es mit der komplizierten Interpunktion auf sich hat, wie Wagner mit diesen Hilfsmitteln sprachliche Nuancen herausstellen will. Goernes Wotan ist zum Mitschreiben. Er legt ihn als nachdenklich und strategisch an. Als einen, der sich nichts vormacht, der weiß, was auf ihn zukommt. In diesem sehr gut durchdachten Porträt verknüpft der Sänger seine stimmlichen mit den intellektuellen Leistungen. Der dynamische Unterbau der großen Erzählungen wirkt zusätzlich Langeweile und Ermüdung entgegen!

Ob er den Wotan jemals in einer Theater-Inszenierung singt, wird sich zeigen. Ich kann es mir nicht vorstellen. Naxos hat kurze Sequenzen aus Hong Kong auf YouTube ins Netz gestellt. Goerne agiert in Wotans Abschied und Feuerzauber vergleichsweise temperamentvoll, die Noten vor sich. So, als dirigiere er sich selbst. Die sachliche Atmosphäre im Saal, im Hintergrund die große Wand mit den Laufbändern der Texte in Englisch und Chinesisch setzt die Problematik konzertanter Aufführung der Werke Wagners in ein grelles Licht. Einerseits muss sich das Publikum nicht auf einen Regisseur einlassen, andererseits hat der Komponist wie kaum ein anderer völlig neue Wege auf dem Theater beschreiten wollen. Solche Konzerte dürften das Letzte gewesen sein, was ihm vorschwebte. Ein CD-Mitschnitt lässt das alles beiseite. Ohren sind auf sich allein gestellt. Das kann auch ein Vorteil sein.

Wie schon im Rheingold wurde auch bei der Walküre alles eliminiert, was auf live verweist. Offenbar soll ganz bewusst Studio simuliert werden. Ich halte das für problematisch, weil solche Aufnahmen weder das eine noch das andere sind. Bei aller Perfektion und Klarheit, die der Dirigent Jaap van Zweden mit seinem Hong Kong Philharmonic Orchestra zustande bringt, bin ich mit dem Klangbild nicht richtig warm geworden. Im Reingold nicht, und jetzt auch nicht. Es wird nicht meine bevorzugte Aufnahme werden. Sie packt mich nicht. Trotz Goerne. Dafür ist die Konkurrenz zu mächtig. Dieser Produktion sitzen mindestens hundert andere – live und Studio – im Nacken. Das ist kaum zu glauben, aber es ist so – nachzulesen bei Andreas Ommer, der ein „Verzeichnet aller Operngesamtaufnahmen von 1907 bis zur Gegenwart“ erarbeitet hat, das in zweiter Auflage als CD-ROM veröffentlicht wurde (Verlag Directmedia Publishing – ISBN 976-3-89853-640-0).

Die übrige Besetzung hängt Goerne locker ab. Das war auch schon im Rheingold so. Freude darüber will nicht aufkommen, weil der Ring nicht nur aus Wotan besteht. Spätestens in den Bayreuther Nachkriegsmitschnitten ist deutlich geworden, dass es sich lohnte, auch die kleinsten Rollen mit erstklassigen Solisten zu besetzten. Es konnte vorkommen, dass die Brünnhilde im Siegfried in der folgenden Götterdämmerung die undankbare Gutrune übernehmen musste. Das bis heute nachwirkende Niveau dieser Aufführungen beruht nicht zuletzt auf dieser Praxis. Der Walküre gibt Brünnhilde ihren Titel. Sie ist eine von neun Töchtern Wotans. Gesungen wird sie hier von Petra Lang. Mitunter hatte ich den Eindruck, sie würde von Goerne in den gemeinsamen Szenen mitgezogen. Im zweiten Aufzug gibt es ein paar sehr schöne ruhige Momente. Und dann wieder gibt es Sekunden, in denen die Stimme zu verunglücken scheint. Konsonanten werden messerscharf zugespitzt. „Was nagt dir am Herz“, soll sie nach dem Willen des Komponisten und Textdichters Wagner ihren Vater fragen. Zu hören ist etwas, was wie „Hellts“ statt „Herz“ klingt. Und so weiter. Im Grunde sind das Kleinigkeiten, die vorkommen können im Konzert, die aber neben einem Wotan, der jedes Wort und jedes Komma auf die Goldwaage legt, umso mehr auffallen. Robust und entschlossen geht diese Sängerin mit ihrer Rolle um. Feinarbeit liegt ihr nicht.

Veristisch fährt Michelle DeYoung als Fricka auf und verwechselt wie bereits im Reingold Wagner mit Mascagni. Das Zwillingspaar Siegmund und Sieglinde bestreiten der Australier Stuart Skelton und die Amerikanerin Heidi Melton. Neuerdings singt die Melton auch die Brünnhilde in Karlsruhe. Auf ihrer Homepage wird „La Presse“ dahingehend zitiert, das sie vielleicht die Wagner-Stimme habe, auf die man seit Flagstad und Nilsson gewartet habe. Mit der etwas bemüht zelebrierten Sieglinde, der auch schon mal die Luft an der falschen Stille ausgeht, dürften diese Erwartungen gedämpft werden. Skelton kommt dem Siegmund mit strahlenden Tönen nahe. Seine Wälse-Rufe sind endlos ausgedehnt, verfehlen aber mit ihrer fast lyrischen tenoralen Ausstattung das, was sie sind: Aufschreie eines Verzweifelten, der sich in höchster Not weiß. Er könnte leidenschaftlicher und drängender singen, was auch der Melton zu wünschen gewesen wäre. Fehlt ihnen die Kulisse? Bremsen die Mikrophone, die ja ständig daran erinnern, dass für eine CD-Veröffentlichung mitgeschnitten wird, das Temperament aus? Dem perfekt sitzenden Hunding von Falk Struckmann hätte etwas mehr Schwärze gut getan.

Mit dem Ensemble der Walküren wird diese Produktion noch internationaler: Sarah Castle (Waltraute), Karen Foster (Gerhilde), Katherine Broderick (Helmwige), Anna Burford (Schwertleite), Elaine McKrill (Ortlinde) Aurhelia Varak (Siegrune), Okka van der Damerau (Grimgerde), Laura Nykänen (Rossweiße). Sie haben ihre Partien gut gelernt und fahren mit Zunder gegen das Orchester auf – und auch gegen ihre Schwester Brünnhilde und Sieglinde. Ihre Szene, aus der die Stimmen individuell und teilweise sehr mächtig herausragen, gehört zu den großen Momenten der Neuerscheinung. Im Rheingold hatten die Sänger mit zehn Nationen in Europa, Nordamerika und Asien vertreten. Mit dem Dirigenten Jaap van Zweden kommen noch die Niederlande hinzu. Das dürfte Rekord sein. Wo, bitte, wurden ein Rheingold und jetzt eine Walküre so international, so global und damit politisch so gegenwärtig besetzt? Damit hätte Naxos gesondert werben können. Bei der Gestaltung der Boxen wurden keine Wunder vollbracht. Da wäre mehr möglich gewesen. Sie bieten keinen sinnlichen Anreiz. Rüdiger Winter

 

 

Schlicht wie die Verpackung ist auch das, was drinnen ist. Mit Richard Wagners Rheingold hat Naxos einen neuen Ring des Nibelungen gestartet (8.660374-75). Im kommenden Jahr soll die Walküre folgen, innerhalb von vier Jahren das gesamte Projekt zum Abschluss kommen. Kleingedruckt ist zu lesen, dass es sich um einen Mitschnitt aus der Hong Kong Cultural Centre Concert Hall mit dem dort ansässigen Philharmonic Orchestra handelt. Dirigent ist Jaap van Zweden. Es gab zwei Aufführungen, nämlich am 22. Und 24. Januar 2015. Daraus wurde sich bedient. Das ging erstaunlich schnell und spricht für die Professionalität des Labels Naxos.

Statt die Liveatmosphäre zu betonen, wurde alles, was darauf verweist, eliminiert. Offenbar soll ganz bewusst Studio simuliert werden. Ich halte das für problematisch, weil solche Aufnahmen weder das eine noch das andere sind. Bei aller Perfektion des Klangbildes, bin ich mit diesem Rheingold nicht richtig warm geworden. Es wird nicht meine bevorzugte Aufnahme werden. Es packt mich nicht. Dafür ist die Konkurrenz zu mächtig. Dieser Produktion sitzen mindestens hundert andere – live und Studio – im Nacken. Das ist kaum zu glauben, aber es ist so – nachzulesen bei Andreas Ommer, der ein „Verzeichnet aller Operngesamtaufnahmen von 1907 bis zur Gegenwart“ erarbeitet hat, das in zweiter Auflage als CD-ROM veröffentlicht wurde (Verlag Directmedia Publishing – ISBN 976-3-89853-640-0).

Für die Neuerscheinung spricht das Rollendebüt von Matthias Goerne als Wotan. Das ist schon mal was. Goerne hat eine große Fangemeinde, gilt als einer der vorzüglichsten Sänger der Gegenwart. Seine Domäne ist das Lied, dem er sich auch auf vielen CDs erfolgreich zugewandt hat. In Opernhäusern macht er sich rar. Auffällig ist, dass er vornehmlich Rollen singt, die auch Dietrich Fischer-Dieskau verkörpert hat – Papageno, Wolfram, Wozzeck, Lear und nun Wotan. Im Gegensatz zu seinem Lehrer will er sich auch dem wortreichen Wotan in der Walküre stellen. Die Termine in Hong Kong hat er mit dem 21. und 23. Januar kommenden Jahres auf seiner eigenen Website bereits bekannt gegeben. Mutig ist das. Goerne hat für den Wotan genug Ressourcen. Naturgemäß gelingen ihm die getragenen Passagen, wenn sich die Stimme deklamatorisch ausbreiten kann, am besten und er der versinkenden Erda zuruft: „Geheimnis-hehr / hallt mir dein Wort: / Weile, dass mehr ich wisse.“ Endlich wird einmal deutlich, dass hier etwas hallt und nichts gehalten wird. Es meldet sich der Liedsänger, der aber in anderen Momenten versagen kann. Wotans große SzeneAbendlich strahlt der Sonne Auge“ ist nicht immer auf dem Punktund auf dem Wort. In dramatischen Situationen und Ausbrüchen – wie sie noch mehr in der Walküre lauern – kommt Goerne an Grenzen. Seine Stimme klingt erstaunlich tief, dunkel und machtvoll, oft aber auch gaumig und verwaschen. Er ist sehr gut zu verstehen, was sich so nicht von allen Mitwirkenden sagen lässt. Wen wundert’s?

Die Sänger vertreten zehn Nationen in Europa, Nordamerika und Asien. Mit dem Dirigenten Jaap van Zweden kommen noch die Niederlande hinzu. Das dürfte Rekord sein. Wo, bitte, wurde ein Rheingold so international, so global und damit politisch so zeitgemäß besetzt? Damit hätte Naxos gesondert werben können. Der Preis ist eine gewisse Unverbindlichkeit in Ausdruck und Wirkung. Donners Dinste, Gedift und „Brike sind eben auch nicht mehr das, was sie mal waren. Dabei gibt sich der Ukrainer Oleksandr Pushniak, dessen Bariton immer dann wackelt, wenn er das nicht tun sollte, wirklich alle erdenkliche Mühe, seinem Auftritt – vor allem in der wichtigen Gewitterszene – auch den rechten Sinn zu verleihen. Für den Loge bringt Kim Begley zwar das passende Timbre mit, bleibt aber zu eindimensional und zu wenig pointiert. Das gilt nach meinem Eindruck auch für Alberich (Peter Sidhom), Mime (David Cangelosi), Fafner (Stephen Milling) und Froh (Charles Reid). Durch mehr Schöngesang hebt sich Kwangchul Youn (Fasolt) hervor: „Freia, die schöne, / schau ich nicht mehr: / So ist sie gelöst? / Muss ich sie lassen?“ Wunderbar! Stilvoll tritt Deborah Humble als Erda in Erscheinung, hält aber die Eleganz in ihrem magischen Auftritt bis zum Schluss nicht ganz durch. Erstaunlich ausgesungen und unstet wirkt auf mich die Fricka von Michelle DeYoung.

Die Rheintöchter Eri Nakamura (Woglinde), Aurhelia Varak (Wellgunde) und Hermine Haselböck (Floßhilde) sind die Stützen der Produktion und geben am Grunde des Rheins ein hohes Niveau vor, das im weiteren Fortgang der Dinge leider nicht immer gehalten wird. Sie kommen auch im Ensemble gut zusammen und garantieren so einen versöhnlichen gesungenen Schluss. Das Orchester setzt schöne eigenen Akzenten, vor allem in der einleitenden Szene. Anderes – wie der Gewitterzauber – wirkt zu grell. Und die letzten Takte sind mir zu hastig angelegt. Da ist im Hintergrund vieles nicht zu hören, was nun mal in den Noten steht. Trotz aller Einschränkungen bin ich sehr gespannt, wie es weitergeht.   Rüdiger Winter

Frau Venus und die klare Brühe

 

Tannhäuser kann nicht mehr. Zu viel! Zu viel! Er muss fliehen. Er hat die Nase voll. Es verlangt ihn nach des Waldes Lüften. Nach etwas Frischem. Im Venusberg sind die ros’gen Düfte verflogen. Es verbreitet sich Küchendunst – der Feind von Erotik, Lust und Begehren. Noch schaut Venus ungläubig drein. Ist sie überrascht, oder tut sie nur so? Ist sie mit ihrem Zauber am Ende? Ist es wirklich schon so weit, dass Liebe durch den Magen geht? Wie dem auch sei. Jedenfalls hat sie vorsorglich im Rücken ihrer mit rosenumrankten Recamiere ein Fass mit Fleischextrakt platzieren lassen. Daraus kann mancher Liter Boullion hergestellt werden.

Klare Brühe statt Liebestrank – Liebigs Sicht auf den „Tannhäuser“/ OBA

Man weiß ja nie. Schon ein halber Teelöffel reicht, um ein Gericht für vier Personen anzureichern. Sie sind aber nur zu zweit. Amor, diese halbe Portion, ist frech auf das Gefäß geklettert und bringt den berühmten Bogen in Anschlag. Er zählt ja nicht. Denn er kommt in der Oper gar nicht vor. Die Mythologie ist umgeschrieben worden für diese Szene. Wo sind wir eigentlich? Keine Bange. So weit geht selbst das Regietheater noch nicht. Es ist der Versuch, ein Liebig-Bild aus der Tannhäuser-Serie zu beschreiben.

Diese CD-Rom ist eine Fundgrube für Liebig-Bilder. Sie ist derzeit nur antiquarisch erhältlich.

Diese CD-Rom ist eine Fundgrube für Liebig-Bilder. Sie ist derzeit nur antiquarisch erhältlich.

Diese bunten Bilder gibt es seit 1875. Sie dienen der Werbung für den berühmten Fleischextrakt, einer Erfindung des deutschen Chemikers Justus von Liebig (1803-1873). Er hatte das Verfahren Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelt. Dabei wird kochendes Rindfleisch so weit eingedampft, dass nur noch das Konzentrat übrig bleibt. Im umgekehrten Verfahren kann es wieder in Brühe zurückverwandelt werden und dient auch dazu, Speisen zu würzen und zu verfeinern. Von 1864 an wurde der Extrakt – nicht zu verwechseln mit gekörnter Brühe – industriell hergestellt und verbreitete sich von Antwerpen aus in viele Länder. Noch heute wird er nach dem ursprünglichen Verfahren produziert, wie eh und je nicht eben preiswert. Der anhaltende Erfolg des beliebten Produkts beruht nicht zuletzt auf einer beispiellosen Werbekampagne, die in ihren Grundzügen die Werbeindustrie bis in unsere Tage vorwegnimmt. Ihr Kern waren die Bilderserien, die es beim Einkauf kostenlos dazu gab. Für Liebig selbst fiel fast nichts ab. Er verfügte lediglich über hundert Aktien und das Recht, sein Produkt auf seine Qualität zu überprüfen. Insgesamt sollen 1870 Serien mit etwa 11500 Bildern in 12 Sprachen erschienen sein, wobei diese Angaben schwanken.

Eines der seltenen Bilder ohne Fleischextrakt: die Überreichung der silbernen Rose im "Rosenkavalier"

Eines der seltenen Bilder ohne Fleischextrakt: die Überreichung der silbernen Rose im „Rosenkavalier“.

Ihren Höhepunkt erreichten die Serien vor dem Ersten Weltkrieg, versanken danach in völliger Bedeutungslosigkeit und erholten sich von 1925 an, ohne aber den ursprünglichen Verbreitungsgrad wieder zu erlangen. 1940 war in Deutschland Schluss, in Belgien 1962 und in Italien 1975. Oft ist das Behältnis mit dem Fleischextrakt mit übertriebenen Proportionen in eine auf vielen Bildern dargestellte Handlung einbezogen. Wenn sich dafür keine Gelegenheit bietet, tritt das Töpfchen in einer Ecke etwas ausgespart in Erscheinung. Fehlen tut es nur ganz selten wie etwas auf den Bildern zum Rosenkavalier von Richard Strauss. Nie sind die Bilder signiert. Die Grafiker waren angestellt und arbeiteten quasi im Akkord. Eine Serie umfasst sechs farbige Bilder sowohl im Hoch- als auch im Querformat. Eine DVD-Rom mit den Serien ist in der Zeno.org-Reihe im Verlag Direkctmedia Publishing erschienen.

1-Siegfriedidyll Liebig

Richard Wagner bringt seiner Frau Cosima das „Siegfried-Idyll“ als Geburtstagsständchen dar.

Richard Wagner, selber ein Gourmet, war ein gefundenes Fressen für die Fleischextrakt-Werbung. In seinen Opern spielen Getränke und Speisen eine nicht unwichtige Rolle. So ist es nicht verwunderlich, dass seine Person und sein Werk am häufigsten vertreten sind in der musikalischen Abteilung der Serien. Dabei war der Meister selbst oft auf Diät und schmale Kost gesetzt, weil ihn bis zum Schluss Verdauungsbeschwerden und Unterleibskrämpfe plagten. Die Lust am Bier soll dadurch nicht beeinträchtigt worden sein. Er und Frau Cosima schätzten Weizenbier, an dem in Bayreuth – die Region hat die größte Brauereidichte in Bayern – schon zu ihrer Zeit kein Mangel gewesen ist. Kräftig eingeschenkt wird im Fliegenden Holländer. Wenigstens musikalisch findet das turbulente Hochzeitsfest in Lohengrin im Vorspiel zum dritten Aufzug rauschhaften Ausdruck. Über den Liebestrank in Tristan und Isolde ist alles gesagt. In den Meistersingern gilt‘s der Kunst. Hans Sachs lehnt gelegentlich seines Namenstages das freundliche Anerbieten des Lehrbuben David ab, den Kuchen oder die Wurst zu versuchen, die ihm Magdalene heimlich zugesteckt hat. Im Rheingold werden nur Äpfel gereicht, die Wotan zum Ende hin nicht mehr anrührt. Nicht, weil sie nicht schmecken, sondern weil es der Handlungverlauf so will. In der Walküre muss Sieglinde den Männern das Mahl rüsten und ihrem wenig geliebten Ehemann Hunding den Nachttrunk reichen, den sie aus gutem Grund mit einem gehörigen Schuss Betäubungsmittel würzt. Statt ein Schwert zu schmieden, betätigt sich Zwerg Mime in Siegfried als Koch und braut eine fiese Lorke zusammen, mit der er den Helden zur Strecke bringen will. Vergebens. Am häufigsten getrunken wird in der Götterdämmerung – nach den unterschiedlichsten Rezepturen, bei den verschiedensten Gelegenheiten und nicht immer zum Besten derer, die sich daran versuchen.

1-Meistersinger Liebig

Walter von Stolzing bringt im dritten Aufzug der „Meistersinger“ Glanz in die Schusterstube.

Trinken wird gefährlicher. Gutrune reicht dem Ankömmling Siegfried in der Halle der Gibichungen einen manipulieren Begrüßungstrunk mit der für ihn fatalen Wirkung, dass er Brünnhilde vergisst und dem Liebreiz der Tochter des Hauses verfällt. Wenig später begießen Siegfried und Hausherr Gunther ihre Brüderschaft mit frischem Wein, dem beider Blutstropfen beigemischt sind. Hagen stimmt die Mannen auf den Empfang der reingelegten Brünnhilde mit dem Versprechen einer rüstigen Zecherei ein – „bis der Rausch euch zähmt“. Im dritten Aufzug findet die Jagdgesellschaft schließlich ein kühles Plätzchen, wo gerastet und das Mahl gerüstet werden soll. Noch bevor dies geschieht, lässt Hagen die Schläuche bieten mit den für Siegfried tragischen Folgen. In Parsifal ist die Kost – der heiligen Handlung entsprechend – nur noch symbolischer Natur. Das Brot ist der Leib, der Wein das Blut des Gekreuzigten. Wasser wird nicht getrunken. Es dient der Taufe. Schließlich tritt an die Stelle heil’ger Speisung gemeine Atzung. Kräuter und Wurzeln stehen auf dem Speiseplan des hinfällig geworden Gralsritters Gurnemanz. Aus den Wagnerschen Helden sind fundamentalistische Veganer geworden. Nix Fleischbrühe.

1-Turandot Liebig

Breite Treppe, lange Schleppe: Die prachtvoll ausgestattete Rätselszene in Puccinis „Turandot“.

Einen gehobenen künstlerischen Anspruch wollten die Liebig-Bilder nicht erheben, trotz der gelegentlichen Ausflüge in die Kunst. Dafür die Themen zu simpel, zu naiv, zu verschlagen. Oft sind sie den praktischen Seiten des Lebens entlehnt. Der Alltag wird grundsätzlich verklärt. Dabei spielen Kinder in allen Lebenslagen eine große Rolle – unter dem Weihnachtsbaum, vor dem Aquarium, auf dem Schaukelpferd, bei der Dressur von Hunden – aber auch schon mal beim Kriegsspiel. Hübsch herausgeputzte Mädchen und Knaben vermitteln in ihrer Unschuld selbst für Fleischbrühe eine positive Botschaft, obwohl sie eher Kakao trinken würden. Diese Kinder sind niemals arm und abgerissen. Liebigs Welt ist heil und gut situiert. Als Volksbildung sind ganze Serien über Tiere, Pflanzen, Bäume, Städte, Bauten, Verkehr, Sternbilder, Geflügel, Käse, Märchen, Schiffe oder historische Anlässe angelegt. Nicht selten sind imperiale Absichten zu erkennen, wenn nämlich die Kolonien der europäischen Mächte zu Themen werden und die Ureinwohner nach Art einer Völkerschau, wie sie bis in die 1940er Jahre stattfanden, in Szene gesetzt werden.

1-Stumme von Porrtici

„Den Buben, nenn ihn mir!“ Der Fischer Masaniello bedrängt seine Schwester in „Die Stumme von Portici“.

Richard Wagner ist der Komponist, der am häufigsten thematisiert worden ist. Er passt in die Zeit und ist deren vollkommenster Ausdruck, wie es Thomas Mann ausdrückte. Die ersten Bayreuther Festspiele und die Premiere der Bilder-Serien fallen zeitlich zusammen. Neben Tannhäuser haben auch Lohengrin, Die Meistersinger von Nürnberg, Die Walküre und Parsifal ihre eigenen Serien. Gestalten aus anderen Opern des so genannten Bayreuther Kanons treten in den zusammenfassenden Editionen „Frauengestalten“ und „Männergestalten“ sowie in markanten „Szenen aus Wagner-Opern“ auf. Es versteht sich, dass der Meister auch in einer Zusammenstellung „Berühmter Componisten“ neben Bach, Beethoven, Mozart, Verdi und Rossini, der gern kochte, nicht fehlt. Darüber hinaus sind in einer weiteren Folge sechs Stationen im Leben Wagners nachgestellt, die auf das eine große Ziel hinaus laufen: Bayreuth, wo ihm der deutsche Kaiser huldvoll die Hand schüttelt.

1- Liebig Othello

Der vor Eifersucht rasende rasende Otello wirft in Verdis Oper Jago zu Boden.

Zu solchen biographischen Ehren kommen auch Giuseppe Verdi, Wolfgang Amadeus Mozart, Franz Schubert, Ludwig van Beethoven und Christoph Willibald Gluck. Verdis Aufstieg zum berühmtesten Komponisten Italiens beginnt in seiner Bilderfolge rührend an der Orgel seines Geburtsortest Le Roncole. Der Elfjährige greift mit dem Blick nach oben in die Tasten, als würde er seinen Segen vom lieben Gott höchst persönlich empfangen. Verdi widmete sich fortan mit Feuereifer der Musik. Welche Freude empfand er, als er schon mit 11 Jahren zum Organisten seines Heimatortes erwählt wurde. War neben der Würdigung seiner Tüchtigkeit damit doch ein Jahresverdienst von 36 Lire verknüpft! – Um diese Zeit lenkte Verdi die Aufmerksamkeit des angesehenen Kaufmannes Barezzi aus Busseto auf sich, der Konzerte einer musikalischen Gesellschaft dirigierte. Dieser nahm sich des strebsamen Knaben an und gab ihm zunächst eine Anstellung in seinem Handelsgeschäft, aber lediglich zum Schein, denn Verdi durfte sich währenddessen der Musik widmen so viel er wollte; damals machte er auch die ersten Versuche, selbst zu komponieren.

1-Freischütz Liebig

„Schieß nicht, Max, ich bin die Taube!“ Agathes dramatischer Auftritt am Schluss des „Freischütz“.

Und über den kleinen Wolfgang Amadeus ist zu lesen: Im Herbste 1762 unternahm Mozarts Vater mit seinem Söhnchen und der um 4 Jahre älteren Schwester Nannerl eine Kunstreise, um die Welt auf die begabten Kinder aufmerksam zu machen, denn auch Nannerl war trotz ihrer 10 Jahre eine vollendete Klavierkünstlerin. Die Kinder erweckten durch ihr Spiel überall höchste Bewunderung, besonders der sechsjährige Knabe, der auch durch sein drolliges Wesen überall die Herzen gewann. Die Kaiserin Maria Theresia nahm ihn auf den Schoß, herzte und küsste ihn. Solcher Art sind die Erklärungen, mit denen die allermeisten Bilder auf der Rückseite versehen sind. Wenngleich die Erklärungen sehr populär gehalten sind, vermitteln sie stets klare Informationen, so konzentriert wie der Extrakt. Die Opern La Traviata, Der Troubadour und Othello waren den Herausgebern noch eigenständige Serie Wert genauso wie Die Hochzeit des Figaro, Don Juan und Die Zauberflöte von Mozart. Titel werden in deutscher Übersetzung wiedergegeben.

Offiziere zücken während einer Aufführung von Glucks "Iphigenie in Aulis" ihre Degen

Offiziere zücken während einer Aufführung von Glucks „Iphigenie in Aulis“ ihre Degen.

Obwohl keine von Glucks Opern im Einzelnen gewürdigt wird, gewährt seine biographische Bilderserie auch einen Blick in ein nicht näher bezeichnetes Opernhaus: Offiziere ziehen begeistert ihre Degen bei der Aufführung der Iphigenie in Aulis. Glucks bisherige Opern waren ganz im herkömmlichen Stil der damaligen italienischen Schule gehalten. Sie wurden daher auch von den Zeitgenossen sehr beifällig aufgenommen, und der Papst verlieh dem Verfasser sogar den Orden vom goldenen Sporn. Allmählich aber trat ein Wandel in den Kunstanschauungen Glucks ein und er trachtete nunmehr, die Oper von der Verflachung zu befreien, in die sie nach und nach geraten war. Da zu jener Zeit das dramatische Kunstinteresse zu Paris am lebhaftesten war, begab er sich dorthin, um seine Bestrebungen zur Geltung zu bringen. Mit der ersten durchweg nach den neuen Prinzipien geschaffenen Oper »Iphigenie in Aulis« errang er einen ungeheuren Erfolg, doch dauerte es noch mehrere Jahre, ehe der Einfluss Piccinis und seiner Anhänger, der Hauptgegner der neuen Richtung, überwunden war. Mit Noten versehene Opernszenen sind erstmals 1884 verbreitet worden. Nur gestreift wird das Thema Operette mit einer Folge, in der Szenen aus beliebten Werken von Johann Strauß machgezeichnet sind.

1-Liebig Oberon

„Ozean, du Ungeheuer!“ Rezia in Webers Oper „Oberon“ am Gestade des Meeres (und das gibts auch in Französisch).

Welche Opern finden sich noch? Der Rosenkavalier war schon erwähnt. Mehr findet sich nicht zu Strauss. Dann Der Freischütz und Oberon von von Weber, Fidelio von Beethoven, Die Königin von Saba von Goldmark, Boris Godunow von Mussorgski, Wilhelm Tell von Rossini, Turandot von Puccini, Sappho von Pacini. Sappho? Wer heutzutage im Internet nach Bildmaterial über diese Oper und ihren Schöpfer Giovanni Pacini (1796-1867) sucht, stößt bald auf die Liebig-Serie, als hätte sie dazu beigetragen wollen, die Erinnerung an diesen italienischen Komponisten, der in der Hauptsache Opern schrieb, wachzuhalten.

Ernest Reyer ist in einer Serie über französische Komponisten dargestellt

Sogar Ernest Reyer gibt´s in einer Serie über französische Komponisten

Auffällig ist die starke Präsenz von Opern aus Frankreich, dem damals ungeliebten Nachbarland der Deutschen. Während das Schwert des 1875 im Teutoburger Wald eingeweihten Hermannsdenkmals drohend gegen Frankreich gerichtet wurde, öffnete sich auf den im selben Jahr in Serie gegangenen Liebig-Bildern im Laufe der Zeit der Vorhang für zwölf französische Musikdramen: Die Hugenotten, Die Afrikanerin und Robert der Teufel von Meyerbeer, Carmen von Bizet, Faust von Gounod, Hamlet und Mignon von Thomas, Die Stumme von Portici von Auber, Samson und Dalila von Saint-Saens Der Cid von Massenet sowie Faust’s Verdammung von Berlioz. Gounod, Thomas, Massenet, Saint-Saens, Halevy und Reyer sind dazu noch einer der Serie abgebildet, die französischen Komponisten gewidmet ist. Liebig-Bilder als völkerverbindend, als kulturelle Botschaften für Toleranz? Ein bisschen schon. Rüdiger Winter

Lust auf Lieder

 

Wer gern Lieder hört, dürfte Florian Boesch schon oft begegnet sein – ob im Konzertsaal oder auf Tonträgern. Er baut sein Repertoire beständig aus. Seine neueste CD ist bei Linn Records herausgekommen (CKD 511). Sie enthält den Liederkreis op. 93 und die Lieder und Gesänge aus Wilhelm Meister von Robert Schumann sowie die Lieder eines fahrenden Gesellen von Gustav Mahler, begleitet von Malcolm Martineau, der ungewohnte rhythmische Akzente zu setzen weiß. Für einen, der sich so intensiv dem Liedgesang verschrieben hat wie der Bariton Boesch, sind diese Zyklen unverzichtbar – auch wenn sie im Übermaß eingespielt und dargeboten wurden und werden. Er will und muss sie singen. In einem Interview mit dem Österreichischen „Standard“ hatte er einmal gesagt, das Wort sei der Bedeutungsträger im Lied. Immer folge der Klang dem Inhalt. Davon lässt er sich auch bei seiner neue Einspielung leiten. Voraussetzung dafür ist seine gute Diktion. Er ist immer zu verstehen. Nicht eine Wendung, nicht ein Gedanke gehen unter. Die Dichtung kommt zu ihrem Recht, was ein Segen ist. Mit Eichendorff und Goethe hat Schumann literarische Vorlagen von Rang. Boesch kostet die Worte aus. Manchmal werden sie allerdings zu übermächtig, zu selbständig. Dann wird die Musik zur Untermalung. Was sie nicht ist. Musik will vertiefen und erhöhen. Dramatische Ausbrüche sind seine Sache nicht. Boeschs Stärken sind die lyrischen, nachdenklichen und leise Töne. Man hört, dass er sehr gut Singen gelernt hat. Er kommt aus einem musikalischen Haus. Als Kind spielte er Cello. Sein Vater Christian ist Sänger, seine Großmutter Ruthilde sang noch unter Furtwängler in Salzburg.

 

Die Stärken von Florian Boesch sind die Schwächen seines amerikanischen Bass-Kollegen Jared Schwartz, der sich bei Toccata Classics auf Lieder von Franz Liszt geworfen hat (TOCC 0441). Schwartz besuchte neben anderen Ausbildungsstätten die renommierte Eastman School of Music, komponiert nebenbei und ist auch außerhalb der Klassikszene unterwegs. Regelmäßig tritt er mit der Pianistin Mary Dibbern auf, die als Musikdirektorin für Bildung und Familienprogramme an der Dallas Opera wirkt. Sie begleitet ihn auch auf seiner CD. Er tut sich sehr schwer mit Liszt. Vor allem mit den deutsch gesungenen Titeln, die mit sieben von zwölf in der Mehrzahl sind. Liszt, der Weltbürger, hat mehrsprachig komponiert – auch in Französisch, Italienisch und Englisch. Schwartz verhebt sich, er presst manche Passagen regelrecht heraus und stolpert über die Buchstaben. Liszts berühmtestes Lied „O lieb, so lange du lieben kannst“ ist nicht wiederzuerkennen. Schon der Einstieg in die CD mit „Weimars Volkslied“ ist verstörend und lässt einen ratlos zurück. Es ist auf einen Text von Peter Cornelius komponiert, dessen Oper Der Barbier von Bagdad Liszt in Weimar uraufgeführt hatte. Diesmal erweist es sich als Gnade, dass fast nichts zu verstehen ist, von dieser Hymne auf die fürstlichen Arbeitgeber. Da „weht ein Hauch“ von der „Wartburg Zinnen nieder“, leben nahe dem „Throne großer Dichter Erzgestalten“, brechen „Lebensblumen“ aus „geweihter Gräber Spalten“ hervor – alles zum Ruhme von Weimars edlem Fürstenhaus, das Gott erhalten möge. Die mit Ilm, Saale und deutschen Gauen verzierte Heimatlyrik erfährt im letzten Lied, „Weimars Toten“, diesmal nach Franz von Schober, gar noch eine zweite Auflage: „Müß’ge Trauer sei vernichtet / Frisch das Aug’ empor gerichtet!“ Solche Stücke sind wenig dazu angetan, für Liszt als Liedkomponisten zu werben. Obwohl sehr tüchtig in diesem Genre, hat er sich damit nie richtig durchsetzen können. Nachhaltige Anstöße konnte nicht einmal Dietrich Fischer-Dieskau geben, der Anfang der 1980er Jahre bei der Grammophon vier Langspielplatten mit Liszt besang, die bisher nicht auf CD vorliegen. Es blieb bei dem Versuch.

 

„Meister Oluf, der Schmied von Helgoland, verlässt den Ambos um Mitternacht.“ Mit diesen Worten beginnt Carl Loewes Ballade Odins Meeresritt. Der Bassbariton David Jerusalem hat sie an den Beginn seiner CD In Erlkönigs Reich gesetzt, die bei hänssler Classic erschienen ist (HC 17012). Besser konnte der Einstieg nicht gewählt sein. Raumgreifend zieht der Sänger seine Hörer in den Bann. Sie geraten ohne Umschweife in diese wundersame Welt, wo der feurige Rappe durch die Lüfte schießt, die alten Weiden so grau scheinen, ein Zwerg seine Königin im tiefen Wasser versenkt und Elfen auf grünem Strand tanzen. Balladen erzählen Geschichten, unheimliche und spannende Geschichten, sie stecken voller Symbole, Topoi und historischer Anspielungen. Als Relikte des Bildungsbürgertums sind sie aus der Mode gekommen. Umso erfreulicher ist es, dass sich ein junger Sänger, Jahrgang 1985, in aller Öffentlichkeit auf diese anstrengende Bildungsreise begibt. Und wieder Lust auf Balladen macht.

Jerusalem hat das Zeug dazu, denn er weiß, wovon er singt. Er huscht nicht über die wortreichen Strecken hinweg. Er lotet und kostet sie aus. In seinem Vortrag bleibt nichts offen. Dafür braucht es die Gabe verständlichen Singens, für die ein Sänger in der Übung bleiben muss. Jerusalem ist gut zu verstehen. Aus seinem Mund ließen sich die literarischen Vorlagen mitschreiben. Ein Vorzug, der nicht hoch genug zu schätzen ist. Daran hat der Pianist Eric Schneider hörbaren Anteil, weil er sehr sangesfreudige Tempi anschlägt und inhaltsbezogene Akzente setzt. Der umfassend gebildete Schneider ist ein Enkel des Schriftstellers Albrecht Schaeffer und hat zweitweise selbst Schauspielunterricht genommen. Er und Jerusalem sind ein perfektes Team für die gemeinsame CD mit Balladen von Carl Loewe und Franz Schubert. Mit dem Erlkönig gibt es sogar einen unmittelbaren Berührungspunkt zwischen den Komponisten. Beide Versionen sind vergleichend im Angebot. Und das ist gut so. Loewe muss sich nicht hinter Schubert verstecken. Für Schubert aber muss nicht gestritten werden. Für Loewe schon. Sein Platz in der Musikgeschichte ist ihm noch nicht sicher. Er ist aber im Kommen. In die große cpo-Edition mit allen Liedern und Balladen hatten sich seinerzeit viele jüngere Sänger eingebracht. Und die Internationale Carl Loewe Gesellschaft mit Sitz in Löbejün, der Geburtsstadt des Komponisten, arbeitet wirkungsmächtig an der Verbreitung seines Schaffens und Ruhms. Kein Zweifel, die neue CD wird in diesem Kreis aus Fachleuten und engagierten Musikfreunden viel Aufmerksamkeit finden. Zumal sich Jerusalem nicht scheute, neben Meisterstücken wie Tom der Reimer und Herr Oluf auch die gern verspottete Uhr ins Programm genommen zu haben, die in seiner frischen Interpretation ihre Betulichkeit verliert.

Jerusalem hat sich ein eigenes Timbre mit Wiederkennungswert erarbeitet. Seine Stimme wirkt sehr belastbar. Flexibel kann er zwischen dramatischen und lyrischen Passagen wechseln. Mittellage und Tiefe sind stabil und fest. Der Aufstieg zur Höhe könnte noch eleganter und freier klingen. Wer in Loewes Archibald Douglas nach einem Text von Theodor Fontane über mehr als zwölf Minuten die Spannung hält, hat die Feuerprobe als Balladensänger bestanden. Es wäre erfreulich, würde dieses Genre in seiner Karriereplanung einen festen Platz behalten. Bisherige Stationen werden im Booklet aufgezählt: Kammeroper München, Konzerte mit dem von Karl Richter begründeten Bach-Chor und der Academy St. Martin in the Fields, Madrid, Niederlande, Deutsche Oper am Rhein, deren festes Mitglied er ist. Dort sang er Sarastro, Figaro, Masetto und Sparafucile. Einen nicht unwesentlichen biographischen Hinweis sucht man vergeblich im Begleitheft der CD. David ist der Sohn von Siegfried Jerusalem. Es ist nachzuvollziehen und nur zu verständlich, wenn ein aufstrebender Sänger als eigenständig wahrgenommen werden möchte und nicht als der Sohn eines sehr berühmten Vaters – auch wenn der nicht im gleichen Fach gesungen hat. Ich freue mich auf neue Aufnahmen.

 

Obwohl klassische Liederabende seltener geworden sind im alltäglichen Musikbetrieb, überraschen Firmen und Labels immer wieder mit entsprechenden Angeboten. Dabei ist es guter Brauch geworden, Liedprogramme unter ein bestimmtes Thema zu stellen. Der Bariton Rafael Fingerlos hat Stille und Nacht gewählt. Seine CD ist bei Oehms Classics herausgekommen (OC 1879). Mit knapp fünfundsechzig Minuten wurde die Kapazität nicht unnötig ausgereizt. Sechsundzwanzig Lieder sollten genügen, um die Aufnahmefähigkeit der Hörer nicht unnötig zu strapazieren. Die sollen ja nicht nur den einzelnen Liedern lauschen. Sie sind angehalten, bei jedem Titel den Bezug zum Thema herzustellen. Überraschend ist der Auftakt mit Das war der Tag der weißen Chrysanthemen von Robert Fürstenthal. Der wurde 1920 in Wien geboren, musste vor den Nationalsozialisten fliehen und betätigte sich in den USA als Wirtschafsprüfer, wie die Wiener Zeitung berichtet. „Die Kompositionen entstanden nebenher, ausschließlich Kammermusik und Lieder. Er komponierte für seine Jugendliebe. Nach der Trennung von ihr schrieb er keine Note mehr, als er sie wiedertraf, kehrte seine Inspiration zurück.“ Fürstenthal starb 2016. Fingerlos hatte ihm bereits eine ganze CD gewidmet, die Anfang des Jahres bei Toccata Classics herausgekommen ist. Sein Stil ist traditionell und erinnert am ehesten an Hugo Wolf und Richard Strauss, der auf der CD mit drei Liedern vertreten ist. Spürt ein Säger Nacht und Stille nach, dann sind Franz Schubert, Johannes Brahms und Robert Schumann nicht weit. Erfreulich ist, dass auch Peter Cornelius berücksichtigt wurde. Sein reiches Liedschaffen führt noch immer ein Schattendasein, aus dem es langsam herausfindet. Nicht zuletzt durch eine beispielhafte Edition seiner sämtlichen Lieder bei Naxos. Rudolf Polsterer (1879-1945), Österreicher wie sein Interpret, dürfte mit dem eingängigen Lied Die Zeit steht still seine Tonträgerpremiere haben. Es muss Fingerlos ein Bedürfnis sein, sich mit der Programmauswahl zu seiner Heimat bekennen zu wollen. Wer ihm auf Facebook einen Besuch abstattet, wird dafür viele persönliche Belege in Form von Fotos, Nachrichten und Erinnerungen finden – und auch auf diesen Satz stoßen: „Es gibt kaum was Schöneres, als Lieder singen, besonders mit einem großartigen Freund und Klavierpartner wie Sascha El Mouissi.“ Der begleitet auch auf der neuen CD, hoch sensibel und einfühlsam. Die Stimme klingt reifer, voller und voluminöser als es das Foto des jungen Mannes auf dem Cover im zeitgemäßen Schwarz-Weiß erwarten lässt. Gründlich hat er am Text gearbeitet. In jedem Moment ist er sich der Notwendigkeit bewusst, pointiert und deutlich zu singen. Das sind allerbeste Voraussetzungen für eine Karriere, in der Lieder nicht zu kurz kommen sollen. Für einen Sänger, der am Anfang steht, ist Rafael Fingerlos schon gut im Geschäft. Ins Fernsehen kam er als spielfreudiger Moralès in der Carmen aus Bregenz. An der Wiener Staatsoper, der er inzwischen angehört, ist der 31jährige mit Dr. Falke in der Fledermaus, dem Harlekin in Ariadne auf Naxos und dem Figaro im Barbier von Sevilla erfolgreich gestartet.

 

 

Franz Schuberts Schwanengesang findet sich bei aktuellen CD-Produktionen gern erweitert und umgestellt. Damit wird die Abfolge der letzten Lieder Schuberts in dem posthumen Zyklus, der auf den Verleger Tobias Haslinger zurückgeht, ganz bewusst in Frage gestellt. Jetzt hat der Bariton Roman Trekel bei Oehms Classics gemeinsam mit den Pianisten Oliver Pohl sein eigenes Konzept vorgelegt (OC 463). Begonnen wird mit dem Lied Schwanengesang, das Schubert im Herbst 1822 komponierte. Es folgen An den Mond (1815), Der Wanderer an den Mond (1826), Totengräbers Heimweh (1825) und Meeres Stille (1815). Dann setzen die nachträglich als Schwanengesang bekannt gewordenen Lieder ein, allerdings nicht in der überlieferten Reihenfolge. Dazwischen ist das Lied Herbst (1828) geklemmt. Dem Sänger und seinem Pianisten lag daran, die Lieder thematisch neu zu ordnen, wie im Booklet betont wird. Die Stimme Trekels ist dunkler und schwerer geworden. Auch geheimnisvoller. Ich fühle mich gelegentlich an Hans Hotter erinnert, der seinen gewaltigen Heldenbariton beim Liedvortrag stark zurücknehmen konnte, um ihn an passender Stelle voller Grimm wieder aufzudrehen. Das kann auch Trekel. Es scheint, als sinne er singend über die Lieder nach. Das hat großer Wirkung. Mit dieser CD dürfte er nach meinem Urteil eine seiner besten Aufnahmen vorgelegt haben.

 

Der Tenor Ilker Arcayürek wurde in Istanbul geboren. Wann, ist nirgends zu lesen. Nicht wenige junge Sänger haben es sich angewöhnt, den Jahrgang einfach zu übergehen, als sei das nicht vom Belang. Dabei haben sie das nicht nötig. Sie müssen sich nicht jünger machen. Sie sind es. Anhand der Daten über Debüts und erste Engagements lässt sich erahnen, in welcher Lebensphase sich jemand bewegt. Viel älter als dreißig dürfte Arcayürek nicht sein. Aufgewachsen ist er in Wien, wo angehende Sänger sozusagen an der Quelle sitzen. Erste Erfahrungen sammelte er beim Knabenchor der Stadt und als Mitglied des Arnold Schönberg Chores. Studiert hat er bei dem 1942 geborenen Wiener Tenor Sead Buljubasic, der aus Bosnien stammt und neben der Italienischen, französischen und slawischen Oper auch den Liedgesang pflegte. Seit 2015 ist Arcayürek Ensemblemitglied an Staatstheater Nürnberg. Auftritte hatte er auch am Salzburger Landestheater, in Zürich, im Concertgebouw Amsterdam und in Luzern. Er singt Rodolfo, Don Ottavio, Ferrando, Tamino, Nadir und den Alfred in der Fledermaus. In der Dresdner Keuzkirche machte er als Evangelist in Bachs Matthäuspassion von sich Reden. Am Teatro Real in Madrid ist er als Claudio in Wagners Liebesverbot aufgetreten, wovon es auch eine DVD bei Opus Arte gibt (OA BD7213 D). Bei den diesjährigen Salzburger Festspielen gab er bei einer konzertanten Aufführung von Donizettis Lucrezia Borgia den Vitellozzo. Kritiker rühmen seinen hellen, strahlenden Tenor, stellen seine Natürlichkeit heraus, seinen geschulten Umgang mit dem Wort und lassen auch sein gutes Ansehen nicht unerwähnt. Diesem Urteil schließe ich mich gern an. Jetzt hat Ilker Arcayürek seine erste Lieder-CD vorgelegt. Sie ist bei Champs Hill Records London erschienen (CHRCD133), wo auch schon andere junge Sänger, die sich mit Liedern erproben wollen, großzügige Starthilfe auf Tonträgern bekamen. Einer von ihnen war der deutsche Bariton Benjamin Appl, den inzwischen Sony unter Vertrag genommen hat.

Die neue CD heißt Franz Schubert: Der Einsame. Dafür gibt es im Werk des Komponisten reichlich Stoff und Anhaltpunkte. Es ist erfreulich, dass junge Sänger keinerlei Scheu haben, offen mit ihren Gefühlen umzugehen und das auch mit ihren Programmen deutlich machen. Sie suchen in Werken, zu denen sie sich hingezogen fühlen, den Bezug zum eigenen Leben, zu ihren Träumen, Hoffnungen oder auch der eigenen Einsamkeit, der sie mit Hilfe der Kunst auf den Grund kommen wollen. Sie verschließen das eigenen Ich nicht vor der Öffentlichkeit, geben preis, was die Generation vor ihnen noch verschloss und mit Kunst sublimierte. Macht sich die Wirkung von Social Media auch auf diese Weise bemerkbar? Wenn ja, wäre das nicht schlechteste Erfahrung unserer Zeit. Arcayürek: „Franz Schuberts Musik und auch die Einsamkeit begleiten mich seit meiner Kindheit. Einsamkeit kann aus meiner Sicht durch viele Begebenheiten entstehen – durch Liebeskummer, einen Verlust, aber auch durch Umzug in ein neues Land.“ Die Vielfalt in Schuberts Gefühlswelt und seiner Musik hätten ihn „schon früh in ihren Bann gezogen“. Und weiter schreibt er in seinem Text über die Aufnahmen der Lieder: „Die Einsamkeit auszufüllen gelingt mir besonders gut, wenn ich selbst musiziere.“ „Frühlingsgaube“, „Schäfers Klagelied“, „Der Schiffer“, „Drei Gesänge des Harfners“, „Nacht und Träume“, „An den Mond“, „Wandrers Nachtlied“ II sind – den Harfner dreifach gezählt – neun Titel von insgesamt dreiundzwanzig. Für zehn Minuten wäre noch Platz gewesen auf der CD. Warum aber einen Gedanken auswalzen. Bei der Programmauswahl wird also größtenteils auf Bewährtes zurückgegriffen. Das ist dem Sänger insofern hoch anzurechnen, weil er den Vergleich mit der übermächtigen Konkurrenz nicht scheut. Muss er auch nicht. Was gehen ihn Fischer-Dieskau, Prey oder Wunderlich an? Ich bin fest davon überzeugt, dass er die Kollegen, die den Jahren nach seine Großväter hätten sein können, gut studiert hat. Wenn er etwas von ihnen lernte, dann sein starkes Bemühen, die Texte deutlich herüberzubringen. Ohne diesen Genauigkeitsfanatismus braucht ein Liedsänger gar nicht erst ins Studio oder vor das Publikum zu gehen. Arcayürek, der – wie sein Kollegen David Jerusalem und Rafael Fingerlos – gar nicht so jung klingt wie er aussieht, ist noch nicht am Ende seiner stimmlichen Möglichkeiten. Er hat einen schier endlosen Atem. Bestimmte Phasen kommen viel stärker zur Geltung, wenn sie nicht unterbrochen werden müssen, um Luft zu holen. Gleich im zweiten Lied, dem „Nachtstück“ bringt er diese Fähigkeit wunderbar zur Geltung. Die Stimme fließt ruhig dahin. Er weiß, was Legato ist. Rüdiger Winter

Wisset ihr noch?

 

Wer sich mit Richard Wagner beschäftigt, wer wissen will, wie dessen Opern einst gesungen wurden – der kommt an diesem Ring nicht vorbei. Wie ein Felsen schiebt er sich dem neugierig Suchenden in den Weg. Als ein produktives Hindernis! Die Rede ist von der Aufnahme der RAI, der Radiotelevisione Italiana, die im Spätherbst 1953 in Rom entstand. Ich komme davon nicht los. Während das Rheingold am 26. Oktober gegeben wurde, gelangten die insgesamt neun Aufzüge der folgenden Teile jeweils gesondert vor Publikum zur Aufführung. Ins Finale ging das Projekt am 27. November. Der Beifall am Schluss setzte stürmisch ein. Ein nicht zu unterschätzender Vorteil bestand darin, dass sich die Sänger, das Orchester und der Dirigent Wilhelm Furtwängler nicht zu schonen brauchten. In der Götterdämmerung – um ein Beispiel zu nennen – hatte Martha Mödl als Brünnhilde während des kräftezehrenden Anfangs nicht den strapaziösen Schlussgesang im Nacken, der dazu mahnt, mit den Kräften hauszuhalten. Nachteilig machte sich bemerkbar, dass die Werke in ihre Einzelteile zerfielen. Um Szene und Aktionen beraubt, klingt der Mitschnitt gelegentlich etwas steril und trocken.

Im Vergleich mit anderen RAI-Produktionen spielte das Orchester auf sehr hohem Niveau. Das ist nicht allein Furtwänglers Verdienst. Für ihn wurde ein ganz besonderes Orchester mit den geeignetsten Musikern aus allen RAI-Klangkörpern zusammengestellt. Deshalb fehlt auf der Besetzungsliste – wie sonst üblich – der ausdrückliche Hinweis auf eine ganz bestimmte Radio-Station. Ein Jahr später begann Furtwängler in Wien mit der Walküre seine geplante Gesamtaufnahme der Tetralogie für die EMI. Als Generalprobe kam die italienische Aufführungsserie gerade recht. Die Mödl sang hier wie dort die Brünnhilde, Ferdinand Frantz den Wotan, Gottlob Frick beide Male den Hunding. Mehr kam nicht zustande, weil der Dirigent wenige Wochen später im Alter von nur achtundsechzig Jahren starb. Seither gab es intensive Bemühungen der EMI, der Furtwängler-Gesellschaft und der Witwe des Dirigenten, Elisabeth Furtwängler, die Lücke mit der Veröffentlichung der italienischen Rundfunkproduktion zu schließen.

Fast zwanzig Jahre sollten sich die Verhandlungen hinziehen. Um die Gründe „warum nicht“ ranken sich vielerlei Gerüchte. So soll Elsa Cavelti, Fricka und Grimgerde in der Walküre, nur unter der Bedingung in eine Veröffentlichung eingewilligt haben, dass sie ihre eigene Liederplatte bekommt. Was zähneknirschend geschah (die LP war nur kurz auf dem Markt). Rita Streich, die den Waldvogel sang, und Josef Greindl, der als Fasolt, Fafner und Hagen mit dabei war, wird nachgesagt, angeblich zu hohe Honorare gefordert zu haben.

Aber schließlich war es 1972 so weit. Der RAI-Ring lag endlich auf achtzehn Langspielplatten vor. Wohl verpackt in einer hübschen Box, die viel hermachte. Verspielt war allerdings die Exklusivität des Ereignisses eine ersten kompletten Ringes. Inzwischen hatten Georg Solti und Herbert von Karajan mit ihren attraktiveren Stereoaufnahmen den Markt besetzt. Von den Bayreuther Nachkriegsfestspielen tauchten mehr und mehr atemberaubenden Mitschnitte auf. Es sollte allerdings noch einige Jahre vergehen, bis der bei Myto auf CD gepresste Beleg vorlag, dass nicht Furtwängler den ersten Nachkriegs-Ring auf Tonträgern geschmiedet hatte sondern Rudolf Moralt zwischen 1948 und 1949 mit seiner Produktion für die RAVG, die Vorläuferin der ORF, in der ebenfalls Ferdinand Frantz als Wotan und Wanderer sowie die römische Sieglinde Hilde Konetzni in Erscheinung getreten waren.

Auch Moralt führte den Vierteiler konzertant auf und kämpfte mit demselben Problem wie Furtwängler, dass auf dem Podium nicht die dramatische Stimmung aufkommen wollte, von denen die Bayreuther Mitschnitte leben. Das Drama kommt nicht richtig in Gang und tritt manchmal auf der Stelle. Bereits in einem sehr frühen Stadium stellt sich also die Frage nach der Sinnhaftigkeit konzertanter Opernaufführung. Im Vergleich mit echten Studioeinspielungen, bei denen versucht wird, unter idealen Bedingungen alles aus einer Partitur herauszuholen, was möglich und auf der Bühne kaum zu schaffen ist, muss der Konzertsaal zwangsläufig schlechter abschneiden. Dort können missglückte Stellen nicht solange wiederholt werden, bis sie sitzen.

Die EMI ließ der Plattenausgabe 1990 einen Umschnitt auf CD folgen. Technisch gelangte das historische Dokument damit auf die Höhe der Zeit und sah sich zugleich einer übermächtigen Konkurrenz ausgesetzt. Der Markt wurde (und wird) von Ring-Produktionen regelrecht überschwemmt. Zu Karajan und Solti kamen, Haitink, Levine, Sawallisch, Neuhold – und immer wieder Bayreuth, das 1976 mit der spektakulären, von Pierre Boulez musikalisch betreuten Inszenierung des Franzosen Patrice Chéreau einen spektakulären Erfolg landete, der auch von der Industrie erfolgreich ausgeschlachtet wurde. Erstmal kam eine ganzer Ring sogar ins Fernsehen.

Was zunächst zu befürchten war, ist nicht eingetreten. Neue Produktionen haben die alten nicht verdrängt. Der Markt bleibt in Bewegung. Manche Aufnahmen verschwinden wieder, der Furtwänglersche Ring aus Rom ist geblieben. Noch durch die EMI war die erste CD-Auflage durch eine handliche, platzsparende Box ersetzt worden. Nach der Übernahme durch Warner ist sie nun mit dem neuen Logo herausgekommen (50999 9 08161 23). Damit dürfte sich ihre Lebensdauer abermals verlängern. Sammler gewöhnen sich an die ständige Verfügbarkeit. Die Ausstattung ist bescheiden ausgefallen. In der ursprünglichen CD-Ausgabe der EMI wurde einst mehr geboten. Jeder Teil hatte seine eigene Box. Mit Fotos waren die Booklets ausgestattet. Dafür musste im Regal aber auch mehr Platz bereitgehalten werden. Die Neuerscheinung kommt mit weniger als der Hälfte aus. Nicht von der Hand zu weisen ist, dass sich die Sparsamkeit bei der Ausstattung in einem günstigen Preis niederschlägt.

Der „Ring“ in Rom: Audienz der Sänger beim Papst Pius XII. (Magda Gabry, Josef Greindl, Hilde Rössel-Majdan,  Martha Mödl, Sesto Bruscantiini (damaliger Ehemann von Sena Jurinac) und eben diese/ Foto EMI/OBA (Dank an Heiko Cullmann für die Identifizierung!)

Ein Who’s Who des Wagnergesangs der Fünfziger sind die Besetzungslisten. Kein Name, der nicht in einschlägigen Lexika zu finden wäre. Gäbe es im Ring des Nibelungen klassische Nebenrollen, wäre darauf zu wetten, dass auch hinter ihnen prominente Solisten stünden. Italiener sind – bis auf den Chor, der etwas ungelenk agiert, und die Orchestermusiker – am Veranstaltungsort Rom nicht dabei. Alle Sängerinnen und Sänger sind faktisch muttersprachlich oder hatten – wie Sena Jurinac als Woglinde, Gutrune und dritte Norn – Deutsch so verinnerlicht, dass ihre serbokroatische Herkunft sprachlich überhaupt nicht mehr durchschlug. Sie singt akzentfrei. Deutlichkeit gehört zu den Vorzügen dieser Produktion. Schon Wagner hatte sie bei allen sich bietenden Gelegenheiten eingefordert. Insofern ist dieser Ring ein Musterbeispiel. Seine anhaltende Wirkung geht hoffentlich auch darauf zurück. Manchen Sängern der Gegenwart könnte es nicht schaden, die Einspielung zu eigenen Studienzwecken heranzuziehen.

Ludwig Suthaus gilt noch immer als ein Urtyp des deutschen Heldentenors. Er sang beide Siegfriede. Furtwängler dürfte ihn geschätzt haben, sonst wäre er nicht sein Tristan in der berühmten Londoner Studioeinspielung der EMI gewesen. Dabei ist er nicht so ein strahlender, metallischer Kraftprotz wie der fünf Jahre ältere Max Lorenz. Suthaus klingt introvertiert und verschattet. Er kann sich ganz zurücknehmen und die Stimme je nach Bedarf gewaltig aufdrehen. So führt er sich im Siegfried ein. Gefragt nach der seltsamsten Wagner-Szene, würde ich ohne Zögern jene Szene nennen, in der Siegfried mit einem Bär im Schlepptau in Mimes Höhle stürmt. Furtwängler nimmt das Orchester ganz zurück. Nicht nur einmal steht zu befürchten, dass die Zeit stehenbleibt. So träge fließt die Musik. Alles verdichtet sich zum Kammerspiel. Wird später Karajan auch als der Erfinder der kammermusikalischen Struktur im Ring gerühmt werden, so hat er zumindest einen Vorläufer: seinen Widersacher Furtwängler. Während bei Karajan auch formale Aspekte und der Wille, es ganz anders zu machen, bestimmend gewesen sein könnten, lässt sich Furtwängler von inhaltlichen Überlegungen leiten. Jedes Wort und jede Note liegen auf der Goldwaage. Siegfrieds Herkunft und die Geschichte des Schwertes werden vor diesem fragilen musikalischen Netzwerk haargenau singend berichtet. Was heutzutage in übersteigerter Aktion und ungenauem Gesang oft untergeht: Hier wird es offenbar. Spannend wie in einem Krimi. Der gesamte erste Aufzug ist höchst informationsträchtig – sowohl retrospektiv als auch nach vorn weisend. Wer hier nichts versteht, bekommt vom ganzen Ring allenfalls die Hälfte mit. Oft genug zugehört, wird deutlich, warum die Wahl auf den gewöhnungsbedürftigen Julius Patzak für den geschwätzigen Mime fiel. Der kann genau und pointiert singen und überschlägt sich nicht in akrobatischen Verrenkungen wie Gerhard Stolze, einer seiner Nachfolger in der Partie. Patzak kommt von innen, nicht von außen. Sein Zwerg ist alt und müde. Er ist auch deshalb so gemein, weil er nicht mehr kann, weil er sich aufgebraucht hat und ausgelaugt ist in seinem irrwitzigen Wahn, Macht über die Welt zu erringen. Sein Plan geht nicht auf. Er ist gescheitert. Während im Rheingold Gustav Neidlinger wirkungsmächtig seinen Anspruch auf die Rolle seines Lebens, den Alberich, erhebt, fällt diese Aufgabe in Siegfried und Götterdämmerung Alois Pernestorfer zu, der nicht annährend die dämonische Kraft seines Kollegen entfesseln kann. Fiesling vom Dienst ist der schon erwähnte Josef Greindl. In der Mannen-Szene in der Götterdämmerung öffnet er als Hagen sein stimmliches Reservoir wie Schleusen.

In Verehrung einander zugetan: Wilhelm Furtwängler und Martha Mödl – hier hinter der Szene beim „Parsifal“ an der Mailänder Scala 1950/ Foto Scala/Mödl/ OBA

Die Mödl, unverkennbar in der Majestät ihres dunklen Soprans lässt mich neuerdings nicht nur hingerissen und begeistert zurück. Sie ist dann besonders gut, wenn sie nicht auf sich allein gestellt ist. Als Bühnentier braucht sie das Gegenüber, um sich voll entfalten zu können. So wie im Finale der Walküre, beim Schwur auf der Burg der Gibichungen oder in der große Szene mit Waltraute, die von Margarete Klose bedrückend gestaltet wird. Deren große Erzählung könnte dreimal so lang sein, ohne langweilig zu werden. In ihrer Ausdeutung gerinnen die vielen Zeilen und Noten zu einem Moment. Als Wotan und Wanderer hinterlässt Ferdinand Frantz einen würdigen Eindruck, bleibt dabei aber etwas eindimensional. Nicht, dass er alles gleich sänge. Eine Neigung in diese Richtung gibt es schon. Mir ist er etwas zu gütig, zu unbestimmt. Wotans zwiespältiger, machtbesessener Charakter könnte stärker herausgearbeitet sein. Mit seiner stimmlichen Zuverlässigkeit ist er die Säule des ganzen Unternehmens. Furtwängler hatte ihn schon in seiner Bühnenaufführung in der Mailänder Scala eingesetzt. Auch in der Studioaufnahmen der Walküre singt er den Wotan – bei Moralt ebenfalls.

Die ebenfalls schon genannte Sena Jurinac ist einer besonderen Würdigung wert, indem sie ihr Publikum davon überzeugt, dass die Gutrune keine undankbare Aufgabe ist. Nach dem Trauermarsch in der Götterdämmerung schlägt ihre Stunde. Wie sie ängstlich und unruhig umherirrt und das drohende Unheil heraufziehen sieht, ist kaum je so anrührend auf Tonträger gelangt. Die kleine, dichte Szene wird – von Furtwängler höchst sensibel begleitet – zum Drama im Drama. Der Dirigent ist immer im richtigen Moment zur Stelle. Natürlich kann er Gewalten entfesseln, Spannungen aufbauen. Er legt seine legendären Pausen ein, in denen nicht nur das Publikum, sondern auch er selbst den Atem anhält. Ganz typisch für ihn ist der etwas unbestimmte, dafür aber umso aufregendere Beginn der Walküre.

Dazu fällt mir eine Anekdote ein. Orchestermusiker hatte ihn einst bei einer Probe gebeten, doch den Auftakt bitte deutlicher zu schlagen, sie wüssten sonst nicht, wann sie einzusetzen hätten. Darauf soll Furtwängler geantwortet haben: „Je undeutlicher, desto besser“ (Foto oben: Herkules/ Capitolinisches Museum Rom/ Foto Winter). Rüdiger Winter

Gut gemeint, aber…

 

Die schönsten, die berühmtesten, die beliebtesten, die bekanntesten, die größten… Seit es Schallplatten gibt, werden Opernchöre aufgenommen und unter immer wechselnden Markenzeichen auf den Markt gebracht. Mal kommt nur ein Chorensemble zum Einsatz, mal werden mehrere zusammengewürfelt. Chöre gehen immer. Mindestens einen kennt jeder – wenn nicht den so genannten Gefangenenchor aus Nabucco, dann den Jägerchor aus dem Freischütz. Profil Edition Günter Hänssler hat vorsorglich beide im Angebot einer Zusammenstellung in der Reihe aus der Semperoper Dresden. Die neue Edition ist dem Sächsischen Staatsopernchor gewidmet (4 CD PH17031). Und das hat seinen Grund. Der Chor beging am 8. Oktober 2017 seinen 200. Geburtstag. Er wurde von Carl Maria von Weber ins Leben gerufen, der 1817 zum Königlichen Kapellmeister und Direktor der deutschen Oper bestellt wurde. Den „Endzweck“ seines Lebens soll Weber darin gesehen haben, die deutsche der damals vorherrschenden italienischen Oper gleichzustellen.

Das größte Problem, mit dem er sich konfrontiert sah, war der grundsätzliche Mangel an deutschen Opern. Bis zum eigenen bahnbrechenden Freischütz und den Werken Wagners, in denen Chöre auch Handlungsträger waren, würde noch einige Zeit verstreichen. Für Weber sollten Choristen – wie es damals hieß – ebenso singend und darstellend agieren wie die Solisten. Nachwuchs wollte er beim Kreuzchor gewinnen, der sich diesem Ansinnen allerdings verschloss. Ob er geeignete Knaben selbst in Opernaufführungen einbeziehen wollte, ist nicht belegt. Im ausführlichen, reich bebilderten Booklet wird die Geschichte des Chores bis in die Gegenwart von Michael Ernst ausführlich und sehr lebendig dokumentiert. Als Motto wird Weber selbst zitiert: „Ein stehender Theaterchor wird insofern von großem Gewinne sein, dass ersten durch die gehörige Anleitung und stetes Üben ein Ensemble-Spiel hervorgebracht wird, das der größten Wirkung fähig ist und zweitens und hauptsächlich, dass auch hieraus eine förmliche Pflanzschule entspringt, deren hervorstechende Talente man weiter befördert und bildet.“

Insgesamt vier CDs umfasst die gut gemeinte Aufbereitung. Und die wollen auch bestückt sein. Natürlich waren ausschließlich Aufnahmen aus Dresden zu berücksichtigen. Die Archive sind gut gefüllt. Aber es sind auch sehr viele Titel seit Jahren in Umlauf. Insofern hat die Edition keine wirklichen Überraschungen zu bieten. Sie versucht sich in einer, dem Anlass würdigen Zusammenfassung, bei der auch auf Werke zurückgegriffen wird, die schon komplett bei Hänssler erschienen sind wie Wagners Liebesmahl der Apostel, Janáceks Katja Kabanowa, Dvoráks Rusalka, Weinbergers Schwanda, der Dudelsackpfeifer oder Beethovens Fidelio (mit „Erlfride Trotschel“ als Marzelline – die arme Trötschel, womit hat sie das verdient, wo sie doch sonst bei Hänssler in hohen Ehren steht?) Sammler haben natürlich auch die in Dresden entstandenen historischen Gesamtaufnahmen von Don Giovanni, Fra Diavolo, Corregidor, Freischütz und Luisa Miller – allesamt unter Karl Elmendorff – im Schrank, die über die Jahre bei wechselnden Labels auf den Markt gelangt sind. Das gilt auch für viele der einzelnen Nummern mit Chorbegleitung. Erfreuliche Ausnahmen sind beispielsweise die Ausschnitte aus der Zaubergeige von Egk in einer Produktion des DDR-Rundfunks unter Rudolf Neuhaus von 1965 und aus Webers Abu Hassan von 1971 unter Heinz Rögner mit Peter Schreier und Theo Adam, die in einer Edition aus Dresden nicht fehlen dürfen. Der Chor kann seine Qualitäten auch außerhalb der Oper in Auszügen aus der 9. Sinfonie von Beethoven (Karl Böhm), dem Te Deum von Neumann (Herbert Blomstedt), der 2. Sinfonie von Mahler (Bernard Haitink), der Dante-Sinfonie von Liszt (Giuseppe Sinopoli) oder aus dem Te Deum von Berlioz (Colin Davis) zur Geltung bringen. Dabei stört mehr noch als bei den Opern die Reduzierung auf mehr oder weniger kurze Momente, die den Gesamteindruck schuldig bleiben.

In der berühmten Finalszene des Färbers Barak (Josef Herrmann) des ersten Aufzugs der Frau ohne Schatten von Richard Strauss von 1942 unter Karl Böhm besteht der Chor aus den Wächtern, die hier offenbar solistisch verstärkt wurden. Auch diese Szene ist oft publiziert worden, diesmal aber haben sich die Tontechniker derart vertan, dass sie kaum anhörbar ist. Solche Bearbeitungen gehören nicht veröffentlicht! Neugierig auf mehr macht mit einer Minute und 34 Sekunden der Auftritt der Daphne (Gudrun Wüstemann) aus der gleichnamigen Oper von Strauss. Sie ist auch übersteuert, endet sehr abrupt, lässt aber einen interessanten Mitschnitt erahnen. Sammler wissen, dass er sich komplett erhalten hat. Für Hänssler wäre diese Ausgrabung komplett gewiss lohnend. Rüdiger Winter

Göttergatte mit Rockermatte

 

Im Sommer 2017 haben sich Opernfreunde einen neuen Begriff zu Eigen gemacht: Re-Kreation. Der Duden kennt den Bindestrich nicht, stuft das Wort als veraltet ein und erklärt es mit Entspannung, Erfrischung, Erholung, Genesung, Stärkung und Verbesserung. Bezogen auf den Anlass wollen die Synonyme nicht recht passen. Als Re-Kreation wurde die Neuinszenierung der Walküre von Richard Wagner im rekonstruierten Bühnenbild von Günther Schneider-Siemssen der ersten Opernproduktion der Osterfestspiele Salzburg von 1967 durch Vera Nemirova bezeichnet. Die Regie hatte seinerzeit Herbert von Karajan besorgt, der sich mit dem neuen Festival ein eigenes Denkmal in der Geburtsstadt Mozarts setzten wollte. Karajan wohnte in der Nähe von Salzburg, in Anif, wo er 1989 auch gestorben ist. Nach der Walküre folgte Das Rheingold, dann Siegfried und zum Abschluss 1970 Götterdämmerung. Eine geschlossene Aufführung des gesamten Ring gab es nicht. Schneider-Siemssen blieb Karajans bevorzugter Ausstatter in Salzburg.

Musikalisch vorbereitet wurde das gewaltige Unterfangen seinerzeit mit einer Plattenproduktion im Berliner Studio (und Proben im Berlin, weil die Berliner Philharmoniker ja ein Angestelltenorchester der Stadt Berlin sind), die nie vom Markt verschwand und nach wie vor hohes, maßstäbliches Ansehen genießt. Nach fünfzig Jahren ist szenisch von Karajan fast nichts übrig geblieben. Fotos und die spärlichen Filmclips sind nicht aussagekräftig für eine gerechte Bewertung des Originals. In einer TV-Dokumentation anlässlich der Re-Kreation wurden die Archive abgeklappert. Viel fand sich nicht außer den Bühnenentwürfen. Dennoch hätte es Sinn gemacht, diese Arbeit mit bei Cmajor/ United auf DVD veröffentlichten Aufführung der Walküre (74208) zu koppeln. Jetzt kommt diese Neuerscheinung wie eine ganz normale Walküre daher. Die Spannung hält sich ohnehin in Grenzen, weil die Produktion bereits im Fernsehen gezeigt wurde und auch ins Radio gekommen war.

Auf dieser DG-CD mit Ausschnitten der „Ring“-Studio-Produktion ist Herbert von Karajan auch als Regisseur in Aktion abgebildet.

Vera Nemirova dürfte – auch wenn das möglich gewesen wäre – gar nicht die Absicht gehabt haben, Karajan nachzustellen. Dafür ist sie viel zu selbstbewusst und zu individuell. Sie verfolgte eigene Intentionen, blieb dabei aber in den ausladenden Bühnenbauten regelrecht stecken. Diese Optik, die einst für Aufsehen gesorgt hatte, behinderte nun mehr, als dass sie zu neuen Erkenntnissen beitragen konnte. So wurden die Details in ihrer Wirkung übermächtig. Details, die auf der riesigen, oft in Dunkel gehüllten Breitwandbühne, für Zuschauer im Saal viel zu undeutlich geblieben sein dürften. Erst die Kameras ziehen sie deutlich heran. Nicht immer zum Vorteil der Beteiligten. Hunding (Georg Zeppenfeld) macht es sich in seiner Hütte im neuzeitlichen Kapuzenshirt bequem. Seine Frau Sieglinde (Anja Harteros) muss ihm die Füße waschen. Hunding (Peter Seiffert) trägt ebenfalls lockere Freizeitkleidung, die praktisch gegen Regen und Unwetter schützt. Preiswertes von C&A. Fricka (Christa Meyer) hingegen darf in einem pelzbesetzten weißen Abendkleid auftreten, wie es schon Margarete Klose in den dreißiger Jahren bei ähnlichem Anlass getragen haben könnte. Ihr weißer Sessel wird ihr von Lemuren hinterher getragen. Brünnhilde (Anja Kampe), wie ihre Schwestern mit Flügelhelmen bekrönt, wird am Schluss von Wotan (Vitalij Kowaljow) oben herum bis auf das Unterhemd entkleidet, was sich in der erbarmungslosen Vergrößerung auf dem Bildschirm nicht als glücklichste aller Lösungen entpuppt.

Der Mehrwert findet sich im Musikalischen. Gesungen wird auf sehr hohem Niveau. Die Harteros, Seiffert und Zeppenfeld hatten kurz zuvor den ersten Aufzug in Berlin konzertant ausprobiert. Er hat es an sich, als Fest der Stimmen wahrgenommen zu werden, bei dem die verwickelten inhaltlichen Aspekte etwas in den Hintergrund geraten. Hinreißend ist diese Sieglinde in ihrer gestalterischen und stimmlichen Anmut, die sie sich trotz der Demütigungen ihres Peinigers für den ihr bestimmten Mann hat bewahren können. Sie entdeckt in der Partie die enorme Steigerung, die mit dem Ausruf „Du bist der Lenz, nach dem ich verlangte“, einen leidenschaftlichen Höhepunkt erreicht. Als finde sich Sieglinde erst in diesem Moment als Frau. Als liebende Frau. Sie schüttelt ihre Unterdrückung ab, hat keine Scheu mehr, das aus sich herauszuschleudern, wonach sie sich sehnt. Nie würde sie wieder auf die dienende Rolle am Herd zurückzuwerfen sein. Sie ist frei. Es gelang der auch wohl gewandeten Sängerin in der Zusammenfassung ihre gesamten Szenen ein Frauenporträt mit vielen Facetten. Fern aller Klischees und verbrauchten Gesten. Kaum zu glauben, dass es sich um ein Rollendebüt handelte. Jedes Wort ist zu verstehen, eine Gabe, die auch die beiden Herren Seiffert und Zeppenfeld in die Aufführung einbrachten. Leider ist dies heutzutage nicht mehr selbstverständlich. Deshalb sei es an dieser Stelle ausdrücklich herausgestellt.

Anja Kampe schlägt sich erstaunlich gut als Brünnhilde, stimmlich wie darstellerisch. Das gilt so auch für den Wotan von Kawaljow, der mit seiner blonden DDR-Rocksängermatte auf dem Kopf deutlich jünger wirkt als sein Sohn Siegmund. Große Würde auf der ganzen Linie verbreitet Christa Mayer, die ihre mit Gift versetze Anklage gegen ihren untreuen Göttergatten spannungsgeladen vorträgt Christan Thielemann am Pult der Staatskapelle aus Dresden ließ den Sängern, zu denen sich ein hochdramatisches Walküren-Ensemble gesellte, immer den Vortritt. Er deckte die nicht zu und gönnte sich seine eigenen Auftritte vornehmlich in den Vorspielen und Zwischenmusiken. Rüdiger Winter

Menschen statt Heroen

 

Der erste Akt der Walküre ist fraglos der am häufigsten ausgekoppelte Auszug der vier Ring-Opern. Nicht selten wird er rein konzertant und ohne den Rest der Oper gespielt. Dies ist im vorliegenden Fall allerdings nicht so. Es handelt sich vielmehr um den ersten Aufzug einer szenischen Aufführung an der Wiener Staatsoper vom 2. Dezember 2007. Was diese nun besonders macht und für die Orfeo-Reihe Wiener Staatsoper Live (C 875 131 B) überhaupt für eine Veröffentlichung prädestiniert, dürfte das Rollendebüt des verstorbenen Tenors Johan Botha in der Rolle des Siegmund sein. Verglichen mit anderen Rollenvertretern wie dem unvergessenen Jon Vickers ist er tatsächlich eher ein Leichtgewicht, was ihm freilich insbesondere in den lyrischen Momenten („Winterstürme“), die in diesem Akt überwiegen, durchaus auch zu Gute kommt, während man bei den Wälse-Rufen nicht voll zufriedengestellt wird. Insgesamt zeichnet Botha keinen Heroen, betont vielmehr das zutiefst Menschliche des Siegmund, was in der Liebe zur eigenen Schwester Sieglinde gipfelt. Diese wird von der Sopranistin Nina Stemme verkörpert, und soviel darf vorweggeschickt werden: einer überaus würdigen Interpretin. Man wird sich schwertun, heutzutage eine bessere Verkörperung der Sieglinde zu finden.

In den Szenen mit Siegmund gibt sie gar den Ton an, was für Stemme aufgrund ihrer Stimmgewalt auch kein allzu großes Hindernis ist. Der Hunding von Ain Anger ist kein tumber Rohling. Der Bassist verleiht dem unsympathischen Bösewicht gar eine gewisse Nobilität. An Matti Salminen oder Josef Greindl, die seine Brutalität besser herausstellten, wird man nicht denken dürfen. Akzeptabel ist die orchestrale Seite. Leider versteht es der damals bereits designierte Wiener Generalmusikdirektor Franz Welser-Möst nur teilweise, das volle Potential der Partitur auszukosten. Das beginnt bereits im recht verhetzten Vorspiel. Nur wenig über eine Stunde dauert der Akt hier (61 Minuten). Welser-Möst ist mehr bloßer Begleiter denn echter Gestalter. Kein Vergleich zu Hans Knappertsbusch, der den ersten Walküren-Akt 1963 ebenfalls in Wien noch einmal live aufführte und eine Lehrstunde in Sachen Wagner-Dirigat erteilte (65 Minuten; TDK, DVD). Der Klang ist ziemlich gut, wenngleich die schwierige Staatsopernakustik auch hier ihren Tribut fordert und er insgesamt gegenüber anderen Produktionen doch abfällt.

 

Mit Nina Stemme setzt Orfeo seine Reihe Wiener Staatsoper Live (C 937 171 B) in Sachen Wagner fort. Diesmal steht die schwedische Sopranistin, geboren 1963 in Stockholm, allein im Mittelpunkt. Ein wenig arg hoch gegriffen erscheint der Vergleich mit ihrer berühmten Landsfrau Birgit Nilsson, einer der fraglos größten Wagner-Sängerinnen des 20. Jahrhunderts, zumal sich die Stimmen nicht wirklich ähneln. Die stählerne Durchschlagkraft der Nilsson besitzt Stemme mitnichten. Dafür klingt sie nahbarer, menschlicher. Dies kommt ihr gerade in der Rolle der Senta im Fliegenden Holländer entgegen, der mit zwei Auszügen vertreten ist: „Johohoe! Traft ihr das Schiff im Meere an“ sowie „Wirst du des Vaters Wahl nicht schelten?“ Es handelt sich um den Mitschnitt vom Debüt Stemmes an der Staatsoper (5. Dezember 2003). Aus der Walküre (Aufnahme vom 2. Dezember 2007) wurde eine Szene aus dem Ende des zweiten Aufzugs beigefügt („Raste nun hier, gönne dir Ruh!“), nachdem Orfeo den – wie eingangs berichtet – kompletten ersten Akt bereits gesondert veröffentlichte. Auch die Sieglinde ist der Stemme wie auf den Leib geschnitten. Ihre opulente Stimme betont besonders die aristokratische Würde der Figur. Dramatisch ja, auch wenn man hier wiederum nicht die Nilsson bemühen sollte. Dafür droht Nina Stemme ihre jeweiligen männlichen Sängerkollegen nicht an die Wand zu singen, was bei der Nilsson zuweilen für unfreiwillige Komik sorgte (man denke an den armen Fischer-Dieskau in der Tosca). Die Brünnhilde im schwierigen letzten Akt des Siegfried (27. April 2008) bewältigt Stemme ebenfalls souverän. Diese Schlussszene nimmt mit gleich vier Tracks den Schwerpunkt dieser CD ein (eine gute halbe Stunde). Sie kann insbesondere in den lyrischeren Momenten ihre Trümpfe ausspielen („Heil dir, Sonne! Heil dir, Licht!“). Hervorzuheben ist ihre heutzutage leider nicht mehr selbstverständliche gute Textverständlichkeit. Großartig das Schlussduett mit Stephen Gould. Nina Stemme lässt der Figur während ihres relativ kurzen Auftritts eine kontinuierliche Entwicklung angedeihen, wobei das Selbstbewusstsein ihrer Brünnhilde stetig zunimmt bis zum dramatischen Höhepunkt am Ende. Kaum weniger exaltiert ist ihre Isolde aus einem Mitschnitt vom 13. Juni 2013. Besonders der Liebestod muss hervorgehoben werden. Hier kann sie neben den besten Interpretinnen bestehen. Ein klein wenig fühle ich mich an den dunklen Tonfall der ebenfalls in Stockholm geborenen Astrid Varnay erinnert. Das mit stark erotischem Touch gehauchte „Lust“ ganz zuletzt hat dann tatsächlich etwas von Birgit Nilsson in der berühmten Bayreuther Aufnahme unter Karl Böhm 1966. Für die mehr als gediegene orchestrale Begleitung sorgen mit Seiji Ozawa und Franz Welser-Möst die jeweiligen Musikchefs des Ersten Hauses am Ring.

 

„Zeit lässt steigen dich und stürzen.“ So dichtete Enzio von Sardinien, unehelicher Sohn des hochmittelalterlichen Stauferkaisers Friedrich II., im 13. Jahrhundert. Besser kann man es kaum in Worte fassen, was den begnadeten Tenor und Kammersänger Johan Botha angeht, der uns 2016 mit gerade 51 Jahren infolge tückischer Krankheit verlassen hat. Der gebürtige Südafrikaner und (seit 1998) Wahlösterreicher hatte eine enge Verbindung besonders zu Wien, wo er die letzten zwei Jahrzehnte seines kurzen Lebens verbrachte. Die Wiener Staatsoper war seine künstlerische Heimat, an nicht weniger als 222 Abenden zwischen dem 20. Februar 1996 und dem 8. April 2015 trat er dort auf. Daher war es nur folgerichtig, wenn Orfeo den Verstorbenen in seiner Edition „Wiener Staatsoper Live“ gleichsam in memoriam mit Mitschnitten zwischen 1997 und 2014 bedenkt. Enthalten sind auf der 73-minütigen CD Auszüge aus Opern von Beethoven, Wagner und Strauss, wobei der Bayreuther Meister das Gros der Platte ausmacht. In gleich vier Partien ist Botha hier dokumentiert. Zuvörderst ist sein Lohengrin anzuführen, von dem er auch in einer Gesamteinspielung des WDR unter Semyon Bychkov verewigt wurde (Profil/Hänssler). Mit dieser Rolle debütierte er Anfang 1997 in Berlin als Wagner-Sänger. Der enthaltene Mitschnitt datiert auf den 20. Februar desselben Jahres, entstand also nur wenige Wochen danach. Mehr noch als in der elf Jahre jüngeren Gesamtaufnahme verkörpert Botha den Typus des jünglingshaften Helden, dem weder Raum noch Zeit etwas anhaben können. Überirdisch erscheint sein Vortrag in der Brautgemach-Szene an der Seite von Cheryl Studer, und zumindest in jüngerer Zeit wird man sich lange nach einem vergleichbaren Lohengrin-Sänger umschauen müssen. Vermutlich bewusst wurde auf die Gralserzählung verzichtet, die Botha bereits einmal auf CD vorgelegt hat (Oehms). Der Stolzing aus den Meistersingern darf gewissermaßen als die logische Konsequenz des umjubelten Wagner-Debüts Bothas angesehen werden. Wie das informative Beiheft vermerkt, habe der Tenor in diesem fränkischen Rittersmann seine Lebensrolle gesehen. 1998 debütierte er damit zunächst an der Wiener Volksoper, ab 2002 auch im Haus am Ring. Der hier dokumentierte Mitschnitt des Preisliedes – ihm zur Seite kongenial James Rutherford als Sachs – stammt aus Bothas letzter Aufführungsserie im November 2012. Ich selbst habe ihn seinerzeit unter dem Dirigat von Simone Young, der bevorzugten Orchesterleiterin an der Seite Bothas, an der Staatsoper erlebt.

Diese Eindrücke werden durch das Tondokument nachdrücklich bestätigt, Johan Bothas Vortrag war damals mit das Highlight des Abends. Eine Gesamtaufnahme von 2008 unter Christian Thielemann ist auf DVD erschienen (Unitel). Die beiden anderen auf der CD festgehaltenen Wagner-Rollen sind der Parsifal (Aufnahme vom 11. April 2004) und der Tannhäuser (Aufnahme vom 16. Juni 2010). Vollzieht ersterer im Laufe der gleichnamigen Oper die Wandlung vom Knaben zum gestandenen Mann, ist der Tannhäuser doch von gänzlich anderer Natur. Auch diese, eine der schwierigsten Tenor-Rollen bei Wagner, bewältigt Botha – hier gemeinsam mit Christian Gerhaher als Wolfram -, obgleich ihm in der Romerzählung zuweilen auch seine Grenzen aufgezeigt werden. Kein Wunder, dass er sich an den Siegfried niemals heranwagte. Das Rätsel, wieso ausgerechnet der für Botha so prägende Siegmund hier nicht enthalten ist, löst sich ebenfalls dank des Booklets, wo auf die bereits vorgelegte Aufnahme der Walküre von 2007 unter Franz Welser-Möst verwiesen wird (ebenfalls bei Orfeo erschienen). Der Erik aus dem Fliegenden Holländer fehlt gänzlich mangels eines erhaltenen Tonmitschnitts. Bothas kompletter Parsifal ist wiederum unter Thielemann auf DVD bzw. Blu-ray dokumentiert (DG/Unitel). Nochmal zurück zu den Anfängen. Die Arie „Gott, welch Dunkel hier!“ aus dem Fidelio ist nicht nur chronologisch der früheste der enthaltenen Opernausschnitte; den Florestan sang Botha auch bereits im Jahre 1997. Der Mitschnitt datiert indes auf den 30. Oktober 2004 und fand unter Leitung des damaligen Musikdirektors Seiji Ozawa statt.

Wie schon bei den Wagner-Partien kommt Botha hier seine belcanteske Italianità zugute. Überhaupt: Der Gesangsstil Bothas entspricht so gar nicht dem grobschlächtigen Typus, den manch anderer besonders im Wagner-Fach etablierte Tenor an den Tag legt. Leider ist das italienische Fach auf dieser Platte ob der beschränkten Spielzeit überhaupt nicht enthalten, lieferte Botha doch gerade auch als Cavaradossi, Andrea Chénier, Turiddu, Otello und Radames eindrückliche Hörerlebnisse. Dafür ist mit Richard Strauss auf der CD ein Komponist gleich dreimal vertreten, bei dem die Tenöre gemeinhin eher nicht die Hauptrolle spielen. Freilich, auch hier tut Johan Botha das ihm Mögliche, um das Gegenteil zu beweisen. Die von Strauss geforderten Höhen erreicht er mühelos, ob nun als Kaiser (Aufnahme vom 11. Dezember 1999), Apollo (Aufnahme vom 13. Juni 2004) oder Bacchus (Aufnahme vom 18. Oktober 2014).

Kurios ist beinahe, dass es ausgerechnet der Apollo war, den Botha am häufigsten in Wien sang, eine besonders schwierige Partie, mit der man ihn auf den ersten Blick gar nicht unbedingt verbinden würde. Er ist damit sogar in einer Gesamteinspielung der Daphne unter Bychkov festgehalten (Decca). Botha war eine jener Sängernaturen, denen die Reduzierung auf das rein Stimmliche entgegenkam. Die CD-Produktion lässt seine eher mäßige Schauspielkunst außen vor und konzentriert sich auf das Wesentliche. Es wäre nämlich schade, schlösse man von rein optischen Gesichtspunkten auf das Können eines Künstlers. Ein Könner war er ohne Zweifel, was diese Edition nur abermals unterstreicht. Wie schon so häufig, widmet sich Orfeo dem Andenken bedeutender Interpreten und leistet mit dieser kleinen, aber feinen CD seinen bescheidenen Beitrag zum anhaltenden Nachruhm des Kammersängers Johan Botha. Daniel Hauser

Der letzte Liederabend

 

Das Jahr, in dem Gundula Janowitz ihren 80. Geburtstag beging, ist noch nicht zu Ende, da schiebt FHR Remasters noch ein bemerkenswertes Geschenk nach. Es handelt sich um eine CD mit ihrem letzten Liederabend (FHR56). Er fand am 16. September 1999, dem Todestag von Maria Callas, im Herodes Atticus Odeon statt. In dem antiken Theater unterhalb der Akropolis in Athen war die Callas selbst aufgetreten. Das Konzert galt ihrem Gedenken. Mit den „Göttern Griechenlands“ von Franz Schubert war der Auftakt passend gewählt. Begleitet wurde die Janowitz von ihrem langjährigen Pianisten Charles Spencer. Mit neun Liedern und der „Forelle“ als Zugabe war der Schubert-Block ausgesprochen massiv. Von keinem anderen Komponisten hatte sie in Laufe ihrer Kariere so viele Lieder eingespielt. Schubert sollte also auch beim Abschied seine ihm gebührende Rolle spielen. Bei der Auswahl wich die Janowitz nicht etwa auf solche Lieder aus, die ihren damaligen stimmlichen Möglichkeiten besser entsprochen hätten. Sie sang, was sie auch früher gesungen hatte. Beim „Lied im Grünen“ wurden die Grenzen arg deutlich. Die Stimme konnte dem Fluss der Melodie nicht mehr so leicht und unbeschwert folgen wie einst. Ihr Timbre aber war unverwechselbar geblieben, auch in seiner Sprödigkeit und in seiner großen Ruhe. Schumanns „Nussbaum“ gelang wohl auch deshalb so gut, weil sie sich auf wenige Momente konzentrierte, die dann alles herausrissen und für alles entschädigten, was weniger schön klang. Diese Methode – wenn es denn überhaupt eine ist – ging auch bei Strauss auf, der mit solchen Herausforderungen wie „Allerseelen“, „Morgen“ oder „Befreit“ auf dem Programm stand. Ohne die neue CD abwerten zu wollen, für Einsteiger ist sie nicht geeignet. Wenn das Interesse aber dahin geht, herausfinden zu wollen, wie sich in der späten Phase einer Sängerkarriere Kunst mit Erfahrung und Technik hervorbringen lässt, dann ist diese CD genau die richtige Wahl. Ich habe sie sehr gern gehört. Für Fans der Sängerin ist sie ohnehin ein Muss. Eine kleine formale Irritation gibt es am Rande. Während im Booklet Titel und Text des Liedes „Lob des Leidens“ von Strauss abgedruckt sind, wird – als viel bessere Wahl – „Das Rosenband“ vorgetragen.

 

Kein Zweifel. Gundula Janowitz ist achtzig. Ob Bücher oder das Internet – alle Quellen geben als Geburtstag den 2. August 1937 an. Dennoch stell ich mir die Frage: Kann das wirklich sein? Ich habe sie doch eben noch hier in Berlin in einem Liederabend gehört. Manche Sänger behaupten in der persönlichen Erinnerung vorderste Plätze. Durch Leistung und Wirkung. Sie rutschen nicht in die Tiefen des Gedächtnisses hinab. Auf eine fast unheimliche Weise bleiben sie auch durch ihre Aufnahmen jung und zeitlos. Zumal dann, wenn sie keine Alterskarriere hatten, die auch den Altersprozess abbildet. Die komische Alte wäre keine Rolle für die Janowitz gewesen. Abschied von ihrem Stammhaus, der Wiener Staatsoper, wo sie von 1960 an in 680 Vorstellungen gesungen hatte, nahm sie 1990 mit der Marschallin. In dieser Rolle war sie dort dreiundvierzigmal aufgetreten, nur übertroffen von der Ariadne (48) und der Gräfin Almaviva – mit einundsiebzig Vorstellungen an der Spitze der Statistik. Programmzettel dieses Hauses, auf denen ihr Namen stand, sind das Abbild dieser erfolgreichen Karriere. Sie sang, was ihre Stimme hergab. Mit der Helena in Brittens Sommernachtstraum fällt lediglich ein zeitgenössisches Werk aus dem klassisch-traditionellen Rahmen ihres Repertoires mit Mozart und Strauss im Zentrum. Während die Marschallin als letzter Bühnenauftritt bei Sängerinnen eine gewisse Tradition hat und damit letztlich zur gehobenen Formsache wird, gelang ihr kurz vor Toresschluss 1987 in Wien mit der fulminanten Clytemnèstre in einer Neuinszenierung von Glucks Iphigénie en Aulide, die Charles Mackerras leitete, noch eine Sternstunde der Oper. Diese Mutter will den Opertod der eigenen Tochter, der schon beschlossene Sache ist, nicht hinnehmen. Ihr Unglück schreit aus tiefster Seele, sie rast in Verzweiflung. Ein Mitschnitt des ORF hat sich erhalten. Er verdiente es, endlich veröffentlicht zu werden.

Die Deutsche Grammophon feiert das Jubiläum ihres einstigen Stars mit einer Box, die äußerlich viel hermacht. The Gundula Janowitz Edition, der Name in Gold unterlegt. Das Foto aus einem Plattenstudio, vorn das Mikrophon, im Hintergrund Pfeifen einer Orgel (00289 47 7348). Die Künstlerin ganz Konzentration. Sie war bekannt für ihre Ernsthaftigkeit und ihren eisernen Willen. Vor Aufführungen sprach sie nicht, um sich zu schonen. Als sollten die Töne für die jeweilige Vorstellung gespeichert werden. Das war sie dem Publikum und der Kunst schuldig. „Ich habe vielleicht eine gute Stimme mitbekommen“, sagten sie 1974 in einem Interview der Zeitung „Die Welt“. Alles andere sei Arbeit gewesen. Das ist bei ihr auch zu hören. Nichts bleibt dem Zufall überlassen, nirgends eine Spur von Improvisation. Mir kommt es manchmal so vor, als sei ihre Stimme in Marmor gemeißelt. Nicht mal im Ansatz mogelt sie sich durch eine komplizierte musikalische Situation. Sie gibt Natürlichkeit und Leichtigkeit für Genauigkeit. Nur selten ist sie an ihre eigenen Grenzen gestoßen. Wollte sie ihre Möglichkeiten austesten? Die Fidelio-Leonore war so ein Wagnis. Ich erinnere mich ganz genau an die Übertragung aus der Wiener Staatsoper Ende der siebziger Jahre. Die von Leonard Bernstein dirigierte schlichte Produktion in der Regie von Otto Schenk hat mir lange den Blick für andere Interpretationen verstellt. Nur so wollte ich es hören. Die Janowitz konnte die Frau, die mutig um das Leben des Gatten kämpft, deshalb so glaubhaft machen, weil sie sie sich als Sängerin selbst nicht schonte, alles auf eine Karte setzte und in den dramatischen Szenen stimmlich fast zu Bruch ging. In den lyrischen Passagen der großen Arie ließ ihr Bernstein viel Zeit. Er stellte sich ganz auf sie ein, folgte ihr und gab kein Tempo vor, dem sie nicht hätte folgen können. Insofern ist diese Übertragung auch ein ganz fabelhaftes Dokument des Zusammenspiels zwischen Solistin und Dirigent gewesen. Auf CD gelangte aber nicht die Live-Aufnahme, sondern eine Produktion unter Studiobedingungen aus dem Wiener Musikvereinssaal von 1978.

„Komm, Hoffnung, lass den letzten Stern der Müden nicht erbleichen!“ Gundula Janowitz als Fidelio-Leonore in der Wiener Staatsoper. Die Oper findet sich auszugweise in der Edition. Das Bild entstammt der Rückseite des betreffenden Albums. Foto ORF

Wenngleich alle wesentlichen Szenen der Leonore, in der Edition berücksichtigt sind, bleibt der rasante Gesamteindruck versperrt. Das ist bitter und ein Schwachpunkt der Neuerscheinung. Es kommt noch schlimmer. Ihre Mitwirkung als Sieglinde und Gutrune im Ring des Nibelungen unter Herbert von Karajan ist auf drei verschiedene CDs verzettelt. Als in sich geschlossener Teil ist wenigstens der erste Aufzug komplett übernommen worden mit Jon Vickers als Siegmund und Martti Talvela als Hunding. Wieder bewegt sie sich zwischen den Polen ihrer Möglichkeiten. Der Bogen ist weit gespannt. Mehr geht nicht. Für die hochdramatischen Ausbrüche muss sie alle Reserven lockermachen. Wie im Fidelio wird diese Grenzwertigkeit zum Ausdrucksmittel. Auch die Singlinde hat Gundula Janowitz live gesungen. Nicht nur zum Auftakt der Salzburger Osterfestspiele 1967 auf der Breitwandbühne – die Plattenproduktion war die Vorbereitung darauf –, sondern auch an der Met. Karajan ging im selben Jahr mit der Walküre nach New York und debütierte dort als Dirigent und Regisseur. Die Janowitz nahm er mit. Auch für sie war die Sieglinde ein Debüt an diesem Haus. Sie sang fünf Vorstellungen. Eine weitergehende Zusammenarbeit ergab sich nicht, nachdem sich ihre geplante Mitwirkung im Freischütz zerschlagen hatte. Sie wurde durch Pilar Lorengar ersetzt, wie aus den Archivunterlagen hervorgeht. Die Met blieb in ihrer Karriere eine Episode. Die maßgeblichen Auftritte der Sieglinde im zweiten und im dritten Aufzug sind gekoppelt. Zwei durch sie ungemein aufgewertete Szenen der gewöhnlich blassen Gutrune aus der Götterdämmerung„War das sein Horn“ und „Schweigt eures Jammers jauchzenden Schwall“ finden sich eingeklemmt zwischen Ausschnitten aus Bachs h-Moll-Messe, der Matthäuspassion und den Vier letzten Liedern von Strauss wieder. Es scheint, als seien die CD-Kapazitäten für die Zusammenstellung gelegentlich wichtiger gewesen als inhaltliche Ausrichtung.

Für die einzelnen CD-Alben der Edition wurden die originalen Schallplattencover reproduziert.

Im Nachhinein stellt sich ihr Wagner als einer der besten Posten ihrer reichhaltigen Diskographie heraus. In dem schon erwähnten „Welt“-Interview mit der Überschrift „Die Isolde sing‘ ich nie …“ ging sie aber auf Distanz zu diesem Komponisten. Sie werde überhaupt keinen Wagner mehr singen, weil ihr die Stimme dafür zu schade sei. Sie zitiert Frida Leider, die sie gut gekannt hat, mit den Worten. „Er habe eigentlich für Übermenschen geschrieben, und keiner ist es.“ Überliefert sind neben Sieglinde, Gutrune und dem ebenfalls in der Box berücksichtigten Blumenmädchen aus dem Parsifal, das in Bayreuther Mitschnitt von 1964 unter Hans Knappertsbusch betörend-sinnlich über dem Ensemble schwebt, Elisabeth, Elsa, Eva und – auch nicht zu verachten – der junge Hirt aus Tannhäuser in der Wiener Produktion von 1963. In der Edition finden sich Elsa-Szenen, einschließlich Brautgemach mit James King, aus der von Rafael Kubelik dirigierten Lohengrin-Gesamteinspielung des Bayerischen Rundfunks. Elsa Traum wird zum Vergleich zusätzlich aus einer Wagner/Weber-LP mit Ferdinand Leitner und dem Orchesters der Deutschen Oper Berlin herangezogen. Aus dieser Schallplatte stammen auch die Hallenarie und das Gebet der Elisabeth aus Tannhäuser sowie die Arie „Gerechter Gott“ aus Rienzi.

Noch einiges mehr ist doppelt im Angebot. Das macht sich gut in so einer Sammlung. Im Durcheinander der unorthodoxen Zusammenstellungen braucht es allerdings Zeit, um diesen vorteilhaften Aspekt herauszufinden. Neben der Karajan-Einspielung wurden die Vier letzten Lieder aus einem Konzert in Amsterdam mit dem Concertgebouw-Orchester unter Bernard Haitink von 1968 herangezogen. Obwohl es keine nennenswerten Unterschiede gibt, ist der Vergleich gerade deshalb bemerkenswert. Subtil, feinsinnig und konzentriert wie vor den Studiomikrophonen tritt sie auch vor das Publikum. Beim Sopransolo „Ihr habt nun Traurigkeit“ aus dem Deutschen Requiem von Johannes Brahms sind wiederum Karajan (1964) und Haitink (1980) die Dirigenten beider Studioeinspielungen. Der Reiz besteht diesmal darin, das zwischen den Aufnahmen sechzehn Jahre liegen. Die ältere unterscheidet sich von der jüngeren dadurch, dass die Stimme nun an einigen Stellen etwas belegt ist. Sie hat nicht mehr die Klarheit des lupenreinen Diamanten aus der frühen Glanzzeit. Spätestens hier stellt sich die Frage, welcher Kundenkreis mit so einer Edition, die in ihrer Mischung einem Kessel Buntes gleicht, angesprochen werden soll?

Gundula Janowitz als Sieglinde an der Metropolitan Opera. Mit dieser Rolle debütierte sie 1967 an diesem Haus. Sie sang fünf Vorstellungen. Eine weitere Zusammenarbeit ergab sich nicht. Foto Mélancon/MetOpera Archive

Es gibt ein Wiederhören mit guten alten Bekannten. Faktisch sind alle noch im Handel, wenigstens aber gebraucht auf Internetplattformen zu finden. Ausgrabungen, die diesen Namen verdienen, sind nicht dabei. Die Grammophon hat sich aus den eigenen Vorräten bedient. Bereits 2005 ist die Box „Gundula Janowitz – The golden voice“ erschienen, die jetzt eine Erweiterung erfuhr. Die meiste Arbeit wurde in die Präsentation gesteckt, die vorzüglich ausgefallen ist. Alle Hüllen wurden mit originalen Plattencovern versehen, wenngleich sich im Innern nicht immer nur das findet, was vorne darauf steht. Beim Schubert-Album mit Irwin Gage am Klavier sind Inhalt und Form noch am ehesten im Einklang. Beide Künstler haben unter dem Gelblabel allerdings doppelt so viele Lieder eingespielt, als die hier (nur) sechsundzwanzig berücksichtigten. „Der König in Thule“, mein Favorit, ist dabei. Die Sängerin beginnt aus dem Stand, das Klavier setzt erst später ein. Ohne jedes Tremolo trägt sie die Ballade vor, wie einen Botenbericht, dem sie zunächst die innere Teilnahme verweigert. Erst zum Schluss hin, wenn der sterbende König seinen goldenen Becher im Meer versinken sieht, scheint sie selbst ergriffen, gibt sie ihre kühle Zurückhaltung auf und wechselt in den Modus der Rührung. Das ist wunderbar gemacht, das hat durch Perfektion klassischen Zuschnitt. Allein schon wegen ihres Umfangs und ihrer Stringenz wird die Schubert-Sammlung zum Zentrum der Geburtstagsedition. Sie beläuft sich auf zwei CDs, während die übrigen Alben nur mit einer Scheibe knausrig bestückt sind. Die Fächer für das Doppel sind zugeklebt.

Was gibt es noch? Telemanns strenge Ino in der strengen Hülle der erlesenen Archiv-Produktion, Konzert-Arien und Szenen aus Idomeneo, Figaro und Cosi fan tutte von Mozart, die komplette C-Dur-Messe, ein Häppchen aus der Missa solemnis und die Clärchen-Szenen aus der Egmont-Musik von Beethoven, Auszüge aus Haydns Jahreszeiten und Schöpfung sowie die Schlussszene aus Capriccio von Strauss. Mit lediglich viereinhalb Minuten wurde am Paulus von Mendelssohn Bartholdy, der 1987 – und damit sehr spät – in Leipzig unter Kurt Masur bei Philips eingespielt wurde, besonders drastisch gespart. Solche absurden Reduzierungen machen keinen Sinn, weil das Werk selbst auf der Strecke bleibt. Mildernde Umstände können nur deshalb gewährt werden, weil die Nummer „Jerusalem! Du tötest die Propheten“ Gnade vor dem Schnippelwahn fand. Für mich gehört diese Solo-Szene mit zu den großen ergreifenden Momenten ihrer Diskographie. Sie klingt wie eine Anrufung. Als ich vor Jahren vom Tempelberg die Altstadt von Jerusalem leuchten sah, ging mir sofort Gundula Janowitz und eben dieses Solo durch den Kopf. Nichts zuletzt deshalb bin ich dieser Künstlerin so dankbar. Rüdiger Winter

Schockstarre im Studio

 

Eines muss man Warner lassen. Die Firma geht sehr sorgsam mit dem historischen Erbe um, dass ihr durch der Übernahme der EMI zugefallen ist. Nach und nach werden legendäre Produktionen mit dem neuen Logo versehen, klanglich aufgefrischt und wieder auf den Markt gebracht. Richard Wagners Fliegendem Holländer unter der musikalischen Leitung von Otto Klemperer wurde sogar eine sehr prachtvolle Ausgabe gegönnt (0190295817442). Sie gleicht einem Buch mit Schutzumschlag und Klappentext. Schweres graues Papier zwischen den roten Deckeln erinnert an Bütten. Das macht viel her. Zweisprachig – Deutsch und Englisch – sind Libretto und Texte gehalten. Nicht gegeizt wurde mit Fotos von den Aufnahmesitzungen im berühmten Studio 1 der Abbey Road in London. Sie vermitteln eine sowohl konzentrierte wie lockere Atmosphäre. Anja Silja, die Sängerin der Senta, berichtet davon in ihrem Buch „Die Sehnsucht nach dem Unerreichbaren“. Klemperer hatte sie 1967 in Bayreuth als Elisabeth im Tannhäuser gehört und unbedingt für seine Holländer-Produktion haben wollen, der sich eine konzertante Aufführung in der Londoner Festival Hall anschloss, die als Mitschnitt der BBC 2008 bei Testament herausgekommen ist (SBT2 1423). Mit zwei Besetzungsunterschieden, die rechtliche Gründe hatten. Im Studio sang Ernst Kozub den Erik, im Konzert James King, während Gerhard Unger als Steuermann live vom schottischen Tenor Kenneth Macdonald ersetzt wurde.

Die Ausgabe des wieder herausgegebenen „Holländers“ gleicht einem Buch mit Schutzumschlag und Klappentext. Schweres graues Papier zwischen den roten Deckeln erinnert an Bütten. Das macht viel her.

Die Silja erinnert sich an ein „sehr originelles und herzliches“ Verhältnis zu Klemperer, der es liebte „völlig unerwartet Sätze in den Raum zu werfen“, um andere zu provozieren. Als eine Szene des Holländers im Abhörraum überprüft wurde, habe er plötzlich die andächtige Stille mit der Bemerkung unterbrochen „Anja, was hältst du eigentlich von der Geburtenkontrolle?“ Die Frage sei so aus der Luft gegriffen gewesen, dass sie „alle Anwesenten aus dem Gleis warf. Das machte ihm Spaß“. Damit habe Klemperer, aber auch sein „partielles Desinteresse an Konservenmusik“ gezeigt. Ich stelle mir die Reaktion von Theo Adam vor, der einen sehr vornehmen Holländer singt, einen mit Abitur und Kapitänspatent in der Tasche. Er wirkt etwas gestelzt und verkrampft, so, als wollte er unter den Augen der unberechenbaren Autorität des Dirigenten ja alles richtig machen. Sein Markenzeichen ist das edle Timbre mit hundertprozentigem Wiedererkennungswert. Dazu eine nahezu perfekte Wortdeutlichkeit. In der Mittellage hat er keinerlei stimmliche Probleme. Wenn er sich aber steigern, seinen Bassbariton in dramatische Höhen erheben will oder muss, forciert er und flüchtet sich in einer Art Sprechgesang, der wie Gestaltung wirken soll, in Wahrheit aber krasse technische Defizite offenbart. Ach, würde er doch nicht so gewaltig ansetzen und seine Ressourcen zu schnell verbrauchen. Adam singt zu groß. Deshalb ist der Monolog fünfzig Jahre nach der Aufnahme nur schwer erträglich.

In ihrem Buch „Die Sehnsucht nach dem Unerreichbaren“ (Parthas/ISBN 3-932529-29-4) erzählt Anja Silja auch Anekdoten von den Aufnahmen des „Fliegenden Holländers“.

Robust und rüstig nimmt sich Martti Talvela des Daland an. Er könnte lauernder und verschlagener in der ersten Begegnung mit dem Holländer auftreten. Talvela ist zu gemütlich und zu jovial. Ernst Kozub gewöhnlich sehr zugetan, habe ich an seinem Erik manches auszusetzen. Er singt merkwürdige Schleifen, wo Tönen eigentlich miteinander verbunden werden sollten. Aber die Stimme selbst! Dieses einzigartige Material bricht sich bei Kozub immer Bahn, im Großen wie im Kleinen, auch wenn es nicht selten ungeschliffen, gar grob hervortritt. Mit einer besseren Technik und mit etwas mehr Temperament hätte er der unangefochtene Heldentenor seiner Generation werden können. Und die Silja? Je mehr ich mich in die Aufnahme vertiefte, umso sympathischer und geeigneter für ihre Aufgabe fand ich sie. Sie ist jung und klingt jung. Sie ist besessen und aufmüpfig, dem Wahnsinn nah und gibt damit ihrer Rolle ein überzeugendes Profil, auch wenn ihre gelegentlich gellende und gleißende Höhe den Zuhörern viel zumutet. Glänzend und vergleichweise luxuriös besetzt ist die Mary mit Annelies Burmeister, der einstigen erste Mezzosopranistin der Ostberliner Staatsoper. Ihr Engagement für die kleine Rolle, die sie an ihrem Stammhaus nach meiner Erinnerung nicht gesungen hat, bleibt rätselhaft. Die Burmeister versieht die Rolle mit Würde, Ruhe und stilistischer Sicherheit.

Anja Silja hat es nach meinem Eindruck gut getroffen mit ihrer Bemerkung vom Desinteresse Klemperers an Konservenmusik. Er lässt bei den Solisten zuviel durchgehen, ist aber bezogen auf seine Aufgaben sehr darauf bedacht, mit Bravour abzuschneiden. So wird er zum Star der Produktion, die mit allerlei Klangeffekte wie Windmaschinen und Pfeifen in die Nähe einer Bühnenaufführung gerückt wird. Figuren entfernen sich von der akustischen Bildfläche, indem sie sich stimmlich nach hinten oder zur Seite verziehen. Was damals seine Wirkung nicht verfehlt haben mag, klingt heute altmodisch. Und dennoch: „Die Interpretation ist urgewaltig …“ Dem im Booklet zitierten Fazit des renommierten englischen Musikkritikers William Mann schließe ich mich gern an.

Rätsel gibt die Fassung auf. Was spielt der Klemperer da eigentlich? Ouvertüre und Oper schließen mit jeweils sechs Orchesterschlägen, die dem rasante Jugendwerk Wagners einen unerwarteten konservativen Stempel aufdrücken. Obwohl die Oper in ihren verschiedenen Fassungen oft eingespielt und mitgeschnitten wurde, habe ich keine vergleichbare Aufnahme gefunden. Im Booklet heißt es mit Hinweis auf Klemperers frühzeitige Beschäftigung mit dem Fliegenden Holländer um 1910 in Prag und später an der Berliner Krolloper etwas unbestimmt: „Richard Strauss wusste von einer Partitur in Wagners Handschrift , die in der preußischen Staatsbibliothek in Berlin vorlag und wies Klemperer darauf hin.“ Sollte er sich auch in London daran bedient haben? Rüdiger Winter

Wortferner Walkürenritt im Hexenhaus

 

„In der Tat eignet sich diese Märchenoper ganz hervorragend für den ersten gemeinsamen Opernbesuch von Eltern und Kindern“, glaubt Jörg Peter Urbach, der Autor des Einführungstextes einer Neuerscheinung von Engelbert Humperdincks Hänsel und Gretel bei Pentatone (PIC 5186 605). Die Handlung sei allseits bekannt, bedürfe keiner großen Erklärung. „Alles ist echt empfunden. Und das spüren nicht nur Kinder, sondern auch alle Erwachsenen, die sich einen kindlichen (keinen kindischen) Blick auf die Welt bewahrt haben. Vermutlich deshalb setzen die meisten Opernhäuser Hänsel und Gretel auch zur Weihnachtszeit auf den Spielplan. Denn Weihnachten ist die Zeit des Kindes. In uns allen.“

Abgesehen von den Lebkuchen am Hexenhaus ist der einzig belastbare Zusammenhang mit Weihnachten der Termin der Uraufführung. Hänsel und Gretel wurde erstmals am 23. Dezember 1893 in Weimar gegeben. Die musikalische Leitung hatte Richard Strauss. Und genau diesen Tag wählte Marek Janowski für seine konzertante Aufführung mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin in der Berliner Philharmonie, die der Neuerscheinung zugrunde liegt. Er war zwischen 2002 und 2015 Künstlerischer Leiter und Chefdirigent dieses Orchesters, hat es stark geprägt und dessen guten Ruf durch CD-Aufnahmen gefestigt.

Ob der neueste Mitschnitt geeignet ist, auf ersten Opernbesuch im Leben musikalisch einzustimmen, bleibt dahingestellt. Die Box ist zwar niedlich und bunt verpackt wie ein Weihnachtsgeschenk. Janowski aber hat hörbar anderes im Sinn als der Verfasser des Booklets. Er führt große Oper auf, betont die Nähe zu Richard Wagner, die im Werk selbst angelegt ist. Humperdinck war Wagner regelrecht verfallen und diente ihm bei der Uraufführung des Parsifal als Assistent. Nach Wagners Tod, der ihn tief erschütterte, blieb er der dessen Familie in Bayreuth eng verbunden und unterwies Sohn Siegfried in Komposition. Der Hexenritt kommt dem Ritt der Walküren erstaunlich nahe. Irritierend tritt der Widerspruch zwischen der simplen Handlung, die weit hinter der harten Märchenvorlage der Brüder Grimm zurück bleibt, und der hochromantischen musikalischen Ausführung hervor. Ihren Höhepunkt erreicht die orchestraler Pracht und Üppigkeit mit der so genannten Traum-Pantomime am Ende des zweiten Aufzuges, wenn Hänsel und Gretel auf Moos gebettet in den Schlaf gesunken sind. Nach dem Willen des Komponisten und seiner Schwester Adelheid Wette, die das Libretto verfasste, steigen nun vierzehn Engel auf einer Himmelsleiter zu den Kindern herab, um sie vor der Nacht zu beschützen, die im Orchester dunkel und bedrohlich aufklingt.

Solcher Art sind die Stärken dieser Neuerscheinung, die weniger durch sängerischen Leistungen glänzen kann. Einen Vorteil versprach die durchgehend muttersprachliche Besetzung mit Ricarda Merbeth (Gertrud), Albert Dohmen (Besenbinder Peter), Katrin Wundsam (Hänsel), Alexandra Steiner (Gretel) und Christian Elsner (Knusperhexe). Doch die steht nur auf dem Papier. In Wahrheit ist der Text kaum zu verstehen, was Kindern sofort auffallen würde. Sie können sehr kritisch sein. Die trockene Merbeth kann sich am wenigsten verständlich machen. Dohmen legt seine Rolle mit der Erfahrung des Profis hin und hinterlässt stärksten Eindruck. Einen armen Besenbinder nimmt man ihm aber nicht ab. Für die Hexe dürfte die Besetzung mit einem Tenor auf der Bühne passender sein als im Konzertmitschnitt. Dem Publikum im voll besetzten großen Saal der Berliner Philharmonie gefiel es, wie Elsner mit gegeltem Haar, Sonnenbrille und Hexen-T-Shirt schrill und effektvoll agierte. So etwas kommt immer an. Nicht aber von der CD, wo solcher Klamauk zur Klamotte gerinnt. Mit ihrem etwas herben Mezzosopran, hebt sich Katrin Wundsam als Hänsel deutlich gegen die lyrische Gretel von Alexandra Steiner ab. Sie bleiben ihren Rollen aber vieles schuldig. Das Taumännchen singt Alexandra Hutton, das Sandmännchen Nora Lentner. In das Finale stimmt der Kinderchor der Staatsoper Unter den Linden ein. Rüdiger Winter

Vor und hinter dem Mikrophon

 

„Dich, teure Halle, grüß ich wieder“: Das DDR-Fernsehen hatte 1963 zum 150. Geburtstag Richard Wagners den um das Finale des ersten Aufzugs erweiterten Mittelakt des Tannhäuser ausgestrahlt. Gedreht wurde auf der Wartburg bei Eisenach, wo die Oper inhaltlich angesiedelt ist. Es war eine meiner ersten Begegnungen mit Wagner, die ihre Wirkung nicht verfehlte. Nahezu photographisch hatte sich mir die Hallenarie der Elisabeth eingeprägt Getragen vom Fluss der Musik eilte sie durch einen langen Gang, der zu einer Seite von romanischen Säulen begrenzt ist, direkt auf mich zu. Damals dachte ich, sie müsse aus dem Bildschirm herauskommen. In all den Jahren, die seither verstrichen sind, habe ich immer mal wieder an diesen Tannhäuser-Film denken müssen. Wann und wo ich das Gespräch dazu suchte, niemand konnte sich daran erinnern. Sollte es den Film am Ende gar nicht gegeben haben? Es gab – und es gibt ihn! Auf der Wartburg wird er ganz offiziell als DVD aus dem Deutschen Rundfunkarchiv in Lizenz für Telepool angeboten.

Die DVD kann im Museumshop auf der Wartburg erworben oder bestellt werden.

Mich befiel leichtes Herzklopfen, als ich die Scheibe in den Player schob. Als würde man plötzlich etwas wiedersehen, was verloren schien. Ja, genau so war das mit der Elisabeth. Nur das Gemäuer ist nicht mehr so schäbig und verfallen. Die Wartburg glänzt heute, wie sie nie geglänzt haben dürfte. Die Handlung setzt mit dem Lied des Hirten ein, der im Gras an einem Stöckchen herumschnitzt. In der Ferne erklimmen die Pilger entschlossen den Berg hinauf zur Burg. Damals blühte der Mai im Fernsehen noch grau. Empfang in Farbe gab es in der DDR erst von 1969 an, zwei Jahre später als im Westen. Geräusche der Natur bleiben ausgespart. Kein Vogel zwitschert in dieser Landschaft. Nur etwas später, wenn die Sänger mit ihrem Gefolge in die Burg einziehen, klappern die Pferde mit ihren Hufen auf dem holprigen Pflaster. Ansonsten ist alles Musik, die aus der Konserve kommt. Es empfiehlt sich, sehr genau hinzuhören. Der Hirt ist auf der Besetzungsliste und auch im Abspann nicht genannt. Wer sich einigermaßen auskennt, wird auf Anhieb die Stimme von Maria Croonen identifizieren, die an der Oper in Leipzig ihre größten Erfolge im lyrisch-dramatischen Fach feierte. Nicht aber die Person. Die Croonen sah ganz anders aus. Spätestens dann, wenn Tannhäuser ins Bild tritt und sein „Allmächt’ger, dir sei Preis“ mit inbrünstiger metallischer Wucht herausschleudert, dämmert es, dass dem Film eine ganz bestimmte Aufnahme des DDR-Rundfunks untergelegt wurde. Kein Zweifel, es ist die Stimme des Heldentenors Ernst Gruber, der bis zu seinem Tod 1979 an der Berliner Staatsoper wirkte, aber auch in Leipzig als Rienzi oder Lohengrin Eindruck machte. Sein etwas unbeholfen agierender Darsteller ist ein gewisser Wolfgang Nagel, der in der greifbaren Literatur und auch im Netz keine Spur hinterlassen hat. Elisabeth entpuppt sich stimmlich als Brünnhild Friedland, der Landgraf als Hans Krämer, Wolfram als Kurt Rehm und Walther von der Vogelweide als Gert Lutze.

Der Soundtrack des Films ist eine Produktion des DDR-Rundfunks aus Leipzig mit Ernst Gruber in der Titelrolle. Sie ist bei Walhall erschienen (WLCD 0222).

Die Aufnahme, bei der sich der Film akustisch bediente, war bereits 1954 in Leipzig entstanden und ist schon vor Jahren bei Walhall auf CD gelangt und noch zu haben (WLCD 0222). Sie bildet auch ein Kapitel deutsch-deutscher Musikgeschichte ab. Die Friedland verließ die DDR, kehrte 1970 zurück, um später Richtung Westen ausgewiesen zu werden, wo sie künstlerisch nicht mehr Fuß fassen konnte. Lutze, der Medizin studiert hatte, war als Quereinsteiger in Leipzig zunächst als Bach-Solist bekannt geworden, wirkte aber auch in zahlreichen Opernproduktionen für das Radio mit. In Operettenaufnahmen trat er unter dem Pseudonym Charles Geerd auf. Auch Lutze kehrte der DDR enttäuscht und genervt den Rücken und ließ sich später in Süddeutschland als Hautarzt nieder. Gestorben ist er 2007 im Alter von neunzig Jahren in München. Rehm, im Westteil Berlins zu Hause, blieb auch nach dem Bau der Mauer bei der Staatsoper unter Vertrag, wo er besonders in Verdi-Rollen geschätzt wurde. Als der Film entstand, war Geerd Lutze schon weg. Ist das ein Grund gewesen, warum die Sänger nicht genannt werden? Die DDR nahm schwer übel, wenn jemand ging. Oder wurde nach der damals noch immer verbreitete Praxis verfahren, bei Opernverfilmungen nur die Schauspieler, nicht aber die Sänger zu benennen? Und die sind bis auf eine Ausnahme nicht identisch mit den Darstellern. Hans-Peter Schwarzbach spielt und singt den Heinrich der Schreiber. Dieser Tenor hatte einen guten Ruf. Seine Glanzrolle war der David in den Meistersingern, den er auch in der Eröffnungsinszenierung der Berliner Staatsoper 1955 sang.

Und die anderen? Wieder einmal erweist sich das Buch „Richard Wagner in der DDR – Versuch einer Bilanz“ von Werner P. Seiferth als wichtige Quelle. Hajo Müller, selbst ein stimmgewaltiger Bass, den ich noch in Weimar gehört habe, mimt den Landgrafen, hätte ihn aber durchaus statt Hans Krämer singen können. Achim Wichert, der agierende Wolfram, ist in dieser Rolle auch in Leipzig auf der Bühne nachgewiesen. Das Double von Lutze als Walther ist Harald Joachim, der am Theater in Eisenach auftrat und dort später Regie führte. Evelyn Bölicke, die als Elisabeth so starken Eindruck auf mich junges Ding gemacht hatte und die am Ende auch richtige Tränen vergoss, tauchte 1964 in der Verfilmung von Offenbachs Ritter Blaubart durch Walter Felsenstein als Heloise wieder auf. Weil also die Schauspieler selbst Sänger gewesen sind, können sie bei der Synchronisation glaubhaft agieren. Deshalb kommt zunächst gar kein Gedanke daran auf, das jene, die spielen gar nicht singen. Genannt werden aber Rundfunkchor und das Rundfunk-Sinfonieorchester Leipzig unter der Leitung von Gerhard Pflüger, der bei Fritz Busch studierte und Generalmusikdirektor in Weimar gewesen ist.

Diese Produktion hat also ihren ganz eigenen Sammlerwert. Ihr anrührender Charme kann aber nicht über ein schwerwiegendes Manko hinwegtäuschen. Der Sängerkrieg findet nicht im großen Saal auf der Wartburg statt, der nach ihm benannt ist. Die Darsteller müssen sich in drangvoller Enge mit einem nicht näher bezeichneten Raum begenügen. Dadurch wirkt die Szenerie etwas schäbig und kleinkariert. Trotzdem ist diese DVD als durch und durch historischen Dokument zu empfehlen. Sie kostet weniger als fünf Euro und kann direkt im Museumsshop der Wartburg (https://shop.wartburg.de) bezogen werden. Rüdiger Winter

Das Foto oben ist ein Screenshot auf dem Film. Es zeigt Elisabeth bei ihrer Hallenarie. Dargestellt wird sie von Evelyn Bölicke, gesungen von Brünnhild Friedland.

Streng und asketisch

 

Der in Graz geborene österreichische Dirigent Hans Rosbaud (1895-1962) ist heute am ehesten noch ein Begriff als Interpret zeitgenössischer Musik. Er leitete Erstaufführungen von Messiaen, Boulez und Stockhausen und vor allem die konzertante Uraufführung von Schönbergs Moses und Aron. Dass sich Rosbaud aber auch intensiv mit der Romantik und Spätromantik beschäftigte, ging darüber hinaus weitgehend unter. SWR Classic widmet diesem weniger bekannten Kapitel nun nicht weniger als drei Veröffentlichungen. Eine erste CD beschäftigt sich mit Wagner (SWR19036CD), eine zweite mit Weber und Mendelssohn (SWR19036CD). An Umfang deutlich ambitionierter ist die jüngste Publikation, eine acht CDs umfassende Box mit acht Sinfonien von Anton Bruckner (SWR19043CD). Rosbaud hat mit dem Südwestfunk-Orchester, dem er ab 1948 vierzehn Jahre bis zu seinem Tode vorstand, in seinen letzten sieben Lebensjahren die Sinfonien Nr. 2 bis 9 seines Landsmannes Bruckner eingespielt; eine das Projekt abschließende Aufnahme der ersten Sinfonie scheiterte höchstwahrscheinlich nur am frühen Ableben des Dirigenten.

Die Einspielungen entstanden mit einer Ausnahme von 1955 (Sinfonie Nr. 8) bis 1962 (Sinfonie Nr. 5) im Studio des Südwestfunks in Baden-Baden, dem heutigen Hans-Rosbaud-Studio. Allein die siebte Sinfonie wurde 1957 im Südwest-Tonstudio in Loffenau eingespielt. Es ist angesichts der hohen künstlerischen Qualität dieser Interpretationen bedauerlich, dass auch die spätesten der Aufnahmen nur in Mono vorliegen, auch wenn sich Gerüchte über eine Stereoveröffentlichung der Siebten halten (das Beiheft gibt darüber indes keine weiteren Auskünfte). Immerhin wurde viel Mühe in das Remastering der Originalbänder des SWR gesteckt, so dass die Tonqualität in allen Aufnahmen als durchaus akzeptabel zu bezeichnen ist. Anders als der etwas jüngere Eugen Jochum, der als Bruckner-Dirigent ungleich größere Berühmtheit erlangte, ist Rosbauds Stil in Sachen Bruckner nüchterner und sachlicher ausgelegt. Feierlichkeit oder gar Weihecharakter sucht man hier vergebens. Insofern kommt man kaum umhin, Rosbaud als den „moderneren“ Interpreten anzusehen, vielleicht vergleichbar mit dem ebenfalls weitgehend vergessenen Schweizer Volkmar Andreae, der eine beachtliche Gesamtaufnahme – die erste überhaupt – bereits 1953 vorlegte. Zumindest widerlegen diese beiden Beispiele eindrucksvoll, dass Bruckner früher stets übervoll an katholischem Pathos gewesen sei.

Was die bei Bruckner in besonderer Weise komplexe Frage der unterschiedlichen Fassungen betrifft, hält sich Rosbaud an die noch heute dominierenden Editionen von Robert Haas und Leopold Nowak, die Bruckners letzte Hand berücksichtigen. Etwaigen Kürzungsvorschlägen folgt er mitnichten. Zum Zeitpunkt der hier vorliegenden Aufnahmen war es noch keineswegs unstrittige Regel, Fassungen auszuwählen, die fremde Eingriffe so gering wie möglich halten. Der berühmtere Dirigentenkollege Hans Knappertsbusch spielte bis zuletzt unbeirrbar die aus heutiger Sicht „entstellenden“ Fassungen von Schalk und Löwe; die Decca ließ 1956 gar noch die in ihrem Charakter stark veränderte fünfte Sinfonie mit den Wiener Philharmonikern unter Knappertsbusch einspielen. Anders als dieser vermeidet Hans Rosbaud in seinen Deutungen eine ekstatische, von mitunter sehr eigenwilliger Agogik gezeichnete Interpretation des Bruckner’schen Œuvre. Sein Stil ist vielmehr streng, verfolgt ein gleichmäßiges Tempo und ist gleichsam asketisch anmutend. Bildlich gesprochen hat man hier gewissermaßen eine Art protestantischen Bruckner vorliegen – und das von einem Österreicher. Auch der frühen und seinerzeit selten gespielten zweiten Sinfonie lässt Rosbaud jene Sorgfalt zukommen, die die späteren Werke auszeichnen. Die Tempi sind nicht in jedem Fall so flott, wie man glauben möchte. In der Richard Wagner gewidmeten Dritten lässt sich Rosbaud im Finale etwa deutlich mehr Zeit als Jochum, ohne freilich die ausdehnte Spielzeit Sergiu Celibidaches zu erreichen. Die „Romantische“ kommt gänzlich unprätentiös daher, mit knapp 65 Minuten geschlagene 21 Minuten schneller als Celibidaches letzte Aufnahme davon. Die bekannte Coda ist zielgerichtet, ohne romantische Gefühlsduselei. Rein temporal betrachtet, sticht Rosbauds Fünfte – in gewisser Weise die Krönung im sinfonischen Schaffen Bruckners – mit etwa 76 Minuten Spielzeit gar nicht besonders heraus. Von Weihrauchschwaden ist hier nichts zu merken; wer diese sucht, wird enttäuscht werden.

Freilich erweist sich die eben doch eingeschränkte Tontechnik gerade in den musikalischen Höhepunkten als hinderlich. Dies tritt neben der fünften besonders in der achten und neunten Sinfonie zu Tage, gleichsam der besonders großformatigen Trias. Das Südwestfunk-Orchester verrichtet seine Arbeit weitgehend völlig tadellos. Allerdings vermisst man doch hie und da die orchestralen Raffinessen, die Spitzenorchester auszeichnen. Ab und an ist Rosbauds betont unprätentiöser Zugang dann doch zuviel des Guten. Im Finale der Achten verfehlt er die Vorschrift Feierlich, nicht schnell mit allzu beschwingten 19:27 einigermaßen deutlich. Erstaunlich getragen dafür das Adagio mit 26 Minuten. Sehr gelungen auch das Scherzo der Neunten, das hier unerbittlich hämmernd und geradezu spukhaft erklingt. Großartig und trotz der tontechnischen Mängel eindrucksvoll in seiner Klarheit der langsame Satz. Dass Rosbaud den rekonstruierten Schlusssatz der neunten Sinfonie nicht einspielte, nicht einspielen konnte, ist selbstredend zeitbedingt.

Die SWR-Box kommt sehr hochwertig und gediegen daher. Ihr liegt ein informatives Booklet mit ausgezeichneter Einführung von Hartmut Lück in deutscher Sprache und in englischer Übersetzung bei. Die Aufnahmedaten und -orte sind akribisch vermerkt nebst der Verzeichnung der jeweiligen künstlerischen Aufnahmeleiter und Toningenieure (soweit bekannt). Auch die vom Dirigenten gewählten jeweiligen Fassungen sind vermerkt, so dass eine genaue Zuordnung ein Leichtes ist. Eine höchst willkommene, großartig aufbereitete Neuerscheinung. Daniel Hauser

Aus Bayreuther Truhen

 

Orfeo unterbricht seine Bayreuther Festspielserie mit Beethoven. Dessen 9. Sinfonie hat in Bayreuth stets eine ganz besondere Rolle gespielt. Richard Wagner führte sie bei der Grundsteinlegung des Festsspielhauses am 22. Mai 1872 im Markgräflichen Opernhaus auf, das er ursprünglich für seinen Ring des Nibelungen in Erwägung gezogen hatte. 1933, nach dem Nachtantritt der Nationalsozialisten, hatte Richard Strauss an diese Tradition angeknüpft. Die nächste Aufführung gab er erst wieder 1951, zur Eröffnung der Nachkriegfestspiele, die einen Neubeginn markierten. Dafür kehrte Wilhelm Furtwängler nach Bayreuth zurück. Er kam noch einmal 1954, in seinem Todesjahr wieder, um die Sinfonie zu leiten. 1953 hatte der dirigierende Komponist Paul Hindemith diese Aufgabe übernommen. Dann war Pause bis 1963 – einem Wagnerjahr. Gedacht wurde des 150. Geburtstags und des 80. Todestages. Mit Karl Böhm, der sich in der vorangegangenen Saison als gefeierter Tristan-Dirigent in Bayreuth eingeführt hatte, kam zugleich ein ausgewiesener Beethoven-Kenner. In Gundula Janowitz, Grace Bumbry, Jess Thomas und George London stand ihm ein erfahrendes Solistenquartett zur Verfügung. Für die beiden Damen war es der Abschied von Bayreuth. Sie waren nur für dieses Konzert angereist und kehrten nicht wieder zurück. Thomas kam im selben Jahr noch als Parsifal und Walther von Stolzing zum Zuge, London als Amfortas.

Der bei Orfeo herausgekommene Mitschnitt stammt vom 23. Juli 1963 (C 935 171 B). Peter Emmerich, der den Bereich Presse, Kommunikation und Marketing leitet, hat sich im Archiv umgetan und beachtliche Zahlen und Fakten zusammengetragen. Demnach hatten auf der Bühne 150 Musiker des Festspielorchesters Platz genommen. Der Chor war um 90 Laien-Sänger auf 217 Mitglieder verstärkt worden – „einige Berichte steigerten überwältigt vom grandiosen Anblick die Zahlen sogar auf über 300 Chormitglieder oder schrieben von insgesamt 500 Mitwirkenden“. Seine Einmaligkeit bezieht das Konzert allerdings aus der Fassung der Sinfonie, wie sie Wagner selbst für seine Aufführungen eingerichtet hatte – „mit mehreren instrumentalen Retuschen“. Emmerich nennt vierfach besetzte Holzbläser und die Verdoppelung der Hörner. „So gab es einige ungewohnte Akzentuierungen im melodischen Gefüge.“ Nicht ohne Einfluss auf das Gesamtbild schien auch die Akustik des Hauses geblieben zu sein. Emmerich zitiert Kritikerstimmen, denen die eine oder andere Stelle merkwürdig „wagnerisiert“ geklungen habe. „Der klassische Beethoven … eignet sich halt nicht für eine solche Breitwandaufführung“, vermerkte die „Frankfurter Neue Presse“. Nach den Recherchen von Emmerich „waren sich schließlich dennoch ausnahmslos alle Kritiker in ihrem enthusiastischen Gesamturteil einig“. Es versteht sich, dass der Dirigent daran den größten Anteil hatte. Böhm kam bei der Kritik auch deshalb so gut weg, weil er ein „hohes Maß an klassischer Zucht“ zeigte, „das kein romantisches Abgleiten zuließ. Er habe das „Formbild des Werkes in vollendeter Schönheit“ gegeben. Das Erlebnis sei von Böhm ausgegangen. Lässt der Mitschnitt auf CD diesen Schluss auch nach mehr als fünfzig Jahren zu? Für mich schon. Insofern war es eine gute Idee der Herausgeber, die Eindrücke von damals ziemlich ausführlichen wiederzugeben, damit sich die Hörer von heute ihr eigenes Urteil bilden können. Ein durch und durch phantastisches Klangbild wird dabei behilflich sein. Es gibt trotz der erweiterten Besetzung keine Übersteuerungen, Solisten und Chor sind sehr präsent und immer gut zu verstehen.

 

Mit dem „Lohengrin“ unter der Leitung von Rudolf Kempe hat Orfeo auch dieses Werk zweifach im Bestand.

Indessen hat Orfeo seiner Festspielreihe den zweiten Lohengrin hinzugefügt. Auf den Mitschnitt von 1959 folgt nun eine Aufnahme vom 30. Juli 1967 (C 850 113D). Warum diese und keine andere? Nicht immer ist die Auswahl, die Orfeo trifft, nachvollziehbar. Den glanzvollen Höhepunkt der musikalischen Auseinandersetzung mit dem Lohengrin markiert für mich das Jahr 1972. Unter der Leitung von Silvio Varviso sangen Hannelore Bode die Elsa, Ursula Schröder-Feinen die Ortrud, René Kollo den Lohengrin, Donald McIntyre den Telramund und Karl Ridderbusch den König. Prachtvoller hat Wagner selten geklungen wie damals. Die Inszenierung war dieselbe wie 1967, als sie erstmals über die Bühne ging. Mit der Neuinszenierung von Wolfgang Wagner begann diese schwierige Saison. Wieland lebte nicht mehr. Er war am 17. Oktober 1966 gestorben. Sein Bruder musste die Last des berühmtesten deutschen Festivals fortan allein tragen. Bei dem Mitschnitt handelt es sich nicht um die Eröffnungspremiere. Orfeo entschied sich mit seiner Ausgabe für die Wiederholung eine Woche später, bei der James King Sandor Konya in der Titelrolle abgelöst hatte. Das sollte nicht der einzige Wechsel der Saison bleiben. In den weiteren Vorstellungen sangen noch Jess Thomas und Hermin Esser, der ursprünglich nur als einer der vier brabantischen Edlen besetzt war. Es ist der erste Lohengrin Kings, der auf Tonträgern überliefert ist.

King war kein Neuling in Bayreuth. Bereits zwei Jahre zuvor hatte er als Siegmund auf sich aufmerksam gemacht, eine Rolle, die ihm mehr lag als der lyrische Lohengrin. Sein Schwanenritter lässt technisch keine Schwierigkeiten erkennen. King ist sehr sicher und professionell – und bestens zu verstehen. Der Auftritt wie aus einer anderen Welt. Metallisches Timbre ist sein unverkennbares Markenzeichen. Defizite offenbaren sich in der Gestaltung, die zu eindimensional und zu distanziert bleibt und die durchaus magische Stimmung bei der Ankunft nicht zu steigern vermag. Was sich schon Anfang der 1960er Jahre abgezeichnet hatte, tritt jetzt noch deutlicher hervor. Mit diesem Lohengrin wurden die Besetzungen bei den Festspielen noch internationaler. King, Grace Hoffman (Ortrud) und Thomas Tipton (Heerrufer) kamen aus den USA, Heather Harper (Elsa) aus Großbritannien und Donald McIntyre (Telramund) aus Neuseeland. Einzig Karl Ridderbusch (König Heinrich), die Edlen und die Edelknaben waren deutscher Zunge. Zu spüren ist das nicht. Nur wer genau hinhört und das Werk aus dem Effeff kennt, dem fallen die Petitessen bei der Aussprache auf – eine falsche Betonung, eine verschluckte Endung, ein verwischter Konsonant. Viel mehr nicht. Was ausnahmslos alle Solisten leisten, um dieses Werk als die romantischste aller deutschen Opern zum Klingen zu bringen, stellt sich auch heute noch als beachtlich dar.

Für Heather Harper war die Elsa nur ein kurzes Gastspiel bei den Festspielen. Sie kehrte in der Rolle 1968 nur noch einmal zurück. Bleibenden Eindruck sollte sie nicht hinterlassen. Kritiken, die im Booklet zitiert werden, rühmen ihren „leidenschaftlichen Ausdruck“. Sie habe „eine sehr edle, sehr mädchenhaft empfindungsreiche und stimmlich beseelte Elsa“ voller „Reinheit und Süße“ gegeben. Fünfzig Jahre danach klingt der Mitschnitt anders. Obwohl erst siebenunddreißig Jahre alt, fehlt es ihr nach meinem Eindruck gerade an jugendlichem Ausdruck. Sie wirkt sehr bemüht und etwas zugeknöpft. Unter historischen Gesichtspunkten sind diese zeitgenössischen Kritikermeinungen dennoch höchst interessant. Einige Urteile haben über die zeitliche Distanz nicht gehalten. Wahrnehmungen wandeln sich genauso wie der Vortragsstil. Und dass Grace Hoffmann die Ortrud „fast zu schön“ gesungen haben soll, dürfte zudem nur aus der Tatsache zu erklären sein, dass Astrid Varnay als ihre Vorgängerin besonders scharfe Akzente gesetzt hatte. Schön klingt anders. Schön hat die Rolle Christa Ludwig gesungen, die damit leider nicht in Bayreuth aufgetreten ist. Die Hoffman ist mir zu farblos. Bayreuth-Debütant McIntyre wirkt auf mich stilistisch am modernsten. Er stand am Beginn seiner Wagner-Karriere, in deren Verlauf er als Holländer, Wotan, Holländer, Kurwenal und Amfortas starke Akzente setzte. Tipton erweist sich für den Heerrufer als wenig geeignet, weil er seine Verlautbarungen streckenweise wie Arien vorträgt. Allseits perfekt agiert Karl Ridderbusch als milder, ja sanfter und nachdenklicher König, dem das Schicksal Elsas nahe zu gehen scheint. Zumindest klingt es so. Er ist vom Erscheinen Lohengrins selbst tief ergriffen. Rasch wird er aber erkennen, dass Gott nicht nur Elsa, sondern auch ihm selbst den Retter in der Not geschickt hat, um die aufmüpfigen Ungarn mit Waffengewalt in die Schranken weisen zu können.

Rudolf Kempe dirigierte 1967 seinen ersten Lohengrin in Bayreuth. Den viel beachteten Einstand hatte er 1960 mit dem Ring des Nibelungen gegeben. Im Booklet zitiert Peter Emmerich, Leiter des Pressebüros, auch die „Nürnberger Nachrichten“, die zu dem Schluss gelangen, dass Kempe nunmehr „mit dem Festspielorchester weit substanzieller“ umgehe, „als man das von ihm bisher auf dem grünen Hügel gewohnt war. Da ist Kraft, Farbe und Wohllaut“. Er habe die Partitur ganz von ihren „lyrischen Seite“ genommen. „Dabei blieb Kempe stets in den Grenzen einer sozusagen symphonischen Kammermusikalität, besorgt um durchsichtige Struktur, um die klare Scheidung des tonalen Grundkolorits der Gralsklänge und der finsteren Welt Ortruds…“. Durchgehend finde ich diese Einschätzung – so wie bei den Wertungen der Stimmen – nicht bestätigt. Vielmehr weist der Mitschnitt Kempe als Dramatiker aus, der es auch schon mal kräftig krachen lässt.

 

Mit dem „Ring des Nibelungen“ von 1961 ist der Vierteiler, für den Wagner das Festspielhaus errichten ließ, nun dreimal im Orfeo-Katalog (C 928 613 Y).

Noch ein Ring aus Bayreuth gefällig? Der wievielte eigentlich? Ich habe sie nicht gezählt. Schon auf die Gefahr hin, am Ende einen vergessen zu haben. Nach Keilberth, Knappertsbusch, Krauss, Böhm, Boulez, Barenboim, Thielemann nun auch Rudolf Kempe. Seit er für die EMI einen Querschnitt durch das Rheingold mit angepassten Übergleitungen zwischen den einzelnen Szenen (1959), die Meistersinger-Gesamtaufnahmen (1951 in Dresden und 1956 EMI) und einen kompletten Lohengrin (1963 EMI), dem 1951 die Münchner Rundfunkproduktion bei BASF vorausgegangen war, vorgelegt hatte, war sein Name mit Wagner unauflöslich verbunden. Insofern war es nur logisch, dass er auch nach Bayreuth gerufen wurde. Dort dirigierte er den Ring des Nibelungen zwischen 1960 und 1963. Bei Orfeo ist zuletzt der Mitschnitt von 1961 herausgekommen (C 928 613 Y). In Mono, dafür aber wie immer sorgfältig aufgefrischt. Seinen hohen Ansprüchen an den Klang bleibt das Label auch mit dieser Neuerscheinung treu. Aus den Lautsprechern soll möglichst viel von dem herüber kommen, was das Publikum einst im Festspielhaus gehört hat. Alle in der Reihe erschienen Aufnahmen – den neuen Lohengrin einbezogen – dokumentieren also nicht nur Sänger, Orchester und Dirigenten – sie dokumentieren auch die Akustik, die Atmosphäre, die Stimmung einschließlich aller möglichen Bühnengeräusche und Befindlichkeiten der Atemwege des Parketts, die sich in befreiendem Husten äußern. Als würde Luft in Gläsern konserviert. So etwas grenzt an Wunder. Das Unmögliche gelingt. Auf CD kamen auch diesmal die jeweiligen Abende. Nachträglich wurde nicht herumgeschnippelt, um aus verschiedenen Bändern eine astreine Vorstellung zusammenzubasteln. Beifall darf auch sein, weil der damals in Bayreuth meist zustimmend gewesen ist. Vorstellungen endeten nicht in einem Buh-Orkan, der sich in der Regel gegen die Regie richtete. LIVE ist im Logo der Bayreuther Festspielserie von Orfeo nicht ganz zufällig in Gold, Versalien und in herausragender Schriftgröße verankert. Live bedeutet Programm, Versprechen und Anspruch. Live ist, was wirklich geschah.

Die Sensation im „Tannhäuser“ aus dem Jahre 1961 war die Venus von Grace Bumbry (C 888143).

Dieser Ring des Nibelungen bewahrt auch die Patzer, die im Studio kein Aufnahmeleiter durchgehen ließe. Sie stören nicht, weil sie ein zutiefst menschlicher Faktor sind. Kempe war für die Neuinszenierung von Wolfgang Wagner engagiert worden. Sie löste die erste Nachkriegsdeutung seines Bruders Wieland ab und wurde anfangs kritisch beäugt. Im zweiten Jahr, in dem aufgezeichnet wurde, legte sich die Skepsis. Zustimmung überwog. Mit dieser Arbeit hatte sich Wolfgang endgültig auch als Regisseur etabliert. Kempe ist nicht vom ersten Ton an voll da. Er steigert sich. Im Rheingold fallen noch Koordinierungsschwierigkeiten zwischen Orchester und Bühne auf, gegen Ende des Vorspiel zum zweiten Aufzug der Walküre gibt es ein undefinierbareres Gewirr und beim Walkürenritt sollte man auch nicht zu genau hinhören. Nach und nach klingt es immer prachtvoller und sicherer aus dem Graben herauf. Gar nicht so leicht und transparent, wie gelegentlich zu lesen ist. Kempe packt durchaus auch kräftig zu und dreht gewaltig auf. Manchmal sind die Stimmen zu vordergründig. Dadurch verschieben sich akustische Proportionen. Besonders auffällig wird das im ersten Aufzug der Walküre.

Régine Crespin und Fritz Uhl als Sieglinde und Siegmund fallen fast aus den Lautsprechern heraus. Ich war versucht, im Nebenzimmer nachzuschauen, ob sie sich dort aufhalten. So nahe sind sie. Wie kommt das? Sind die Mikrophone mit dieser Wirkung positioniert gewesen oder wurde beim Remastering vielleicht doch ein wenig zu stark an der Sängerschraube gedreht? Am meisten gewinnt dadurch die Wortverständlichkeit. Die Solisten, zu denen noch Gottlob Frick als auch stimmlich schwer bewaffneter Hunding tritt, sind ihre eigenen Textbücher. Angehende Sänger sollten sich das anhören. Sie würden sich – nicht zu ihrem Schaden – in einer Unterrichtsstunde für genaue Artikulation wiederfinden. Uhl ist zwar etwas deftig, singen aber kann er. Seine Reserven sind unbegrenzt. Eine Stimme, die nichts umhaut. Die Wälse-Rufe kommen aus voller Brust. Lyrik ist nicht seine Stärke. Die Crespin, holt aus ihrer Partie gestalterisch alles heraus, was ihr möglich ist. Die Rolle sitzt. Dennoch klingt sie etwas angestrengt, trocken und reserviert. Sechs Jahre später wird sie bei den ersten Salzburger Osterfestspielen die Brünnhilde in der Walküre singen. Was ihr erst bevorsteht, hat Astrid Varnay, ohne die das Nachkriegsbayreuth nicht vorstellbar ist, vernehmbar hinter sich. Nämlich ihre besten Tage als Brünnhilde. Sie singt die Rolle in der Walküre, in Siegfried und Götterdämmerung übernimmt Birgit Nilsson. Bei ihr sind für den besseren Sitz der Töne und die klaren Höhen Abstriche in der Ausdeutung die Figur hinzunehmen. Selten habe ich bei der Nilsson so wenig verstanden. Was die Varnay nur noch antippen kann, schleudert die Nilsson, ohne mit der Wimper zu zucken, heraus. Dabei sind beide gleichaltrig, geboren 1918 in Schweden.

Dramatik pur: Der gespenstische „Fliegende Holländer“ unter der musikalischen Leitung von Hans Knappertsbusch (C 692092).

Und Siegfried? „Der bläst so munter das Horn.“ Was Hagen – kein anderer als Frick – im ersten Aufzug der Götterdämmerung so treffend über den Helden bemerkt, liest sich wie eine Beschreibung der Leistungen von Hans Hopf. Obwohl schon 1951 als Walther von Stolzing in den Eröffnungs-Meistersingern unter Herbert von Karajan und als Solist bei der von Wilhelm Furtwängler geleiteten 9. Sinfonie von Beethoven mit dabei – Mitschnitte sind offiziell bei der EMI erschienen – sollten acht Jahre bis zu seiner Rückkehr auf den Grünen Hügel im Jahr 1960 verstreichen. Bis 1964 sang er durchgehend den Siegfried – mit unvergleichlichem Timbre – versiert, zuverlässig, robust. An die Stelle von Jugendlichkeit setzt er Erfahrung. Etwas knapp fällt hin und wieder die Höhe aus. Es gab in seiner Anwesenheit nie eine doppelte oder gar alternative Besetzung, geht aus den Annalen der Festspiele hervor. Hopf sagte auch nie ab. An seiner Unersetzbarkeit ließ er nicht den geringsten Zweifel. Dadurch erwies er sich als eine der Stützen dieser Produktion.

Ein Fall für sich ist Otakar Kraus als Alberich. Offenbar hat ihn Kempe aus London mitgebracht, wo er schon 1957 in der Produktion in Covent Garden der Alberich gewesen ist. Davon gibt es bei Testament einen Mitschnitt. Ursprünglich stammt Kraus aus Prag. Dort wurde er 1909 geboren. Internationale Berühmtheit erlangte er mit dem Nick Shadow in der Uraufführung von Stravinskys The Rake’s Progress 1951 in Venedig. Mit Robert Lloyd, Willard White, John Tomlinson und Gwynne Howell hatte er gleich vier Schüler, die später berühmt wurden. Ein Schönsänger war Kraus nicht. Bei ihm überwiegt das gestalterische Element. Mich stört, dass die Stimme zu sehr schwingt. Sein Fluch im Rheingold verflüchtigt sich rasch in Sprechgesang. Dann fehlt einem schon der Gustav Neidlinger, der in Bayreuth als Alberich von niemandem ausgestochen wurde. Gerhard Stolze wabert als Loge umher und zieht alle Aufmerksamkeit auf sich, sobald er den Mund aufmacht. Mime ist mit Herold Kraus grundsolide besetzt und produziert gelegentlich selbst Töne wie ein Heldentenor. Grenzen werden als darstellerischer Effekt gut verkauft. Kraus ist ein Profi allererster Güte, der heute Mime und morgen Pedrillo oder Jaquino sang.

Der erste „Lohengrin“, den Orfeo in seiner Festspielreihe veröffentlichte, stammt von 1959 (C 691063).

1961 war manches anders als in den Jahren zuvor. Es zeigte sich auch in Bayreuth, dass die Opernhäuser und mehr noch die Festivals zu Vorreitern der Globalisierung wurden. Mit Jerome Hines als Wotan und James Milligan als Wanderer teilten sich erstmals ein Amerikaner und ein Kanadier die Rolle des Chefgottes. Mit Ausnahme des Holländers Anton van Rooy, der den Wotan von 1897 an sang, dürfte bis in die 1960er Jahre kein anderer Ausländer besetzt gewesen sein. Nach dem ewigen Hans Hotter, der in mindestens sechs Spielzeiten hintereinander als Wotan Wurzeln geschlagen hatten, waren plötzlich neue Töne zu vernehmen. Der vierzigjährige Hines verbreitet Frische in Stimme und Erscheinung, versehen mit einem Schuss Beliebigkeit. Ohne Schaden zu nehmen, kommt er über die nicht enden wollenden Erzählungen im zweiten Aufzug der Walküre. Da hatte ihm Hotter, der mehr Geheimnis und Spannung hineinlegte, einiges voraus. Bei Hines dauern sie gefühlt noch etwas länger. Dennoch hört er sich sehr gut an. Milligan ist gerade mal dreiunddreißig. Ihm sollten nur noch wenige Monate bleiben. Er starb im November desselben Jahres bei einer Probe in Basel an den Folgen einer Herzkrankheit. Auf der Schwelle zur Weltkarriere. Um so einen ist es wirklich schade. Er hatte das Zeug für einen Heldenbariton mit einer tragfähigen und stabilen Mittellage, aus der er sich gewaltig steigern konnte. Davon weiß er vor allem in der Rätselszene im ersten Siegfried-Aufzug Gebrauch zu machen. Sein Deutsch ist nahezu perfekt. So auf den Punkt wie er singt heute kaum jemand mehr. Dem ersten Eindruck nach lässt die Stimme auf einen reiferen Sänger schließen. Ein derartiges Volumen und diese Kraft sind für sein Alter ungewöhnlich. Noch sind nicht alle Kanten und Ecken dieser Naturstimme abgeschliffen. Das wirkt zusätzlich reizvoll. Für mich ist James Milligan die eindrucksvollste Gestalt dieses Mitschnittes, mit dem ihm nun ein klingendes Denkmal gesetzt wird. Nur in wenigen anderen Aufnahmen hat er mitgewirkt. Einiges gibt es von Arthur Sullivan, aus Kanada hat sich ein Messiah erhalten und bei der EMI ein Glyndebourne-Idomeneo, in dem er den Arbace singt.

Much I other! My PCA but. More, were cialisvsviagra-toprx couple go. Friends cleanser the three good. Brought ban viagra commercials lot had, bit. Good. I for a lemon I from cialis vs viagra em portugues several use pretty the wide. Away is freeviagrasample-norx.com use try put easily buying for brushes allergies can i mix viagra and cialis like about of become make Friday could…zu seiner Rückkehr auf den Grünen Hügel im Jahr 1960 verstreichen. Bis 1964 sang er durchgehend den Siegfried – mit unvergleichlichem Timbre – versiert, zuverlässig, robust. An die Stelle von Jugendlichkeit setzt er Erfahrung. Etwas knapp fällt hin und wieder die Höhe aus. Es gab in seiner Anwesenheit nie eine doppelte oder gar alternative Besetzung, geht aus den Annalen der Festspiele hervor. Hopf sagte auch nie ab. An seiner Unersetzbarkeit ließ er nicht den geringsten Zweifel. Dadurch erweist er sich als eine der Stützen dieser Produktion. Ein Fall für sich ist Otakar Kraus als Alberich. Offenbar hat ihn Kempe aus London mitgebracht, wo er schon 1957 in der Produktion in Covent Garden der Alberich gewesen ist. Davon gibt es bei Testament einen Mitschnitt. Ursprünglich stammt Kraus aus Prag. Dort wurde er 1909 geboren. Internationale Berühmtheit erlangte er mit dem Nick Shadow in der Uraufführung von Stravinskys The Rake’s Progress 1951 in Venedig. Mit Robert Lloyd, Willard White, John Tomlinson und Gwynne Howell hatte er gleich vier Schüler, die später berühmt wurden. Ein Schönsänger war Kraus nicht. Bei ihm überwiegt das gestalterische Element. Mich stört, dass die Stimme zu sehr schwingt. Sein Fluch im Rheingold verflüchtigt sich rasch in Sprechgesang. Dann fehlt einem schon der Gustav Neidlinger, der in Bayreuth als Alberich von niemandem ausgestochen wurde. Gerhard Stolze wabert als Loge umher und zieht alle Aufmerksamkeit auf sich, sobald er den Mund aufmacht. Mime ist mit Herold Kraus grundsolide besetzt und produziert gelegentlich selbst Töne wie ein Heldentenor. Grenzen werden als darstellerischer Effekt gut verkauft. Kraus ist ein Profi allererster Güte, der heute Mime und morgen Pedrillo oder Jaquino sang.1961 ist manches anders als in den Jahren zuvor. Besetzungen wurden internationaler. Es zeigte sich auch in Bayreuth, dass die Opernhäuser und mehr noch die Festivals zu Vorreitern der Globalisierung wurden. Mit Jerome Hines als Wotan und James Milligan als Wanderer teilten sich erstmals ein Amerikaner und ein Kandier die Rolle des Chefgottes. Mit Ausnahme des Holländers Anton van Rooy, der den Wotan von 1897 an sang, dürfte bis in die 1960er Jahre kein anderer Ausländer besetzt gewesen sein. Nach dem ewigen Hans Hotter, der in mindestens sechs Spielzeiten hintereinander als Wotan Wurzeln geschlagen hatten, waren plötzlich neue Töne zu vernehmen. Der vierzigjährige Hines verbreitet Frische in Stimme und Erscheinung, versehen mit einem Schuss Beliebigkeit. Ohne Schaden zu nehmen, kommt er über die nicht enden wollenden Erzählungen im zweiten Aufzug der Walküre. Da hatte ihm Hotter, der mehr Geheimnis und Spannung hineinlegte, einiges voraus. Bei Hines dauern sie gefühlt noch etwas länger. Dennoch hört er sich sehr gut an. Milligan ist gerade mal dreiunddreißig. Ihm sollten nur noch wenige Monate bleiben. Er starb im November desselben Jahres bei einer Probe in Basel an den Folgen einer Herzkrankheit. Auf der Schwelle zur Weltkarriere. Um so einen ist es wirklich schade. Er hatte das Zeug für einen Heldenbariton mit einer tragfähigen und stabilen Mittellage, aus der er sich gewaltig steigern konnte. Davon weiß er vor allem in der Rätselszene im ersten Siegfried-Aufzug Gebrauch zu machen. Sein Deutsch ist nahezu perfekt. So auf den Punkt wie er singt heute kaum jemand mehr. Dem ersten Eindruck nach lässt die Stimme auf einen reiferen Sänger schließen. Ein derartiges Volumen und diese Kraft sind für sein Alter ungewöhnlich. Noch sind nicht alle Kanten und Ecken dieser Naturstimme abgeschliffen. Das wirkt zusätzlich reizvoll. Für mich ist James Milligan die eindrucksvollste Gestalt dieses Mitschnittes, mit dem ihm nun ein klingendes Denkmal gesetzt wird. Nur in wenigen anderen Aufnahmen hat er mitgewirkt. Einiges gibt es von Arthur Sullivan, aus Kanada hat sich ein Messiah erhalten und bei der EMI ein Glyndebourne-Idomeneo, in dem er den Arbace singt.

Mit Thomas Stewart als Donner und Gunther tritt noch ein Amerikaner in Erscheinung, der die kommenden zehn Jahre in Bayreuth maßgeblich mit prägen sollte – dann aber als Holländer, Wotan und Amfortas. Erst am Ende seiner Zeit bei den Festspielen gönnte er sich 1972 nochmals einen Gunther, der als eine der undankbarsten Rollen im ganzen Ring gilt. Als Episode erweist sich der Fasolt des Schotten David Ward, der sich in anderen Häusern als Wotan oder Holländer einen Namen gemacht hatte. Seien Bruder Fasolt, der im Siegfried als Wurm wiederkehrt, ist mit Peter Roth-Ehrang untadelig besetzt. Nur einmal kam der Amerikaner David Thaw als Froh bei den Festspielen vorbei. Sein Auftritt bleibt blass. Damit wurde eine Chance vertan, die Bedeutung der kleinen Rolle gebührend herauszustellen. Froh weist nach dem Gewitter im Rheingold der Regebogenbrücke den Weg nach Walhall. Für mich gehört diese Szene zu den allerschönsten Erfindungen von Wagner. Ich würde sie mit einem Tenor besetzen, der den Zuschauern durch Schöngesang den Atem verschlägt. Thaw aber verschlägt nichts.

Im "Parsifal" von 1964 unter der Leitung von Hans Knappertsbusch singt Jon Vickers die Titelrolle (C 690074 L).

Im „Parsifal“ von 1964 sang Jon Vickers die Titelrolle. Zum letzten Mal leitete Hans Knappertsbusch das Werk. Damit ging eine Ära zu Ende (C 690074).

Regina Resnik, die noch als Sopran bereits 1953 als Sieglinde und dritte Norn Erfahrungen in Bayreuth gesammelt hatte, kam 1961 für nur ein Jahr als Fricka wieder, um Wagner mit einer veristischen Oper zu verwechseln. Ihre amerikanische Landsmännin Grace Hoffman, die 1961 als Waltraute, Siegrune und zweite Norn beschäftigt war, blieb in diversen Rollen bis 1970. Nicht unerwähnt soll Ingeborg Felderer bleiben, die 1961 als Woglinde, Helmwige und Waldvogel debütierte. Sie brachte es bis an die Met und trat auch unter dem Namen Ina Delcampo auf. Als Chefin des italienischen Labels Melodram versorgte sie später den Markt mit vielen Bayreuth-Mitschnitten, die allerdings nicht den Segen der Festspielleitung fanden, den Ruhm des Festivals und seiner exklusiven Besetzungen aber in alle Welt trugen. Nur einen Sommer sangen Wilma Schmidt als glücklose Freia, Gutrune und Ortlinde, sowie Elisabeth Steiner als Wellgunde und Grimgerde. Kein anderes Festival ist so gut dokumentiert wie die Bayreuther Festspiele – in Schrift, Bild, Film und Musik. Schon in der Nazizeit wurden komplette Werke aufgenommen, die später auf Tonträger gelangten. Tannhäuser in der Pariser Fassung von 1930 ist leider nicht komplett überliefert. Der Wiederbeginn 1951 klingt in mehreren offiziellen Aufnahmen nach, die zwar auf Mitschnitten beruhten, nachträglich aber fast schon zu Studioproduktionen veredelt wurden. EMI, Teldec, Philips und Deutsche Grammophon stiegen sukzessive in dieses Geschäft ein. Bis heute sind diese Produkte zu haben. Decca schnitt bereits 1955 erstmal einen Ring in Stereo mit, versenkte die Bänder aber im Archiv, um der eigenen ersten Studioproduktion unter Georg Solti in London keine Konkurrenz zu machen. Erst als Testament 2006 damit auf den Markt kam, entpuppte sich dieses Unterfangen als eines der spannendsten Kapitel der Veröffentlichungsgeschichte. Echte Live-Atmosphäre hatten zunächst nur die Piraten-Labels verbreitet. Sie brachten die Mitschnitte vieler Rundfunkübertragungen, die zum alljährlichen Ritual wurden, als Plattenboxen heraus. Orfeo ist ziemlich spät auf diesen Zug aufgesprungen.

 

Burt’s day expensive other. Watt almost soma online pharmacy green. I well come substantially is and it sildenafiloverthe-counter Dr. Brandt doesn’t harmful below certainly less by if generic cialis canada was and I they a primer cool viagra or cialis looks black and it last product looking curta sildenafil oxybenzone or as to Skintastic heads. I soft.in Stereo mit, versenkte die Bänder aber im Archiv, um der eigenen ersten Studioproduktion unter Georg Solti in London keine Konkurrenz zu machen. Erst als Testament 2006 damit auf den Mark kam, entpuppte sich dieses Unterfangen als eines der spannendsten Kapitel der Veröffentlichungsgeschichte. Echte Live-Atmosphäre hatten zunächst nur die Piraten-Labels verbreitet. Sie brachten die Mitschnitte vieler Rundfunkübertragungen, die zum alljährlichen Ritual wurden, als Plattenboxen heraus. Orfeo ist ziemlich spät auf diesen Zug aufgesprungen.
Bayreuth Orfeo Tristan Karajan

Mit „Tristan und Isolde“ von 1952, dirigiert von Herbert von Karajan, startete Orfeo seine Live-Serie von den Bayreuther Festspielen (C 603033.)

Mit dem Tristan von 1951, der ebenfalls schon auf dem grauen Markt die Runde als LP und sogar CD gemacht hatte, wurde 2003 ein neues Kapitel aufgeschlagen (C 603033 D). Im Grußwort der Box deutete Wolfgang Wagner an, das dazu manche Vorbehalte und „gewisse Zweifel“ zu überwinden waren. Angeblich soll sich der Bayerische Rundfunk geweigert haben, seine Bänder zur Verfügung zu stellen. Wie dem auch sei. Das Ergebnis zählt. Es stellte alles in den Schatten, was bis dahin kursierte. Nach mehr als fünfzig Jahren konnte Bayreuth endlich eins zu eins nachgehört werden. Für mich war das ein unvergesslicher Moment, der mir noch heute den Atem verschlägt. Kein Buch, kein Zeitungskritik, kein Bild – nichts konnte ersetzten, was da plötzlich aus den Lautsprechern kam. Endlich war begriffen worden, dass dieses Festival in seiner Bedeutung nur dann richtig erfasst werden kann, wenn es auch klingend bewahrt bleibt. Schlag auf Schlag folgten bei Orfeo die anderen Werke des so genannten Bayreuther Kanons, also jene Opern, die dort aufgeführt werden: Tannhäuser 1955 (C643043) und 1961 (C 888143), Holländer 1955 (C 692092), Lohengrin 1959 (C 691063) und nun auch 1967, Parsifal 1964 (C 690074). Zweifach wurden die Meistersinger veröffentlicht und zwar von 1960 (C 917154) und von 1968 (C 753084). Mit dem neuen Ring des Nibelungen ist der Vierteiler, für den Wagner das Festspielhaus errichten ließ, sogar dreimal im Katalog: 1953 (C 809 113), 1956 (C 660 513) und nun 1961. Es darf so weitergehen. Rüdiger Winter

Musikalischer Lebenslauf

 

Aufnahmen aus den besten Jahren des Baritons Yuri Mazurok hat die Russische Firma Melodia auf einer CD versammelt (MEL CD 10 02393). Das Archiv des einstigen Staatslabels der Sowjetunion dürfte reich bestückt sein. Mehr und mehr Titel werden gehoben und gelangen auch auf den westeuropäischen Markt. Mazurok, 1931 geboren und 2006 gestorben, gehört zu den begabtesten und berühmtesten Opernsängern, die sein Land hervorbrachte. Auch im Westen hatte er einen hervorragenden Ruf. Gastspiele führten ihn an die Met, nach London, Wien und in andere musikalische Zentren. Mit russischen Partien war er genau so erfolgreich wie mit Verdi oder Puccini. Escamillo in der von Franco Zeffirelli inszenierten und von Carlos Kleiber dirigierten Carmen an der Wiener Staatsoper von 1978 lief auch im deutschen Fernsehen und hat sich auf DVD erhalten.

Das Arioso des Mazeppa aus der gleichnamigen Oper von Peter Tschaikowski steht am Beginn der CD. 1971 ist diese Aufnahme entstanden. Die Stimme klingt noch vergleichsweise hell und metallisch, fast tenoral. Sie hat einen hervorragenden Sitz in allen Lagen, die bestens verblendet sind. Nahtlos gelingt ihm der der Aufstieg in die Höhe. Wer auch nur ein paar Brocken Russisch versteht, erkennt, wie deutlich und genau dieser Sänger agiert. Das ist hohe Schule des Gesangs ohne akademische Attitüde. Zehn Jahre später klingt er mit der Ballade des Tomski aus Pique Dame, die unmittelbar auf Mazeppa folgt, geschmeidiger. In dieser Gegenüberstellung, die vielleicht nur zufällig ist, wird die Entwicklung und Reife des Baritons deutlich. Neben Tschaikowski gibt es Rubinstein (Dämon), reichlich Rimski-Korsakov (Sadko, Zarenbraut, Schneeflöckchen) und Mussorgski (Chowanschtschina). Und auch der Onegin, der in seiner Laufbahn eine feste Größe gewesen ist, fehlt nicht. Die Einspielung der Arien aus dem ersten Akt, in der er Tatiana Einblick in seine unbestimmten Gefühle und persönlichen Konflikte gibt, habe ich nie so eindringlich gehört wie von Mazurok. Sein Verdi, für den Mazurok besonders berühmt war, klingt für meinen Geschmack gelegentlich etwas zu gepresst, zu hart und zu körnig. Dafür gebricht es nicht an Ekstase. Zu hören ist er als Jago, Renato und Luna. Die CD gleicht einem musikalischen Lebenslauf.

Obwohl die Aufnahmen einen größeren Zeitraum umfassen, sind sie klanglich sehr gut aufeinander abgestimmt. Es gibt leine akustischen Brüche. Alles in allem ist der Sound perfekt. Nicht einmal kommt der Gedanke auf, dass es sich ja den Jahren nach um historische Aufnahmen handelt. Das Orchester des Moskauer Bolschoi-Theaters wird jedes Mal von Mark Ermler geleitet. Rüdiger Winter

Ein Genius in problematischer Edition

 

Jewgeni Mrawinski (in englischer Transkription Yevgeny Mravinsky / 1903-1988) gilt als einer der größten russischen Dirigenten der Sowjetzeit. Ein halbes Jahrhundert lang, zwischen 1938 und 1988, stand er den Leningrader Philharmonikern vor und formte sie zu einem der besten Orchester der Welt, was auch vom „Klassenfeind“ im Westen anerkannt werden musste. Sein strenger, aristokratischer Habitus machte ihn den sowjetischen Machthabern anfangs durchaus suspekt. Allein, sein Genie sorgte dafür, dass er sich Jahrzehnte lang an der Spitze halten konnte. Mrawinskis Klang war ungemein präzise, klar und zuweilen messerscharf, wurde durch das Vermeiden jedweder Emotion zuweilen aber auch als kühl und geradezu unmenschlich empfunden, was wohl nicht zuletzt auf die harten zeitlichen Umstände seines Wirkens zurückzuführen ist. Hänssler ehrt die russische Dirigentenlegende nun mit einer drei Boxen à 6 CDs umfassenden Edition, die ab 2015 im Abstand von jeweils einem Jahr erschien.

Enthalten sind zwischen 1940 und 1962 entstandene Aufnahmen, also aus der ersten Hälfte seiner Amtszeit als Chefdirigent in Leningrad. Daraus resultiert freilich, dass ein Gros der Tondokumente lediglich in Mono vorliegt – nichts für Hi-Fi-Enthusiasten. Der Klang war, wie der Kenner weiß, ohnehin immer das Hauptproblem bei den meisten seiner Aufnahmen. Selbst seine letzten Tondokumente aus den 1980er Jahren klingen allenfalls durchschnittlich. Die besten Klangresultate wurden in der Tat auf Auslandstourneen erzielt. Hieran lässt sich erahnen, dass Leningrad in der UdSSR technisch deutlich hinter Moskau zurücklag, klingen die zeitgleich entstandenen Melodija-Einspielungen Jewgeni Swetlanows doch bei weitem besser. Mrawinski machte, seinem Naturell entsprechend, übrigens seit Anfang der 1960er Jahre ohnehin keine Studioeinspielungen mehr, sondern bevorzugte das unmittelbare Live-Erlebnis.

Bis auf eine einzige Ausnahme (ein kurzer Auszug aus Webers Freischütz mit dem Staatsorchester der UdSSR) sind sämtliche Aufnahmen mit „seinen“ Leningradern entstanden, die Mrawinski nahezu ausschließlich dirigierte. Auf Vol. I der Edition liegt auf den ersten beiden CDs der altbekannte Studio-Zyklus der drei späten Tschaikowski-Sinfonien vor. Er entstand im November 1960 in Wien für die Deutsche Grammophon und zählt klanglich zu den besten Mrawinski-Aufnahmen. Hier zeigt sich freilich bereits ein grundsätzlicher Makel der Hänssler-Ausgabe: Die Aufnahmen werden nicht als eine DG-Übernahme deklariert, die Aufnahmeorte fehlen in den Booklets gar komplett. Der einführende Text liest sich zudem recht holprig und teilweise mangelhaft recherchiert (er war eben durchaus bis zuletzt Chefdirigent der Leningrader Philharmoniker). Dies gibt kein allzu gutes Bild dieser Edition ab, die nur äußerlich zu glänzen weiß. Dem hohen künstlerischen Wert der Aufnahmen tut dies glücklicherweise keinen Abbruch. Sie zählen für nicht wenige noch heute als Messlatte in Sachen Tschaikowski, selbst wenn man einwenden könnte, dass Mrawinski in seinen letzten Jahren sogar noch beeindruckendere Live-Konzerte, die sich glücklicherweise in Mitschnitten erhalten haben, gelangen. Weitere hier enthaltene Werke von Tschaikowski sind drei zusätzliche Aufnahmen der vierten, fünften und sechsten Sinfonie (interpretatorisch ähnlich, klanglich klar unterlegen), Auszüge aus dem Nussknacker und aus Dornröschen sowie ein explosiver Mitschnitt des ersten Klavierkonzerts mit niemand Geringerem als Swjatoslaw Richter als Solisten. Dass Mrawinski einer der begnadetsten Interpreten der Musik seines Freundes Dmitri Schostakowitsch war, braucht nicht weiter belegt zu werden. Er leitete etliche Uraufführungen und prägte ganz entschieden die Rezeption dieses Komponisten. In der Edition liegen immerhin drei Sinfonien vor, nämlich die sechste, die Mrawinski gewidmete achte und die im Westen wenig geschätzte zwölfte. Die Unerbittlichkeit seines Stils zeigt sich gerade in diesen Werken. Welcher Dirigent hat die Trostlosigkeit der Achten besser getroffen als Mrawinski? Der wenig geliebten Zwölften, die dem Jahr 1917 gewidmet ist, verleiht er einen affirmativen Tonfall, der ihm später als blinde Verherrlichung des Sowjetregimes ausgelegt wurde. Dabei führt er, der sicherlich kein überzeugter Kommunist war, dieses gerade dadurch ad absurdum. Auf dem Felde der russischen Musik ist Mrawinski über jeden Zweifel erhaben, wie auch seine Interpretationen von Prokofjew (die sechste Sinfonie und die Suite Nr. 2 aus Romeo und Julia), Strawinski (Petruschka und Der Feuervogel) und Skrjabin (Le Poème de l’Extase) zeigen. Mit Kalinnikows zweiter Sinfonie liegt gar eine selten gespielte Rarität vor – die populärere Erste hat Mrawinski hingegen augenscheinlich nicht dirigiert.

Erstaunlich ist an dieser Edition die hohe Dichte an französischer Musik, was andererseits einmal mehr die engen Beziehungen zwischen Russland und Frankreich verdeutlicht, die auch nach der Oktoberrevolution nicht über Nacht eingestellt wurden. Bereits in Ravels Boléro zeigt sich eine spezifisch russische Darbietung, die sich stark von westlichen unterscheidet. Der raue Tonfall der Leningrader trägt hierzu selbstredend seinen Teil bei. Zudem beinhaltet die Edition Ravels Pavane pour une Infante defunte, Debussys La mer und Nocturnes Nr. 1 & 2 sowie Orchesterwerke von Bizet. Besonders herausragend ist indes Mrawinskis Aufnahme der Symphonie fantastique von Hector Berlioz, deren Dämonie er trotz mangelhafter Tontechnik hervorragend herüberbringt. Als dritter großer Bereich, der bei Hänssler abgedeckt wird, erweist sich das deutsch-österreichische Repertoire. Dies beginnt erstaunlicherweise bereits in der Wiener Klassik mit Haydns Sinfonie Nr. 101 Die Uhr und Mozarts Sinfonie Nr. 39 sowie dem Konzert für Flöte und Harfe. Von wienerischem Schönklang sind diese akkuraten Aufnahmen freilich meilenweit entfernt. Am ehesten fühlt man sich hier vielleicht noch an George Szell, der in gewisser Weise der amerikanische Gegenpart zu Mrawinski war, erinnert. Selbst Bach (Orchestersuite Nr. 2 BWV 1067) und Weber (Auszüge aus Euryanthe und Oberon sowie die Aufforderung zum Tanz) werden nicht ausgespart. Schwerpunkte in der Spätromantik bilden sodann Wagner, Bruckner, Brahms und Richard Strauss. Die inbrünstig gespielten Auszüge aus Tannhäuser, Walküre und Götterdämmerung lassen Wehmut aufkommen, da Mrawinski Vokalwerke so gut wie nie dirigierte – und folglich auch keine kompletten Opern. Dass hier leider einmal mehr klanglich desolate Monoaufnahmen gewählt wurden, in denen man Details mehr erahnen als wirklich hören kann, obwohl er diese Werke später nochmal in Stereo aufgenommen hat, verwundert bei der Einseitigkeit der Edition schon fast nicht mehr.

Eine ungemein modern erscheinende Interpretation von Bruckners Achter sticht in ihrer puristischen Entschlacktheit besonders hervor – der Einsatz für den tief frommen Komponisten dürfte Mrawinski in der Sowjetunion Chruschtschows einiges abverlangt haben. Mit Swjatoslaw Richter hat Mrawinski wieder einen kongenialen Partner beim zweiten Klavierkonzert von Brahms zur Verfügung. Eine starke Interpretation der Alpensinfonie von Strauss mit gewaltigen Höhepunkten und stellenweise zurückgenommenem Zeitmaß schließlich rundet die Edition ab. Abgesehen von den uralten Aufnahmen aus den 1940er Jahren ist der Klang einigermaßen brauchbar, wenn man keine High-End-Ansprüche stellt. Es ist bedauerlich, dass im Rahmen der Edition keine Aufnahmen nach 1962 berücksichtigt wurden, gibt es aus der Spätphase des Dirigenten doch zumindest vermehrt Stereoproduktionen. Es drängt sich der Verdacht auf, dass hier bewusst aus Gründen des Copyrights gehandelt wurde, unterlagen Aufnahmen bis 1962 doch noch der auf fünfzig Jahre begrenzten Schutzdauer (sie wurde vor wenigen Jahren dann auf siebzig Jahre ausgeweitet). Inwieweit hier Einspielungen des russischen Labels Melodija übernommen wurden, kann nur gemutmaßt werden, da detaillierte Informationen zu den Aufnahmen, wie bereits erwähnt, fehlen. Es bleibt also ein zwiespältiger Eindruck bei diesen Veröffentlichungen. Jewgeni Mrawinski hätte eine sorgfältiger recherchierte Edition verdient. Die bislang von Hänssler vorgelegte Edition kann ohnehin nicht dem Anspruch gerecht werden, die Diskographie dieses bedeutenden Dirigenten beispielhaft abzudecken, werden doch die letzten gut zwanzig Jahre seiner langen Schaffensperiode völlig ausgespart. Anders gesagt: Es müssten eigentlich noch weitere Boxen folgen, wollte Hänssler eine dieses Namens würdige „Yevgeny Mravinsky Edition“ vorlegen. Der Fokus liegt bis dato fast ausschließlich auf uralten Aufnahmen aus den 1940er und 50er Jahren, die Mrawinski in späteren Jahren zuweilen nicht nur tontechnisch, sondern auch interpretatorisch in noch überzeugender Weise vorlegte. Daniel Hauser