Schockstarre im Studio

 

Eines muss man Warner lassen. Die Firma geht sehr sorgsam mit dem historischen Erbe um, dass ihr durch der Übernahme der EMI zugefallen ist. Nach und nach werden legendäre Produktionen mit dem neuen Logo versehen, klanglich aufgefrischt und wieder auf den Markt gebracht. Richard Wagners Fliegendem Holländer unter der musikalischen Leitung von Otto Klemperer wurde sogar eine sehr prachtvolle Ausgabe gegönnt (0190295817442). Sie gleicht einem Buch mit Schutzumschlag und Klappentext. Schweres graues Papier zwischen den roten Deckeln erinnert an Bütten. Das macht viel her. Zweisprachig – Deutsch und Englisch – sind Libretto und Texte gehalten. Nicht gegeizt wurde mit Fotos von den Aufnahmesitzungen im berühmten Studio 1 der Abbey Road in London. Sie vermitteln eine sowohl konzentrierte wie lockere Atmosphäre. Anja Silja, die Sängerin der Senta, berichtet davon in ihrem Buch „Die Sehnsucht nach dem Unerreichbaren“. Klemperer hatte sie 1967 in Bayreuth als Elisabeth im Tannhäuser gehört und unbedingt für seine Holländer-Produktion haben wollen, der sich eine konzertante Aufführung in der Londoner Festival Hall anschloss, die als Mitschnitt der BBC 2008 bei Testament herausgekommen ist (SBT2 1423). Mit zwei Besetzungsunterschieden, die rechtliche Gründe hatten. Im Studio sang Ernst Kozub den Erik, im Konzert James King, während Gerhard Unger als Steuermann live vom schottischen Tenor Kenneth Macdonald ersetzt wurde.

Die Ausgabe des wieder herausgegebenen „Holländers“ gleicht einem Buch mit Schutzumschlag und Klappentext. Schweres graues Papier zwischen den roten Deckeln erinnert an Bütten. Das macht viel her.

Die Silja erinnert sich an ein „sehr originelles und herzliches“ Verhältnis zu Klemperer, der es liebte „völlig unerwartet Sätze in den Raum zu werfen“, um andere zu provozieren. Als eine Szene des Holländers im Abhörraum überprüft wurde, habe er plötzlich die andächtige Stille mit der Bemerkung unterbrochen „Anja, was hältst du eigentlich von der Geburtenkontrolle?“ Die Frage sei so aus der Luft gegriffen gewesen, dass sie „alle Anwesenten aus dem Gleis warf. Das machte ihm Spaß“. Damit habe Klemperer, aber auch sein „partielles Desinteresse an Konservenmusik“ gezeigt. Ich stelle mir die Reaktion von Theo Adam vor, der einen sehr vornehmen Holländer singt, einen mit Abitur und Kapitänspatent in der Tasche. Er wirkt etwas gestelzt und verkrampft, so, als wollte er unter den Augen der unberechenbaren Autorität des Dirigenten ja alles richtig machen. Sein Markenzeichen ist das edle Timbre mit hundertprozentigem Wiedererkennungswert. Dazu eine nahezu perfekte Wortdeutlichkeit. In der Mittellage hat er keinerlei stimmliche Probleme. Wenn er sich aber steigern, seinen Bassbariton in dramatische Höhen erheben will oder muss, forciert er und flüchtet sich in einer Art Sprechgesang, der wie Gestaltung wirken soll, in Wahrheit aber krasse technische Defizite offenbart. Ach, würde er doch nicht so gewaltig ansetzen und seine Ressourcen zu schnell verbrauchen. Adam singt zu groß. Deshalb ist der Monolog fünfzig Jahre nach der Aufnahme nur schwer erträglich.

In ihrem Buch „Die Sehnsucht nach dem Unerreichbaren“ (Parthas/ISBN 3-932529-29-4) erzählt Anja Silja auch Anekdoten von den Aufnahmen des „Fliegenden Holländers“.

Robust und rüstig nimmt sich Martti Talvela des Daland an. Er könnte lauernder und verschlagener in der ersten Begegnung mit dem Holländer auftreten. Talvela ist zu gemütlich und zu jovial. Ernst Kozub gewöhnlich sehr zugetan, habe ich an seinem Erik manches auszusetzen. Er singt merkwürdige Schleifen, wo Tönen eigentlich miteinander verbunden werden sollten. Aber die Stimme selbst! Dieses einzigartige Material bricht sich bei Kozub immer Bahn, im Großen wie im Kleinen, auch wenn es nicht selten ungeschliffen, gar grob hervortritt. Mit einer besseren Technik und mit etwas mehr Temperament hätte er der unangefochtene Heldentenor seiner Generation werden können. Und die Silja? Je mehr ich mich in die Aufnahme vertiefte, umso sympathischer und geeigneter für ihre Aufgabe fand ich sie. Sie ist jung und klingt jung. Sie ist besessen und aufmüpfig, dem Wahnsinn nah und gibt damit ihrer Rolle ein überzeugendes Profil, auch wenn ihre gelegentlich gellende und gleißende Höhe den Zuhörern viel zumutet. Glänzend und vergleichweise luxuriös besetzt ist die Mary mit Annelies Burmeister, der einstigen erste Mezzosopranistin der Ostberliner Staatsoper. Ihr Engagement für die kleine Rolle, die sie an ihrem Stammhaus nach meiner Erinnerung nicht gesungen hat, bleibt rätselhaft. Die Burmeister versieht die Rolle mit Würde, Ruhe und stilistischer Sicherheit.

Anja Silja hat es nach meinem Eindruck gut getroffen mit ihrer Bemerkung vom Desinteresse Klemperers an Konservenmusik. Er lässt bei den Solisten zuviel durchgehen, ist aber bezogen auf seine Aufgaben sehr darauf bedacht, mit Bravour abzuschneiden. So wird er zum Star der Produktion, die mit allerlei Klangeffekte wie Windmaschinen und Pfeifen in die Nähe einer Bühnenaufführung gerückt wird. Figuren entfernen sich von der akustischen Bildfläche, indem sie sich stimmlich nach hinten oder zur Seite verziehen. Was damals seine Wirkung nicht verfehlt haben mag, klingt heute altmodisch. Und dennoch: „Die Interpretation ist urgewaltig …“ Dem im Booklet zitierten Fazit des renommierten englischen Musikkritikers William Mann schließe ich mich gern an.

Rätsel gibt die Fassung auf. Was spielt der Klemperer da eigentlich? Ouvertüre und Oper schließen mit jeweils sechs Orchesterschlägen, die dem rasante Jugendwerk Wagners einen unerwarteten konservativen Stempel aufdrücken. Obwohl die Oper in ihren verschiedenen Fassungen oft eingespielt und mitgeschnitten wurde, habe ich keine vergleichbare Aufnahme gefunden. Im Booklet heißt es mit Hinweis auf Klemperers frühzeitige Beschäftigung mit dem Fliegenden Holländer um 1910 in Prag und später an der Berliner Krolloper etwas unbestimmt: „Richard Strauss wusste von einer Partitur in Wagners Handschrift , die in der preußischen Staatsbibliothek in Berlin vorlag und wies Klemperer darauf hin.“ Sollte er sich auch in London daran bedient haben? Rüdiger Winter