Im Sommer 2017 haben sich Opernfreunde einen neuen Begriff zu Eigen gemacht: Re-Kreation. Der Duden kennt den Bindestrich nicht, stuft das Wort als veraltet ein und erklärt es mit Entspannung, Erfrischung, Erholung, Genesung, Stärkung und Verbesserung. Bezogen auf den Anlass wollen die Synonyme nicht recht passen. Als Re-Kreation wurde die Neuinszenierung der Walküre von Richard Wagner im rekonstruierten Bühnenbild von Günther Schneider-Siemssen der ersten Opernproduktion der Osterfestspiele Salzburg von 1967 durch Vera Nemirova bezeichnet. Die Regie hatte seinerzeit Herbert von Karajan besorgt, der sich mit dem neuen Festival ein eigenes Denkmal in der Geburtsstadt Mozarts setzten wollte. Karajan wohnte in der Nähe von Salzburg, in Anif, wo er 1989 auch gestorben ist. Nach der Walküre folgte Das Rheingold, dann Siegfried und zum Abschluss 1970 Götterdämmerung. Eine geschlossene Aufführung des gesamten Ring gab es nicht. Schneider-Siemssen blieb Karajans bevorzugter Ausstatter in Salzburg.
Musikalisch vorbereitet wurde das gewaltige Unterfangen seinerzeit mit einer Plattenproduktion im Berliner Studio (und Proben im Berlin, weil die Berliner Philharmoniker ja ein Angestelltenorchester der Stadt Berlin sind), die nie vom Markt verschwand und nach wie vor hohes, maßstäbliches Ansehen genießt. Nach fünfzig Jahren ist szenisch von Karajan fast nichts übrig geblieben. Fotos und die spärlichen Filmclips sind nicht aussagekräftig für eine gerechte Bewertung des Originals. In einer TV-Dokumentation anlässlich der Re-Kreation wurden die Archive abgeklappert. Viel fand sich nicht außer den Bühnenentwürfen. Dennoch hätte es Sinn gemacht, diese Arbeit mit bei Cmajor/ United auf DVD veröffentlichten Aufführung der Walküre (74208) zu koppeln. Jetzt kommt diese Neuerscheinung wie eine ganz normale Walküre daher. Die Spannung hält sich ohnehin in Grenzen, weil die Produktion bereits im Fernsehen gezeigt wurde und auch ins Radio gekommen war.
Vera Nemirova dürfte – auch wenn das möglich gewesen wäre – gar nicht die Absicht gehabt haben, Karajan nachzustellen. Dafür ist sie viel zu selbstbewusst und zu individuell. Sie verfolgte eigene Intentionen, blieb dabei aber in den ausladenden Bühnenbauten regelrecht stecken. Diese Optik, die einst für Aufsehen gesorgt hatte, behinderte nun mehr, als dass sie zu neuen Erkenntnissen beitragen konnte. So wurden die Details in ihrer Wirkung übermächtig. Details, die auf der riesigen, oft in Dunkel gehüllten Breitwandbühne, für Zuschauer im Saal viel zu undeutlich geblieben sein dürften. Erst die Kameras ziehen sie deutlich heran. Nicht immer zum Vorteil der Beteiligten. Hunding (Georg Zeppenfeld) macht es sich in seiner Hütte im neuzeitlichen Kapuzenshirt bequem. Seine Frau Sieglinde (Anja Harteros) muss ihm die Füße waschen. Hunding (Peter Seiffert) trägt ebenfalls lockere Freizeitkleidung, die praktisch gegen Regen und Unwetter schützt. Preiswertes von C&A. Fricka (Christa Meyer) hingegen darf in einem pelzbesetzten weißen Abendkleid auftreten, wie es schon Margarete Klose in den dreißiger Jahren bei ähnlichem Anlass getragen haben könnte. Ihr weißer Sessel wird ihr von Lemuren hinterher getragen. Brünnhilde (Anja Kampe), wie ihre Schwestern mit Flügelhelmen bekrönt, wird am Schluss von Wotan (Vitalij Kowaljow) oben herum bis auf das Unterhemd entkleidet, was sich in der erbarmungslosen Vergrößerung auf dem Bildschirm nicht als glücklichste aller Lösungen entpuppt.
Der Mehrwert findet sich im Musikalischen. Gesungen wird auf sehr hohem Niveau. Die Harteros, Seiffert und Zeppenfeld hatten kurz zuvor den ersten Aufzug in Berlin konzertant ausprobiert. Er hat es an sich, als Fest der Stimmen wahrgenommen zu werden, bei dem die verwickelten inhaltlichen Aspekte etwas in den Hintergrund geraten. Hinreißend ist diese Sieglinde in ihrer gestalterischen und stimmlichen Anmut, die sie sich trotz der Demütigungen ihres Peinigers für den ihr bestimmten Mann hat bewahren können. Sie entdeckt in der Partie die enorme Steigerung, die mit dem Ausruf „Du bist der Lenz, nach dem ich verlangte“, einen leidenschaftlichen Höhepunkt erreicht. Als finde sich Sieglinde erst in diesem Moment als Frau. Als liebende Frau. Sie schüttelt ihre Unterdrückung ab, hat keine Scheu mehr, das aus sich herauszuschleudern, wonach sie sich sehnt. Nie würde sie wieder auf die dienende Rolle am Herd zurückzuwerfen sein. Sie ist frei. Es gelang der auch wohl gewandeten Sängerin in der Zusammenfassung ihre gesamten Szenen ein Frauenporträt mit vielen Facetten. Fern aller Klischees und verbrauchten Gesten. Kaum zu glauben, dass es sich um ein Rollendebüt handelte. Jedes Wort ist zu verstehen, eine Gabe, die auch die beiden Herren Seiffert und Zeppenfeld in die Aufführung einbrachten. Leider ist dies heutzutage nicht mehr selbstverständlich. Deshalb sei es an dieser Stelle ausdrücklich herausgestellt.
Anja Kampe schlägt sich erstaunlich gut als Brünnhilde, stimmlich wie darstellerisch. Das gilt so auch für den Wotan von Kawaljow, der mit seiner blonden DDR-Rocksängermatte auf dem Kopf deutlich jünger wirkt als sein Sohn Siegmund. Große Würde auf der ganzen Linie verbreitet Christa Mayer, die ihre mit Gift versetze Anklage gegen ihren untreuen Göttergatten spannungsgeladen vorträgt Christan Thielemann am Pult der Staatskapelle aus Dresden ließ den Sängern, zu denen sich ein hochdramatisches Walküren-Ensemble gesellte, immer den Vortritt. Er deckte die nicht zu und gönnte sich seine eigenen Auftritte vornehmlich in den Vorspielen und Zwischenmusiken. Rüdiger Winter