Der erste Akt der Walküre ist fraglos der am häufigsten ausgekoppelte Auszug der vier Ring-Opern. Nicht selten wird er rein konzertant und ohne den Rest der Oper gespielt. Dies ist im vorliegenden Fall allerdings nicht so. Es handelt sich vielmehr um den ersten Aufzug einer szenischen Aufführung an der Wiener Staatsoper vom 2. Dezember 2007. Was diese nun besonders macht und für die Orfeo-Reihe Wiener Staatsoper Live (C 875 131 B) überhaupt für eine Veröffentlichung prädestiniert, dürfte das Rollendebüt des verstorbenen Tenors Johan Botha in der Rolle des Siegmund sein. Verglichen mit anderen Rollenvertretern wie dem unvergessenen Jon Vickers ist er tatsächlich eher ein Leichtgewicht, was ihm freilich insbesondere in den lyrischen Momenten („Winterstürme“), die in diesem Akt überwiegen, durchaus auch zu Gute kommt, während man bei den Wälse-Rufen nicht voll zufriedengestellt wird. Insgesamt zeichnet Botha keinen Heroen, betont vielmehr das zutiefst Menschliche des Siegmund, was in der Liebe zur eigenen Schwester Sieglinde gipfelt. Diese wird von der Sopranistin Nina Stemme verkörpert, und soviel darf vorweggeschickt werden: einer überaus würdigen Interpretin. Man wird sich schwertun, heutzutage eine bessere Verkörperung der Sieglinde zu finden.
In den Szenen mit Siegmund gibt sie gar den Ton an, was für Stemme aufgrund ihrer Stimmgewalt auch kein allzu großes Hindernis ist. Der Hunding von Ain Anger ist kein tumber Rohling. Der Bassist verleiht dem unsympathischen Bösewicht gar eine gewisse Nobilität. An Matti Salminen oder Josef Greindl, die seine Brutalität besser herausstellten, wird man nicht denken dürfen. Akzeptabel ist die orchestrale Seite. Leider versteht es der damals bereits designierte Wiener Generalmusikdirektor Franz Welser-Möst nur teilweise, das volle Potential der Partitur auszukosten. Das beginnt bereits im recht verhetzten Vorspiel. Nur wenig über eine Stunde dauert der Akt hier (61 Minuten). Welser-Möst ist mehr bloßer Begleiter denn echter Gestalter. Kein Vergleich zu Hans Knappertsbusch, der den ersten Walküren-Akt 1963 ebenfalls in Wien noch einmal live aufführte und eine Lehrstunde in Sachen Wagner-Dirigat erteilte (65 Minuten; TDK, DVD). Der Klang ist ziemlich gut, wenngleich die schwierige Staatsopernakustik auch hier ihren Tribut fordert und er insgesamt gegenüber anderen Produktionen doch abfällt.
Mit Nina Stemme setzt Orfeo seine Reihe Wiener Staatsoper Live (C 937 171 B) in Sachen Wagner fort. Diesmal steht die schwedische Sopranistin, geboren 1963 in Stockholm, allein im Mittelpunkt. Ein wenig arg hoch gegriffen erscheint der Vergleich mit ihrer berühmten Landsfrau Birgit Nilsson, einer der fraglos größten Wagner-Sängerinnen des 20. Jahrhunderts, zumal sich die Stimmen nicht wirklich ähneln. Die stählerne Durchschlagkraft der Nilsson besitzt Stemme mitnichten. Dafür klingt sie nahbarer, menschlicher. Dies kommt ihr gerade in der Rolle der Senta im Fliegenden Holländer entgegen, der mit zwei Auszügen vertreten ist: „Johohoe! Traft ihr das Schiff im Meere an“ sowie „Wirst du des Vaters Wahl nicht schelten?“ Es handelt sich um den Mitschnitt vom Debüt Stemmes an der Staatsoper (5. Dezember 2003). Aus der Walküre (Aufnahme vom 2. Dezember 2007) wurde eine Szene aus dem Ende des zweiten Aufzugs beigefügt („Raste nun hier, gönne dir Ruh!“), nachdem Orfeo den – wie eingangs berichtet – kompletten ersten Akt bereits gesondert veröffentlichte. Auch die Sieglinde ist der Stemme wie auf den Leib geschnitten. Ihre opulente Stimme betont besonders die aristokratische Würde der Figur. Dramatisch ja, auch wenn man hier wiederum nicht die Nilsson bemühen sollte. Dafür droht Nina Stemme ihre jeweiligen männlichen Sängerkollegen nicht an die Wand zu singen, was bei der Nilsson zuweilen für unfreiwillige Komik sorgte (man denke an den armen Fischer-Dieskau in der Tosca). Die Brünnhilde im schwierigen letzten Akt des Siegfried (27. April 2008) bewältigt Stemme ebenfalls souverän. Diese Schlussszene nimmt mit gleich vier Tracks den Schwerpunkt dieser CD ein (eine gute halbe Stunde). Sie kann insbesondere in den lyrischeren Momenten ihre Trümpfe ausspielen („Heil dir, Sonne! Heil dir, Licht!“). Hervorzuheben ist ihre heutzutage leider nicht mehr selbstverständliche gute Textverständlichkeit. Großartig das Schlussduett mit Stephen Gould. Nina Stemme lässt der Figur während ihres relativ kurzen Auftritts eine kontinuierliche Entwicklung angedeihen, wobei das Selbstbewusstsein ihrer Brünnhilde stetig zunimmt bis zum dramatischen Höhepunkt am Ende. Kaum weniger exaltiert ist ihre Isolde aus einem Mitschnitt vom 13. Juni 2013. Besonders der Liebestod muss hervorgehoben werden. Hier kann sie neben den besten Interpretinnen bestehen. Ein klein wenig fühle ich mich an den dunklen Tonfall der ebenfalls in Stockholm geborenen Astrid Varnay erinnert. Das mit stark erotischem Touch gehauchte „Lust“ ganz zuletzt hat dann tatsächlich etwas von Birgit Nilsson in der berühmten Bayreuther Aufnahme unter Karl Böhm 1966. Für die mehr als gediegene orchestrale Begleitung sorgen mit Seiji Ozawa und Franz Welser-Möst die jeweiligen Musikchefs des Ersten Hauses am Ring.
„Zeit lässt steigen dich und stürzen.“ So dichtete Enzio von Sardinien, unehelicher Sohn des hochmittelalterlichen Stauferkaisers Friedrich II., im 13. Jahrhundert. Besser kann man es kaum in Worte fassen, was den begnadeten Tenor und Kammersänger Johan Botha angeht, der uns 2016 mit gerade 51 Jahren infolge tückischer Krankheit verlassen hat. Der gebürtige Südafrikaner und (seit 1998) Wahlösterreicher hatte eine enge Verbindung besonders zu Wien, wo er die letzten zwei Jahrzehnte seines kurzen Lebens verbrachte. Die Wiener Staatsoper war seine künstlerische Heimat, an nicht weniger als 222 Abenden zwischen dem 20. Februar 1996 und dem 8. April 2015 trat er dort auf. Daher war es nur folgerichtig, wenn Orfeo den Verstorbenen in seiner Edition „Wiener Staatsoper Live“ gleichsam in memoriam mit Mitschnitten zwischen 1997 und 2014 bedenkt. Enthalten sind auf der 73-minütigen CD Auszüge aus Opern von Beethoven, Wagner und Strauss, wobei der Bayreuther Meister das Gros der Platte ausmacht. In gleich vier Partien ist Botha hier dokumentiert. Zuvörderst ist sein Lohengrin anzuführen, von dem er auch in einer Gesamteinspielung des WDR unter Semyon Bychkov verewigt wurde (Profil/Hänssler). Mit dieser Rolle debütierte er Anfang 1997 in Berlin als Wagner-Sänger. Der enthaltene Mitschnitt datiert auf den 20. Februar desselben Jahres, entstand also nur wenige Wochen danach. Mehr noch als in der elf Jahre jüngeren Gesamtaufnahme verkörpert Botha den Typus des jünglingshaften Helden, dem weder Raum noch Zeit etwas anhaben können. Überirdisch erscheint sein Vortrag in der Brautgemach-Szene an der Seite von Cheryl Studer, und zumindest in jüngerer Zeit wird man sich lange nach einem vergleichbaren Lohengrin-Sänger umschauen müssen. Vermutlich bewusst wurde auf die Gralserzählung verzichtet, die Botha bereits einmal auf CD vorgelegt hat (Oehms). Der Stolzing aus den Meistersingern darf gewissermaßen als die logische Konsequenz des umjubelten Wagner-Debüts Bothas angesehen werden. Wie das informative Beiheft vermerkt, habe der Tenor in diesem fränkischen Rittersmann seine Lebensrolle gesehen. 1998 debütierte er damit zunächst an der Wiener Volksoper, ab 2002 auch im Haus am Ring. Der hier dokumentierte Mitschnitt des Preisliedes – ihm zur Seite kongenial James Rutherford als Sachs – stammt aus Bothas letzter Aufführungsserie im November 2012. Ich selbst habe ihn seinerzeit unter dem Dirigat von Simone Young, der bevorzugten Orchesterleiterin an der Seite Bothas, an der Staatsoper erlebt.
Diese Eindrücke werden durch das Tondokument nachdrücklich bestätigt, Johan Bothas Vortrag war damals mit das Highlight des Abends. Eine Gesamtaufnahme von 2008 unter Christian Thielemann ist auf DVD erschienen (Unitel). Die beiden anderen auf der CD festgehaltenen Wagner-Rollen sind der Parsifal (Aufnahme vom 11. April 2004) und der Tannhäuser (Aufnahme vom 16. Juni 2010). Vollzieht ersterer im Laufe der gleichnamigen Oper die Wandlung vom Knaben zum gestandenen Mann, ist der Tannhäuser doch von gänzlich anderer Natur. Auch diese, eine der schwierigsten Tenor-Rollen bei Wagner, bewältigt Botha – hier gemeinsam mit Christian Gerhaher als Wolfram -, obgleich ihm in der Romerzählung zuweilen auch seine Grenzen aufgezeigt werden. Kein Wunder, dass er sich an den Siegfried niemals heranwagte. Das Rätsel, wieso ausgerechnet der für Botha so prägende Siegmund hier nicht enthalten ist, löst sich ebenfalls dank des Booklets, wo auf die bereits vorgelegte Aufnahme der Walküre von 2007 unter Franz Welser-Möst verwiesen wird (ebenfalls bei Orfeo erschienen). Der Erik aus dem Fliegenden Holländer fehlt gänzlich mangels eines erhaltenen Tonmitschnitts. Bothas kompletter Parsifal ist wiederum unter Thielemann auf DVD bzw. Blu-ray dokumentiert (DG/Unitel). Nochmal zurück zu den Anfängen. Die Arie „Gott, welch Dunkel hier!“ aus dem Fidelio ist nicht nur chronologisch der früheste der enthaltenen Opernausschnitte; den Florestan sang Botha auch bereits im Jahre 1997. Der Mitschnitt datiert indes auf den 30. Oktober 2004 und fand unter Leitung des damaligen Musikdirektors Seiji Ozawa statt.
Wie schon bei den Wagner-Partien kommt Botha hier seine belcanteske Italianità zugute. Überhaupt: Der Gesangsstil Bothas entspricht so gar nicht dem grobschlächtigen Typus, den manch anderer besonders im Wagner-Fach etablierte Tenor an den Tag legt. Leider ist das italienische Fach auf dieser Platte ob der beschränkten Spielzeit überhaupt nicht enthalten, lieferte Botha doch gerade auch als Cavaradossi, Andrea Chénier, Turiddu, Otello und Radames eindrückliche Hörerlebnisse. Dafür ist mit Richard Strauss auf der CD ein Komponist gleich dreimal vertreten, bei dem die Tenöre gemeinhin eher nicht die Hauptrolle spielen. Freilich, auch hier tut Johan Botha das ihm Mögliche, um das Gegenteil zu beweisen. Die von Strauss geforderten Höhen erreicht er mühelos, ob nun als Kaiser (Aufnahme vom 11. Dezember 1999), Apollo (Aufnahme vom 13. Juni 2004) oder Bacchus (Aufnahme vom 18. Oktober 2014).
Kurios ist beinahe, dass es ausgerechnet der Apollo war, den Botha am häufigsten in Wien sang, eine besonders schwierige Partie, mit der man ihn auf den ersten Blick gar nicht unbedingt verbinden würde. Er ist damit sogar in einer Gesamteinspielung der Daphne unter Bychkov festgehalten (Decca). Botha war eine jener Sängernaturen, denen die Reduzierung auf das rein Stimmliche entgegenkam. Die CD-Produktion lässt seine eher mäßige Schauspielkunst außen vor und konzentriert sich auf das Wesentliche. Es wäre nämlich schade, schlösse man von rein optischen Gesichtspunkten auf das Können eines Künstlers. Ein Könner war er ohne Zweifel, was diese Edition nur abermals unterstreicht. Wie schon so häufig, widmet sich Orfeo dem Andenken bedeutender Interpreten und leistet mit dieser kleinen, aber feinen CD seinen bescheidenen Beitrag zum anhaltenden Nachruhm des Kammersängers Johan Botha. Daniel Hauser