Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Und ganz zum Schluss …

 

Pech hat Ludwig van Beethoven mit dem Jahr seines 250. Geburtstags, denn aus vielen Vorhaben  zu seinen Ehren wurde dank Corona rein gar nichts, einige immerhin konnten wenigstens in veränderter, sich auf das Geschehen einstellende Produktionen das Licht der Welt erblicken, so wie die Aufführung der zweiten Fassung des Fidelio von 1806, der stilistisch zwischen der Leonore von 1804 und der endgültigen, dritten Fassung von 1814 steht. Von seinem Vorgänger unterscheidet sich das Werk durch die Reduzierung auf zwei Akte, von seinem Nachfolger unter anderem durch das Fehlen des schnellen Teils („Ein Engel, Leonore“) in der Arie des Florestan, eine weitere Arie des Pizarro mit Chorbegleitung oder ein Duett Marzelline-Fidelio: „Um in der Ehe froh zu leben“.

Nach einer kurzen Führung durch den Aufführungsort Theater an der Wien wird dem Zuschauer verdeutlicht, dass es sich nicht um eine Theateraufführung, sondern um eine Filmaufnahme handelt, indem viele Kameras und die Arbeit an ihnen gezeigt wird, erst danach darf die Leonore Nr. 3 erklingen, und Manfred Honeck führt die Wiener Symphoniker zu leidenschaftlichem, überaus engagiertem Spiel. Zu diesem scheint die fast abstrakte Szene gar nicht zu passen, ist aber optisch das wirklich Sensationelle der Aufnahme, ein Kunstwerk von Barkow Leidinger, eine so imposante wie schwerelos erscheinende, sich vielfach windende und zu einer Ellipse führende Treppe, auf der allerdings die Sänger wie verloren, ja bedeutungslos erscheinen. Zudem sind sie von Judith Holste in unscheinbare graue Klamotten gewandet, sogar Marzelline muss in grauen Schlabberhosen versuchen, Fidelio zu umgarnen. Nur Don Fernando ist ein Anzug in zartem Grün vergönnt, wohl weil er ein Hoffnungsträger ist. Christoph Waltz führt Regie und verdammt Solisten wie Chor dazu, bis zum Ende miesepetrig dreinzuschauen, von Befreiungsoper keine Spur. Es gibt einzelne feine Nuancen in der Personenführung, an denen man aufmerkt und sich mehr davon erhofft, jedoch gleich wieder durch Einfallslosigkeit enttäuscht wird, wenn Ausdruckslosigkeit verordnet zu sein scheint. Und nicht zu den besten, wenn auch spektakulärsten Einfällen gehört sicherlich, dass zu Beginn Florestan bzw. sein Stunt die gewaltige Treppe hinunter kullert, um an ihrem Boden, d.h. seinem Gefängnis, zu landen. So etwas muss man vorher lange trainiert haben, wenn man nicht Schaden nehmen will.

Mit hellem Sopran nicht ohne Schärfen singt Nicole Chevalier die Leonore, gefällt am meisten in den lyrischen Teilen, so in einem innigen Beitrag zu „Mir ist so wunderbar“, aber mit Problemen in „Ich folg dem innern Triebe“, wo die Stimme flach zu werden scheint. Insgesamt wünscht man sich für die Partie mehr Rundung und Wärme. Der Florestan von Eric Cutler profitiert davon, dass in dieser Fassung vom Engel Leonore nicht die Rede ist, die Stimme ist wenig geschmeidig, das Timbre nicht ansprechend, und im Dialog ist er kaum verständlich. Viele große Rollen singt seit einiger Zeit Christof Fischesser und bewährt sich auch als Rocco, der in dieser Produktion Leonore entwaffnet, was ihn nicht sympathisch macht. Ein junger Pizarro ist Gabor Bretz, der nicht brüllt, sondern singt und das textverständlich, weniger auch vokales Grimassieren beim „Er sterbe“ würde ihn noch glaubhafter erscheinen lassen. Ein feines Soubrettenstimmchen hat Mélissa Petit für die Marzelline, silberhell und mit leichtgängigen Koloraturen, die aus der ersten Fassung verblieben sind. Ein kerniger Spieltenor ist Benjamin Hulet als Jaquino, etwas verquollen hört sich die Stimme von Károly Szemerédy  für den Don Fernando an. Stellvertretend für den Florestan kugelt Gerhard Salem die Treppen hinunter. Eine Offenbarung ist weder die Regie des Oskarpreisträgers noch sind es die Leistungen der Sänger, eher schon die vom Arnold Schoenberg Chor und vom Orchester. (Unitel 803208). Ingrid Wanja

Erstmals

 

Die Veröffentlichung von Giacomo Meyerbeers Romilda e Costanza bei NAXOS schließt eine Lücke im Werkkatalog des Komponisten. Das im Jahre 1817 in Padua uraufgeführte Melodramma semisierio war die erste italienische Oper des noch unbekannten 26jährigen Komponisten. Sie spielt im Mittelalter in der Provence und handelt von zwei Töchtern – des Herzogs der Bretagne und des Grafen von Cisteran – sowie den Zwillingsbrüdern Teobaldo und Retello. Es gibt  kriegerische Konflikte und private Eifersuchtsszenen, denn Teobaldo, mit Costanza verlobt, hat sich in Romilda verliebt. Am Ende nimmt er sie zur Frau, während sich Costanza Retello zuwendet.

Die Live-Aufnahme stammt vom Festival ROSSINI in WILDBAD 2019 und folgt mehreren NAXOS-Ausgaben von seltenen Rossini-Opern – ein steter Beweis für das innovative Wirken des Unternehmens. Aufgeführt wurde die Originalversion, welche nun als World Premiere Recording auf drei CDs vorliegt (8.660495-97).

Luciano Acocella steht an Pult des Passionart Orchestra und leitet eine Besetzung von recht unterschiedlichem Niveau. Das betrifft vor allem die beiden Sängerinnen der Titelrollen. Die Sopranistin Luiza Fatyol als Costanza führt sich mit der lieblichen CavatinaGiungesti, o caro istante“ ein, lässt aber eine herbe Stimme von oft heulendem Klang hören. Ihre Aria im 2. Akt, „Ah! più non tornerà“, ist bequemer notiert in der mittleren Lage und liegt ihr deutlich besser. Die Cabaletta, „E vittima  d’amore“, offenbar dann freilich wieder grelle Spitzentöne. Auch die Altistin Chiara Brunello als Romilda beginnt mit einer Cavatina („ Tu sai qual’oggetto“) und nimmt vom ersten Ton mit ihrem dunklen, samtigen Timbre in der Mittellage für sich ein. Lediglich in der Höhe ist der Ton nicht so angenehm. Mit Pierotto, einem Jugendfreund Teobaldos, hat sie ein ausgedehntes Duett von rossinianischer Munterkeit, in welchem sich ihre Stimme mit der des Baritons  Giulio Mastrototaro perfekt verblendet. Er hat zu Beginn des 2. Aktes in der Aria „Se nel mondo“ auch Gelegenheit, solistisch mit eloquentem Vortrag zu imponieren. Natürlich haben die beiden Titelheldinnen auch ein großes Duett, welches im 2. Akt platziert ist („L’infedel punir dovrei“) und beider virtuoses Vermögen fordert. Die Szene wird zu Recht vom Publikum mit reichem Beifall bedacht. Mit der Gran scena  ed aria, „Ombre ferali della morte/Volate a sua defesa“, fällt Romilda das letzte Solo der Oper zu, welches die Interpretin mit Bravour absolviert.

Teobaldo ist der kongolesische Tenor Patrick Kabongo, der mit der Cavatina „Oh padre  mio!/Ombre amata“ auftritt. Die Stimme ist weich und schwärmerisch, bewältigt die exponierte Tessitura und das Zierwerk in der Cabaletta „Della gloria il vivo ardore“ souverän. Unbedingt erwähnenswert ist der Bariton Emmanuel Franco, der als Kastellan Albertone in der Aria „Chi sta al mondo“ mit prachtvoller, flexibler Stimme begeistert.

Die deutlich von Rossini inspirierte Musik leitet Acocella mit Verve und Esprit, was sich schon in der zweiteiligen Sinfonia ankündigt, welche er mit wirkungsvoller acellerando-Steigerung ausbreitet. Das ausgedehnte Finale primo weiß er effektvoll zu entwickeln und sorgt auch in der Scena e finaletto für einen turbulenten Wirbel. Bernd Hoppe

Lortzings „Weihnachtsabend“ & „Andreas Hofer“

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Zum Fest der eher kindlichen Liebe und Freude fällt dem journalistischen Opernfreund beim ersten Nachdenken nicht viel anderes ein als die übliche Referenz zu Hänsel und Gretel Humperdincks (was sich gar nicht für Kinder eignet und keine Kinderoper ist). Weihnachten gibt’s vielleicht noch in Massenets Werther oder in Menottis Ahmal and the nightly visitors, vielleicht noch Wagners Tannenbaum, dann wird es schon nachdenklicher und schwieriger.

Albert Lortzing und sein Librettist Philipp Reger, Daguerrographie 1848/H. Chr. Worbs/ Lortzing-Gesellschaft

Vergessen ist Albert Lortzings bezaubernde Kurzoper Der Weihnachtsabend, die es m. W. bislang in moderner Zeit nur in Freiberg/Döbeln 2001 (gekoppelt mit Der Pole und sein Kind) sowie 2014  in Annaberg-Buchholz am dortigen Eduard von Winterstein-Theater (hier nun mit Andreas Hofer), beide in der verdienstvollen Intendanz Ingolf Huhns, gegeben hat ( operalounge.de).

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Damals (2014) schrieb unser Korrespondent Rolf Fath zur Aufführung: Genauso könnte es gewesen sein, als Ludwig Richter seine biedermeierlichen Familienalben entwarf oder eben Albert Lortzing in seiner Detmolder Zeit mit seiner stetig wachsenden Familie Weihnachten feierte. In dem „launige Szenen aus dem Familienleben und Vaudeville“ bezeichneten Singspiel in einem Akt Der Weihnachtsabend stellte Lortzing, laut Jürgen Lodemann, „in jeder Weise seine persönliche Umgebung auf die Bühne, seine Detmolder Welt, ja, seine eigene Familie, und das sehr konkret.

"Der Weihnachtsabend" von Lortzing in Annaberg-Bucholz/ Foto Dirk Roeckschloss/Eduard-von-Winterstein-Theater

„Der Weihnachtsabend“ von Lortzing in Annaberg-Bucholz/ Foto Dirk Roeckschloss/Eduard-von-Winterstein-Theater

Es entsteht, so muss man es heute werten, ein Dokument, eines, das in die Geschichte der deutschen Familie und ihrer Rituale gehört“. Mit Der Weihnachtsabend traf Ingolf Huhn eine ausgezeichnete Wahl für sein Eduard von Winterstein-Theater, entspricht doch Weihnachten, so wie wir es uns erträumen, nirgendwo so genau unseren Vorstellungen wie im erzgebirgischen Annaberg-Buchholz, wo der Weihnachtsmarkt auf dem historischen Markt, der Blick auf die St.Anna-Kirche und die von Schwibbögen illuminierten Fenster der Altstadt eine ganz besondere und einzigartige Weihnachtsatmosphäre schaffen (14. Dezember). In Tilo Staudtes lindgrünem Raum mit überdimensionierter Tür und mannshohem Fenster, an dessen Brüstung das sehnsüchtig seinen Geliebten Gottlieb herbeiwünschende Suschen kaum hinaufreicht, wirken die Figuren wie in eine Puppenstube gestellt. Niedliche Gestalten aus einer Zeit, die so harmlos nicht war, wie sie uns heute scheinen mag. Es handelt sich um die Figuren und Standardsituationen der Komödien und Lustspiele der Lortzing-Zeit, darunter der ganz in seinen Sammlungen ausgestopfter Tiere aufgehende Privatgelehrte Käferling, seine die allgemeine Teuerung beklagende Frau und ihre Besucher, der gehbehinderte Kaserneninspektor Sommer, der sich Hoffnungen auf Suschen macht, und der gütige Vetter Michel, der Suschen beisteht und Käferling und Sommer übertölpelt , indem er Gottlieb kurzerhand in einem Korb als Weihnachtsgeschenk unter den Christbaum schiebt.

Andreas Hofer/Postkarte/OBA

Andreas Hofer/Postkarte/OBA

Das ist unaufwendig liebreizend, völlig banal, zeigt aber Lortzings eminentes Gespür im Umgang mit solch typischen Bühnensituationen und seine feine Charakterisierung der Figuren, etwa des sich in Sprichwörtern ergehenden Sommer („Es sind nicht alle Engel, die weiße Gewänder tragen“, „Ein mutiges Pferd will jeder reiten“ uva.), die pralles Theaterwissen verraten und bereits auf seine volkstümlich gewordenen Figuren im Wildschütz, Zar und Zimmermann oder der Undine vorausweisen. Huhn hat die Vorbereitung für den Weihnachtsabend liebevoll umgesetzt, macht aus der Szene zwischen Suschen und ihren beiden Verehren sowie Vetter Michel eine handfeste Kasperliade, ohne dass die derbe Reminiszenz an die Commedia dell’ arte die Formen sprengt, und zeigt ein anmutiges Zeitbild. Ich fand das ganz süß. Vor allem passt das so ausgesprochen gut in das Annaberger Ambiente.

"Andreas Hofer" von Lortzing in Annaberg-Bucholz/ Foto Dirk Roeckschloss/Eduard-von-Winterstein-Theater

„Andreas Hofer“ von Lortzing in Annaberg-Bucholz/ Foto Dirk Roeckschloss/Eduard-von-Winterstein-Theater

Lortzings Liederspiele waren Vaudevilles, deren Sprech- und Gesangstexte von ihm stammten, bei deren Musik er aber auf bekannte Opernmelodien zurückgriff und somit eine Art Wunschkonzert oder Best of schuf. Zu den zehn unaufwendig zu singenden Nummern, fünf Solonummern, zwei Duettchen und dem obligaten Vaudeville-Reihengesang am Schluss, gehören u. a. drei Ausschnitte aus dem Don Giovanni und der Zauberflöte sowie etwas aus Isouards Cendrillon .

 

Von Ingolf Huhn, der seinem Theater mit Ausgrabungen von Goldmark und Mangold Aufmerksamkeit sicherte, erwartet man mehr: Andreas Hofer, zu Lortzings Lebzeiten nie aufgeführt, später, etwa unter Emil Nikolaus von Reznicek in einer Bearbeitung, erlebte jetzt in Annaberg seine Uraufführung. Im Gegensatz zum Weihnachtsabend handelt es sich bei Andreas Hofer um kein Stück im eigentlichen Sinne, eher um eine Episode, ein Stimmungsbild, eine höchst merkwürdige Mischung aus Kampfgetümmel und – am Tag der Verlobung von Hofers Tochter Else mit seinem Adjutanten Conrad – wiederum häuslicher Idylle.

"Andreas Hofer" von Lortzing in Annaberg-Bucholz/ Foto Dirk Roeckschloss/Eduard-von-Winterstein-Theater

„Andreas Hofer“ von Lortzing in Annaberg-Bucholz/ Foto Dirk Roeckschloss/Eduard-von-Winterstein-Theater

Dazu lesen wir in Band 2 der von der Albert-Lortzing-Gesellschaft herausgegebenen Schriftenreihe. „1832 und 1833 schrieb Albert Lortzing während seines Engagements als Schauspieler und Sänger am Detmolder Hoftheater vier sog. Vaudevilles, d.h. einaktige Schauspiele mit Gesang, bei denen die Musikstücke meist auf bekannte Melodien oder Kompositionen zurückgreifen. Wie bei allen seinen Singspielen und Opern schreibt Lortzing den Text zu diesen Einaktern selbst. Haben zwei der Vaudevilles, Der Weihnachtsabend und Szenen aus Mozarts Leben, für dieses Genre eher gewöhnliche Inhalte, so greift Lortzing in den anderen beiden, Der Pole und sein Kind und Andreas Hofer, dagegen  die allgemeine politische Diskussion und emotionale Stimmung der frühen 30er Jahre des 19. Jahrhunderts auf.“  Das nach dem Wiener Frieden von 1809 spielende Stück endet nach Aufdeckung eines Verrats, „mit einem Dank an den Allmächtigen und einem Lob auf den österreichischen Kaiser“. Letzteres mit Haydns „Gott erhalte Franz, den Kaiser“. Neben Ausschnitten aus der Schöpfung, einem Brösel aus Die Stumme von Portici sowie Beispielen von Spohr und Weber, ist der Anteil von Lortzings Musik, die in den dramatisch geballten Revolutionsszenen ungewohnte Dramatik annimmt, in den – Chor- und Ensemblestücken – in Andreas Hofer gibt es nur einer Arie und ein Duett – umfangreicher und gewichtiger. Das beginnt mit der Ouvertüre, die von pastoraler Idylle zu kämpferischer Entschlossenheit führt und das Orchester mit allen Farben romantischer Stimmungsbildnerei beschäftigt.

"Andreas Hofer" von Lortzing in Annaberg-Bucholz/ Foto Dirk Roeckschloss/Eduard-von-Winterstein-Theater

„Andreas Hofer“ von Lortzing in Annaberg-Bucholz/ Foto Dirk Roeckschloss/Eduard-von-Winterstein-Theater

GMD Naoshi Takahashi hat die engagiert spielende Erzgebirgische Philharmonie glänzend instruiert, wie denn die Einstudierung beider Werke von der liebevollen Hingabe zeugt, mit dem an diesem Haus gearbeitet wird. Beide Singspiele, die zum Großteil aus Sprechszenen bestehen, lassen sich auch nur mit einem Ensemble bewerkstelligen, das noch mit dem Genre der Spieloper und Operette vertraut ist und Sprechtexte punktgenau und pointensicher liefert. Huhn hat beste Arbeit geleistet, so dass selbst die patriotischen Wechselrufe von Hofer und seinen Vertrauten ohne größere Peinlichkeit abgehen.  Leander de Marel verfügt als Käferling, aber vor allem als Hofer, nicht mehr über die vokalen Möglichkeiten für eine solche Partie, und wird im Duett mit dem Anführer Speckbacher von dem mit gravitätischer Bassgewalt lustvoll auftrumpfenden László Varga ausgestochen. Madeleine Vogt wirkt als Suschen und Else etwas nadelspitz und streng, Marcus Sandmann versieht als Gottlieb und Conrad die Rolle des Verlobten zweimal mit spieltenoraler Wendigkeit; Michael Junge als Sommer und Pater Joachim sowie Matthias Stephan Hildebrandt als Vetter Michel und Meyer beweisen sicheren Bühneninstinkt. In die anfängliche Wohnstube stellt Tilo Staudte für den Andreas Hofer hinterleuchtete Bergwipfel, vor deren Spielzimmerpanorama Ingolf Huhn das Singspiel in einer Mischung aus Bauerntheater – die Tiroler Bauern mit Heugabeln und Dreschflegeln Statur, dazu mächtige, angeklebte Bärte –  Kriegs- und Lagerfeuerromantik und Befreiungsstück ausbreitet.  Das Stück dürfte heute kaum mehr Anhänger finden. Und trotzdem: Annaberg hat’s gewagt. Rolf Fath

Offenbachs „Rheinnixen“

Wagner war der umstrittenste Komponist seiner Zeit, Offenbach der erfolgreichste, worauf zuletzt Laurence Senelick mit Nachdruck (s. auch dessen Artikel in operalounge.de) hinwies. Beide waren unstete Reiseexistenzen, Europäer und Exilanten auf die eine und auf die andere Weise. Vor allem aber sind Wagner und Offenbach Antipoden: Man kann dem ersten großen Offenbach-Bio­graphen, Anton Henseler nur zustimmen, als er 1930 schrieb: „Offenbachs Prestis­simo-Galoppaden und Wagners in feierlichem Grave einher­schrei­tender Ernst, Offenbachs parodistische Verhöhnung alter Sagenstoffe und ihre philosophische Durchdringung bei Wagner, das sind nicht nur Gegensätze der Gestaltung, sondern auch der geistigen Haltung, wie sie als äußerste Pole die Möglichkeiten und den Reichtum der Musik nach 1850 umspannen.“  Siegfried Krakauer pflichtete dem in seinem Offenbach-Buch von 1937 bei: „Tatsächlich verkörperten er (Offenbach) und Wagner zwei Welten, die einander ausschlossen.“

Das ist auch der Ausgangspunkt Anatol Stefan Riemers für seine Untersuchung von den Rheinnixen contra Tristan und Isolde an der Wiener Hoifoper im Tectum Verlag Frankfurt. Sein Anliegen ist es, „die divergierenden ästhetischen Konzepte“ der beiden Komponisten herauszuarbeiten, „die sich in profunder Abneigung verbunden“ waren, wie Sven Hartung im Auftakt des Buches betont, dem Riemer ein grundsätzliches Kapitel über das „Verhältnis Offenbach-Wagner“ voranstellt, in dem natürlcih „der Beginn des Schlagabtauschs beider Kompo­nisten“ nicht unerwähnt bleibt: Die Karnevalsrevue („Les Carnaval des Revues“ von Grangé und Gille) in den Bouffes Parisiens, für die Offenbach 1860 eine komische Szene beigesteuert hat: „Le Musicien de l´Avenir“ (der Zukunfts­musiker), in der er Wagner eine lächerliche, kakophonische Sinfonie dirigieren und eine Zukunfts-Tyrolienne singen lässt . Darin nahm er eine clowneske Wagnerparodie auf, die er kurz zu Wagners Ankunft in Paris geschrieben hatte. Wagner gab damals in Paris Konzerte, um Schulden zu bezahlen. Er war ja notorisch pleite, bevor König Ludwig II. in seine Leben trat. In Paris verspottete man Wagner damals als den „Zukunftsmusiker“.

„Tannhauser“ 1861: Wagners Librettist für den 1. Akt und die Übersetzung ins Französische, Charles Nuitter/ Wiki, der auch an der Erstform der geplanten „Fees du Rhin“ beteiligt war.

1863, zu seinem 50. Geburtstag weilte Wagner in Wien. Dort huldigten ihm die kaufmännischen Gesangsvereine und Studenten mit einem Fackelzug. Auf einem weißen, mit Bändern in den deutschen Farben gezierten Atlaspolster wurde ihm ein Lorbeerkranz dargebracht. Das Atlaspolster trug als Aufschrift die in Gold gestickten Worte: ‚Dem verehrten Meister Richard Wagner.“ Es war das erste Mal, dass er als „Meister“ verehrt wurde, was Wagners übergroßem Ego enorm schmeichelte. Er hoffte damals, in Wien seinen „Tristan“ uraufführen zu können. Doch nach 77 Proben wurde das Werk für un­spielbar erklärt. Wagner erhielt, wie der erste Wagnerbiograph, Carl Friedrich Glasenapp berichtet – einen Bescheid der Hofoperndirektion, der ihn tief kränkte: „Man glaube’…für jetzt den Namen »Wagner« genügend berücksichtigt zu haben und finde für gut, auch einen anderen Tonsetzer zu Worte kommen zu lassen.‘ Dieser Andere war Jacques Offenbach.“ Glasenapp schreibt weiter: „Wirklich war bei diesem ein besonderes, eigens für Wien zu schreibendes, neues Werk bestellt worden: die fertige Partitur lag bereits im Pulte Direktor Salvis.“ Offenbachs große romantische Oper „Die Rheinnixen“ hatten in Wien also über Wagners „Tristan“ gesiegt. Durch diese Kränkung wurde Offenbach für Wagner endgültig zum Roten Tuch.

Ernst von Wolzogen, Dichter und Bühnenautor, besorgte in großen Teilen die Übersetzung und Neufassung des Librettos der „Rheinnixen“/ Wikipedfia

Ein Wort zum Titel (der einem on-dit zufolge auf den Wiener kritiker Eduard von Hanslick zurückgeht, der eine publikumswirksame PR-Masche vorschlug…): „Der Rhein“ war spätestens seit Friedrich Schlegel Topos der Utopie des Deutschen: „Nirgends werden die Erinnerungen an das, was die Deutschen einst waren, und was sie sein könnten, so wach als am Rhein.“ Zurecht schreibt Frank Harders-Wuthenow vom Verlag Boosey & Hawkes, der die kritische und praktische Offenbach-Edition Keck herausgibt: „Als Offenbach, sein Librettist Charles Nuitter (eigentlich Truinet, Archivar der Pariser Oper) und sein Übersetzer Alfred von Wolzogen (Vater – Ironie der Operngeschichte – Hans von Wolzogens, dem Herausgeber der Bayreuther Blätter) an den Rheinnixen arbeiten, war der Rhein allerdings längst zur politischen Demarka­tionslinie geworden. …Als der in Köln geborene Offenbach an den Rheinnixen arbeitete, war das Textbuch zu den Meistersingern bereits entstanden, in dem die ‚heilige deutsche Kunst‘ gegen ‚welschen Dunst und Tand‘ ausgespielt wird. Und wer stand für diesen welschen Tand, wenn nicht Offenbach?“

Die Oper, deren ursprüng­licher Titel „Les Fées du Rhin“ lautete und deren originales franzö­sisch­spra­chiges, aber wegen des Wiener Uraufführungsauftrags nicht vollendetes Libretto von Charles Nuitter von Alfred von Wolzo­gen (auch unter Mitwirkung von Offenbach selbst) nicht eben genial für Wien ins Deutsche übersetzt und vervollständigt wurde. Obwohl die Wiener Uraufführung ein großer Erfolg war, verschwand die Oper für 150 Jahre. Mit einer Aunahme: Am 1. Januar 1865 brachte die Kölner Oper das Werk als deutsche Erstaufführung, wie bei der Wiener Uraufführung in einer stark gekürzten dreiaktigen Fassung heraus. Schon nach der zweiten Aufführung wurde das Werk wegen der geringen Besucherzahlen abgesetzt. Die Tatsache, dass ausgerechnet ein in Frankreich reüssierender Jude rheinischer Abstammung für Wien eine Rhein-Romantik-Oper geschrieben hatte, hatte offenbar zu viele Tabus verletzt.

Offenbachs „Rheinnixen“ hatten ihre moderne Erstaufführung in Ljubljana 2005/ Scholz

Im Jahre 1999 wurde beim Verlag Boosey & Hawkes unter dem Herausgeber Jean-Christophe Keck eine Offenbach-Edition in Angriff genommen, zu der auch dieses Werk gehörte. Im Juli 2002 fand in Montpellier unter Friedmann Layer eine konzertante Urauffüh­rung der nun vorlie­genden, vollständigen deutschen Fassung der vieraktigen Oper statt, die ihren Weg auch auf die CD fand. In Deutsch.

Szenisch wurde sie erstmals aus­gegraben in Ljubliana 2005 (die deutschsprachige Aufführung wurde auch in Winterthur, St. Pölten und Bozen gezeigt) sowie Trier 2005, Cottbus 2006, Bremerhaven 2007 und an der New Sussex Opera 2009, Eine weitere deutschsprachige Aufführung gab es unter Marc Minkowski am 1. Dezember 2005 an der Opéra National de Lyon.

Die französische Originalfassung, „die der stellenweise sehr unbeholfe­nen deutschen Übersetzung Wolzogens qualitativ weit überlegen ist“ (Frank Harders-Wuthe­now), ist seit Offenbachs Lebzeiten bis zum 28. 09. 2018 nie aufgeführt worden. Im Vorfeld des Offenbach-Gedenkjahres 2019, wurde auch sie von Jean-Christophe Keck vervollständigt und komplett heraus­gegeben. Keines der großen europäischen Opernhäuser, zumal die hauptstädtischen, hat sich dafür interessiert, diese nie aufgeführte Fassung der Oper uraufzuführen. Immerhin, die Opéra de Tours und das Stadttheater Biel  brachten „Les Fees du Rhin“ 2018 erstmals in einer gemeinsamen Produktion auf die Bühne (über erstere wurde in operalounge.de berichtet).  Es scheint bemerkenswert, dass die so lautstark akklamierte französische Fassung kein internationales Echo gefunden hat und dass es ein französisches und ein schweizerisches Stadttheater waren, die die Ehre des Franzosen Offenbach hochhielten. Weder der Palazetto Bru Zane noch eine namhafte CD-Firma haben sich interessiert.

Die einzige offizielle Aufnahme der „Rheinnixen“, zudem in deutscher Sprache,“ ist der Mitschnitt aus Montpellier unter Friedemann Layer von 2002 bei Accord (vergriffen)

„Die Rheinnixen“ sind eine eindeutig pazifistische, vaterländische Oper des im französischen Exil lebenden Offenbach, der Armgard, die weibliche Hauptpartie, zur Symbolfigur deutscher Einigungssehn­süchte (lange vor 1871) macht. Ihr Deutschlandlied, das Offenbach schon 1848 komponiert hatte, wird wie die Feen-Barcarole zum Leitmotiv dieser romantischen Oper: „Du liebes Land, Du schönes Land, Du schönes, großes deutsches Vaterland.“

Es wird wie die Feen-Barcarolen-Ouvertüre, die später auch in die Oper „Les contes d´Hoffmann“ eingeht, zum Leitmotiv dieser patriotischen  Oper (des im Exil lebenden Deutschen Offenbach), die von einem friedlichen, geeinten  Deutsch­land träumt (so wie auch der im Exil lebende Wagner immer von einem utopischen Deutschland „als reinem Metaphysicum“ träumt).  Frauen (Feen) siegen in dieser Oper über Männer (Soldaten), Liebe triumphiert in ihr über Krieg.

Damit ist die Oper sehr nahe bei Wagner, dessen Frauen ja auch meist Männer erlösen oder über sie triumphieren. „Gleichzeitig, so betont Riemer, sind die „Rheinnixen“ „am stärksten der musikalischen Sprache in den Romantischen Opern Wagners bis zum Tristan annähert.“ Den „Tristan“ hat Wagner allerdings nicht als „Romantische Oper“ bezeichnet, sondern als „Handlung.“ Das Werk ist formal keine Oper mehr, sondern bereits „Wort-Ton-Dichtung“, um nicht zu sagen „Musikdrama“, Wagner mochte das Wort nicht.

Offenbach: „Les Fees du Rhin“ /Szene aus der Aufführung in Biel nach Toulouse 2019/ Foto Joel Schweizer (operalounge.de berichtete über die Aufführung)

Die Lebenswege der Komponisten Wagner und Offenbach ähneln sich in gewissem Sinne, sie überschneiden sich biografisch sogar, und was ihr Werk angeht, so verschieden es auch ist: Humor Gesellschaftskritik und Träumen von Utopischem zeichnen es in beiden Fällen aus.  Natürlich setzt das Musiktheater von Wagner und Offenbach an entgegengesetzten Enden an und arbeitet mit konträren Mitteln. Aber es ist doch in beiden Fällen europäisches Musiktheater von Rang, das aus der Romantik kommend, Gegenwart kritisiert und von Besserem träumt, das Gesellschaft und Politik, Staat und Machtinstitutionen, bürgerliche Moral und Religion in Frage stellt. Beide – Wagner wie Offenbach – glaubten an das Gute im Menschen, deshalb stellten sie den Menschen in seiner ganzen Schäbigkeit, Niedertracht und Bösartigkeit dar. Der eine – Offenbach – schuf aus diesem Widerspruch Komödien, der andere – Wagner – Tragödien.  Der eine – Wagner – brachte Monstren, psychopathologische Extremfälle auf die Bühne. Der andere – Offenbach – Menschen wie Du und ich, Menschen von der Straße. Aber unter der Oberfläche vermeintlicher Wohlanständigkeit ließ er immer wieder das Monströse, oder sagen wir: die Abgründe des sogenannten „Normalen“ augenzwinkernd durchscheinen.

Die Marschrouten und die Methoden der beiden antipodischen Komponisten waren natürlich grundverschieden: Offenbach zielte auf gesellschaftliche Aktualität, auf´s Hier und Heute, heiter-satirisch, antiken Mythos parodierend und damit eine neue Gattung kreierend, eben die „Offenbachiade“, um den Begriff von Karl Kraus zu benutzen. Seine mit allen kompositorischen Wassern gewaschene Musik zeichnete sich durch eine Kompositionsweise aus, die sich aus Einflüssen der Synagogalmusik, der jüdischen Spielmannsmusiken, der Kölner Karnevalsmusik, der Opera buffa, der Opéra comique und der französischen zeitgenössischen Musik speiste und daraus eine sehr eigene, unverwechselbare  Tonsprache entwickelte, die die Brüchigkeit der modernen urbanen Welt durch wechselnde, geistreich kontrastierende wie rhythmisch mitreißende und humoristisch persiflierte Stilidiome zum Ausdruck brachte.

Offenbachs „Rheinnixen“ in der Erstaufführung in moderner Zeit in Ljubljana 2005/ Scholz

Wagner komponierte im pathetischen Rückgriff auf die Traditionslinie Gluck, Beethoven und Weber. Seine Werke waren Musiktheater im Sinne einer Schillerschen moralischen Anstalt und zielten aufs nachrevolutionäre gesellschaftliche Übermorgen. Er zog musikalisch eine Summe der Oper des 19. Jahrhunderts, deren traditionellen Formen er in spezifisch „deutschem“ Musikidiom fortsetzte, zum absoluten spätromantischen Höhepunkt führte und im „Tristan“ überwand.  Heiter-satirisches Musiktheater war seine Sache nicht. Seine Sache war die Oper, die er für sich als „Wort-Ton-Dichtung“, im Sinne eines Gesamt­kunstwerks neu definierte.  Offenbachs Musik (mit ihrem lustgewinnbringenden Hang zu Bewegung, zum Mecha­nischen und Spieluhrenhaften, ja Tänzerischen) fuhr seinem Publikum sprichwörtlich in die Beine. Wagners Musik erschien Vielen, wie der Maler Franz von Lenbach einmal bekannte, wie „ein Lastwagen zum Him­mel­reich“. Der kluge Friedrich Nietzsche schätzte Wagner vor allem als „Orpheus“ alles heimlichen Elendes“, wusste sich aber auch für „Sankt Offenbach“, wie er ihn einmal in einem Brief an Erwin Rohde (1868) nannte, zu begeistern. Da liest man: „Wenn man unter Genie eines Künstlers die höchste Freiheit unter dem Gesetz, die göttliche Leichtigkeit, Leichtfer­tigkeit im Schwersten versteht, so hat Offenbach noch mehr Anrecht auf den Namen »Genie« als Wagner. Wagner ist schwer, schwerfällig: nichts ist ihm fremder als Augenblicke übermütigster Vollkommenheit, wie sie dieser Hanswurst Offenbach fünf-, sechsmal fast in jeder seiner bouffonneries erreicht.“ So geschrieben im Nachlass der Achtzigerjahre.

Autor Riemer untersucht in seinen akkuraten Studien, die im Wesentlich auf seiner Frankfurter Inauguraldissertation von 1919 basieren, „stilistische Merkmale von Offenbachs Kompositionstechnik“ heraus zu arbeiten, um eine „Forschungslücke zu verkleinern.“

Seine Analysen beziehen sich vor allem auf die „der Erinnerungsmotivik“ sowie die „Chorbehandlung“ und die „Rollendarstellung der ‚Bösewichte‘“ sowie „das Verhältnis und die Wechselwirkung von Parodistischem und Wahrhaftigem. Schon die legendäre Eminenz unter den Musikwissenschaftlern Carl Dahlhaus, auf den sich Riemer bezieht, forderte: Es wäre an der Zeit, eine Geschichte des Erinnerungsmotivs zu schreieben, die sich von dem Zwang befreit, um Wagners Leitmotivtechnik zu kreisen.“ Riemer nimmt Dahlhaus beim Wort.

Das Buch ist sehr gelehrt, der Autor hat mit großem Fleiß eine immense Literaturmenge gesichtet und in minutiöser Präzision seine formalen Analysen betrieben. Und doch er hat auch Humor. Beispielsweise erwähnt er, dass gut drei Wochen vor der Münchner Uraufführung des „Rheingoldes“ am 22. September 1869 das Münchner Neue Fremden Blatt ein Wiener Bonmot zitiert: „das Rheingold (von Wagner) sei überhaupt gegen die Rheinnixen (von Offenbach) rein nix, und umgekehrt diese gegen jenes rein gold.“ Wagner contra Offenbach, das ist das Thema seines Buches.  Sein Resümee:  Offenbach sei unbedingt aufzuwerten. Immerhin belegt er beispielhaft am Beispiel der Rheinnixen, die der Offenbachspezialist Peter Hawig als „Kompendium des Offenbachschen Gesamt­schaffens“ bezeichnet, „Offenbachs planvolle und ausgeklügelte Themen­konzeption“, zu schweigen von seinem „Melodienreichtum“ und seiner „rhythmischen Erfindungsgabe“.

Schon der Musikschriftsteller Paul Becker stellte 1909 in seinem kleinen, aber feinen Offenbachbuch fest: „Die Plastik der Offenbachschen Rhythmen übertrifft die Leistungen aller seiner Vorgänger in der parodistischen Literatur – sie ist es, die ihn zum Meister der musikalischen Satire erhebt. …Der Witz des Offenbachschen Rhythmus…… bildet den Wesenskern des Künstlers… Sein sicherstes Wirkungsmittel … war sein rhyth­misches Sprachvermögen… In der Fähigkeit, das gesungene Wort mit der Tanzgebärde zu verbinden, liegt eines der tiefsten Geheimnisse von Offenbachs Kunst.“

Abgesehen von wenigen Diskussionspunkten (Riemer schreibt beispielsweise auf S. 246 „von weit über hundert Opern“ Offenbachs. Er meint wahrscheinlich weit über 100 Werke, die meisten sind allerdings keine Opern, sondern Werke des heiter-satirischen Musiktheaters) ist dieser sehr  gründliche Vergleich von Wagner und Offenbach außerordentlich aufschlussreich und gereicht Letzterem zur Ehre. Nach wie vor wird Offenbachs Musik ja weit unterschätzt, obwohl schon Gioacchino Rossini den aus Köln stammenden Pariser den „Mozart der Champs-Élysees“ nannte. Offenbach erfand die „Offen­bachiade“ und hatte als konkur­renz­loser und unübertroffener Meister der musikalischen Satire die ganze Welt in­fiziert.

Dieter David Scholz ist renomierter Musikjournalist und Autor zahlreicher >>Bücher über musikalische Themen/ operacomique

Nach Biografien des  Dirigenten und Komponisten Alexander Ritter und des Geigers  August Wilhelmj (Konzertmeister und Organisator von Wagners Bayreuther Orchester, eine Besprechung des neues Buches über den Komnponisten Ritter folgt zeitnah in operalounge.de) hat der Richard Wagner-Verband Frankfurt am Main eine weitere, wichtige Publikation ermöglicht, die ein erhellendes Licht wirft auf einen bislang zu Unrecht unterschätzten Komponisten und Zeitgenossen Wagners. Dieter David Scholz

Anatol Stefan Riemer: „Die Reinnixen“ contra „Tristan und Isolde“ an der Wiener Hofoper Studien zu Jacques Offenbachs Großer romantischer Oper aus dem Jahre 1864. Frankfurter Wagner Kontexte Band 3 Tectum Verlag, Frankfurt a.M., 294 Seiten, gebunden; ISBN 978-3-8288-4538-1 . Ein Literaturverzeichnis rundet das Buch ab, das mit zahlreichen Notenbeispielen und Grafiken aufwartet.  Leider gibt es kein Register und kein Namensverzeichnis. D. D. S.

Dazu auch die Betrachtungen von Boris Kehrmann in operalounge.de (Offenbachs Grand Opéra … apropos der Erstaufführung der Fees du Rhin in moderner Zeit in Tours (in der Ergänzung durch Christophe Mirambeau in Toulon 2018, namentlich zur Zweisprachigkeit und zu den  Problemen des Librettos. Abb. oben Kaiser Franz Joseph wurden die Wiener „Rheinnixen“ gewidmet/ Wikipedia) G. H.

Ein italienischer Gentleman und seine Familie

 

So ganz stimmt der Titel Franci, Stirpe canora (Die Francis, eine singende Sippe) nicht, denn Carlo Franci, der nach Untertitel die Geschichte von Vater Benvenuto, Onkel Tommaso, Schwester Marcella und Tochter Francesca sowie seine eigene erzählen soll, ist gar kein Sänger gewesen, sondern Dirigent, Komponist und nicht zuletzt Maler. Wobei außerdem nicht zutrifft, dass er der eigentliche Autor des Buches ist, denn auf das Interview mit ihm, das Maurizio Tiberi  geführt hat, entfallen gerade einmal 40 der insgesamt gut 380 Seiten des Buches.

Dieser Teil ist allerdings der mit Abstand interessanteste, ihm geht jedoch ein langes Vorwort voraus, in dem Tiberi in selbstverliebter Manier davon berichtet, mit wie vielen und mit welchen berühmten Sängern er bereits zu tun hatte, zu denen auch der allerdings zu seiner Zeit allerberühmteste Bariton Benvenuto Franci gehörte, von dem er zwei Platten herausgab und den er noch persönlich kennen lernte, wenn auch erst in sehr vorgeschrittenem Alter und wenig mitteilungsfreudig, denn „il passato è passato“. Immerhin erfährt der Leser, dass die Francis aus Pienza stammen, das der ältere Bruder Benvenutos, Tommaso Franci, Tenor war, aber nur wenige Jahre lang sang und dann der Familie zur Last fiel. Zwei Zeitungsausschnitte mit Kritiken über seinen Duca fallen denn auch wenig schmeichelhaft aus.

Auch Carlo Franci, der den Autor auf seinem Landgut nahe Città della Pieve empfing, kurz nachdem er zum allerletzten Mal und zwar das Orchester des Frankfurter Opernhauses dirigiert hatte, sieht sich erst einmal einem Schwall von Fakten gegenüber, die ihm sein Interviewer über seine Familie zu berichten weiß. Es gelingt ihm dann, darüber zu berichten, wie  und auf welchen Umwegen er zur Oper kam, als Kind erlebte, wie Richard Strauss, Mascagni und Giordano das Wirken seines Vaters in ihren Opern zu schätzen wussten, wie er den Reiz der menschlichen Stimme und besonders den der Mezzosoprane erst entdecken musste. Überraschendes erfährt der Leser über Christina Deutekom, Marilyn Horne, Katia Ricciarelli, Renato Bruson, Denia Mazzola, die nicht verneinen konnte, dass er der einzige Dirigent ist, mit dem sie nicht gezankt hat.  Dafür stellt er ihr das Zeugnis aus, dass sie zwar eine schlechte Sängerin, aber eine große Künstlerin sei.

Der ersten Filmmusik mit erst 19 Jahren für einen Streifen mit Gina Lollobrigida folgen viele andere, besonders im antiken Zeitalter spielende, so dass bis heute noch Tantiemen fließen.

Obwohl die Eltern wollen, dass er Jura studiert, wird Carlo Franci Dirigent, hat sein Debüt mit Hänsel und Gretel, mehr als deutsche Opern (obwohl er der Verfasserin einmal anvertraute, sein Traum sei Strauss‘ Elektra) aber haben deutsche Opernhäuser eine bedeutende Rolle in seiner Laufbahn gespielt. Bewegend war offensichtlich der Abschied von den Frankfurtern, insgesamt, weiß er deutsche Orchester sehr, deutsche Dirigenten („eins, zwei, drei….“) weniger zu schätzen. Deutschland  bzw. Berlin und die Deutsche Oper bescherten ihm das spektakulärste Opernereignis mit einem Otello, der mit 45 Minuten Applaus und Domingo als klavierspielendem Canzonensänger sehr spät in der Nacht endete. Dabei erwähnt Franci nicht, dass dem Tenor vom Haus drei Dirigenten zur Auswahl vorgeschlagen wurden und dieser Franci wählte, und er irrt, wenn er meint, Pavarotti hätte versucht, diesen Rekord mit einem Edgardo zu schlagen. Es war der Nemorino.

Eine andere bedeutende Wirkungsstätte war Südafrika, dem er treu blieb, als andere Künstler das Land boykottierten, wo er durchsetzte, dass Schwarze die Generalproben besuchen durften, wohin er Orff-Instrumenten aus Deutschland zur musikalischen Erziehung der Schwarzen einführte und das ihn erst jetzt enttäuschte wegen der dort inzwischen herrschenden Korruption.

Nahe Verwandte genießen in den Ausführungen von Franci keinen besonderen Schutz, so wird von der lunga decadenza des zu lange gesungen habenden Vaters ebenso gesprochen wie von der voce stretta der Schwester. Was Franci damit meint, Domingo seit nur von der Stimme, aber zum Glück nicht vom Charakter her Tenor gewesen, bleibe unerforscht, keinen Zweifel aber lässt das Attribut matto für Bonisolli aufkommen, der in St. Gallen aus „bella figlia d’amore“  verschwand.

Über den Vater gibt es auch viel Anekdotisches zu berichten, so der Streit mit Lauri Volpi im Tell um eine Collinetta, von der beider herunter singen wollten, oder der Umstand, dass der Dirigent in Argentinien geboren wurde, weil die schwangere Mutter den Vater begleiten musste, damit der nicht die gesamte Gage seiner Leidenschaft, dem Pokerspiel, opferte. Aber nicht nur der Dirigent bedient den Interviewer mit Neuigkeiten, das geschieht auch umgekehrt, wenn letzterer mitzuteilen weiß, dass Benvenuto Franci in Toti Dal Monte verliebt gewesen sei.

Das Interview gerät trotz der selbstverliebten Vorgehensweise von Tiberi zu einer Fundgrube von nicht nur Anekdotischem, sondern durchaus auch Grundsätzlichem, dass eine Reihe seltener oder bisher noch nie veröffentlichter Fotos eingestreut ist, macht es noch wertvoller. Inzwischen kann es als eine Art Vermächtnis des Dirigenten angesehen werden, dem danach, obwohl er sich mit Gedanken an eine Masterclass trug, nicht mehr viel Zeit vergönnt war.

Die sich anschließende Chronologie ist umfangreich, aber nicht vollständig, was im Vorwort dazu zugegeben wird.

Das nächste Kapitel ist Benvenuto Franci gewidmet, handelt von einem Besuch bei dem bereits dementen Bariton, dessen Tochter von einem Koffer mit Materialien über die Karriere zu berichten weiß, der von der Mutter irrtümlicherweise weggeworfen wurde. Immerhin treibt der Verfasser bei einem Freund in Wien noch einiges Material auf, dazu kommen wenig interessante Forschungsergebnisse über die Ahnenreihe und schließlich noch Zeitungsausschnitte über die Vorstellungen, an denen Benvenuto mitwirkte, angefangen von Lodoletta 1917 als absolutes Debüt.

Wenn man das alles zur Kenntnis nimmt, staunt man erst einmal darüber, wie vielseitig der Bariton, der auch in Tenorhöhen und Basstiefen ohne Mühe gelangte, war, denn er sang auch Pizarro, Telramund, Barack, als letztes Rollendebüt Hans Sachs in Palermo unter Tullio Serafin, aber vor allem auch, wie reich das Repertoire der Opernhäuser in den Zwanzigern und Dreißigern war, wie armselig dagegen das der heutigen Theater.

Als Tamagno dei baritoni wurde Franci gehandelt, die Bösewichter, er sang auch die Uraufführung von La Cena delle Beffe, waren seine bevorzugten Rollen, aber auch Escamillo. In Berlin sang er 1929 den Luna, 1941 spielte er im Bunker des Hotels Kaiserhof Poker, 1948 sang er noch den Don Carlo mit La Callas als Leonora. Ein doppelter Schädelbruch konnte seine Karriere nicht beenden, erst ein Sturz 1956 in Palermo. Danach war er noch eine Art direttore artistico, wurde in Rom von der Tochter betreut.

Wie vielen Sängern er Vergangenheit geht es auch Benvenuto Franci, dessen Stimme auf Platten nicht so wiedergegeben wird, wie sie die im Ohr hatten, die ihn noch auf der Bühne erlebt hatten. Ihm wurde die schönste mezza voce di baritono nachgesagt, aber auch ein markerschütterndes Forte, allerdings machte sich wohl auch in den letzten Jahren ein Registerbruch bemerkbar. Eine ausführliche Discografia ab 1920 enthält Aufnahmen von Phonotype Columbia, später der Società Nazionale del Grammofono.

Zahlreiche Fotos, Karikaturen und Zeitungsartikel geben einen Einblick nicht nur in die Karriere Francis, sondern in das Opernleben in Italien ganz allgemein.

Von Tommaso Franci, dem Tenor, gibt es, da wenig überliefert ist, nur eine Chronologie ebenso von Marcella Franci, die immerhin 1944 in Rom mit Ferruccio Tagliavini und Tito Gobbi an der Seite in Rom in Gounods Faust die Margherita sang.

Von Francesca Franci, renommierte Mezzosopranistin selbst, berichtet Tiberi pikiert, dass sie ihm kein Interview gewährte, was zumindest dann nicht verwundert, wenn man sich die Rückseite des Buches ansieht, die Maurizio Tiberi im doppelten Sinne hemdsärmelig zwischen einem sehr trübsinnige aussehenden Carlo und einer übertrieben lachenden Francesca Franci zeigt. So sind dem Mezzosopran auch nur eine Cronologia teatrale und eine Discografia, beide unvollständig, gewidmet. Die dem Vater zugedachte ist vollständiger, aber nicht perfekt, ihm ist zusätzlich eine Filmografia gewidmet und auch als Komponist wird er gewürdigt mit der Ansicht der CDs, die Mittelalterliches und Afrikanisches als Stimulans hatten. Daneben gibt es viele Aufnahmen aus dem Fenice. Auf den Maler Carlo Franci wird mit  www.carlofranci.it verwiesen.

Ein doppeltes Namensregister und ein zweiseitiger Artikel, der einem „amico“ gewidmet ist und eigentlich in dem Buch nichts zu suchen hat, beenden das zwar stellenweise recht konfuse, aber dank der Mitwirkung Carlo Francis überaus interessante Buch (Tima Club, kein ISBN, verfügbar bei Bongiovanni, Bologna, www.bongiovanni70.it). Ingrid Wanja

Hommage an la Francesina

 

Der berühmten französischen Sängerin Élisabeth Duparc, genannt La Francesina, widmet die belgische Sopranistin Sophie Junker bei APARTÉ ein Recital, das den Titel Handel´s Nightingale trägt und im Juni 2019 in Lyon aufgenommen wurde (AP233). Duparc war in London zunächst ein Star in Werken von Hasse und Riccardo Broschi (an der Seite von Farinelli), bevor sie sich dem Schaffen Händels zuwandte und 1741 seine erste Deidamia wurde. Zuvor war sie 1738 im Faramondo die Clotilde – eine Partie, die sich durch hohe Virtuosität auszeichnet. Sie kreierte auch diverse Rollen in seinen Oratorien: die Titelrolle in Semele, 1744, Nitocris in Belshazzar, 1745, Michal in Saul, 1739, Iole in Hercules, 1745, und Asenath in Joseph and his Brethren, 1744. Nicht weniger als zwölf Hauptpartien komponierte Händel für seine Muse. Duparc verfügte über einen hellen, lyrischen Sopran, starb 1778, nachdem sie in ihren letzten Lebensjahren der Vergessenheit anheim gefallen war.

Viele ihrer Rollen finden sich auch auf dem Album von Sophie Junker, das mit Asenaths „Prophetic raptures“ aus dem 2. Akt von Joseph and his Brethren beginnt. Junker ist gleichfalls ein lyrischer Sopran mit leuchtender Höhe und delikater Tongebung, nimmt die Arie mit beherztem Zugriff und jubilierender Koloratur. Es folgt die Arie „What passion“ aus der Ode to St. Cecilia’s Day, in welche die Solistin lyrisches Potential und empfindsamen Ausdruck einbringen kann.

Aus Deidamia sind zwei kontrastierende Arien der Titelheldin zu hören – „Và, perfido!“ aus dem 2. und „Nasconde l’usignol“ aus dem 1. Akt. Erstere ist geprägt von energischer Attacke, die zweite von heiterem Duktus mit zwitschernden Tönen.

In Semeles Hit „Myself I shall adore“ kann Junker die Flexibilität ihrer Stimme ausstellen und gleichermaßen mit legato– wie staccato-Koloraturen brillieren. Ioles „My father!“ aus Hercules zeigt die Möglichkeiten der Sopranistin, eine dramatische Situation mit Verfärbungen des Tones auszudrücken. Clotildes „Mi parto lieta“ aus Faramondo ist ein munteres Stück, in welchem der Sopran aufstrahlt und bezaubert. Michals „In sweetest harmony“ aus Saul atmet himmlische Ausgewogenheit, in welcher sich die Stimme noch einmal von ihrer schönsten Seite zeigen kann. Das Programm beendet Romildas bewegende Arie „Nè men con l’ombre d’infedeltà“ aus Serse, in der die Solistin ein letztes Glanzlicht setzt.

Das Orchester Le Concert de l’Hostel Dieu, das unter der animierenden Leitung von Franck-Emmanuel Comte die Solistin kompetent begleitet, steuert mehrere Instrumentalbeiträge bei – die stürmische Sinfonia aus Belshazzar, die gewichtige  Overture zu Semele und die wiegende Musette aus The Occasional Oratorio, erweist sich dabei als versierter und vielseitiger Klangkörper. Bernd Hoppe

Beginn einer Reihe

 

Noch sechs bis sieben Bände über das Musical sollen im Abstand von ungefähr anderthalb Jahren diesem einen mit dem Titel Musicals – Geschichte und Interpretation folgen, denn Wolfgang Jansen hat seinen Einzug in die deutschsprachigen Lande von Anfang an verfolgt und sich unüberhörbar zum Fürsprecher dieser in Deutschland lange umstrittenen Gattung gemacht. Ab 1992 erschienen seine Betrachtungen über 25 Jahre hinweg, im ersten Band geht es um die Unfähigkeit der Operette, sich weiter zu entwickeln, wodurch ein Freiraum für die neue, aus Amerika kommende  Gattung entstand.

Im Vorwort wird allerdings darauf hingewiesen, dass es nicht nur um das Musical, sondern um das „populäre Musiktheater“ geht und zwar um gattungsgeschichtliche Zusammenhänge, einzelne Spielstätten und Werke und um die Arbeitsbedingungen der Künstler. Da das Buch in sich abgeschlossene Aufsätze enthält, kann es nicht ausbleiben, dass es manchmal zu Wiederholungen kommt, doch enthält jedes der Kapitel genug Neues, um seine Aufnahme in den Band zu legitimieren.

Der Verfasser unterschlägt nicht das Entstehen neuer Musikwerke wie Feuerwerk oder Doktor Eisenbart, führt aber auch aus, dass sie Eintagsfliegen blieben, und tritt mit seinen Arbeiten der damals allgemein herrschenden Meinung entgegen, dass die deutschen Bühnen, die „Unfähigkeit zum Musical“ auszeichne. Zwar habe es bis 1955 kaum Musicals zu erleben gegeben, doch ab 1955, nach dem Erscheinen von Kiss me, Kate! auf deutschen Bühnen, ändere sich das schlagartig. Der Autor stellt sich auch die Frage, warum der amerikanische Kurt Weill im Nachkriegsdeutschland nicht recht Fuß fasste und sieht einen der Gründe darin, dass er durch die Dreigroschenoper eng an Brecht geschmiedet schien und dass das dem Ansehen seines Werkes in Westdeutschland nicht dienlich gewesen sei.

Ein eigenes Kapitel ist den Begriffen Operette- Musicalette- Musical gewidmet, in ihm wird erläutert, inwiefern sich die Unsicherheit über das Profil der neuen Gattung auch in den vielen Bezeichnungen ausdrückt.

Als wesentlich für die Schwierigkeiten bei der Etablierung der neuen Gattung sieht Jansen auch die Tatsache an, dass es nach 1945 keine unbestrittene Metropole für die leichte Muse mehr gab. Daran änderte auch der Versuch Willi Kollos nichts, sie mit „Berlins 1. Musical-Theater“ einzuführen. Jansen bezieht  natürlich auch die Bemühungen „kleinerer“ Städte um neue Stücke ein, so die Kassels um Weills Lady in the Dark .

Der Verfasser berücksichtigt in seinen Betrachtungen auch Österreich und die deutschsprachige Schweiz, so die Aufführung von Porgy and Bess 1945 in Zürich. In Wien setzte sich Marcel Prawy besonders für das Musical ein, übersetzte vom Amerikanischen ins Deutsche, und in beiden Fällen tauchte das Problem auf, wie man die sehr unterschiedlichen Idiome in Street Scene oder Porgy und Bess und seine Sprache der Schwarzen angemessen übersetzte. Jansen macht das dem Leser durch Beispiele, in denen Original und Übersetzung einander gegenüber gestellt werden, deutlich. So entfalten die Gastspiele amerikanischer Truppen noch am ehesten Authentizität, wird Oklahoma! 1951 im Titania Palast erwähnt und auch nicht verschwiegen, dass solche Tourneen ein Teil des Umerziehungsprogramms der Amerikaner darstellten, auf der anderen Seite von der DDR-Presse heftig bekämpft wurden. Allerdings irrt der Verfasser, wenn er meint, Furtwängler habe bei der Wiedereröffnung des Schiller-Theaters in Westberlin die Berliner Symphoniker dirigiert. Es waren natürlich die Philharmoniker.

Interessant zu lesen ist die Passage über die Wirkung von Adornos Meinung über den amerikanischen Kurt Weill, ebenso die Kämpfe um die Wiener Volksoper, wo Marcel Prawy Chefdramaturg war und nacheinander Kiss me, Kate!, Wonderful Town und Annie, get your gun! herausbrachte, in die Schweiz führt die Erwähnung von Cole Porters Can Can in Basel.

Ein großer Teil des Buches ist dem ersten Erscheinen des jeweiligen Musicals auf einer deutschen Bühne gewidmet, insbesondere von My Fair Lady im Berliner Theater des Westens und der West Side Story, deren Entstehungsgeschichte in drei Etappen nachvollzogen wird.

Themen mehr am Rande wie die Anfänge des schwyzerdeutschen Musicals oder die Geschichte der Vinyl-Platte zeigen, wie vielseitig das Buch ist, das auch das Wirken Rolf Kutscheras im Theater an der Wien nicht außer Acht lässt, Harald Juhnke, Theo Lingen, Vico Torriani und viele andere Revue passieren lässt.

Viele Leser werden sich noch an My Fair Lady in der Berliner Kantstraße erinnern, ein unvergleichlicher Triumph und eine Art Trostpflaster für den kurz davor vollzogenen Mauerbau. So ausführlich wie interessant berichtet der Verfasser von den Anfängen, d.h. den Verhandlungen um die Erlaubnis der Erben Shaws, seinen Pygmalion als Vorlage zu benutzen, vom Scheitern mehrerer Komponisten an dem Stoffe, von der Uraufführung mit Rex Harrison und Judy Andrews, und auch die Baugeschichte der Städtischen Oper Berlin fehlt nicht. Der Autor scheut sich nicht zu behaupten, dass „ das populäre Musiktheater der Bundesrepublik anders aussehen“ würde, wenn es diese Aufführung nicht gegeben hätte. Nun- immerhin gab es eine „Musical-Luftbrücke“ für westdeutsche Besucher, die sich die Aufführung nicht entgehen lassen wollten. Obwohl der Fair Lady mit Annie, get your gun! mit Heidi Brühl ein Misserfolg folgte, begann nach Meinung des Verfassers, und dem kann man wohl kaum widersprechen, der Siegeszug der Gattung in Deutschland.

Es folgen nach diesem sehr ausführlichen Kapitel noch solche und kürzere über Gershwins Girl Crazy, Rio Reisers Beat Opera und Anatevka wie Man oft La Mancha. Man kann gespannt sein, was Wolfgang Jansen über die ihnen folgenden Werke zu sagen hat (308 S., 2020 Waxmann Verlag; ISBN 978 3 8309 4159 0). Ingrid Wanja

Erstmals auf CD

 

Wie in Endlosschleife rollten ab den 30er Jahren des 18. Jahrhunderts Pietro Metastasios Geschichten dysfunktionaler Familien zuerst über die italienischen und rasch auch europäischen Bühnen. Die Zuschauer konnten sich in diesen barocken Opernnovelas vieler Grundmuster sicher sein: grausame Väter, gestörte Beziehungen zu Töchtern und Söhnen, Zwangsheiraten aus dynastischen Gründen, Todesurteile, vertauschte Kinder usw. Solche Standardsituationen überschrieb auch Christoph Willibald Gluck in seinen ersten italienischen Opern, die nahezu alle ausschließlich die Erfolgsmuster Metastasios nutzten. 1737 war er nach Mailand gekommen und debütierte nach Ausbildung durch Sammartini dort 1741 in dem für einen Opernkomponisten nach den Maßstäben der Zeit „reifen“ alter von 27 Jahren mit Artaserse. Nach einem Abstecher nach Venedig kehrte er 1743 mit dem zehn Jahre zuvor durch Caldara erstmals und in den folgenden Jahren von einem Dutzend weiter Komponisten vertonten Demofoonte nach Mailand zurück. Nun liegt Glucks dritte Oper erstmals auf CD (3 CDs Brilliant Classics 95283) vor.

Alan Curtis war dafür 2014 mit dem von ihm 35 Jahre zuvor gegründeten Barockensemble Il Complesso Barocco und einem handverlesenen Ensemble in das nahe Vicenza gelegene Lonigo gereist, um das dreiaktige dramma per musica zu beleben. Titelheld Demofoonte ist der König von Thrakien, der nach einem Gebot des Apoll eine Jungfrau opfern will. Seine Wahl fällt auf Dircea, die Tochter seines Fürsten Matusio. Dircea ist bereit heimlich mit Demofoontes Sohn Timante verheiratet, der vom Vater aus dem Feld zurückgerufen wird, damit er die phrygische Prinzessin Creusa heiratet. Timantes Bruder Cherinto liebt Creusa. Nachdem zum dramatischen Höhepunkt am Ende des zweiten Aktes Timante und Dircea nahc Bekanntwerden ihrer Heirat zum Tode verurteilt werden, lösen sich im dritten Akt durch plötzlich aufgetauchte Briefe die Konflikte auf: Dircea ist Demofoontes Tochter, Tigrane der Sohn des Matusio, Creusa entdeckt ihre Liebe zu Cherinto.

Nach der von Curtis aus Ipermestra entlehnten dreiteiligen Sinfonia entwickelt sich diese Geschichte in einer Folge von schätzungsweise zwei Dutzend Arien, dem Duett Dircea – Timante am Ende des zweiten Aktes und einem Chor am Ende der Oper über drei Stunden in den Bahnen feiner Gesangskunst, die jeden Freund barocker Opern entzücken muss. Im Mittelpunkt stehen der damals gerade erst 20jährige amerikanische Countertenor Aryeh Nussbaum Cohen als Timante, der sich mit „Sperai vicino al lido“ tapfer und fast kriegerisch zeigt – es folgt eine entsprechend martialische Marcia – und die von dem Star-Kastraten Carestini kreierte Partie mit draufgängerischer Verve, interessantem, nicht rundem, Timbre singt. Die umfangreiche Begleitung und die Situationen durch aufregendes Orchesterspiel durchgehend erhellende Orchestersprache malen die 24 Spieler des Complesso Barocco prachtvoll aus. Mit schöner Farbe, einem silbrig feinen Vibrato singt Sylvia Schwartz die Dircea. Ihr umfangreiches Duett mit Timante „La destra ti chiedo“ schöpft ganz aus dem Reichtum einer Gefühlswelt, die Händel erschlossen hatte. Romina Basso verleiht dem Timante-Bruder Cherinto mit ihrem dunklen, recht herben und dabei sehr individuellen Mezzosopran und energisch scharfen Rezitativen ein Gesicht. Im Zusammenspiel mit der anderen Mezzosopranistin, der weichen und von Ann Hallenberg mit erlesenen Koloraturen gesungenen Creusa, ergeben sich reizvolle Kontraste. Der Bariton Vittorio Prato spielte als Matusio damals schon seine eloquente Bühnenpersönlichkeit aus, als Demofoonte steht Tenor Colin Balzer, wenngleich in der virtuosen Arie à la Händel „Perfidi! Già che in vita“ nicht überfordert, doch farblos, ein wenig im Abseits, und Nerea Berraondo bleibt mit splissigem Mezzo als Anführer der Palastwachen eine Randfigur. Rolf Fath

Aus Esterházys Truhen

 

In ihrer Esterházy Music Collection gibt ACCENT als Vol. 2 ein Oratorium von Gregor Joseph Werner mit dem Titel Der Gute Hirt heraus (ACC 26502, 2 CDs). Die Aufnahme entstand im Januar 2019 in Budapest als Produktion der Orfeo Music Foundation mit Unterstützung des Ungarischen Kulturministeriums.

Nach seiner Uraufführung 1739 in Eisenstadt ist das in der Musikbibliothek Joseph Haydns wieder entdeckte Werk nun erstmals in moderner Zeit zu hören. Der österreichische Komponist war wahrscheinlich ein Schüler von Johann Joseph Fux und stand fast 40 Jahre im Dienste der Esterházy-Fürsten. Gegen Ende seines Wirkens wurde ihm ein junger Assistent zur Seite gestellt, der kein Geringerer war als Joseph Haydn. Dieser fertigte Abschriften von Werken Werners an und bewahrte sie in seiner eigenen Musikbibliothek auf, woraus auch der Erhalt des Guten Hirten resultiert.

Die Komposition gehört zur Gattung des Sepolcro-Oratoriums, welche in der Karwoche aufgeführt wurden und das Begräbnis Jesu Christi darstellten. Von den fünf Personen der Handlung tragen einige pittoreske Namen, welche an das Personal in den Opern von Reinhard Keiser erinnern. Da finden sich neben dem Guten Hirten (der Countertenor Péter Bárány) Das Verlorene Schäflein & Das Wider Gefundene und Sehr Dankbare Schäflein, besetzt mit der Sopranistin Àgnes Kovács. In ihrer Auftrittsarie „Nun ihr, Blumen auf den Feldern“ lässt sie eine jugendlich-muntere Stimme mit sicherer Höhe hören. Sie beendet den Actus Primus mit der lebhaften Arie „Hinweg mit der Melancholie“, in der sie auch ihre Virtuosität ausstellen kann. Der Counter führt sich mit der getragenen Arie „Das Hirschlein nicht so schnell“ ein, deren klagender Duktus sein larmoyantes Timbre noch unterstreicht. In seiner Arie zu Beginn des Actus Secundus, „Auf, auf, mit hurtig schnellem Lauf“, kann sich die Stimme vorteilhafter darstellen.

Der Gute Hirt in Inänlichen Alter (der Tenor Zoltán Megyesi mit kultiviertem Vortrag in der kantabel wiegenden Arie „Steinhartes Felsenherz“), der Pilger (der Bassist Lóránt Najbauer mit flexibler Stimmgebung, aber auch der Fähigkeit zu liedhafter Lyrik) und das Echo (die Sopranistin Adriána Kalafszky) komplettieren die Besetzung. Das Orfeo Orchestra musiziert unter Leitung von Györgyi Vashegyi inspiriert und kontrastreich, wie es schon in der Introductio zu hören ist, die gewichtig einsetzt und sich dann zu hurtigem Fluss wandelt. Der Purcell Choir wartet in zwei Nummern am Ende des Werkes (Chorus deren Hirten und Chorus deren Schäflein) mit feierlichen und freudvollen Tönen auf. Bernd Hoppe

Reizvolle Melange

 

Bereits wenige Tage vor dem oben beschriebenen Abend wurde am 25. Januar 2020 die nun  vorliegende Aufführung von Jaromir Weinbergers Frühlingsstürmen mitgeschnitten (Naxos Bluray NBD0122V). Fast genauso groß wie die Freude darüber, dass fast auf den Tag genau 87 Jahre nach der Uraufführung im damaligen Admiralspalast dieses Werk greifbar ist, ist die Freude über die kluge Berliner Dramaturgie, die Barrie Kosky an seinem  (noch) Haus vertritt – und die ein bisschen an einstige Versuche der Berliner Staatsoper mit Busonis Brautwahl oder Milhauds Christophe Colombe  während der Ägide von Georg Quander erinnern. Toll.

Das Stück wirkt in Koskys Interpretation zunächst zerfledert und buntscheckig: wie gewohnt „von allem etwas“. Kosky nennt es ein „phantastisch kompliziertes kulturelles Artefakt“. Vor diesem „Artefakt“ hat der inszenierende Hausherr zu viel Achtung, oder er schreckt zurück. Auf jeden Fall wirken die Szenen im russischen Hauptquartier in der nordchinesischen Mandschurai, die bereits so redeselig ausgefallen sind wie es sonst nur die dritten Akte jeder Operette sind, doch etwas öde und umständlich. Kosky fehlen ganz offensichtlich die tanzenden Girls und Boys; die Mädels dürfen sich dann doch u.a. in einer netten Chinoiserie zeigen. Und chinesische Drachen nebst Lampions fehlen auch nicht.

Immerhin ist der großartige Stefan Kurt in der Homolka-Rolle des Katschalow ein soignierter russischer General, der zarte Komik mit Geschmack verbindet und später ergreifend traurig-komisch Lenskys Arie zelebriert. Den Glanz einer Operettendiva verbreitet Vera-Lotte Boecker als Lydia bei ihrem Auftrittslied, „Nehmt euch, ihr Männer, vor Frauen in Acht“, nicht nur stimmlich, sondern vor einem chinesischen Zauberwürfel mit leichtem Glamour in Szene gesetzt auch szenich. Problematisch Tansel Akzeybek in der Rolle des als chinesischer Diener verkleideten japanischen Majors Ito. „Allein der Name Richard Tauber zog die Menschen ins Theater“, hieß es damals. Das wird diesmal nicht der Fall sein. In der Premiere scheint Akzeybek in seiner Auftrittsszene noch nervös, doch auch in den Duetten mit Lydia „Frühling in der Mandschurai“ verziehen sich die dunklen Wolken nicht bzw. klingt „Traumversunken, liebestrunken“, wozu eine rote Showtreppe ins Nirgendwo führt und die tanzenden Damen die Straußenfedern schwingen, zu bodenschwer. Man merkt den Modulationen an, dass sie für Tauber geschrieben waren. Und wird enttäuscht; auch bei den uncharmanten Kopftönen im Schlager „Du wärst für mich die Frau gewesen“. Gelungener beider „musikalische Szene“ zu Beginn des zweiten Teils. Alma Sadé und Dominik Köninger sind als Tatjana und Roderich so quirlig wie es sich für das zweite Paar gehört. Weinbergers sich machtvoll aufbäumender Musik mit ihren interessanten Eintrübungen und retrospektiven Vermischung der Gattungen und Stile, in der man schon den Abgesang auf eine Epoche zu spüren meint, präsentiert Jordan de Souza als reizvolle Melange. Rolf Fath

An- und Einsichten

 

Dass er ein vorzüglicher Sänger ist, wusste man seit langem, dass aber der polnische Tenor Piotr Beczała auch ein mutiger Mann ist, kann man feststellen, wenn man sich in sein Buch In die Welt hinaus, Untertitel Ein Opernleben in drei Akten vertieft. In diesem geht es nicht nur um das Entdecken der Stimme, um deren Ausbildung, um erste und weitere Erfolge, um die Höhepunkte einer Künstlerkarriere, obwohl die Gliederung sich streng an den Aufbau einer Oper mit Ouvertüre, erstem bis drittem Akt einschließlich eines Intermezzo hält, sondern auch um Politik, sei es die im kommunistischen, sei es die im heutigen Polen, um moderne und traditionelle Regie oder um Sprachregelungen, die es durchaus nicht nur in Diktaturen zu geben braucht. Allerdings ist der Untertitel insofern nicht glücklich gewählt, als er unterstellt, die sängerische Laufbahn sei inzwischen abgeschlossen, was nicht nur hoffentlich, sondern auch offensichtlich nicht den Tatsachen entspricht.

Es fängt eigentlich ganz konventionell an mit der Schilderung eines Tosca-Abends, an dem das Publikum ein doppeltes Da Capo nach „E lucevan le stelle“ erzwingen möchte, in der Journalistin und hier Interview-Partnerin Susanne Zobl in recht blumiger, nicht immer korrekter Sprache („Ein Rauschen wog mir entgegen.“) die Gefühle des Sängers zwischen Triumph und Verantwortungsbewusstsein beschreibt, ihn mitteilen lässt, er wolle mit dem Buch „etwas von seiner Energie vermitteln“.     

Es folgt eine Schilderung der Kindheit und Jugend im kommunistischen Polen, wobei nichts von Ostalgie anklingt, sondern schonungslos darüber berichtet wird, wie es kaum einmal genügend Fleisch und Butter, dafür aber willkürliche Verhaftungen, so auch den Vater betreffend, gab, Der deutsche Leser, und die Originalsprache des Buchs ist das Deutsche, erfährt etwas über die Lieblingslektüre Karl May, über das Singen bei den Pfadfindern, den Einblick ins Designer- und Schneiderwesen, der dazu führt, dass ihm „kein Kostümbildner etwas vormachen“ kann. Bereits hier wird deutlich, dass der Sänger ein kritischer Beobachter des Theaterwesens ist, wenn er beklagt, dass Bühne und Kostüme Unmengen kosten dürfen, aber „bei der Gage wird um hundert Euro gefeilscht.“

Nicht nur für die Theaterlandschaft hat sich der polnische Tenor seinen kritischen Blick bewahrt, sondern auch für die politischen Zustände in seinem Heimatland, dessen jüngste Entwicklung er zutiefst bedauert, sie in Richtung auf eine dem Kommunismus ähnliche Diktatur steuern sieht. In die chronologische Schilderung seiner beruflichen Entwicklung, mit dem Singen in einem Madrigalchor beginnend, und seiner Beziehung zu seiner späteren Ehefrau Kasia, die ihre eigene Karriere beendete, um der seinen dienlich zu sein,  fließen immer wieder Betrachtungen über interessante Themen ein. So äußert er sich über die Unvereinbarkeit von Solisten- und Chorgesang, die unterschiedliche Sängerausbildung in Polen und im „Westen“, das beste Verfahren beim Lernen einer Fremdsprache oder das Bild vom Opernsänger: „Der kommt nicht rein, der tritt auf“.

In den Anfangsjahren verfügt Beczała zwar über ein Tenortimbre, nicht aber alle hohen Noten. Inzwischen hat er die längst, aber leider verrät uns das Buch nicht, wie es dem Sänger gelang, dahin zu kommen.

Auch der Pole hatte Begegnungen mit arrivierten Künstlern, die ihm den richtigen Weg wiesen. In seinem Fall ist es Sena Jurinac, die ihn zu Mozart und weg von dem in Polen von ihm geforderten schwereren Fach führte.

Es geht chronologisch weiter mit dem ersten Festengagement in Linz, womit auch die ersten Regiezumutungen verbunden sind, die der Tenor mit Humor zu schildern weiß, so wie er voller Wärme über den Dritten im Ehebunde, den Hund, der ihnen zugelaufen ist,  schreibt. Diskussionswürdig ist sicherlich die Behauptung, ein Liebespaar im realen Leben sei auch das überzeugendere Liebespaar auf der Bühne, nachdenkenswert der Vergleich von in Linz unwillkommenen Polen mit heutigen Wirtschaftsflüchtlingen, auffällig die an mehreren Stellen des Buches wiederkehrende Bewunderung für die Inszenierungen von Otto Schenk, so als Einspringer für Gösta Winbergh in der Wiener Zauberflöte. Damit setzt auch die Kritik an „konstruierten Produktionen“ ein, die es dem Sänger unmöglich machen, das Beste aus sich herauszuholen und dem Publikum zu vermitteln. Das hat nichts damit zu tun, dass Beczala „süchtig nach Harmonien“ ist, das bezieht sich nur auf die Musik, sondern darauf, dass „Auswüchse“ von Regie dazu führen, dass man sich in konzertante Aufführungen flüchten muss.

In einem weicht Piotr Beczała von der Meinung vieler Kollegen ab, wenn er sich nicht den Grundsatz, es gebe keine kleinen, unwichtigen Rollen, zu eigen macht, sondern einen Cassio für sich rundweg ablehnt,  auch Zweifel an der Kompetenz der Besetzungsbüros laut werden lässt. Befremdlich mag es auf manchen Leser  wirken, dass er nicht nur den Müllerburschen im Schubert-Zyklus, sondern auch Idomeneo, Hoffmann, Don Carlo als „kranke Typen“ ablehnt und sie nicht singen mag. Hier und in einigem anderem wagt sich der Tenor weiter vor als die meisten seiner Kollegen, so auch im Urteil über den Betrieb an der Mailänder Scala, an der er als Alfredo sein erstes und einziges Buh erlebte.  Ein Paradies für Sänger scheint hingegen die MET zu sein. Zustimmen werden ihm nicht nur die Tenöre darin, dass er die meisten Proben für zu lang und oft nur den skurrilen Einfällen der Regisseure geschuldet hält.

Abenteuerlich war der Weg des Sängers zu Lohengrin, den er schließlich unter Thielemann sang, über diese Figur, die Sichtweise des Sängers auf sie, hätte man gern erfahren. Stattdessen gibt es einiges über Autos, über den Freund Sean Connery oder Halka in Wien zu lesen. Auch Piotr Beczała wurde nicht ganz von den so gefürchteten geplatzten Blutgefäßen im Stimmapparat verschont, und trotz des Rückzugs in das polnische Refugium ereilte ihn das Corona-Virus. Inzwischen ist er längst wieder gesund, konnte dieses Buch schreiben und studiert seine nächsten, hoffentlich bald in einer coronafreien Welt zur Aufführung gelangenden neuen Partien Radames, Manrico, Parsifal und Calaf.   Der Anhang besteht aus Rollenverzeichnis, Soloalben, Bildnachweis und Personenregister (250 Seiten, Amalthea Verlag 2020; ISBN 978-3990501856). Ingrid Wanja

Agogisches Raffinement

 

In einer Live-Aufnahme aus der Pariser Opéra-Comique von 2017 bringt AliaVox Marin Marais’ Tragédie lyrique Alcione von 1706 heraus (AVSA 9939, 3 CDs). Zu hören ist die Version von Jordi Savall, dem renommierten katalanischen Musiker und Dirigenten, der sich mit seinem Ensemble Le Concert des Nations der Einspielung von Marc Minkowski von 1989 bei Erato stellen muss. Aber Savall, der in seinen Konzertprogrammen oft der Göttin des Tanzes, Terpsichore, huldigt, ist ein Meister im Erfassen von rhythmischem Drive, agogischem Raffinement und der Entfaltung dynamischer Kontraste. So sind denn auch die zahlreichen Tanzeinlagen – Marche, Menuet, Bourée, Sarabande, Gigue, Chaconne – die Höhepunkte der Einspielung:  überwältigend in ihrer Vitalität und ihrem Esprit. Spektakulär sind die Tempête-Szenen mit dem Einsatz des Donnerbleches.

Der Prolog der fünfaktigen Oper huldigt in der Person des Apollon, der in einem Gesangswettbewerb den Frieden besingt und damit gewinnt, König Ludwig XIV.  Im 1. Akt will Ceix, König von Trachis, die Tochter des über die Winde herrschenden Aiolos, Alcione, heiraten. Drei Personen stellen sich gegen dieses Glück: Ceix’ bester Freund Pelée, der gleichfalls in Alcione verliebt ist, der Zauberer Phorbas und die Zauberin Ismène. Auf dem Höhepunkt der Hochzeitszeremonie legen Furien den Palast in Schutt und Asche. Die folgenden Akte beschreiben Ceix und Alcione in ihrer Leidenschaft füreinander, die bis zu beider Tod geht, so dass Neptune, von solch großer Liebe überwältigt, sie wieder zum Leben erweckt und ihnen die Gabe verleiht, Stürme zu besänftigen.

Die französischen Sänger dieser Einspielung sind in unseren Breiten weniger bekannt. Einzig Lea Desandre in der Titelrolle, die zwischen Sopran- und Mezzo-Partien pendelt, ist durch ihre Zusammenarbeit mit renommierten Barock-Dirigenten wie William Christie, Marc Minkowski und John Eliot Gardiner auch hierzulande ein Begriff. Ihre Stimme ist gleichermaßen delikat wie leidenschaftlich und vermag die Gefühle der Figur eindringlich zu vermitteln. Cyril Auvity lässt als Ceix seinen exquisiten Tenor von zarter Textur hören und ist der Titelheldin ein idealer Partner. Beider Szene im 3. Akt, „C’est toi que j’en atteste“, ist ergreifend in ihrer emotionalen Intensität. Sein Freund Pelée ist ein Bariton, mit Marc Mauillon besetzt, der die zwiespältige Figur plastisch umreißt und dabei auch streng-aggressive Töne einsetzt. Den Apollon singt Sebastian Monti mit weichem, typisch französisch getöntem Tenor. In der Besetzung finden sich außerdem der Bariton Lisandro Abadie als Phorbas, die Sopranistin Hasnaa Bennani als Isméne, der Bass Antonio Abete als Neptune u.a. Bernd Hoppe

Angelo Mori

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Im Alter von 86 Jahren verstarb der Sänger Angelo Mori, Sohn italienischer Auswanderer nach Frankreich und deshalb 1934 in Toulouse geboren. Der Vater, dem selbst eine musikalische Ausbildung verwehrt worden war, wünschte sich diese für den begabten Sohn, meldete ihn bei einem Concorso für neapolitanische Canzonen in Mailand an, bei dem er sich die Achtung von Tito Schipa ersang, die Vorstellung auch für die Aufnahme in die Scuola di Teatro des Fenice in Venedig scheiterte zunächst wegen der technischen Mängel und trotz der  Schönheit des Materials, das auch Aureliano Pertile hatte aufhorchen lassen. Dessen Klavierbegleiter Arturo Merlini war zugleich der erste Lehrer Moris gewesen. Marcello del Monaco, Bruder des Tenors Mario, der damals nicht immer zum Vorteil aufstrebender Tenöre deren Vorbild war, unterrichtete den jungen Sänger, der sich hin- und hergerissen zwischen den Anforderungen des Fenice, wo man ihn für einen lyrischen, einen Mozarttenor hielt, und del Monacos sah, der aus ihm zumindest einen Spintotenor machen wollte. Der zweite Anlauf in die Scuola del Fenice war von Erfolg gekrönt, und während parallel dazu die vier Jahre Schulung beim Maestro dei Tenori Marcello del Monaco weiterliefen, erfolgte bereits das Debüt in Malipieros I Mondi celesti ed infernali. Seine Partnerin war Magda Olivero. Als sein eigentliches Debüt allerdings gilt die Rolle des Duca an der Seite von Renata Scotti und Cornell MacNeil in Venedig. Marcello Del Monaco blieb ihm stets, wie spätere Interviews zeigen, immer „il mio grande maestro“, hatte er doch mit Erfolg den größten Defekt der jungen Stimme, die Passaggioprobleme ,erkannt und behoben.  Zudem hatte er  nicht nur das richtige Ohr für Stimmen, sondern auch das Auge für Erfolgsaussichten, die von der Optik abhingen, wenn er meinte: “Per fortuna lei non è una figura impossibile“.  Angelo Mori sang dann  an allen großen Bühnen Italiens, auch an vielen Opernhäusern Europas, darunter die Deutsche Oper Berlin und eine einzige Vorstellung als Duca an der Staatsoper Wien, in den USA ( amerikanische Erstaufführung von Giovanna d’Arco) und auch sonst in Übersee. Sein Repertoire umfasste die meisten Verdi-Rollen, auch Belcanto wie Verismo und Unbekanntes wie Mascagnis Silvano oder Donizettis Marin Faliero (davon gibt es eine Aufnahme). Seine besten Jahre waren die von 1960 bis 1975, er gab seine letzte Bühnenvorstellung 1884, trat in Konzerten noch bis 1998 auf. Zuletzt lebte er auf seinem italienischen Landgut, wo er im . Dezember 2020 verstarb. Außer dem Marin Faliero gibt es noch eine Aufnahme von La Forza del Destino bei Fratelli Fabbri. Ingrid Wanja

Roland Hermann

 

Der Bariton Roland Hermann  (* 17. September 1936 in Bochum; † 17. November 2020 in Zürich) erhielt seine musikalische Ausbildung in Deutschland, Italien und den USA. Seine Gesangslehrer waren Paul Lohmann und Margarete von Winterfeld. 1968 holte ihn Ferdinand Leitner an das Opernhaus Zürich, dessen Ensemble er bis 1999 angehörte. Als Opem- und Konzertsänger genießt Hermann internationalen Ruf und gastiert in den USA, Südamerika, Japan, Australien und Europa. Sein Opernrepertoire ist weit gespannt. Unter mehr als 70 Fachpartien sind sowohl die bekannten Rollen des klassischen Repertoires als auch große Charakterpartien in weniger bekannten Opem der Romantik und der Moderne. Als Interpret zeitgenössischer Musik hat sich Roland Hermann einen Namen gemacht und verschiedene Werke zeitgenössischer Komponisten wie Fortner, Halffter, Höller, Kagel, Kelterbom, Krenek, Kurtág oder Zender uraufgeführt. Besondere Bedeutung hat für ihn außerdem das Œuvre von Schönberg, K.A. Hartmann, Orff und B.A. Zimmermann. 60 Tonträgeraufnahmen (u.a. Henzes „Fünf Neapolitanische Lieder“) und etwa 150 Radioproduktionen (mit Henzes „Der Prinz von Homburg“ und „Der Landarzt“) dokumentieren seine umfassende Beschäftigung mit dem Opern-, Konzert- und Liedgesang. Seit 1989 leitet Roland Hermann eine Gesangsklasse an der Staatlichen Hochschule für Musik in Karlsruhe. Quelle Schott/ https://de.schott-music.com/shop/autoren/roland-hermann/ Foto pd)

Selten, aber nun gleich zweimal

 

Beethovens Leonore in einer Aufführung der Opera Lafayette. Einen großen Anlauf nahm die Opera Lafayette, um nach der 2017 gezeigten Produktion von Pierre Gaveaux’ Léonore ou L’ Amour conjugal im Beethoven-Jahr bei Beethovens Leonore anzukommen, die sie im März in New York in dem auf der anderen Seite des Central Parks etwa in gleicher Höhe wie die Met befindlichen Kaye Playhouse vorstellte (Naxos Bluray NDB0121V, zur Leonore von Gaveaux vergl. auch den Artikel in operalounge.de). Gemeinsamer Ausgangspunkt beider Werke ist Jean-Nicolas Bouillys Libretto, das Ferdinand Sonnleitner für Beethoven übersetzte. Als die Oper von Gaveaux 1798 erfolgreich in Paris uraufgeführt wurde, war die Rettungsoper, zu der der Pierre Alexandre Monsignys ebenfalls von der Opera Lafayette 2009 wiederbelebte Le Déserteur den Startschuss gegeben hatte, bereits ein wohlbekanntes Muster, dem Grétry, Lesueur, Cherubini, Boieldieu gefolgt waren, und dem sich zeitgleich zu Beethoven, der im Januar 1804 mit der Arbeit an seiner Leonore begann, in Dresden erneut Paër in Leonore ossia l’amore conjugale zuwandte. Während Paërs Oper bereits im Oktober 1804 herauskam, folgte Beethovens Leonore erst im November des nächsten Jahres, wobei die Premiere am Theater an der Wien, nachdem der Adel die Stadt bereits verlassen hatte und die französischen Truppen und acht Tage vor der Aufführung schließlich Napoleon selbst in Wien eingezogen waren, unter keinem guten Vorzeichen stand.

Gaveaux: „Léonore“ in der Aufnahme der Lafayette Opéra bei Naxos Bluray

Die Urform des Fidelio ist näher am französischen Vorbild, was der Opera Lafayette, die sich seit 25 Jahren der französischen Oper des 17. und 18. Jahrhunderts widmet, entgegenkommen sollte. Die Aufführung der Opera Lafayette ist eine Fleißarbeit. Das Ergebnis eine ordentliche Aufführung, die in Oriol Tomas’ handlicher Inszenierung und Laurence Mongeaus sparsamer Ausstattung szenisch über eine Hochschulaufführung nicht hinauskommt, aber musikalisch ihre Meriten hat. Das Deutsch freilich ist schwerfällig, oft nur passabel – der Chor allerdings singt untadelig – und lässt sich bei Jaquino kaum erahnen, wobei Keven Geddes einen angenehm warmen lyrischen Tenor besitzt. Auch Pascale Beaudins muntere Marzelline, der Tomas als eines der wenigen Requisiten ihren Wäschekorb belässt, ist typgerecht besetzt. Die Singspiel-Szenen und deren Wechsel vom Sprechen zum Gesang scheint der Equipe der Opera Lafayette gut zu liegen. Nathalie Paulins bietet mit ihrem leichten Sopran, der in der Arie etwas aufblüht und nur in der Höhe etwas fest und später gar schrill wird, eine ansprechende Leistung als Leonore. Jean-Michel Richter, dem Will Crutchfied Florestans Szene anhand des verfügbaren Materials für diese Aufführung so rekonstruiert hat, wie sie 1805 geplant gewesen war, ist mit dumpfer Tiefe und brüchigen Übergängen stimmlich wirklich ein Gemarterter, spielt aber so überzeugend, dass man über diese Blessuren hinwegzuhören geneigt ist. Stephen Hegedus als  Rocco, Matthew Scolins als Pizarro mit Hitlerbärtchen und Alexandre Sylvestre als Don Fernando besitzen keine Stimmen, die man oft hören mang. Außerordentlich ist Ryan Brown, der ab der Ouvertüre, Leonore Nr. 2, den Dreiakter sicher und ruhig im Griff hat und mit dem superben, auf Originalinstrumenten spielende Orchester die Stimmungswechsel, etwa in dem sich an das Pizarro-Rocco Duett „Jetzt Alter“ anschließenden Duett Marzelline und Fidelio „Um in der Ehe froh zu leben“, so leicht und anmutig, feinnervig und animierend umsetzt, dass man seinen musikalischen Ausführungen gerne lauscht (Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.).  Rolf Fath

 

Und zur Ausgabe von harmonia mundi schreibt Matthias Käther: Ludwig van Beethovens Fidelio gehört zu den wichtigsten und bekanntesten deutschen Opern überhaupt. Weniger bekannt ist, dass Beethoven drei unterschiedliche Fassungen des Werks erstellt hat. Gezeigt wird fast immer die letzte. Jetzt ist eine Neueinspielung der raren, fast nie gespielten ersten erschienen.

Beethovens Freunde fanden Leonore einfach zu lang und schlugen vor, diese zu ändern und zu kürzen. Denn das Premieren-Publikum war gelangweilt. Doch das lag vielleicht auch daran, dass große Teile der Musikwelt  wegen der nahenden napoleonischen Truppen aus Wien geflohen waren. Dirigent René Jacobs meint jedenfalls, die erste Fidelio-Fassung sei die beste. Für ihn ist die Erstfassung von 1805 außerdem die plausibelste, weil sie eine ausgefeiltere Handlung hat als spätere Versionen.

Es bleibt in allen Fassungen die Geschichte von der Ehegattin Leonore, die als Mann verkleidet unter dem Namen Fidelio undercover als Gefängnisgehilfe arbeitet, um ihren Mann da rauszuholen. Eigentlich ist das alles – wie in der Vorlage von Bouilly (dazu auch ein Beitrag in operalounge.de und auch hier) –  sehr simpel gestrickt, aber während in der populären End-Fassung ziemlich schnell klar wird, dass beide gerettet sind, bleibt der suspense in der Urfassung fast bis zum Schluss erhalten; erst ganz am Ende stellt sich heraus, dass beide ein happy end erwartet.

Es gibt bis dahin jede Menge Umstellungen von Nummern, einiges später gestrichene Material ist nun hörbar, deutlich hörbar auch kleinere bis gewaltiger Unterschiede in der Partitur. Das Werk fängt nun wieder, wie bei der Fidelio-Premiere 1805, mit der ausgedehnten Leonoren-Ouvertüre Nr. 2 an. Im Kern sind aber natürlich die großen Hits alle schon enthalten.

Herrlich harsch. Ich finde Jacobs auch deswegen spannend, weil er parallel zur historischen Entwicklung sich fast im selben Rhythmus – nur 200 Jahre später – für  die entsprechenden musikalischen Stile des 18. und frühen 19. Jahrhunderts interessiert hat. Er begann mit dem Spätbarock, entdeckte dann die Welt Mozarts und seiner Zeitgenossen für sich und landet nun bei Beethoven. Dieses Organische seiner Entdeckungsreise kommt der Leonore sehr zugute, selten hört man so klar wie hier die Linien, die von Haydn, Cherubini und Mozart, ja sogar von Salieri zu Beethovens Opernstil führen. Obwohl Jacobs vor allem ein starker Interpret von Vokalwerken ist, zeigt er sich hier paradoxerweise einer der überzeugendsten Orchesterleiter in Sachen Beethoven seit langem. Was er aus dem Freiburger Barockorchester herausholt, ist schon atemberaubend: ein harscher, kratziger, konfliktreicher Beethoven, der aber trotz allem nie knallig wirkt, sondern immer durchsichtig bleibt. Man kann ohne viel Übertreibung sagen: In dieser Aufnahme ist der wichtigste Held zweifelsohne das Orchester – und das hätte Beethoven sicher gefallen.

Solide Sängergarde. Viele Passagen von Leonore und Florestan sind in dieser Urfassung noch teuflischer als im späten FidelioMarlis Petersen in der Titelpartie wird mit diesen Schwierigkeiten besser fertig als Maximilian Schmidt als Florestan, aber da Jacobs hier generell eher Mozart-  als Wagnersänger einsetzt (wie es sich gehört), bleibt der Eindruck großer Stimmigkeit selbst in den schwächeren Momenten erhalten. Anders als in seiner Cosí führt Präzision im Gesang auch nicht zu Anämie und Unsinnlichkeit. Besonders Marlies Petersen nötigt mir beim Zelebrieren der fast unsingbaren Koloraturen größten Respekt ab. Bei den kleineren Rollen fällt die von mir sehr geliebte Sopransitin Robin Johannsen als Marzelline auf, hier durchaus mehr präsentiert als nur eine kleine Buffa-Rolle, eine hochbegabte Sängerin, die wie Jacobs aus der Alten Musik kommt und der Rolle eine quirlige Grazie verleiht (Beethoven: Leonore 1805 mit Marlis Petersen | Maximilian Schmidt | Robin Johannsen | Dimitry Ivashchenko | Zürcher Sing-Akademie | Freiburger Barockorchester | René Jacobs; 2 CD harmonia mundi HMM 902414 15)Matthias Käther