Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Un Programme Populair

 

Der manchmal auch irrende Volksmund behauptet, Tenöre seien dumm, aber zumindest zwei von ihnen haben in der Pandemie das Gegenteil bewiesen und für gestrichene Auftritte bzw. Aufnahmen Alternativen entwickelt. So gab sich Jonas Kaufmann im Homestudio Selige(n) Stunden mit Helmut Deutsch hin und Roberto Alagna hat mit Gattin, erster und zweiter Tochter ebenfalls im trauten Heim, wie die Fotos im Booklet beweisen, französische Chansons eingespielt.

Le Chanteur nennt er die CD, weil er selbst, zwar mit sizilianischen Wurzeln, aber in Frankreich aufgewachsen, von seinen Nachbarn so genannt wurde, lange bevor er den Gesang zu seinem Beruf machte. Bevor die CD entstand, hat sich der Sänger offensichtlich viel Gedanken über sein Unterfangen gemacht, erklärt im Booklet, dass er nicht nur typisches, reines Französisches eingesungen, sondern auch die vielen Kulturen, die zur französischen etwas beigesteuert haben, berücksichtigt hat.  Das erklärt auch die ganz unterschiedlichen Begleitinstrumente, zu denen unter anderen auch eine gypsy violin (das deutsche Wort vermeidet man besser) oder ein Bandoneon gehören.

Der erste Track, der bereits erwähnte Chanteur, lässt erkennen, dass die schöne italienisch timbrierte Stimme Glanz, Frische und Geschmeidigkeit bewahrt hat, wozu als weiteres Plus die natürlich idiomatisch korrekte Aussprache kommt. . Unverfälschtes Pariser Flair wird mit Padam, padam verbreitet, reizvoll ist zur ausgebildeten Sängerstimme die Begleitung durch Gitarre und Trompete in den bekannten Feuilles mortes. Das zärtliche Verklingen bleibt besonders im Gedächtnis. Der Summchor aus Butterfly stand Pate für J’attendrai, und auch der Tenor beginnt summend, ehe er auch im Weiteren die Herkunft der Melodie unterstreicht. Eine Abkehr vom Schöngesang verlangt Adieu mon pays, unüberhörbar  einen herberen Klang, einen orientalischen Touch, während für Un jour je te dirai die Rückkehr zu eher schmeichelnden Tönen angebracht ist. Tochter Ornella aus erster Ehe bringt mit ihrer Naturstimme Kubanisches ins Spiel, anrührend ist das Duett Mayari, während in Bohémienne unüberhörbar Carmen mitmischt. Gypsy Jazz prägt auch Nuages, für die der Tenor, wie er meint, die Stimme mit Olivenöl geschmiert hat. Anrührend ist, wenn die kleine Tochter Malena hier die Rolle des Sklaven übernimmt, dunkel eingefärbt wird er Tenor für Mon pot`le gitan, straff und dunkel ist sie im Tango Il pleut sur la route, der Musette –Walzer Cèst un mauvais garcon gerät jazzig, zu Maniusiu steuert Gattin Aleksandra Kurzak Polnisches bei, und zuletzt wird mit Brels La chanson des vieux amants Belgien eine Reverenz erwiesen. Dem Sänger willkommene Beschäftigung, dem Hörer angenehmster Zeitvertreib ist diese CD, die es ohne Corona nicht gegeben hätte (Sony 19439790592). Ingrid Wanja   

Ah diese Liebe …

 

Joseph Bodin de Boismortiers Ballet Les Voyages de l’Amour von 1736 bringt GLOSSA in einer Einspielung mit dem Purcell Choir und dem Orfeo Orchestra unter Leitung von György Vashegyi heraus, die im September des vergangenen Jahres im ungarischen Pécs entstand (GCD 924009, 2 CDs).

Das Ballet en un  prologue et quatre entrées wurde 1736 an der Pariser Académie royale de musique uraufgeführt. Zwei Jahre später gab es eine Vorstellung mit dem veränderten 2. Akt, der sich auch in dieser Einspielung findet. Der Prolog führt in die Gärten des Amor auf der Insel Cythera, wo der Gott, der nicht nur Glücksbringer sein, sondern auch selbst ein liebendes Herz treffen will, von Zéphyre auf Reisen geschickt wird – in ein Dorf, eine Stadt und an den Hof. Im 1. Akt finden sich beide. als Hirten verkleidet, auf dem Lande wieder. Unter dem Namen Silvandre hofft Amor, das Herz der Hirtin Daphné zu gewinnen. Der 2. Akt führt in die Stadt, wo Amor unter dem Namen Alcidon um Lucile wirbt. Diese erfährt durch ein Orakel, dass Amor Sehnsucht nach ihr hat und verstößt Alcidon. Er jedoch enttarnt sich als der Gott und lässt Lucile beschämt zurück. Im 3. Akt am Hof glaubt Amor, verkleidet und unter dem Namen Émile, von Prinzessin Julie geliebt zu werden, vermutet jedoch, dass sie noch immer an dem galanten Ovid hängt. Überzeugt, dass das wahre Glück im Dorf liegt, beschließt er, zu Daphné zurückzukehren. Der letzte Akt spielt wieder in Amors Palast, wohin Zéphire die schlafende Daphné gebracht hat, die noch immer an Silvandre denkt. Das überzeugt Amor, so dass seine Vereinigung mit Daphné mit Gesang und Tanz gefeiert werden kann.

De Boismortier war ein Zeitgenosse Rameaus und seine Musik atmet in den Tänzen einen ähnlich mitreißenden Schwung und Esprit. In diesen Passagen – von der Ouverture über Menuets, Rondeaus, Tambourins, Préludes, Passacailles, Ritornelles, Caprices, Marches, Contredanses bis zur Sarabande am Ende – kann das im Barock erfahrene Orchester brillieren und hat die vorliegende Aufnahme ihre Meriten. In den Airs und Duos muss man freilich von den drei Sopranistinnen – Chantal Santon Jerffery als L’Amour, Katherine Watson als Zéphire und Judith van Wanroij als Daphné – strengen Gesang von säuerlichem, also typisch französischem Klang und weinerlichem Ausdruck überstehen, was das Anhören nicht immer bequem macht. Bernd Hoppe

Hochgelagert

 

Ohne sie hätte es die Rossini-Renaissance nicht gegeben, die Anziehungskraft des Festivals von Pesaro, ein Bologneser Publikum, das sich von den Plätzen erhebt und Beifall klatscht, als Chris Merritt den Zuschauerraum betritt, um sich eine Manon mit Raina Kabaivanska anzusehen. Er und Rockwell Blake, Raoul Gimenez und nicht zuletzt William Matteuzzi machten es möglich, dass sogar ein Rossini-Otello mit vier Tenorpartien in würdiger Weise aufgeführt werden konnte, nachdem er lange Zeit als unspielbar gegolten hatte. Ebenso verdienstvoll wie diese Herren ist seit mehr als hundert Jahren die Firma Bongiovanni, ebenfalls aus Bologna, die immer wieder Raritäten in ihr Sortiment aufnimmt, in deren Geschäft man alles findet, wenn es das Gewünschte überhaupt gibt.

Ungetrübten Genuss bereitet denn auch, sieht man von kleinen technischen Mängeln der Liveaufnahmen ab, eine CD mit Aufnahmen von William Matteuzzi aus den Jahren 1980 bis 1999, vor allem Arien von Rossini, aber auch Mozart, Puccini und Léhar, deren Darbietung allesamt die strenge Schule von Rodolfo Celletti, des italienischen  Opernpapstes, und die Zusammenarbeit mit Alberto Zedda, Herausgeber  kritischer Ausgaben von Rossini-Partituren, verraten.

Rossini-Tenöre werden nicht wegen ihres schönen Timbres, sondern wegen der Virtuosität ihres Singens bewundert. Bei dem Ausschnitt aus Ricciardo e Zoraide klingt die Stimme noch recht trocken, leicht meckernd, aber bereits hier kann man die reiche Agogik innerhalb einer Gesangslinie, das chiaro-scuro, den puren vokalen Übermut eines Sängers, der sich seiner Mittel sicher ist, bestaunen. Im Ausschnitt aus Le Comte Ory bemerkt der Hörer, dass der Tenor zwar hell, aber durchaus nicht farblos ist, selbst der Spitzenton ist davon nicht ausgenommen.

In Rodrigos „Ah come mai non senti“ aus Otello schraubt sich die Stimme mit hörbarer Lust in die Höhe, zeigt aber durchaus auch Qualitäten eines tenore lirico, um dann wieder zu irrsinnigen Läufen und ebensolchen Intervallsprüngen zurück zu kehren. Einen unvermuteten Touch Tragik trotz des häufigen Auftretens in Buffo-Partien zeigt der Tenor in „Ah segnar invan io tento“ aus Tancredi, bevor in der Cabaletta natürlich Virtuosität gefragt ist und in reichem Maße geboten wird.  In „Vieni fra queste braccia“ aus La Gazza Ladra fällt besonders die Selbstverständlichkeit des Singens, die leichte Emission der Stimme auf, in „Terra amica“ aus Zelmira sind es die großen Bögen, ist es die in allen Lagen gleich starke Präsenz der Stimme, die entzücken, in der Cabaletta der pure vokale Übermut.

Als Ramiro aus La Cenerentola scheint er das „Giuro“ zunächst nicht ganz ernst zu nehmen, aber gemeinsam mit dem Chor geht der Sänger dann in die Vollen, vereint ein irres Tempo mit bewundernswerter Präzision.

William Matteuzzi wagte sich als einer der ersten Tenöre der Neuzeit an das Rondo des Almaviva „Cessa di più resistere“, aber mit hohen Fs wie er hat es wohl noch niemand gesungen, schon gar nicht mit piena voce, also nicht im Falsett. Auch in Lindoros „Languir per una bella“ begibt sich die Stimme in stratosphärische Höhen, bewältigt riesige Bögen und steuert dann noch ein wunderschön ruhiges Piano bei. Das Besondere dabei ist, dass alles äußerst spielerisch, mit hörbarer Freude gesungen wird.

Hoch poetisch ist seine „Aura amorosa“, die zweite Strophe im Piano, mit Schwelltönen, in großer Ruhe und doch spannungsreich dargeboten. Sehr elegant klingt Cimarosa „Pria che spunti“ aus Il Matrimonio segreto, emphatisch und humorvoll zugleich Rinuccios „Firenze è come un albero fiorito“; süffig wie man es von einer Rossinistimme nicht erwartet hätte, Camilles „Come di rose“ aus der Lustigen Witwe. Und Arturos „Credeasi misera“ dürfte alle Tenöre  erblassen lassen ob der Höhensicherheit- nur böse Neider würden da von einem Pfauenschrei sprechen, den die ersten Hörer eines Do di petto einst zu vernehmen glaubten. Orchester und Dirigenten werden nicht genannt im an sich informationsreichen Booklet, aber auf die kommt es hier auch nicht so sehr an GB 1210-2)Ingrid Wanja  

Gabriel Chmura

 

Die ganz großen Dirigentenposten blieben Gabriel Chmura, geboren am 7. Mai 1946 in Breslau, zwar zeitlebens verwehrt, doch zählte er ohne Frage zu den bedeutendsten polnischen Dirigenten der letzten Jahrzehnte. Seine Nachkriegskindheit verlief turbulent. 1957 emigrierte Chmuras Familie nach Israel, dessen Staatsbürgerschaft er erhielt und wo er ab 1964 ein Klavier-, Kompositions- und Dirigierstudium in Tel Aviv aufnahm. Ab 1966 studierte er beim französischen Dirigenten Pierre Dervaux in Paris, ab 1969 beim österreichischen Dirigenten Hans Swarowsky in Wien weiter. Bereits kurz nach Studienabschluss 1971 gewann er den Ersten Preis des Dirigenten- Wettbewerbs der Herbert-von-Karajan-Stiftung in Berlin wie auch die Goldmedaille des Guido- Cantelli-Wettbewerbs der Mailänder Scala. 1974 avancierte er mit gerade 28 Jahren zum jüngsten Orchesterleiter Deutschlands, als er Generalmusikdirektor am Stadttheater Aachen wurde. Nach einem knappen Jahrzehnt erfolgte 1983 sein Wechsel zu den Bochumer Symphonikern (bis 1987) und anschließend ins kanadische Ottawa (bis 1990). Zwischen 2001 und 2007 stand Chmura dem Polnischen Nationalen Rundfunk-Sinfonieorchester in Katowice vor, bevor er schließlich 2012 künstlerischer Direktor des Opernhauses in Poznań wurde. Dort setzte er sich neben dem italienischen und französischen Repertoire gerade auch für die Musik Richard Wagners ein und brachte 2018 nach über einem Jahrhundert erstmals wieder Die Meistersinger von Nürnberg zur szenischen Aufführung. 2015 wurde er zum Ersten Gastdirigenten der Krakauer Philharmoniker ernannt. Gastdirigate führten ihn u. a. zu den Berliner Philharmonikern, zum London Symphony Orchestra, zum Orchestre National de France, zum Montreal Symphony Orchestra und zum Israel Philharmonic Orchestra. Chmura hat zahlreiche Aufnahmen vorgelegt, darunter Werke von Franz Schubert, Felix Mendelssohn, Gustav Mahler, Sergei Prokofjew, Mieczysław Weinberg und Zygmunt Noskowski für die Labels Deutsche Grammophon, Orfeo, Warner, Sterling, Chandos und Accord. Sein letztes Konzert dirigierte Gabriel Chmura am 2. Oktober 2020. Am 17. November dieses Jahres ist er im Alter von 74 Jahren überraschend in seiner Wahlheimat Brüssel verstorben (Foto ChmuraNwes). Daniel Hauser

Spannende Bearbeitung

 

Die bösen Worte berühmter Musiker über ihre Kollegen füllen ganze Bände, aber man stellt fest, dass die ätzenden Sprüche oft den Opfern gar nicht geschadet haben – Lobesworte wirkten aber umgekehrt auch nicht immer. Ein gutes Beispiel dafür liefert das brillante Pariser Ambiente der 1830er Jahre, wo sich die größten Virtuosen der Zeit wahre Schlachten am Klavier lieferten –und mit ihrer spitzen Zunge, denn sie hatten ja ein pekuniäres Interesse daran, die Konkurrenten schlecht zu machen. Als sich Frédéric Chopin 1831 in der französischen Metropole niederließ, schwärmte er für einen Pianisten und Komponisten deutscher Abstammung, Friederich (Frédéric) Kalkbrenner (1785 – 1849), den er in einem berühmten Brief über alle damals ihm bekannte Klaviervirtuosen stellte, einschließlich Franz Liszt: gegenüber Kalkbrenner seien alle anderen Nullitäten. Chopin nahm dem älteren Kollegen, der für seine Eitelkeit berüchtigt war, auch nicht übel, dass er verkündete, bei ihm könne Chopin zu einem Pianisten werden. Die Widmung seines ersten Klavierkonzertes an Kalkbrenner nahm er jedenfalls nicht zurück. Das half alles nicht. Obwohl Kalkbrenner zu Lebzeiten nicht nur als Hauptvertreter des eleganten französischen Klavierstils galt, sondern auch als bedeutender Komponist angesehen wurde, sind seine Werke aus den Konzertprogrammen verschwunden, und lediglich einige CD-Produktionen wie jene der Klavierkonzerte mit Howard Shelley für Hyperion haben seinen Namen lebendig gehalten (der emsige Shelley verfehlt jedoch bedauerlicherweise den erforderlichen jeu lié, soutenu, harmonieux d’une égalité parfaite, den man an Kalkbrenners Vortragsstil rühmte, völlig). Wie ambitioniert Kalkbrenner war, daran erinnert eine neue CD, welche ein erstaunliches Werk ausgräbt. Wie Maud Caillat in dem sehr lesenswerten Booklet darstellt, hat Kalkbrenner in den 1830er Jahren parallel zu Franz Liszt Beethovens Symphonien für Klavier allein transkribiert und mit Widmung an Louis Philippe gedruckt, inklusive der Neunten, mit der sich andere Bearbeiter sehr schwer taten. Beethovens Freund Hummel, der in jener Zeit ebenfalls für Paris die Symphonien für Klavier, Flöte, Geigen und Cello bearbeitete (und zwar wunderschön, auch wenn Liszt darüber lästerte), ließ die Neunte aus, und Liszt schuf seine Klavierfassung erst Jahrzehnte später. Man wundert sich, dass Kalkbrenner, der in gewissen Kreisen als oberflächlicher Salonpianist verschrien war und somit als Antipode Beethovens erscheinen konnte, sich dieses opus maximum vornahm und dadurch in die Reihe der Paris Bewunderer von Beethoven einreihte. Spielte vielleicht die Erinnerung an seine Wiener Jahre (1803-1806) dabei eine Rolle, während derer er sicherlich Beethoven getroffen hatte? Das Ergebnis seiner Bemühungen ist durchaus ansehnlich, obgleich der sarkastische Liszt auch diese in den Boden stampfte („der Ritter Kalkbrenner soll sich lieber um seine blonde oder rote Perücke kümmern“). Man kann Caillat zustimmen, wenn sie schreibt, dass die Transkription „mehr darauf zielt, ein Orchesterwerk auf das Klavier zu übertragen als ihren musikalischen Gehalt aufzudecken“. Die Bearbeitung klingt an Stellen tatsächlich etwas dünn, und trotz des anerkennenswerten Engagements der japanischen Pianistin Etsuki Hirose hätte man sich eine phantasiereichere, vielleicht sogar eine frivolere Interpretation gewünscht, so im arg schläfrig geratenen dritten Satz. Und man hätte auch gerne einen Pleyel der Zeit und nicht wie hier einen modernen Flügel gehört.

Das Finale stellt Beethoven-Fans auf eine besonders harte Probe. Der getrennt vom Rest veröffentlichte Satz behält die Vokalpartien, der Text erklingt allerdings in einer französischen Übersetzung von Crevel de Charlemagne (1807-1882), einem Vielschreiber, der manches aus dem Deutschen und Italienischen übersetzte (so Webers Freischütz). Hier kommen die joie et ses divins transports der Ode nicht gut zur Geltung. Wie man das auch dreht: das klingt falsch, zum einen, weil es sich um eine freie Nachdichtung handelt, die stellenweise Schiller gänzlich aus den Augen verliert, zum anderen jedoch, weil der schwärmerische Text irgendwie unmusikalisch wirkt. Dabei kann man den guten Solisten, dem ehrlich bemühten Chor, der Pianistin und dem Dirigenten, die in einem Live-Konzert aufgenommen wurden, keinen Vorwurf machen. Vielleicht hätte Kalkbrenner doch die Finger davon lassen sollen? Seine Transkription ist jedenfalls ein interessantes und daher hörenswertes Dokument der frühen Beethoven-Rezeption im Frankreich des 19. Jahrhunderts. Michele C. Ferrari

Beethoven / Kalkbrenner, Symphonie Nr. 9 op. 125 für Soli, Chor und Klavier. Etsuko Hirose (Klavier), Cécile Achille (Sopran), Cornelia Oncioiu (Alt), Samy Camps (Tenor), Thimoté Varon (Bass), Philharmonischer Chor von Ekaterinburg, Andrei Petrenko, CD mirare  MIR 534 (2020).

Mattes Musiktheater

 

 Eine Oper nach Salman Rushdie? Nie davon gehört. Vier Jahre nach den Satanischen Versen veröffentlichte Salman Rushdie 1990 den allegorisch verschlungenen Roman Haroun and the Sea of Stories, der, obgleich für Rushdies 11jährigen Sohn Zafar geschrieben, mehr als ein Kinder- und Jugendbuch ist. Der Roman mit seinen zahlreichen Verweisen und Spiegelungen anderer Romane faszinierte den in diesem März im Alter von 81 Jahren verstorbenen Charles Wuorinen derart, dass er sich von James Fenton das Libretto zu der zweiaktigen Oper Haroun and the Sea of Stories schrieben ließ, die 2001 an der New York City Opera herauskommen sollte, aber nach den Terroranschlägen vom 11. September verschoben wurde. Die Uraufführung fand 2004 statt. George Manahan, 1996 bis 2011 Music Director des Hauses, dirigierte. 15 Jahre ruhte Wuorinens See der Geschichten still, bis sich das Boston Modern Orchestra im Januar 2019 zu einem halbszenischen Projekt entschloss, dessen musikalisches Ergebnis nun auf zwei, mit der Illustration des einstigen Buchcovers wunderschön verpackten und mit Textheft versehenen CDs vorliegt (BMOP…).

Der in New York geborene Charles Peter Wuorinen, Sohn finnischer Einwanderer, ist hierzulande vornehmlich als Komponist der Opernversion von Brokeback Mountain (Madrid 2014) bekannt. Mit seinen rund 280 Werken war er als Komponist, aber auch Dirigent und Pianist eigener wie Werken des 20. Jahrhunderts, eine maßgebliche Größe und ein Pionier der zeitgenössischen Musik in den USA: 1962 war er Mitbegründer von The Group for Contemporary Music, bereits mit 38 Jahren wurde er mit Pulitzer-Preis ausgezeichnet, nachdem seine Werke früh von den großen Orchestern und Dirigenten aufgeführt wurden und sich Christoph von Dohnanyi und James Levine sowie Garrick Ohlsson und Peter Serkin für ihn eingesetzt hatten. Die Farbigkeit und Vielfältigkeit dieses Lebens spiegeln sich in der Oper nicht wider. Haroun and the Seas of Stories ist das, was man gerne als handwerklich solide gemacht bezeichnet, doch für ein Thema, das die Macht der Literatur von Alice bis Peter Pan, von der Unendlichen Geschichte bis zu Tintenherz beschwört und zugleich eine politische Parabel ist, ist sie ausgesprochen gemächlich und irden. Haroun ist der Sohn des Geschichtenerzählers Raschid, der seine Frau Soraya verlässt und daraufhin die Kraft der Erzählkunst verliert. Gemeinsam erleben sie wundersame Begegnungen und bestehen Abenteuer. Fenton hat das alles reduziert und in eine lange Folge gut gemeinter liedchenhafter, doch nicht uncharmanter Texte gepackt. Das ist ein wenig ermüdend, ermüdender noch ist Wuorinens 130minütige Musik, die den Figuren Lebendigkeit, Witz und Geist nimmt, den Stimmen keine Chance zur Entfaltung und Gestaltung gibt. Wuorinen lässt das Orchester nach allen Richtungen rumoren und flüstern, gekonnt, routiniert, mit den zeitgenössischen Formeln vertraut, doch packen kann das phantasielose Aneinander nie. Er selbst beschrieb seine Musik so, “typical me, and does not try to be anything non-Western, non-me, or non-American.“

Heather Buck, die schon 2004 in New York als Sopran-Haroun dabei war, singt auch in Boston den Haroun. Der Bassbariton Stephen Bryant ist Rashid, Heather Gallangher die Soraya, der am Anfang und am Ende der Oper die hübschen Zeilen „Zembla, Zenda, Xanadu; all our dream worlds may come true“ zufallen. Die anderen Figuren, die so schöne Namen tragen wie Snooty Buttoo, Butt the Hoopoe, Prince Bolo, General Kitab und Iff the Water Genie werden von Matthew DiBattista, David Salsbery Fry, Charles Blandy, Aaron Engebreth und Brian Giebler dargestellt. Dirigent Gil Rose sowie das Boston Modern Orchestra Proejct and Chorus machten unter den Augen des anwesenden Komponisten alles richtig, ohne der ausgesprochen matten Oper zu andauerndem Erfolg verhelfen zu können. Es fällt schwer, dem Dirigenten zuzustimmen, “This opera gives people a chance to see Charles’s wit and humor, which in a symphony or string quartet may be more abstracted. I’d love for listeners to go from the beginning, where there’s this wonderful sense of hope and the future, to thinking this is a piece of interest to finally concluding that it’s a piece of vital theater.    Rolf Fath

Salzburg – Dresden

hänsl

Denkt man an die bedeutendsten lebenden Wagner-Dirigenten, so kommt man an ihm nicht vorbei. Christian Thielemann hat sich in den letzten Jahrzehnten unweigerlich als der wichtigster Wagner-Interpret aus dem deutschsprachigen Raum etabliert. Mittlerweile liegen auch beinahe alle Opern des Bayreuther Kanons unter seinem Dirigat entweder als CD oder als DVD bzw. Blu-ray vor. Mit den Meistersingern von Nürnberg, dieser großartigen Abhandlung Richard Wagners über die Kunst an sich, hat er sich schon vor zwei Jahrzehnten eingehend auseinandergesetzt. Zwischen 2000 und 2002 übernahm er die (letzte) Wolfgang-Wagner-Produktion bei den Bayreuther Festspielen (übrigens zudem sein dortiges Debüt). Im Jänner 2008 folgte eine Aufführungsserie an der Wiener Staatsoper, die auch verfilmt wurde (Unitel). Auf eine altmodische Einspielung der Meistersinger in CD-Form mussten sich Wagnerianer indes bis 2020 gedulden. Nun erst erscheint ein Mitschnitt von den Osterfestspielen Salzburg 2019 mit der Staatskapelle Dresden in der gleichnamigen Edition bei Profil/Hänssler unter Thielemanns Leitung (PH 20059).

Tatsächlich besitzt die Sächsische Staatskapelle Dresden, so ihr voller Name, eine Wagner-Tradition wie nur ganz wenige andere Klangkörper und wurde vom Meister höchstselbst auch als „Wunderharfe“ geadelt. Bereits in der Vergangenheit entstanden mehrere Aufnahmen der Meistersinger von Nürnberg, so schon 1938 der dritte Aufzug unter Karl Böhm, gefolgt von zwei Gesamtaufnahmen unter Rudolf Kempe von 1951 (BASF) und unter Herbert von Karajan in der berühmten Ost-West-Coproduktion von 1970 (EMI). Seither verging ein halbes Jahrhundert und ist Thielemann seit fast einem Jahrzehnt Chefdirigent dieses Orchesters.

Vergleicht man die Neueinspielung mit den älteren Interpretationen Thielemanns, so fällt ein etwas beschwingterer, schlankerer Zugriff auf. Besonders wenn man seine alten Bayreuth-Mitschnitte gegenüberstellt, wird dies deutlich; eine Tendenz, die sich bereits in Wien andeutete, in Salzburg aber noch ausgeprägter erscheint. Schien der Dirigent vor zwei Jahrzehnten noch primär der deutschen Nationaloper nachzuspüren, geht sein heutiger Ansatz darüber hinaus, stellt das weihevolle Pathos hintan, ohne freilich dem Irrtum zu erliegen, dies sei allein durch „Tempo machen“ möglich. Mit knapp viereinhalb Stunden Spielzeit vermeidet Thielemann auch heute ein überzogenes Hetzen. 2002 brauchte er sogar noch beinahe fünf Stunden. So ganz stellt sich die Magie von einst indes nicht ein.

Von der damaligen Wiener Besetzung von 2008 ist einzig Adrian Eröd als Beckmesser auch elf Jahre später in Salzburg vertreten. Sein Rollenportrait, das aus dem Stadtschreiber keine Witzfigur macht, ist vielleicht sogar noch ausgefeilter als damals. Gemein ist allen Thielemann’schen Meistersinger-Aufnahmen, dass sie leider keinen idealen Hans Sachs aufweisen. Weder Robert Holl in Bayreuth (der mit der Höhe zu kämpfen hatte) und weniger noch Falk Struckmann in Wien (dem im Schlussmonolog gar einmal die Stimme wegbrach) konnten vollauf zufriedenstellen. Der in der vorliegenden Einspielung eingesetzte Georg Zeppenfeld ist für den Sachs eigentlich etwas zu leichtgewichtig, hat aber zumindest keine Höhenprobleme. In den großen Monologen hält er sich auffallend zurück, wohl auch um seine Kräfte bis zum Schluss aufzusparen. Womöglich wächst er in den kommenden Jahren noch besser in diese anspruchsvolle Rolle hinein. Bei Klaus Florian Vogt, dem Stolzing, scheiden sich seit jeher die Geister. An die bedeutendsten Interpreten des Walther wird man nicht denken dürfen, so auch noch René Kollo unter Karajan. Aber auch mit Johan Bohta in Thielemanns Wiener Filmfassung kann Vogt nicht mithalten; dazu ist die Stimme schlichtweg zu klein und muss sich gar vor dem David von Sebastian Kohlhepp in Acht nehmen. Die übrige männliche Besetzung ist soweit ordentlich; auffallend gut Levente Páll im überschaubaren Part des Kothner. Wie so häufig im heutigen Wagner-Gesang, lässt die Wortdeutlichkeit teilweise zu wünschen übrig, so etwa beim Pogner des ansonsten angenehm timbrierten Vitalij Kowaljow. Dass in den Meistersingern die Männer im wahrsten Sinne des Wortes den Ton angeben, wird in der Neueinspielung unfreiwillig betont, da die weiblichen Charaktere seltsam blass bleiben. Weder die Eva von Jacqueline Wagner noch die Magdalene von Christa Mayer, beide recht bieder, werden nachhaltig in Erinnerung bleiben. Daniel Hauser

Aus allen Perspektiven

 

Keine Angst vor dicken Büchern. Auch von dem Titel Musik und Gesellschaft mit der einschüchternden Unterzeile Marktplätze. Kampfzonen. Elysium und dem kecken Text auf der Banderole, der die beiden insgesamt mehr als zweieinhalb Kilo schweren Bände umspannt, „Grundlagentexte und Streiflichter zu tausend Jahren Musik- und Sozialleben. Aus der Vogel-, Zentral- und Froschperspektive“ darf man sich nicht abschrecken lassen. Von der „Tanzlust und Tanzwut“ im frühen 11. Jahrhundert bis zum „Musikleben im Ausnahmezustand“ im Jahr 2020 reichen die Texte der mehr als hundert AutorInnen, welche die Herausgeber Frieder Reininghaus, Judith Kempe und Alexandra Ziane in den beiden rund 1400 Seiten umfassenden Bänden versammelt haben, wovon der erste „Von den Kreuzzügen bis zur Romantik“ und der zweiten „Vom Vormärz bis zur Gegenwart“ reicht, und die der Verlag Königshausen & Neumann dem Thema entsprechend ausgesprochen wertig und würdig gestaltet und klug und aufwendig illustriert hat. „Um noch halbwegs handlich auszufallen“, was ein charmanter Euphemismus angesichts der gewichtigen Bände ist, „wurde diese Anthologie im Wesentlichen auf die Breitengrade zwischen Amsterdam und Athen bzw. die Regionen zwischen London oder Lissabon d Amsterdam begrenzt sowie die letzten tausend Jahre“, so die Herausgeber.

Nach einer Ouvertüre, bestehend aus zwölf Grundlagentexten, folgen „in zehn Kapiteln 409 Texte, die jeweils von zeitlich (annähernd) genau zu lokalisierenden Ereignissen, Werken oder Leistungen im Musikleben ausgehen und von diesen Ansatzpunkten aus auch orts- und zeitübergreifende Zusammenhänge beleuchten. Diese Essays werden stets von Stichwörtern zu politischen, militärischen, technischen, zivilisatorischen und kulturellen Begebenheiten im jeweiligen Jahr eingeleitet“. Auch das hört sich komplizierter an als es tatsächlich ist.

Und es liest sich interessanter als man vermuten würde. Im Grunde ist „Musik und Gesellschaft“ ein Lesebuch, in dem man nicht unbedingt dem Zeitenstrahl folgen muss, sondern das man auch an irgendeiner Stelle aufschlagen könnte, um sich fest zu lesen, beispielsweise bei der „Steuerung und Zensur von Musik“ im frühen 13. Jahrhundert, wo uns ein Pfeil mit dem Stichwort „Russische Kunstfreiheit“ zu Pussy Riot und Serebrennikov ins Jahr 2019 verweist. Es ist unmöglich, diese Texte in einem Zug zu lesen. Vermutlich auch unnötig, da die Bände dann ins Regal wandern und nie wieder angeschaut würden.

Gehen wir zur Frühzeit der Oper, also ins Jahr 1637, wo Arnold Jacobshagen von der „Finanzierung des Musiktheaters in der Frühzeit der Oper“ und der Eröffnung des Teatro San Cassiano als erstes öffentliches Opernhaus in Venedig und dem bis ins 19. Jahrhundert reichenden System der Logenverpachtung als Motor für die wirtschaftliche Existenz der Oper berichtet. In vorangestellten Stichworten erfahren wir, was in diesem Jahr noch geschah – russische Kosaken erobern die osmanische Festung Asow, Aufstand christlicher Bauern in Japan, Gryphius schrieb die Lissaer Sonette und Caldéron de la Barca Herodes – und werden abschließend auf die Finanzierung von Händels Royal Academy in London und, was man als Operninteressierter unbedingt lesen sollte, auf die Opernfinanzierung heute hingewiesen.

Frieder Rrininghaus, renommierter Literatur- und Kulturforscher, Autor und Journalist/ Frieder-Reininghaus.de

Die Themen sind breit gestreut. Ausgehend vom Fall des Johann Rosenmüller nimmt sich Moritz Eggert des Themas „Machtmissbrauch in Geschichte und Gegenwart der Musikwelt“ an und schlägt den Bogen bis zu den jüngsten Vorkommnissen an der Münchner Musikhochschule. Die MeToo-Debatte schlägt auch nochmals bei Mozarts Don Giovanni auf. Es ist von „Neid und Rivalität auf der Opernbühne“, den horrenden Gagen im 18. Jahrhundert und dem Geschäftsmodell mit hohen Männerstimmen, „Caffarelli & Co“, die Rede, viel auch von Librettokunde. Der Fado erhält ebenso Berücksichtigung wie der Marien-Gesang Ave Maria, der von Maria Behrendt, die ihr Thema bei Rossinis Cenerentola wiederaufgreift, bis zu Beyoncé aufschlüsselt wird. Die Texte sind kurz, oftmals nur zwei, drei Seiten lang. Über das Kastratenwesen möchte manch einer sicher mehr erfahren, auch über das Musik- und Opernleben unter Haydn in Eisenstadt oder im Theater bei Fertöd, über Rossini usw.

Der Duktus der Texte ist unterschiedlich, mache scheinen dem Alltagsgeschäft der Feuilletons zu entstammen, beleuchten Episoden und Anekdoten, wie die Entstehung der Marseillaise, Haydns Gott erhalte, Sacre-Uraufführung oder die Textsammlung zur „Klavierseuche“, wobei die Texte von Reininghaus, nicht nur im Fall der Butterfly, seine reiche Rezensententätigkeit einfangen. Ist der Anfang erst gemacht, findet man kein Ende.  Rolf Fath

 

Musik und Gesellschaft. Marktplätze · Kampfzonen · Elysium. Band 1: 1000–1839 Von den Kreuzzügen bis zur Romantik, 704 Seiten; Band 2: 1840 – 2020 Vom Vormärz bis zur Gegenwart, 724 Seiten Einführungspreis € 58,00 bis 31.12.2020, danach € 68,00; Königshausen & Neumann ISBN: 978-3-8260-6731-0

Paukenschlag zur Gesamtaufnahme

 

Anton Bruckners Achte, zuweilen als Apokalyptische bezeichnet, ist für manch einen die Krönung im Œuvre des „Meisters von St. Florian“. Tatsächlich handelt es sich bei diesem 1887 in seiner Erstfassung fertiggestellten Werk um die letzte vom Komponisten vollendete Sinfonie. Wie so häufig bei Bruckner, ist die Fassungsfrage evident. Die Letztfassung von 1890 hat sich sowohl im Konzertsaal als auch diskographisch mit gutem Grund durchgesetzt, auch wenn die Urfassung ebenfalls ihre Meriten hat.

Der führende deutsche Bruckner-Dirigent Christian Thielemann wagt sich nun für Sony mit den Wiener Philharmonikern an eine Gesamteinspielung der Bruckner’schen Sinfonien, wobei die Gesamtheit hier, wie in nahezu allen Zyklen, in Anführungszeichen gesetzt werden sollte. Einzig und allein der russische Dirigent Gennadi Roschdestwenski hat tatsächlich wirklich alle existierenden Fassungen einer jeden Bruckner-Sinfonie irgendwann eingespielt. Solche Ambitionen hat man in Wien sicherlich nicht, wird es also bei den klassischen neun Sinfonien in den gängigen Fassungen belassen. Den Anfang macht also ausgerechnet die monumentale Sinfonie Nr. 8 c-Moll, als wollte man bereits zu Beginn einen Paukenschlag setzen (Sony 19439786582). Selbstredend handelt es sich keinesfalls um eine Erstbeschäftigung Thielemanns mit diesem Opus magnum. Bei Profil/Hänssler erschien bereits vor einem Jahrzehnt eine großartige Einspielung mit der Staatskapelle Dresden aus der Semperoper vom September 2009, die man aus der Rückschau gleichsam als inoffizielles Thielemann’sches Antrittskonzert als dortiger Chefdirigent betrachten kann. Thielemann sprang damals im letzten Moment für Fabio Luisi ein und gewann mit einem Schlage die Herzen der Dresdner. Die Neuaufnahme entstand beinahe auf den Tag genau zehn Jahre später, bei öffentlichen Konzerten im Goldenen Saal des Wiener Musikvereins am 5. und 13. Oktober 2019. Es handelt sich also in beiden Fällen streng genommen um Aufführungsmitschnitte, wenn auch um professionell produzierte. Da wie dort entschied sich der Dirigent für die 1939 entstandene Edition von Robert Haas, welche sich bis heute mit jener Edition von Leopold Nowak (1955 bzw. 1972) in etwa die Waage hält. Tatsächlich hat sich Thielemann auch schon der Nowak-Edition bedient, so mit den Münchner Philharmonikern im Jahre 2007 und mit den Berliner Philharmonikern im Folgejahr. Nun sind die Unterschiede in den beiden Editionen allerdings nicht derart gravierend wie bei anderen Bruckner-Sinfonien. Ein Blick auf die Spielzeiten zeigt, dass er sich tempomäßig treu geblieben ist: Für  den Kopfsatz benötigt er mit den Wienern mit 15:42 praktisch exakt genauso lange wie einst in Dresden, das Scherzo fällt mit 15:35 gerade siebzehn Sekunden flotter aus und das Adagio mit 26:26 eine halbe Minute zügiger. Im Finalsatz schließlich bringt er es in Wien auf 23:45, womit er zwanzig Sekunden mehr braucht als in Dresden (abzüglich des dortigen Applauses). Alles in allem also vernachlässigbare temporale Unterschiede. Nun ist es alles andere als ein Geheimnis, dass sowohl die Wiener Philharmoniker als auch die Staatskapelle Dresden eine immense Bruckner-Tradition vorzuweisen haben. Nur sehr wenige andere Klangkörper können da mithalten. Von daher ist die genuine Eignung als Bruckner-Orchester in beiden Fällen unbestritten. Und doch gibt es Unterschiede. Klanglich sind beide Aufnahmen sehr natürlich eingefangen, Störgeräusche sind nicht zu beklagen. An der Donau klingt es etwas wärmer als an der Elbe; man könnte auch sagen: weicher. Es nimmt nicht wunder, dass daher besonders der himmlische langsame Satz von diesem Zugang profitiert. Hier ist Thielemann mehr auf Linie mit Carlo Maria Giulinis vielgerühmter Einspielung mit den Wiener Philharmonikern denn mit Karl Böhms expressiverer Lesart mit demselben Orchester (beide DG). Das angriffslustige Scherzo wird in der älteren Thielemann-Aufnahme mit der Dresdner Staatskapelle eine Spur schärfer akzentuiert als in Wien. Ihren Höhepunkt erreicht die achte Sinfonie im Schlusssatz. Bruckner sprach beim gewaltigen Auftakt zum selbigen von einer musikalischen Umsetzung des 1884 erfolgten Drei-Kaiser-Treffens in Skierniewice bei Brünn zwischen Kaiser Franz Joseph I. von Österreich-Ungarn (dem dieses Werk auch gewidmet ist), dem Deutschen Kaiser Wilhelm I. und Zar Alexander II. von Russland. In diesem Satz tritt die Verschiedenartigkeit beider Aufnahmen am stärksten zutage. Während die Pauken in Dresden furchteinflößend dräuen, grollen sie in Wien vergleichsweise vornehm und zurückhaltend. Dies wird in der Reprise nochmal deutlicher, die mit der Staatskapelle viel infernaler herüberkommt. Die Dresdner Blechbläser gehen aufs Ganze, während die Wiener Kollegen mehr auf Wohlklang setzen. Beides hat seine Berechtigung. Zur letzten Bewährungsprobe wird sodann freilich die mysteriöse abschließende Coda, welche alle Hauptthemen der vier Sätze zugleich erklingen lässt. Hier vermisst man in der Neueinspielung aus Wien ein wenig das allerletzte Fünkchen Durchschlagskraft. In dieser Hinsicht sei der Verweis auf die maßstäbliche, in ihrer Klarheit womöglich unerreichte Aufnahme des Sinfonieorchesters des Norddeutschen Rundfunks unter Günter Wand aus dem Lübecker Dom von 1987 gestattet (RCA). Die Sony-Neuerscheinung ist gleichwohl als im Ganzen überzeugend zu bezeichnen und darf Bürge stehen für das zu erwartende gleichbleibende hohe Niveau des im Entstehen begriffenen Bruckner-Zyklus Christian Thielemanns mit den Wiener Philharmonikern. Daniel Hauser

Nürnberg 1920 – 1950

 

Auf keinen Fall endgültig abschrecken lassen von der weiteren Lektüre des dickleibigen Bandes mit dem Titel Hitler. Macht. Oper. sollte sich, wen nach dem Lesen des Kapitels über das „Sounddispositiv nationalsozialistischer Führerinszenierung“ der Mut verlassen hatte, sich auch die restlichen 580 Seiten zu Gemüte zu führen.  Sehr vielseitig und auch über weite Strecken hinweg für den „Normal“leser verständlich ist das dickleibige Ergebnis eines zwischen 2016 und 2019 stattgefunden habenden Projekts des Forschungsinstituts für Musiktheater der Universität Bayreuth gemeinsam mit dem Staatstheater Nürnberg und dem Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände. Wissenschaftler aus den Bereichen Musik, Musikwissenschaft und Geschichte befassten sich mit dem Thema, in welcher Weise sich die Nationalsozialisten der Musik, insbesondere der Oper, bedienten, um die Menschen zu beeinflussen. Sowohl thematisch wie methodisch ging man dabei über die Grenzen des Themas sowie über die reine Wissensvermittlung hinaus, indem man zum Beispiel auch Reiseführer der Stadt Nürnberg heranzog oder in den Räumen des Dokumentationszentrums in Form eines Reenactment des Riefenstahl-Films Triumph des Willens Erhellendes dazu beitragen wollte, worauf die Faszination gewisser Veranstaltungen der Nationalsozialisten sowie ihrer Darstellung im Film beruhte.

Der Untertitel des Buches lautet Propaganda und Musiktheater in Nürnberg 1920 bis 1950, Stoff ist also nicht nur die Nazizeit, sondern auch die der Weimarer Republik und die der Nürnberger Prozesse, ehe das Opernhaus, eines der wenigen nicht zerstörten, aus der Hand der Amerikaner wieder in die der Nürnberger zurück gegeben wurde. Nicht nur diese Kontinuität, sondern natürlich besonders die Wagner-Oper Die Meistersinger von Nürnberg und Hitlers Faible für Komponisten und besonders dieses Werk,  auch die Tatsache, dass die fränkische Stadt die der Reichsparteitage war, dass sie als eine besonders deutsche galt und besonders stark zerstört aus dem 2. Weltkrieg hervorging, machten sie zu einem interessanten Untersuchungsgegenstand.

Jedem Kapitel vorausgestellt ist eine Zusammenfassung in englischer Sprache, mit deren Lesen man sich aber nicht begnügen sollte, denn sie ist extrem knapp und verzichtet natürlich auf interessante Details, die das jeweilige Kapitel erst lesenswert machen.

In der Einführung der vier Herausgeber wird der Zusammenhang zwischen den drei Begriffen erläutert, der Weg Hitlers zur Oper kurz nachgezeichnet, die Musik als Propagandamittel, zugleich aber als etwas durchaus Subversives gekennzeichnet, hervorgehoben, dass in den Jahren 33 bis 45 es durchaus unerwünscht war, dass nationalsozialistische Symbole auf der Bühne gezeigt wurden. Bereits hier wird auf die Meistersinger eingegangen, wenn das Verhältnis Sachs- Stolzing verglichen wird mit dem Hindenburg-Hitler am Tag von Potsdam. Auch seien Feste und Umzüge hier wie dort anzutreffen, und die Idee einer Volksgemeinschaft verbinde ebenfalls Meistersinger wie 3. Reich miteinander.  Parallelen gibt es für die Verfasser auch zwischen Festwiese und der Gestaltung der Reichsparteitage, und dass die letzte Aufführung im Nürnberger Stadttheater vor der Schließung am 31.8.44 die Götterdämmerung war, gibt ebenfalls zu denken.

Der erste große Block des Buches widmet dich „Ästhetik und Propaganda“. Im Kapitel  „Hitler, Wagner und die nationale Sinnsuche“ befasst sich Gerwin Strobl mit der Ineinanderverzahnung von Wagnerverehrung und Politik, so wenn Hitler den Autobahnbau mit einem „Fanget an!“ beginnen lässt. Der Verfasser warnt zurecht davor,   die Wagnerschwärmerei als auf Deutschland beschränkt zu sehen, sieht es als bemerkenswert an, dass sich Hitler nie auf Wagners Judenhass bezog, betont, dass sein Wagnerbegeisterung und sein viel später einsetzender Judenhass nichts miteinander zu tun haben. Interessant sind auch die Ausführungen darüber, warum sich Goethe und Schiller (der erste Parteitag der NSDAP nach dem Aufhaben des Verbots fand in Weimar statt) oder Richard Strauss ( im Text Strauß) nicht  als Galionsfiguren eigneten. Der faktenreiche und ideologiefreie Beitrag zieht das Fazit, die Oper von der klassenlosen, von einem Künstler geführten Gemeinschaft der Meistersinger habe sich als „Wohlfühldroge“ bestens geeignet.

Hans Rudolf Vaget befasst sich mit Deutschland-„Meistersingerland“ und der Festwiese als Vorahnung der Reichsparteitage. Er räumt mit der weit verbreiteten Meinung auf, Beckmesser sei in der Nazizeit als Jude dargestellt worden, spricht  allerdings von einer „unterschwellig antijüdische(n) Stoßrichtung  der Beckmesser-Figur“.

„Von der Gralsburg zum Lichtdom- Auf dem Weg zum nationalsozialistischen Gesamtkunstwerk“ nennt Tobias Reichert seinen Beitrag, was primitiver klingt, als es das Kapitel dann ist, das Thomas Mann, Adorno und Joachim Fest als Zeugen heranzieht und von der „Ästhetisierung des politischen Lebens“ durch den Faschismus, bzw. durch den kunstverliebten „Führer“ handelt, von den Rauscherfahrungen, die sowohl der Bayreuthbesucher wie die der des Reichsparteitags machen konnte, wobei nicht verschwiegen wird, dass eher die Strapazen als der Rausch bei den Beteiligten dominierten. Daran konnte auch der Lichtdom zum Erscheinen Hitlers nichts ändern. Es werden die Versuche beschrieben, durch musikalische Genüsse, die allerdings nie aufgeführte „Feierstunde“ von Friedrich Jung, in der der Verfasser Parallelen zu den Aufzügen der Gralsritter erkennen will, ein angenehmes Klima zu schaffen.

Den Abschluss dieses Blocks bildet Evelyn Annuß‘ „Beitrag Telefunken-Meistersinger. Richard Wagner und  das Sounddispositiv nationalsozialistischer Führerinszenierung“, die sich auf den französischen Botschafter Francois-Poncet beruft, der den Einzug der Zünfte auf die Festwiese mit den Geschehnissen am 1. Mai 1933 auf dem Tempelhofer Feld vergleicht. Teilweise als eigene Erkenntnis, teilweise als Zitat werden kühne Behauptungen aufgestellt wie die, durch die Versenkung des Orchesters  in Bayreuth würde „der Chor als szenische Figur weitgehend verdrängt“.

Der zweite große Block widmet sich dem Thema  „Inszenierung und Propaganda“, und seine Beiträge befassen sich explizit mit dem Stadttheater Nürnberg und seinen Meistersinger-Aufführungen, was natürlich auch eine willkommene Hinwendung zum Konkreten bedeutet.

In Silvia Biers Beitrag über das Stadttheater der Dreißiger, der auch von der Befragung von Zeitzeugen lebt, geht es um die drei Dimensionen, die ästhetischen Mittel, den Kontext und Rezeption und Dokumentation, ganz konkret auch um die Umgestaltung des Innenraums im Jahre 1935, wozu auch die Einrichtung einer Führerloge gehört. Als interessant erweist sich auch die Betrachtung der „Blätter der Städtischen Bühnen Nürnbergs“, oft mit antisemitischem Leitartikel, ansonsten aber ohne ideologische Bezüge. Ein weiterer Abschnitt ist der Spielpangestaltung gewidmet, die Deutsches bevorzugt, aber Italienisches und Slawisches nicht ausschließt, eher zeigt sich Nationalsozialistisches in der Bühnengestaltung, aber eher verhüllt im Naturalistisch-Monumentalen. Eine Ausnahme sind die Meistersinger von Reichsbühnenbildner Benno von Arent mit dem Fahnenwald der Festwiese. Ausführlich und damit nachvollziehbar und mit den entsprechenden Abbildungen, die auch den fließenden Übergang von der Bühne zum Parkett zeigen, wird hier nachgewiesen, wie man die „Erlebnisgemeinschaft“ zu inszenieren versuchte.

Thomas Kuchlbauer weist in seinem Beitrag darauf hin, dass Hitler nie der historische, eher noch der Sachs von Lortzing nahe stand. Er betrachtet auch den Einfluss der Nazis auf die Theaterkritik, in der häufig von Sachs als dem „lenkenden und führenden Menschen“ u.ä die Rede ist. Interessant ist, dass die Lortzing-Musik dem Sachs entrissen und einem Kotzebue-Text aufgepfropft wurde. Mit diesem Artikel und den Beiträgen davor ist der Leser längst dem unverdaulichen Soziologendeutsch entkommen, das ihn in einem der Anfangskapitel verstört hat.

Auch das nächste Kapitel, das sich Wieland Wagners erstem Ring widmet, ist von Anno Mungen so interessant wie anschaulich geschrieben, schildert anschaulich das Verhältnis des Wagner-Enkels, der sich zunächst nur als Bühnenbildner betätigt, zu Hitler, der nach Meinung des Verfassers in Wieland und dem Sohn des Bühnenbildners Roller Ersatzsöhne sieht. Hier wie auch an anderer Stelle wird deutlich, dass die Wiener Moderne  durchaus auf Bühnen Nazideutschlands geduldet wurde. Im Anhang befindet sich ein „Gutachten“ von Rudolf Hartmann über die Walküre vom 12.10.1943, im Unterschied zu anderen Quellen gut lesbar.

Der dritte Block nennt sich schlicht „Akteure und Propaganda“ und bringt an erster Stelle ein Lebensbild des Verwaltungsinspektors Georg Ukherr, schildert dessen Aufstieg, der auch dank des Bekenntnisses zum Nationalsozialismus erfolgt und sein Entnazifizierungsverfahren, begnügt sich aber nicht mit dem Einzelschicksal, sondern problematisiert die unterschiedlichen Möglichkeiten der Geschichtsschreibung, die der Wiederbelebung einer Aufführung durch die Theaterwissenschaft. Der Autor Daniel Reupke zeigt anhand des Einzelschicksals, wie heikel das Thema Entnazifizierung war, warum sie nicht die Erwartungen erfüllen konnte, die man anfangs hatte. Dieser Beitrag kann besonders deswegen gefallen, weil er Konkretes und Abstraktes sinnvoll miteinander verbindet.

Wolfram Pyta befasst sich mit Bühnenbildnern der Nazizeit, hier hätte man sich Abbildungen gewünscht, Jasmin Goll dem Frauenbild in Strauss‘ Frau ohne Schatten,  was ein wenig deplatziert wirkt, da das Stück bereits 1919 uraufgeführt wurde. Zwar ist die im Frosch gepriesene Mutterschaft auch für die Nazis erstrebenswert, aber ansonsten war ihnen das Stück wohl eher fremd. In der Nürnberger Aufführung war denn auch nichts von Nazi-Ideologie zu spüren.

Im vierten Block, der Raum und Propaganda zusammenführt, geht es handfester zu mit Martin Otts Vergleich der Nürnberger Stadtführer durch des deutschen Reiches Schatzkästlein, von der ersten Ausgabe 1906 an bis zur zwölften im Jahre 1934. Sehr interessant ist, wie sich der Blick auf die Stadt wandelt so wie der Weg, der vorgeschlagen wird, um sie zu erkunden. Anschaulich bleibt es auch bei Sebastian Werrs Beitrag über Hitler und die Theaterarchitektur, und man nimmt verwundert zur Kenntnis, wo er überall seine Hände im Spiel hatte, so in der Städtischen Oper Charlottenburg, die zum Deutschen Opernhaus wurde, im Schillertheater, der Volksbühne und dem Admiralspalast- und das sind nur die Berliner Eingriffe. Durchweg soll an die Stelle von Jugendstilelementen Klassizistisches treten, viele Fotos beweisen es. Dem Nürnberger Haus gilt natürlich sowohl Hitlers wie des Autors Aufmerksamkeit.   Sebastian Gulden und Silke Ludwig haben sich diesem Abschnitt gewidmet.

Dass Hitler auch für die besetzten Länder plante, beweist das Kapitel „Von der „Akropolis“ zur „Baracke““ von Stefan Heinz, in dem es um ein geplantes Opernhaus in Luxemburg geht.

Im fünften Block, der sich etwas ungeschickt „Musiktheater und Nationalsozialismus ausstellen“ nennt, fragt sich Christiane Plank-Baldauf, ob man den Schrecken überhaupt ausstellen könne und dürfe, erwähnt mögliche Konzepte wie natürlich das in Nürnberg, aber auch das im Münchner Dokumentationszentrum 2015 oder Majdanek in Lublin. Seit 2001 gibt es die Ausstellung „Faszination und Gewalt“ in einem teils Ruine seienden Gebäude auf dem ehemaligen Gelände der Reichsparteitage. Martin Schmidl äußert sich zu Erlebnisdesign und Atmosphären-Design, Gabriele Nutz und Daniel Reupke schreiben über die Theaterbibliothek und ihre Funktionen.

Den letzten Teil des Buches bildet die Schilderung der Performance, bestehend aus dem Miteinander von Identität und Abweichung in der Wiederholung mit dem Zweck, den Riefenstahl-Film zu entlarven, zu entzaubern, anschließend gab es ein Publikumsdiskussion, die ebenfalls abgedruckt ist.

Die letzten Seiten des Buches offerieren eine Auswahlbibliographie, ein Abkürzungs- und ein Abbildungsverzeichnis und einen Überblick über die Autoren ( 596 Seiten, Königshausen & Neumann 2020; ISBN 978 3 8260 6701 3). Ingrid Wanja   

Ach ja, der Jonas!

 

Sommernachtskonzert der Wiener Philharmoniker im Park von Schloss Schönbrunn. Wegen bekannter Misshelligkeiten allerdings konnten sich erst im September dieses Jahres anstelle der sonst dicht gedrängt den Park füllenden diesmal nur wenige Zuschauer an dem Programm erfreuen, das unter das Motto „Liebe“ gestellt worden war. Damit war die Auswahl natürlich riesig und wurde, zumindest zum größten Teil, unter den allerbekanntesten und allerbeliebtesten Stücken klassischer und nicht so klassischer Musik getroffen.

Niemand wird bezweifeln, dass es in Wagners Tristan und Isolde um Liebe geht, aber einen Zusammenschnitt aus mehreren Motiven, im Booklet als Love Music angekündigt und vom Dirigenten Leopold Stokowski einst als „symphonische Synthese“ akklamiert, empfindet so mancher Klassikfreund wohl doch als etwas zu volkstümlich, und so ist es kein Wunder, dass Dirigent Valery Gergiev den Philharmonikern damit eine für sie Erstaufführung zumutete. Wie weichgespült erscheint der Orchesterklang, vermittelt pure Prachtentfaltung und ein intensives An- und Abschwellen der Töne.  Zweifellos auch um Liebe geht es im Vorspiel zum Rosenkavalier, und eine besonders leidenschaftliche vermittelt das Orchester mit dem Vorspiel, lässt es danach silbrig schimmern mit dem Überreichen der gleichfarbigen Rose. Das Schmankerlprogramm geht weiter mit der Barkarole aus Hoffmanns Erzählungen, in denen es heftig wallt und wogt. Gewahrt bleibt der Wunschkonzertcharakter mit Werthers „Pourquoi“– und wer ist der Solist? Natürlich Jonas Kaufmann, den Corona nicht davon abhalten konnte, Selige Stunden, Sein Wien und doppelt White und andere Christmas einzuspielen. Er ist nicht mehr der schwärmerische Sturm- und Drang-Jüngling, den man in der Pariser Oper bewunderte, nun ein gestandener Mann, der aber ab und zu in ein ätherischer Falsett verfällt- und damit in eine Unsitte, die man überwunden glaubte. Zum Ausgleich wird aber zum Schluss gewaltig aufgedreht. Zur Unart wird der Wechsel zwischen Vollstimme und Falsett dann in der Arie aus Gräfin Mariza, und „Nessun dorma“ muss wohl einfach sein, obwohl es so mancher Zuhörer mittlerweile nicht mehr hören mag, dann eher schon die Zugabe „Wien, du Stadt meiner Träume“.

Ein virtuoses Flirren und Flimmern lässt das Orchester in Mendelssohns Sommernachtstraum vernehmen, schnulziger als der Film ist die Musik zu Doktor Schiwago, und ebenfalls aus dem Bereich Wohlfühlmusik ist zumindest das Adagio aus Khachaturians Spartacus. Auch das Orchester spendiert eine Zugabe mit Wiener Blut, in der auf die Sachertorte noch eine ordentliche Portion Zuckerguss gegeben wird.  Wunderbar bügeln oder andere häusliche Arbeiten verrichten kann man beim genussvollen Anhören dieser CD (Sony 19439719622). Ingrid Wanja        

Schlankstimmig

 

Orfeo von  Claudio Monteverdi gilt bekanntlich als erste „richtige“ Oper; wohl auch deshalb gibt es eine ganze Fülle von Live-Mitschnitten aus verschiedenen Opernhäusern, aber auch etliche Studio-Einspielungen. In der jetzt bei naive erschienenen Aufnahme, entstanden Anfang 2020 im Studio in Montpellier, steht wie eigentlich bei Orfeo immer der Sänger der Titelfigur im Zentrum. Hier ist es der Tenor Emiliano Gonzalez Toro, der auch das von ihm  und der Sopranistin Mathilde Etienne 2018 gegründete Ensemble I Gemelli leitet. Letzteres ist neben Toro die Attraktion der Aufnahme, was nicht nur daran liegt, dass dabei ein modernes Faksimile eines Ceterone aus dem Jahr 1601 aus den Sammlungen des Musée de la Musique de Paris gespielt wird. Monteverdi hat in der Orfeo-Partitur ein solches Ceterone, ein Zupfinstrument ähnlich einem Chitarron, aufgeführt. Die Continuo-Passagen bei den Ritornellen und in der Begleitung der Sängerinnen und Sänger bestechen wohl auch wegen dieses heute fast vergessenen Instruments mit selten zu hörenden, abwechslungsreichen Differenzierungen. Auch beim Sänger der Titelrolle sind die überaus variablen Klangfarben auffällig; besonders die großen Szenen im 3.Akt, wenn Orfeo die Unterweltfürsten mit seinem Singen zu überwinden sucht, gelingen eindrucksvoll. Sie reichen von machtvollem Auftrumpfen im Klagen über den großen Verlust bis zu kunstvoll verziertem, einschmeichelndem Gesang. Von dem übrigen Sänger-Ensemble in den kleineren Rollen und dem acht-köpfigen Ensemble Vocal de Poche, bei denen allen die durchweg schlanke Stimmführung gefällt, seien einige hervorgehoben: Emöke Baráth als Musica und Euridice überzeugt mit lockerem, im Ausdruck vielgestaltigem Sopran, was ebenso für Mathilde Etienne als Proserpina gilt. Mit abgerundetem Mezzo macht Alix Le Saux als Speranza und als einer der vier Hirten auf sich aufmerksam. Den Caronte hat man schon schwärzer und tiefgründiger gehört (Jérome Varnier); mit charaktervollem Bass erklärt Nicolas Brooymans als Plutone die schwere Bedingung der Heimführung Euridices. Leider stimmt die Intonation beim hellen Mezzo von Natalie Pérez nicht immer; außerdem produziert die Sängerin der Messagiera derart gerade und übertrieben vibratolose Töne, dass die an sich freudige Botschaft eher kalt rüberkommt. Dies trübt allerdings den sehr positiven Gesamteindruck nur marginal.

Wer Musik der Renaissance mag, der wird mit dieser im Ganzen gut gelungenen Aufnahme bestens bedient (naive V 7176, 2 CD). Gerhard Eckels

Familienfreundliches Amusement

 

David Monod, Spezialist für US-amerikanische Sozial- und Kulturgeschichte, hat den Versuch gewagt, die Geschichte der nordamerikanischen Kunstform Vaudeville in sechs Kapiteln und auf 226 Seiten Text nachzuzeichnen. Dabei entstehen aus einem überbordenden, chaotischen und durchkommerzialisierten Phänomen so etwas wie Struktur, Form und Ordnung, die einen Eindruck über Aufstieg und Fall dieser singulären Form populärer Unterhaltung geben.

Für Monod geht Vaudeville aus diesen 19.-Jahrhundert-Vorläufern hervor: Varieté, Minstrel Shows, sogenannten „Dime“-Museen („Groschenmuseen“) und Darbietungen in Saloons bzw. Bars. Für den Autor war das Vaudeville vor allem für die Mittelschicht gedacht, die familienfreundliche Unterhaltung suchte – mit Gespür fürs Neue, Überraschung, mit ständig wechselnden Programmen. Vaudeville war weder elitär wie die Oper, noch so teuer wie andere musikalische Unterhaltungen, etwa die Operette, das frühe Musical oder die Revue. Stattdessen war Vaudeville bewusst preisgünstig konzipiert, so dass Zuschauer mehrmals die Woche hingehen konnten. Diese „Volksnähe“ machte Vaudeville sehr demokratisch, auch weil gezeigt wurde, dass jeder mit einem besonderen Talent groß rauskommen könne.

Poster: Hurly-Burly-Extravaganza, Refined Vaudeville 1899/ Britannica

Für Monod umfasst die Hochphase des Vaudeville 35 Jahren: von 1890 bis 1925. Allerdings merkt man, dass sein unübersichtlicher und unintellektueller Untersuchungs-Gegenstand sich typischen akademischen Kategorisierungen widersetzt. In Kapitel 1 geht es um die „Mode für Vaudeville („Vogue for Vaudeville”) und darum, wie das Genre sich vor allem in urbanen Zentren ausbreitet, weil es saubere, sichere und gut beleuchtete Theater bespielte sowie „Stars“ offerierte, die medial entsprechend angepriesen wurden.

Mit vielen Zitaten aus Tageszeitungen und Fachjournalen der Ära bietet Monod Informationen zu den extrem diversen Darstellern, die so wirklich jede nur denkbare Attraktion boten. Sie waren selbst verantwortlich für ihre Requisiten und Kostüme, für ihre Musik und ihre Begleitung. Ihr Leben war unvorhersehbar und konnte sich ständig von einem Tag zum anderen ändern. Wegen der vielen Reisen von Stadt zu Stadt, von Theater zu Theater, und wegen Auftritten fast rund um die Uhr war das Leben für Vaudeville-Darsteller hart. Neben Jongleuren, Akrobaten, Tänzern, Komikern, Sängern, Musikern, Verkleidungskünstlern mit ihren „Acts“ gab es kurze Theaterstücke, Sketche, Mini-Musicals, alles was Neu war und das Interesse des Publikums wecken konnte.

Die berühmte Fanny Brice, Vaudeville – Star ihrer Zeit/ Dover

Die großen Persönlichkeiten, die den Vaudeville-Markt beherrschten, hießen Sophie Tucker, Fannie Brice, Al Jolson, May Irwin, Nora Bayes, Gallagher & Shean, Eddie Cantor, Ray Bolger. Sie alle fingen klein an und perfektionierten ihr Können im Vaudeville, bevor sie zu größerem Formaten wie den Follies, Revuen, Musicals und später zum Kino wechselten. Die meisten Vaudeville-Darsteller verschwanden allerdings im Dunkel der Geschichte.

Einige wenige prominente Afro-Amerikaner gingen aus dem Vaudeville-System hervor, obwohl dieses zutiefst rassistisch war und die Arbeitsbedingungen für Schwarze noch dramatischer waren als für Weiße, vielen von ihnen jüdischer Abstammung. Monod schildert die Kämpfe, die S. H. Dudley & His Smart Set ausfechten mussten, oder Bert Williams, Ernest Hogan, Bob Cole bzw. J. Rosamond Johnson, um nur die allerbekanntesten zu nennen. Viele von ihnen machten später Karriere am Broadway.

Im 2. Kapitel beleuchtet Monod die Modernität des Genres, die Weise, wie sich Vaudeville an Konsumentenbedürfnissen orientierte und damit, wie Vielfältig das Angebot war. Monod schreibt, die Darsteller mussten „authentisch“ wirken, um das Publikum zu erreichen. Sie waren die ersten, die neue Musikrichtungen unters Volk brachten, z. B. den Ragtime. Musikverlage rissen sich um prominente Vaudeville-Darsteller, um ihre Porträts auf Notendeckblättern zu verwenden, wodurch Musiktitel quasi empfohlen wurden. Tanzmoden wie der Two-Step, der Foxtrott, der Shimmy, der Tommy, der Texas-Tommy etc. wurden alle zuerst in Vaudevilles eingeführt.

Rassistische Witze und Stereotype – bis hin zur Extremkarikatur – waren weitverbreitet und allgemein akzeptiert, auf eine Weise, wie man sich das 2020 kaum mehr vorstellen kann. Blackface war als Stilmittel bei weißen wie afro-amerikanischen Darstellern omnipräsent und führte zu vorhersehbaren Klischees, Einschränkungen in der Charakterisierung und noch mehr Rassismus.

Das 3. Kapitel heißt „Grabbing Attention, or Making Good with the Distracted Audience”. Wenn das Publikum müde wurde oder unaufmerksam, mussten die Darsteller es sofort zurückgewinnen. Monod nennt diese Taktik „direct appeal“, weil sie unmittelbar funktionieren musste.

Die Sänger, die Stars, die Komiker erzählten dem Publikum oft Familiengeschichten, über ihre Ehepartner oder über etwas, was gerade passiert ist, dadurch sollte die Illusion von Vertrautheit erzeugt werden. Und so etwas wie der Eindruck von „Freundschaft“ entstehen. Anders als bei britischen Music Halls war das US-Publikum ausdrücklich aufgefordert zu reagieren und den Darstellern lautstark zu antworten. Ansonsten sollte es sich allerdings zurücklehnen und entspannen – und einem anstrengenden Arbeitsalltag entfliehen.

In Kapitel 4 geht es um die Modernität von Vaudeville. Auch wenn amerikanische Zuschauer neue Moden vielfach nur langsam akzeptierten, halfen Vaudeville-Darsteller, Trends zu beschleunigen. Laut Monod wollten Vaudevillians immer, dass ihr „Act“ frisch und neu wirkte. Die Tänzerin La Sylphe – mit der Wespentaille – entfachte Begeisterung für Salome und ihrer Schleiertanz. Der „Apachentanz“, bei dem ein „ganzer Kerl“ eine Frau durch die Luft schleuderte, entpuppte sich als zu drastisch fürs Vaudeville-Publikum, er musste entschärft werden, indem man darüber lachen konnte. Vaudeville bemühte sich immer, ein „sauberes“ Image zu promoten. Sexuelle Inhalte wurden genauestens kontrolliert, damit Frauen und Kinder unbeschadet Aufführungen besuchen konnten, womit sich Vaudeville stark von Operetten und Burlesques unterschied.

Vaudeville: Ohne die „Mädels“ ging nichts – und welcher New-York-Besucher der Fünfziger bis Achztiger erinnert sich nicht an die langen Beine in der Radio City Music Hall?/ santafemexican

In den Kapiteln 5 und 6 wendet sich Monod plötzlich ab von den Darstellern und den Inhalten von Vaudevilles und widmet sich dem Geschäft. Es gab kleine Vaudeville-Theater in der Nachbarschaft mit niedrigen Preisen, denen die großen Theater gegenüberstanden in großen Städten, mit höheren Produktionskosten und entsprechend teureren Eintrittspreisen. Hier stellt Monod die wichtigsten Player vor: die Theaterbesitzer Fred Proctor, H. R. Jacobs, Marcus Loew, Alexander Pantages, Oscar Hammerstein I, B. F. Keith, E. F. Albee, die das Vaudeville auf luxuriösen Riesenbühnen zu einem nationalen Phänomen machten. Er beschreibt ihre skrupellosen Geschäftspraktiken – Buchungsagenturen, Kartelle usw. –, die schließlich zum Niedergang der Kunstform führten. Es kam zu Streiks der Darsteller, Gewerkschaften wurden gegründet, um die Ausbeutung zu stoppen. Afro-Amerikaner gründeten ihre eigenen Spielstätten und lockten ein eigenes Publikum heran – wobei wiederum neue Kartelle entstanden, deren Geschäftspraktiken ebenfalls fragwürdig waren.

Mit der zunehmenden Verbreitung des Stummfilms wurden immer häufiger kurze Filme Teil von Vaudeville-Programmen. Daraus entwickelten sich bald Spielstätten, wo auch längere Filme gezeigt wurden – die irgendwann zur Hauptattraktion avancierten. Wodurch Vaudeville-Theater zu Kinos mutierten. Wenn überhaupt, wurden Live-Darbietungen irgendwann nur noch als Vorprogramm zum Film und in den Pausen angeboten. Die über Theaterketten und Betriebskartelle operierenden Vaudeville-Routen quer durch die USA wurden schließlich zu den wichtigen Distributionsrouten für Hollywooderzeugnisse.

Auch er gehörte zu den Attraktionen des Vaudeville: der schöne Eugen Sandow, der seine beträchtliche physische Wirkung zu vermarkten wusste/Wikipedia

Je mehr sich das Kino durchsetzte und dann nach dem Ersten Weltkrieg auch Tonträger, desto mehr wurde Vaudeville verdrängt. Das Radio beschleunigte den Prozess in den 1920er-Jahren. Und als dann mit The Jazz Singer 1927 der Tonfilm kam, war es eigentlich vorbei mit Vaudeville.

Als seriöse akademische Publikation zu einem frivolen Thema bietet das Buch nur 19 kleine Abbildungen in Schwarzweiß, die aber allesamt faszinierend sind. Insgesamt liefert das Buch unendliche viele Details, die den Leser irgendwann jedoch versinken lassen in einem zu viel von allem. Was den einstigen Reiz von Vaudevilles ausmachte und warum die Kunstform so populär war, das erschließt sich dem modernen Leser nur bedingt. Dennoch ist die Leidenschaft des Autors für sein Thema nicht zu leugnen, und sie ist ansteckend. Selbst wenn ich mir einen leichteren, witzigeren und beherzteren Erzählton gewünscht hätte. Mache seiner Thesen wiederholt Monod so oft, dass sie ermüden. Man glaubt irgendwann aus reiner Erschöpfung, dass sie wohl stimmen müssen.

Der Autor, der Broadway-Experte Richard C. Norton/ Foto privat ORCA

In seiner Danksagung erwähnt Monod die Datenbank vaudevilleamerica.org. Sie lohnt, einen Besuch. Und letztlich muss man Monod auf alle Fälle gratulieren, zu der vielen Arbeit, die er in diese Untersuchung gesteckt hat. Das Buch wirft ein helles Licht auf eine vergessene Ära der US-amerikanischen Populärkultur. Hoffentlich gibt’s bald mehr dazu zu lesen. Richard C. Norton/ Übersetzung Kevin Clarke

 

(David Monod “Vaudeville & The Making Of Modern Entertainment 1890-1925”; 288 S., Register & Illustrationen; University of North Carolina Press, HARDCOVER ISBN: 978-1-4696-6054-7).  Foto oben Poster/ Harry-Rasom-Center;  der obige Artikel erschien im oiriginalen  Englisch zuerst auf der Website des Operetta Research Center, dank an den Autor und ORCA-Chefredakteur Kevin Clarke)

Wie erstmals gehört

 

In prominenter Besetzung bringt APARTÉ Mozarts Azione sacra Betulia Liberata neu heraus, aufgenommen live im Juni/Juli 2019 in Boulogne-Billancourt (AP235, 2 CDs). Mozarts Werk auf ein Libretto von Pietro Metastasio, welches sich auf das Buch Judit aus dem Alten Testament stützt, ist sein einziges vollendetes Oratorium und das frühe Zeugnis eines Genies – der Komponist zählte erst 15 Jahre, als er das Werk 1771 für Padua schrieb.

Der hohe Stellenwert der Einspielung ergibt sich aus der Mitwirkung des renommierten Barock-Ensembles Les Talens Lyriques unter seinem Leiter Christophe Rousset. Mehrfach glaubt man, das Werk völlig neu zu hören: Die rhythmische Intensität, die Lebendigkeit und die Spannung dieser Interpretation sind überwältigend.

Im illustren Cast finden sich Sandrine Piau als Israelin Amital und Teresa  Iervolino, erpobt in Salzburg und Pesaro, als israelische Witwe Giuditta. Die Sopranistin wartet mit energischem Aplomb auf, die Stimme ist nachgedunkelt und nun reifer im Klang. Das schließt gelegentlich auch spitze oder grelle Töne ein, die jedoch stets dem Ausdruck verpflichtet sind. Und mit ihrem letzten Solo, „Con troppo rea viltà“, erinnert sie mit dem gefühlvollen Vortrag an ihre großen Zeiten. Die italienische Mezzosopranistin erfreut mit weichem, warmem Timbre und kultiviertem Vortrag. In „Paro inerme“ am Ende der Parte Prima weiß sie zudem mit der souveränen Ausführung der Verzierungen und dem beherzten Ansatz zu überzeugen. In der mit noblem Melos ausgestatteten Arie „Prigionier, che fa ritorna“ in der Parte Seconda teilt sich der edle Charakter der Stimme besonders eindrücklich mit.

Hierzulande noch wenig bekannt ist der argentinische Tenor Pablo Bemsch als Ozia, Prinz von Betulia, der mit einer substanzreichen, heldisch orientierten Stimme in Idomeneo-Nähe überrascht und sogleich in einer Auftrittsarie „D’Ogni colpa“ starke Akzente setzt. In seiner getragenen Aria con coro „Pietà, se irato sei“ wird er vom Ensemble accentus (Leitung: Christophe Grapperon) zuverlässig unterstützt. Dieses weiß auch im dramatisch aufgewühlten Chor am Ende des ersten Teils „Oh prodigio!“ mit spannungsreichem Gesang zu beeindrucken.

In einer Doppelrolle als die beiden Volksführer Carmi und Cabri ist die amerikanische Sopranistin Amanda Forsythe zu hören, die in „Ma qual virtù“ mit lyrischen Tönen von reicher Empfindung überzeugt, aber in „Quei moti che senti“ auch mit exaltierter Attacke aufwartet. Die Besetzung komplettiert der argentinische Bass Nahuel Di Pierro als Prinz Achior, der in seiner Auftrittsarie „ Terribile d’aspetto“ grimmig auftrumpft. In der kontemplativen Arie „Te solo adoro“ im zweiten Teil hat er Gelegenheit für besinnliche Stimmungen.

Die letzte Nummer, „Lodi al Gran Dio“, gehört Giuditta und dem Chor, die in einer Lobpreisung Gottes das Werk zu feierlichem Abschluss führen. Damit rundet sich der überwältigende Eindruck, welcher sich beim Hören der Aufnahme einstellt. Dies ist eine Platte für den weihnachtlichen Gabentisch. Bernd Hoppe

Ohne die Nationaloper!

 

Aufmerksamkeit  hatte im Sommer 2020 die Nachricht in der NMZ erregt, dass die Gruppe Hauen und Stechen gemeinsam mit den lettischen Kvadkifrons eine Aufführung der lettischen Nationaloper Banuta des Komponisten Alfredis Kalnins aus Anlass der hundertsten Wiederkehr der Uraufführung in der lettischen Hauptstadt plane, zunächst als Video wegen der Corona-Beschränkungen, im kommenden Jahr auch als Live-Ereignis. Wenig bekannt ist bei uns dieses Werk, das eine aufregende Geschichte hinter sich hat, so durch die Forderung der Sowjets zu Zeiten der Sowjetrepublik Lettland, den Schluss zu ändern, die Oper nicht mit dem Selbstmord des Liebespaars, sondern mit einem happy end schließen zu lassen.

Das besondere Interesse an den Balten generell wurde natürlich auch vor 30 Jahren in Westeuropa erweckt, als sie durch ihre „singende Revolution“ die Sowjets zum Abzug aus den drei Republiken zwangen.

Wenn nun auf dem Büchermarkt ein Werk von Kristina Wuss mit dem Titel Verwobene Kulturen im Baltikum – Zwei Musikgeschichten in Lettland von 1700 bis 1945 erscheint, liegt es für den Leser nahe, sich weiterführende Informationen aus diesem Buch über die Nationaloper der Letten zu erhoffen. Die Suche danach  scheitert erst einmal am Fehlen eines Sachregisters und eines Personenregisters, was umso erstaunlicher ist, als die Schrift mit einem ansonsten reichen kritischen Apparat von Anlagen durchaus den Anspruch eines wissenschaftlich fundierten Werks erhebt.

Das chronologisch aufgebaute Buch widmet ein Kapitel dem 18. Jahrhundert, zwei dem „langen“ 19. Jahrhundert, fährt fort mit Im Windschatten der Zeitenwende und nähert sich dann der Zeit Zwischen den Weltkriegen, in der der immer noch auf der Suche nach Banuta befindliche Leser mit Verflechtungen und Entflechtungen, mit der Geschichte einer lettischen Primadonna und der des deutschen, in Riga tätig gewesenen Dirigenten Leo Blech konfrontiert wird. In einem Nachwort wird auf wenigen Seiten die Gegenwart gestreift.

Die Geschichte Lettlands ist insofern eine besonders interessante, und das wird von der Autorin auch hervorgehoben, als eine deutsche Ober- und Mittelschicht aus adligen Grundbesitzern und bürgerlichen Kaufleuten und Beamten in einem von den Russen beherrschten Landesteil einer  lettischen weitgehend bäuerlichen Bevölkerung gegenüberstand. Es wird dargestellt, wie zwar die Hochkultur eine deutsche war, daneben aber stets eine volkstümliche lettische, vor allem auf musikalischem Gebiet aus den Dainas, den Volksliedern bestehende, im Volk weiterlebte. Interessant ist auch, dass es durchaus „deutsche Wegbereiter für ein Verständnis der lettischen Kultur gab“, der Deutsche Herder den Wert der Volkslieder erkannte, der Sachse Ernst Glück die Bibel ins Lettische übersetzte.

Die Autorin zeigt viele Verbindungen zwischen Deutschen und Letten auf, sogar solche, die in eine Heirat zwischen aufgestiegenen Letten und deutschen Mädchen mündeten, weil die lettischen Mädchen keine vergleichbare Bildung aufweisen konnten. Beziehungen zur Familie Bach, die Gründung einer Kapelle durch den „Halbkönig“ Otto Hermann von Vietinghoff, die Sammlung lettischer Lieder durch Gustav Bergmann, auf Ulrich von Schlippenbach geht “Kuronia“, eine Sammlung vaterländischer Gedichte, zurück,   der Dichter von Der Hofmeister und Die Soldaten Lenz werden berücksichtigt, was dann zu einem wiederholten Auftauchen des Komponisten Zimmermanns Vorstellung von „der Kugelbewegung der Zeit“ führt und eher Verwirrung als Klarheit stiftet.

Die ersten Impulse für ein lettisch-sprachiges Musiktheater werden ebenso berücksichtigt wie die Bedeutung  des Deutschen Stadttheaters Riga, das ab 1919 und auch heute die Lettische Nationaloper beherbergt. Parallel spielen sich deutsche Liedertafel und lettisches Musikfest am Vorabend des Festes Ligo ab, kühn sind die Vergleiche zwischen Wagners Ring und den Dainas (wegen der Alliterationen), als erste lettische Oper gilt der Autorin Feuer und Nacht  (Uguns  un nakts) von Jänis Mediņš auf das Libretto von Janis Rainis. Von diesem Werk wird zunächst nur der Prolog aufgeführt, in den Monaten Mai und Dezember des Jahres  1921 auch der Rest. 1995 wird das Gesamtwerk bei der Wiedereröffnung der Lettischen Nationaloper gezeigt.

Auch für das zwanzigste Jahrhundert gilt das Interesse der Verfasserin die gegenseitige Beeinflussung von Letten und Deutschen, und sie zeichnet das wechselnde Verhältnis akribisch nach, erwähnt den gemeinsamen Kampf gegen die Bolschewiki ebenso wie den Kampf um einen politisch korrekten Spielplan zwischen den Kriegen und nach dem 2. Weltkrieg.

Mit dem geheimen Zusatzprotokoll des Hitler-Stalin-Paktes hat das nicht konfliktfreie, aber doch fruchtbare  Zusammenleben von Letten und Deutschen ein Ende. Wer sich nicht in den Warthegau umsiedeln lässt, wird als Deutscher nach Sibirien verschleppt.

Das Buch ist keine leichte Kost, da es Grundlegendes und eher Nebensächliches miteinander in bunter Folge vereint, dazu in einer manchmal dunkel raunenden Sprache unter Bevorzugung des Nominalstils verfasst ist. Des Lesens wert ist es durch die Fülle an Informationen, den Einblick, den es in eine zugleich fremde und doch mit vielen Fasern der deutschen Kultur verbundene Welt gewährt (230 Seiten, 2018 Isensee Verlag;. ISBN 978 3 7308 1478 9. Ingrid Wanja