Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Neue und alte Barock-Perlen der Königin

 

Resteverwertung & 2 Neuzugänge: Mit Queen of Baroque ist eine „neue“ CD von Cecilia Bartoli bei DECCA betitelt, deren 17 Nummern eine aufschlussreiche Rückschau (bei 2 Neuaufnahmen)  über das Wirken der Sängerin geben (485 1275). Werke von Händel und Steffani überwiegen, aber es finden sich auch Arien von Vinci, Vivaldi, Broschi, Graun und Porpora, welche die exzeptionelle Virtuosität der Interpretin belegen. Fast alle Stücke sind barocke Perlen und Veröffentlichungen mit der Bartoli aus den Jahren 1993 bis 2017 entnommen. Ihr Ruhm als Barocksängerin begann mit der Präsentation des Vivaldi-Albums 1999 bei ihrer Stammfirma DECCA. Es war das erste von mehreren in Folge erscheinenden Recitals mit konkreten Konzepten. Sie waren entweder einem einzelnen Komponisten gewidmet oder verfolgten eine Programmidee. In der Vivaldi-Anthologie findet sich aus Griselda eine Arie des Ottone, aber nicht diese wurde in das neue Album übernommen, sondern eine der Costanza, „Agitata da due venti“. Sie ist ein Höhepunkt in Vivaldis Schaffen und wurde schnell zu einem cavallo di battaglia der Bartoli bei ihren öffentlichen Auftritten. Sie erklingt hier in einem Live-Mitschnitt von 1998 aus dem Teatro Olimpico in Vicenza. Begleitet von den Sonatori de la Gioiosa Marca, singt die Bartoli mit einer derart umwerfenden Bravour, einer so brillanten Leichtigkeit, das es dem Hörer schier den Atem verschlägt.

Von ähnlich virtuosem Anspruch ist die Arie des Arbace, „Son qual nave ch’agitata“ aus Riccardo Broschis Artaserse mit ihren aufgewühlten Streicherfiguren in der Einleitung sowie den rasenden Koloraturläufen und Ausflügen in die Extremhöhe. Sie wurde dem Album Sacrificium von 2009 entnommen, welches die Sängerin den legendären Kastraten und deren Lehrer Nicola Porpora gewidmet hatte. Daraus stammen auch die Arie des Farnaspe „Ov’è il mio bene“ aus Carl Heinrich Grauns Adriano in Siria mit ihrer ergreifenden emotionalen Intensität und die Arie des Arminio, „Parto, ti lascio“ aus Porporas Germanico in Germania. Letztere ist mit den schier endlosen Phrasen und irrwitzigen Intervallsprüngen ein Musterbeispiel für die horrend schwierigen Kompositionen der Zeit – nicht verwunderlich, dass sie von dem legendären Kastraten Caffarelli kreiert wurde. Mit ihren tollkühnen Koloraturpassagen ist auch das Solo des Angelo, „Disserratevi, o porte d’averno“, aus Händels  Oratorio per la Ressurrezione di Nostro Signor Gesù Cristo ein Prüfstein für die Beherrschung des virtuosen Zierwerks und Bartoli erweist sich hier erneut als Meisterin ihres Fachs. Es wurde dem Album Opera proibita von 2005 entnommen, in welchem die Sängerin sich jenen Werken widmete, die in den ersten Jahren des 18. Jahrhunderts in Rom entstanden, weil die Oper verboten war. Daraus stammen auch die Arien der Santa Eugenia „Vanne penita  a piangere“ aus Caldaras Il trionfo dell’Innnocenza und die des Ismaele, „Caldo sangue“, aus Alessandro Scarlattis Il Sedecia, re di Gerusalemme. Prominent begleitet wird sie bi diesen Titeln von den Musiciens du Louvre unter Marc Minkowski.

In der Neuveröffentlichung finden sich noch weitere sakrale Kompositionen, so das „Stabat Mater dolorosa“ aus Pergolesis populärem Werk. Es ist eine sehr frühe Aufnahme der Bartoli von 1991 mit der Sinfonietta de Montréal unter Charles Dutoit mit June Anderson als Partnerin. Die Ausschnitte aus Agiostino Steffanis Stabat Mater mit Franco Fagioli, Daniel Behle und Julian Prégardian mit den Barocchisti unter Diego Fasolis stammen dagegen von 2013. Mit diesem Ensemble nahm die Sängerin 2011/12 das Album Mission auf, in welchem sie verborgene und wieder entdeckte Schätze des Komponisten Agostino Steffani vorstellte. Aus der Anthologie wurden die Duette Anfione/Niobe „Mio ardore“  aus Niobe, regina di Tebe sowie Enea/Lavinia „Combatton quest’alma“ aus I trionfi del fato ausgewählt. In beiden ist Philippe Jaroussky Bartolis Partner. Ihr sinnlicher Mezzo mischt sich perfekt mit der keuschen Stimme des Counters. Im zweiten Duett scheinen sich die Sänger übermütig jauchzend fast gegenseitig zu übertreffen.

Populäre Titel von Händel runden das Programm ab. Die Arie der Almirena „Lascia ch’io pianga“ aus Rinaldo zählt zu Bartolis Favoriten. Die hier zu hörende Einspielung aus der Gesamtaufnahme unter Christopher Hogwood von 1999 betört mit der zärtlichen Stimmgebung und dem innigen Ausdruck. Die Arie des Titelhelden „Ombra mai fu“ aus Serse stammt aus der  Sacrificium-CD und berührt durch die so schlichte wie emotionsstarke Gestaltung. Almirenas „Bel piacere“ aus Rinaldo setzt den heiteren Schlusspunkt.

Nur zwei Nummern sind Neuaufnahmen (und gleichzeitig Weltpremieren). Sie stehen am Beginn der Platte und sorgen für einen spannenden Auftakt. Die Arie der Enea, „E l’honor stella tiranna“,  aus Steffanis I trionfi del fato ist von deutlich erregtem Charakter, was dem dramatischen Ausdruckvermögen der Sängerin ideal entspricht. Aus Leonardo Vincis Alessandro nell’Indie erklingt die Arie der Erissena, „Chi vive amante“, welche der Interpretin Gelegenheit bietet, eine reiche Farbskala einzusetzen, in der auch greinende und jammernde Töne Platz haben.

Für alle Barockliebhaber und jene, die nicht unbedingt jede Bartoli-CD in ihrer Sammlung haben, bietet Queen of Baroque einen passenden Einstieg oder willkommene Bereicherung. Bernd Hoppe

Liszt, Mussolini und danach

 

Einfach nur „Pezzo fantastico“ heißt das zweite der Sei pezzi op. 44 von Giuseppe Martucci (6. Januar 1856 in Capua – 1. Juni 1909 Neapel). Und es ist tatsächlich fantastisch, was Martucci dem Spieler an pianistischer Equilibristik abverlangt, während er den Hörer mit den folgenden Sätzen u.a. „Colore orientale“ und „Barcarola“, sinnlich umschmeichelt. Die abschließende Tarantella mag als Verbeugung vor Neapel gelten, wo er am Conservatorio San Pietro a Majella studierte, an dem er ab 1880 als Klavierlehrer und, nur unterbrochen von seiner Tätigkeit als Leiter des Konservatoriums in Bologna, schließlich als Direktor wirkte. In Bologna, wo Respighi zu seinen Schülern gehörte, hatte Martucci 1888 die italienische UA des Tristan dirigiert. Martucci war alles andere als ein komponierender Funktionsträger; im Gegenteil – er war ein im Ausland erfolgreich konzertierender und von Liszt und Rubinstein bewunderter Pianist mit einer großen Neigung zu deutscher Musik, Beethoven, Schumann und Brahms, und die zeitgenössische französische und britische Musik. Jahrhunderts.

Klaviermusik des 20 Jahrhunderts bei Brillliant: Giuseuppe Martucci

Neben zwei großen Klavierkonzerten und zwei Sinfonien, die Toscanini in New York neben weiteren Orchesterwerken Martuccis auf die Programme seiner Konzerte mit den NBC Symphony Orchestra setzte, stellen die Klavierwerke, die nahezu seine gesamte Lebenszeit umspannen, den Hauptteil seines Schaffens dar. Die Werke op. 44, 50, 51 und 70 stammen aus den 1880er Jahre, sind wunderbar Bravourstücke für den Konzertsaal und Salon. Auch wenn Martuccis Werke, nicht zuletzt anlässlich seines hundertsten Todestages 2009, auf CD weitgehend greifbar sind, bildet diese Klavierauswahl, die zudem von Alberto Miodini mit gebotener Bravour gespielt wird, einen überraschenden Einstieg in die 20 CD-Box von Brillant Classics mit italienischer Klaviermusik des 20. Jahrhunderts, 20th-Century Italian Piano Music (20 CDs Brilliant 9470), wobei allein schon der Hinweis auf italienische Klaviermusik Musikfreunde nervös machen dürfte.

Wer kam nach Frescobaldi, Scarlatti und Clementi? Laut Riccardo Muti stellte Martucci in dem von der Oper beherrschten Musikleben seiner Zeit eine Ausnahme dar, „Später setzten Casella und Dallapiccola diesen Trend fort und verbanden die jahrhundertealte Dominanz des Melodrams mit der, wie man sie verstand, „dusty instrumental tradition“. Diese Männer waren Helden, weil es Mut bedurfte, auf einem Gebiet erfolgreich zu werden, das zu dieser Zeit nicht sehr populär war“.

 

Klaviermusik: Roffredo Caetani/Fondazione Camillo Caetrani

Die 20 CDs sind 15 Komponisten gewidmet – Cilea, Respighi und Pizzetti werden jeweils zwei, Casella gar drei CDs zugestanden – worunter sich Unbekannte wie Roffredo Caetani, Guido Alberto Fano und Niccolò Castiglioni mischen, dazu Mario Castelnuovo-Tedesco, Nino Rota; die meisten wurden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts geboren, prägten aber das Musikleben Italiens im Zeitalter des Faschismus, sei es in Konfrontation oder in Verherrlichung. Dallapiccola (1904-75), Nino Rota (1911-79), Niccolò Castiglione (1932-96) und als einzig noch lebender Komponist der 1955 geborene Ludovico Enaudi gehören zu den Youngstern. Die Aufnahmen entstanden zwischen 2008 und 2016, mit Ausnahme der 1968 in der Villa Litta in Mailand aufgenommenen Malipiero-Auswahl.

 

Klaviermusik: Francesco Cilea/ Wikipedia

Zehn Jahre jünger als Martucci, bei dem er in Neapel studierte, hat der Adriana Lecouvreur-Komponist Francesco Cilea (1866 – 1950),der später ebenfalls das Konservatorium in Neapel und ab 1913 das von Palermo leitet, viel für das Klavier geschrieben. Er selbst soll kein herausragender Pianist gewesen sein, wofür seine Begleitung bei Carusos Aufnahme von „No, più nobile“ kurz nach der Uraufführung herangezogen wird. Entsprechend schlicht wirken die unzähligen kleinen Stücke, Mazurken, Walzer, wie denn überhaupt die Komponisten vor Sonaten etwa in der Tradition der Wiener Klassik zurückschrecken und das kleine Albumblatt, Foglio d’album oder Feuille d’album, bevorzugen. Die reizvollen Caféhaus-Petitessen werden von Pier Paolo Vincenzi gespielt, der sich bei den Stücken für vier Hände als Verstärkung Marco Gaggini holte.

 

Nicht jede CD muss eingehend behandelt werden. Der ebenfalls 1866 geborene Ferruccio Busoni wird einfach übersprungen, da sich Busonianer vermutlich bei anderen Aufnahmen umfassend informieren. Ausgesprochen reizvoll, charmant, wiederum sind die Stücke des 1868 in Turin geborenen, einer jüdischen Familie entstammenden Leone Sinigaglia (1868 – 1940), der 1944 nach der Festnahme durch die Nazis einem Herzanfall erlag. Er studierte ab 1894 in Wien und Prag, kannte Brahms und Goldmark, wurde durch Dvorák auf Volksmusik aufmerksam gemacht und arrangierte rund 500 piemontesische Volkslieder. Von dieser Beschäftigung zeugt die Danza piemontese, die Alessandra Génot und Massimiliano Génot in der Fassung für Geige und Klavier spielen, während die ebenfalls in den ersten Jahren nach 1900 entstandene Ouvertüre „Le Baruffe Chiozzotte“ einen post-rossinianischen Reiz besitzt, die Albumblätter op. 7 haben einen nostalgisch verfeinerten Reiz.

 

Klaviermusik: Leone Sinigallia/ Wikipedia

Interessant die Biografie des aus einem der ältesten italienischen Adelsgeschlechter stammenden Principe di Bassiano und Duca di Sermoneta Roffredo Caetani (1871 – 1961). Liszt war sein Taufpate, seine Nichte war mit Igor Markevitch verheiratet, er studierte u.a. in Berlin und Wien, reiste 1902 nach Bayreuth und lebte nach 1911 mit seiner Gattin zwei Jahrzehnte in Paris – es lohnt sich, im Beiheft die Liste der Gäste zu lesen, die sich im Salon einfanden – bevor sie sich 1932 im Palast der Caetani in Rom niederließen. Der Großteil von Caetanis schwelgerischen Werken entstand in dem Jahrzehnt vor und nach der Jahrhundertwende (eine Ausnahme stellt die in Weimar 1926 uraufgeführte Oper Hypathia da, von der es eine alte Radioaufnahme gibt/ G. H), darunter die großdimensionierte, dreiviertelstündige Sonate op. 3 (1893), die von Beethoven, Brahms, Weber beeinflusst scheint und die Alessandra Ammara mit Haltung und Gefühl für die Harmonik spielt. Kaum vorstellbar, dass bei den Längen nicht der eine oder andere in den Salons in seinem Fauteuil entschlummerte.

 

Klaviermusik: Guido Alberto Fano/ archviofano

Ebenfalls eine große Sonate steht im Zentrum der Guido Alberto Fano (1875 – 1961) gewidmeten CD. Der jüdische Komponist studierte u.a. bei Martucci in Bologna und wurde später Direktor des Konservatoriums in Neapel. Ab 1922 wirkte er am Konservatorium in Mailand, wo er 1938 aufgrund der Rassengesetze der Faschisten seine Stelle verlor, die er als alter Mann nach dem Krieg wiedereinnehmen konnte. Die von Pietro De Maria gespielte E-Dur-Sonate ist ein bewundernswert vielgestaltiges Stück, in dem Fanos Bewunderung für Strauss und Busoni, denen er in Deutschland begegnet war, zum Ausdruck kommt. Nachdem es dann mit Fanos ebenfalls aus den späten 90er Jahren des 19. Jahrhunderts stammenden Quattro Fantasie etwas zu betulich und länglich wird, folgen als Herzstück der Ausgabe Werke von Respighi, Pizzetti, Malipiero und Casella. Die Vertreter der generazione dell’ottanta, also der in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts geborenen, die als Dirigenten oder Pianisten eine internationale Karriere vorweisen konnten, im Zentrum des italienischen Musiklebens standen und – vor allem die letzten drei – als Begründer der modernen italienischen Musik gelten, zeichnen gebrochene Biografien aus. Sie verhielten sich gegenüber Mussolinis faschistischer Diktatur vorsichtig lavierend und ließen sich vereinnahmen, wie Respighi, stützten die faschistische Kulturideologie, wie Malipiero und Pizzetti, der gleich 1925 das „Manifesto degli intellettuali fascisti“ unterzeichnete, oder erlagen zumindest zeitweise deren Faszination, wie der mit einer Jüdin verheiratete Casella, der 1937 ein Mysterium zur Verherrlichung des Äthiopien-Feldzugs komponierte, aber weiterhin die internationale Moderne (u.a. Strawinsky, Schönberg, Bartók) propagierte, etwa durch die Gründung des Internationalen Festivals für zeitgenössische Musik in Venedig.

 

Ottorino Respighis (1879 – 1936) frühe f-moll-Sonate (CD 8) ist ein impressionistisch duftiges Stück, das noch nicht das klangsinnliche Gespür verrät, das sich Respighi u.a. nach 1900 durch sein Studium bei Rimski-Korsakow erwarb. Michele D’Ambrosio, der auch die drei Casella-CDs übernahm und dem damit der Großteil dieser Klavieraufnahmen zufiel, lässt in den Sei pezzi PO44, deren letztes die Serenata aus dem 1905 uraufgeführten Re Enzo aufgreift, neben spätromantischer Virtuosität Respighis wachsende Individualität erkennen, die sich am deutlichsten in Respighis freier Klaviertranskription der Antiche danze ed arie erweist.

 

Klaviermusik: Ildebrando Pizetti/ Wikipedia

Die beiden umfangreichsten Klavierstücke Ildebrando Pizzettis (1880 – 1968) , die Sonata von 1942 und die Variationen über ein Thema aus seiner Oper Frau Gherardo (CD 11), sind frei von politischem Dünkel, vor allem erste ist ein ausdrucksstarkes, sicherlich düsteres Stück, dessen starke Gefühle Giancarlo Simonacci zum Ausdruck bringt. Die zahlreichen kleinen Stücke (CD 10), etwa Da un autunno già lontano, Le Danze, Poemetto romantico, bleiben in ihrem Nachklang auf die Jahrhundertwende etwas farblos.

 

Einen großen Überblick über das Klavierwerk von Gian Francesco Malipiero (1862 – 1973) gibt Gino Gorini (CD 12). Selbst die frühen Stücke verraten wenig von Malipieros Begeisterung für Ravel, de Falla, Strauss, Schönberg und Strawinsky, insbesondere dessen Sacre du printemps, allenfalls eine Nähe zu Debussy ist zu spüren, reflektieren auf melancholische Weise aber die Schrecken und Auswirkungen des Ersten Weltkriegs: La morte die morti, Barlumi und Risonanze. Unverkennbar der gewichtige, eigenständige, manchmal etwas akademische Ton von Malipieros Musik in Hortus conclusus von 1946 und Cinque studi per domani von 1959.

 

Faszinierend ist die Welt des Alfredo Casella (1883 – 1947). Eines Kosmopoliten, der ab 1896 das Konservatorium in Paris besuchte, wo er nahezu zwanzig Jahre lebte, eine internationale Karriere als Dirigent und Pianist hatte und befreundet mit Ravel, Enescu, Debussy und de Falla war, Kontakt zu Strauss, Mahler, Busoni und den russischen Modernen hatte und tragisch endete, da ihm das Nachkriegsitalien seine Nähe zum faschistischen Regime nicht verzieh. Als ausgezeichneter Pianist schuf er ein großes Oeuvre. Seine stilistische Wandlungsfähigkeit zeigen die drolligen Miniaturen À la maniére de, in denen er 1913 u.a. Wagner, Fauré, Brahms, Debussy, Strauss und Franck portraitierte (CD 13). Auch in den Nove pezzi op. 24 von 1914 (CD 14) widmete Casella im Bemühen um eine nicht nur italienische, sondern europäische Kunst einzelnen Abschnitte seinen Kollegen, darunter Strawinsky, Pizzetti, Ravel, Bartok und Albeniz. Die intensive 22minütige Studie A notte alta op. 30 von 1917 entspricht in ihrer tiefschwarzen Trauer den zuvor erwähnten Werken Malipieros aus der Zeit des Esten Weltkriegs. Beispiele für die spätere, neoklassizistisch spielerische Richtung Casellas sind die Canzoni popolari italiane op. 47 oder die Pezzi infantili (CD 15).

 

Klaviermusik: Alfredo Casella/ Wikipedia

Letztere sind Mario Castelnuovo-Tedesco gewidmet. Die Auswahl der Klavierstücke Castelnuovo-Tedescos (1895 – 1968/ CD 16), die Claudio Curti Gialdino 2013 in Neapel aufnahm, beschränkt sich auf seine Frühzeit, bevor der aus einer wohlhabenden jüdischen Bankiersfamilie in Florenz stammende Komponist aus dem Musikleben gedrängte wurde und durch Toscaninis Hilfe 1939 nach Amerika gelangte, wo er rund 15 Jahre in den Hollywood Studios arbeitete: Populär waren einst die 15minütigen Vignetten Alt-Wien und die von Gieseking geschätzte neapolitanische Rhapsodie Piedigrotta; acht Tänze aus Re David  vermitteln einen guten Eindruck von der Oper, in der sich Castelnuovo-Tedesco erstmals mit seinem jüdischen Erbe beschäftigte.

Die CD des „leading exponent in Italy of twelve-tone music“, als welcher Luigi Dallapiccola bezeichnet wurde (CD 17), beinhaltet die Sonatina canonica (1943), sein erstes erhaltenes Klavierstück, dessen spritzig experimentellen Charakter Maria Clementi zu fein hämmerndem Ausdruck bringt. Enthalten sind auch die Tre episodi aus dem 1948 uraufgeführten Ballett Marsia sowie aus den 1950er Jahren das gewichtige, elfteilige Notenbüchlein für seine Tochter Annalibera Quaderno musicale di Annalibera und die relativ häufig aufgeführte Tartiniana seconda nach Giuseppe Tartini (mit dem Geiger Luca Fanfoni).

 

Viel Freude verbreitet Michelangelo Carbonara mit Musik Nino Rotas (1911 – 1979/CD 18). Ausgebildet u.a. von Pizzetti und Casella, später in Philadelphia von Fritz Reiner, und Jahrzehnte lange Leiter des Konservatoriums in Bari darf man Rota nicht auf seine Filmmusik reduzieren; sein Florentinerhut ist eine wunderbare spätgeborene italienische Buffa. In der Suite (1976) aus dem Casanova-Film, dem nostalgischen Walzer oder den 15 Préludes (1964) erlebt man Rotas Musik als pompöse Opernparaphrase und abwechslungsreich tollendes, schelmisches, witziges Spiel. Einer anderen Zeit gehört der Mailänder Niccolò Castiglione (1932-96) an, der ein fleißiger Besucher der Darmstädter Sommerkurse war, bei denen er ab 1958 – wie Nono – als Dozent wirkte. Ab 1966 war Professor an mehreren amerikanischen Unis, ab 1970 unterrichtete er an Konservatorien in Oberitalien und lebte in Brixen. Von einem Sommer in den Dolomiten erzählt denn auch sein bemerkenswerter Klavierzyklus Come io passo l’estate (1983), der aus konzise geschliffenen Miniaturen besteht, die meisten weniger als eine Minute lang, die gleich im ersten Stück „Arrivo a Tires“ walzend den Stil der Zweiten Wiener Schule mit dem Geist der deutschen Romantik verbinden. Enrico Pompili, aus Bozen stammend und deshalb vielleicht diesen Werken verbunden, spielt diese brillanten Stücke, hinzu kommen Aperçus wie Das Reh im Wald oder das fünfteilige nur eineinhalb Minuten dauernde In principio era la danza, mit kristalliner Schärfe, Bravour und verführerisch sich veränderndem Ton. Im frühen Cangianti (1959), seinem mit zehn Minuten umfangreichsten Klavierstück, reizt Castiglione alle dynamischen und rhythmischen Möglichkeiten aus (CD 19).  Ist Castiglioni eher Eingeweihten bekannt, steht Einaudi für breiten kommerziellen Erfolg.

 

Klaviermusik: Ludiovico Einaudi/ Wikipedia

Ludovico Einaudi (1955), dessen Vater Giulio 1933 den gleichnamigen, sehr renommierten Verlag gründete und dessen Großvater Luigi ab 1948 einige Jahre Präsident der Republik Italien war, studierte u.a. bei Berio sowie in Tanglewood und trat 1986 mit seinem Klavierzyklus Time out in Erscheinung, bevor er sich zehn Jahre später durch Virginia Woolfs The Waves zu den fließenden Bewegungen seines erfolgreichen Klavieralbums Le onde inspirieren ließ und im Film- und Popbereich erfolgreich wurde. Für die Musik Enaudis, der sich am liebsten als Minimalist seiht, bedarf es eines ausgewiesenen Spezialisten wie des Niederländers Jeroen van Veen, welcher der aus verschiedene Alben der Jahre 1996-2009 kompilierten Auswahl, darunter auch Le onde, eine notturne Eleganz verleiht, die zeigt, dass sich die italienische Klaviermusik des 21. Jahrhunderts gar nicht so weit von den stimmungsvoll und sanft lullenden Momentaufnahmen des ausgehenden 19. Jahrhunderts auf den ersten CDs dieser Box entfernt hat. Rolf Fath

Ein Ost-Deutsches Sängerleben

 

Dem Mimen flicht die Nachwelt zwar keine Kränze, dem Sänger jedoch verhilft youtube zu einigem späten Ruhm, und so ist es fast unglaublich, dass ein Heldentenor, der zwar 25 Jahre lang an einem „Provinztheater“ wie dem Dessauer alle großen Wagnerpartien und die italienischen dazu sang, der aber auch Gastspiele an den großen Bühnen in Berlin, Leipzig, Dresden und Wien gab und berühmte Partnerinnen wie Erna Schlüter oder Frida Leider hatte, mit keiner einzigen Aufnahme vertreten ist.  Dabei ist in dem Roman seines Lebens, den er selber schrieb und der jetzt von Ernst A. Chemnitz als Die Wolfserzählung, Lebenserinnerungen des Dessauer Heldentenors Dr. Horst Wolf herausgegeben worden ist, oftmals von Tonaufnahmen die Rede, die angefertigt wurden und die vielleicht noch vorhanden sind. Es geht um Horst Wolf, im Buch penetrant als Dr. Wolf tituliert, denn er hatte als Ingenieur promoviert, der als Max 1938 in Anwesenheit Adolf Hitlers das neue Dessauer Haus einweihte, 1949 als das im Krieg zerstörte und wieder aufgebaute Theater wieder eröffnet wurde, mit dem Pedro sein 25. Bühnenjubiläumfeierte. Im Vorwort wird auch nicht verschwiegen, wie es  1940 zur NSDAP-Mitgliedschaft des Tenors kam, die diesem „unangenehm“ war, und damit wird zugleich das zweite große Thema neben der Lebens- und Karrieregeschichte Horst Wolfs offenbar: der tragisch-lächerlich anmutende Versuch, abseits von politischen Verstrickungen eine künstlerische Existenz zu verwirklichen. Wahrscheinlich hoffte der Sänger auf eine Veröffentlichung seiner Lebensgeschichte in der DDR, und so ist zu verstehen, dass der Mauerbau lediglich Erwähnung findet, weil dadurch eine Reparatur seines Aufnahmegeräts unmöglich wurde, die Beendigung des Prager Frühlings bedeutet für den Verfasser lediglich, dass er seinen Urlaub im nun gesperrten Grenzgebiet nicht antreten kann, der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 schließlich ist lediglich ein Streik mit lästigen Auswirkungen.

Was nun das Dritte Reich und seine „Bewältigung“ durch den Verfasser angeht, liegt im Text ein Stolperstein von historischen Ausmaßen, wenn er beschreibt, dass sein Bruder beim Rückflug nach Danzig am 28. 8. 1939, also drei Tage vor Kriegsbeginn, von polnischem Militär beschossen worden sei, dass er diesen Sachverhalt (?) geradezu trotzig mit einem „denn mein Bruder saß in dem Flugzeug“ bestätigt. Ironie des Schicksals ist es, dass nach 1945 ausgerechnet eine Hakenkreuzfahne, die beim Bombenangriff aus ihrer Kiste auf den Dachfirst des halb zerstörten Hauses geflogen war, die Entnazifizierung, die offensichtlich in Dessau recht lasch betrieben wurde, erst einmal verhinderte.

Zwar kann das Buch zunehmend das Interesse am Schicksal des Menschen und Sängers Horst Wolf wecken, im Vordergrund dürfte jedoch das an dem Problem der Unvereinbarkeit von makelloser Reinheit und Karriere in zwei Systemen sein.

Das Buch gliedert sich in Lebensalter-Kapitel, angefangen mit Das Kind, endend mit Der Greis, welches verständlicherweise die knappsten Abschnitte sind. Durchweg überzeugt das Buch durch die Vielfalt an privaten wie Künstler-Fotos, durch die vielen Anmerkungen durch den Herausgeber und den reichhaltigen  Anhang.

In der Einleitung zeigt sich der Verfasser nicht nur durch den betulich-beschaulichen Stil als Kind seiner Zeit, sondern auch durch die Auffassung, dass ein dauernder Kampf als notwendig für die menschliche Reife angesehen wird. Das Kind (1894 bis 1904) schildert mit vielen literarischen Beispielen geschmückt die Schulzeit in Zwickau, wo er das Robert-Schumann-Gymnasium besucht. Wie in der Feuerzangenbowle geben sich die Lehrer, deren Portraits Der Jüngling entwirft, dazu ist vom Altisten im Kirchenchor und von Gesangsstunden die Rede, vom Gymnasiasten, der bereits Wagnerpartien einstudiert, aber noch interessanter sind Einblicke in die Zwänge, die damals herrschten, wenn ein Sohn aus einem Geschäftshaus nicht Offizier werden konnte, Anstandsbesuche Pflicht waren, vor dem Gesangsstudium die Promotion stehen musste. Von 1914 bis 1924 reicht das Kapitel Der junge Mann, der mit 20 als Kriegsfreiwilliger bereits 60 Mann kommandiert, der als bejahrter Verfasser noch vom „Heldentod“ spricht, der mit einer für immer lahmen linken Hand aus dem Krieg zurückkehrt und von Anfang an Kritiken sammelt, die in großer Zahl im Buch abgedruckt worden sind.

Der Mann wird als Sänger in Stralsund, Dessau, Rostock und wieder Dessau hart gefordert, singt alles und alles durcheinander von Chateauneuf bis Tannhäuser, von Wildschütz bis Götterdämmerungs-Siegfried und auch drei Premieren in einer Woche, sonntags auch schon mal zwei Vorstellungen, führt dazu noch Regie, was damals als Stellprobe bezeichnet wird, und lernt die Tücke von Vorverträgen kennen. 1927 wird er Freimaurer und versucht später, dies als Grund vorzuschieben, nicht in die Partei eintreten zu können. Die Nazipresse ist ihm feindlich gesonnen, weil sie ihn für einen Juden hält, aber besonders interessant ist für den Leser zu lesen, worauf damals in den Opernkritiken Wert gelegt wurde. So ist oft nicht der fast Dauerstreit mit Intendanten das Wichtigste für den Leser, sondern Spielplangestaltung, Kriterien der Sängerbeurteilung, Stil der Kritiken (für einen langen Zeitabschnitt fast ausschließlich aus dem Anhalter Anzeiger und wie Hofberichtserstattung klingend), die ihm zur Quelle für die Beurteilung der damaligen Zeit werden, für die Horst Wolf Zeuge ist.

Für den Mann in den besten Jahren dreht sich weiterhin alles um seine Karriere, geht es mehr um Durchhaltevermögen und Erfolg, um dauernd absagende lyrische Tenöre, über seine Ansichten über die vielen Rollen, die er singt, liest man kaum etwas, der Krieg bedeutet zunächst nur volle Bahnen und geschlossene Restaurants nach der Vorstellung. Die  Machtergreifung ist weniger wichtig als die Striche oder Nichtstriche in den Partien, die zu singen sind. Wäre das Sekundärliteratur, müsste man das Buch tadeln, als Quelle für die Darstellung eines „normalen Lebens“ auch im Krieg und in einer Diktatur ist es hochinteressant. Gastspiele in besetzten Gebieten werden nicht als heikel angesehen, auch nicht Wehrmachtstourneen, und nach zwei Angriffen auf das Opernhaus, wird gemeinsam wacker aufgeräumt.

Der gereifte Mann durchlebt die Jahre 1944 bis 1954, der 20. Juli 44 ist das Datum des 3. Luftangriffs auf Dessau, nicht des Attentats auf Hitler, die Amis sind bemerkenswert, weil sie nach Leicas forschen, die Sowjets, über die kein böses Wort verloren wird, bringen die Junkers-Leute in die Sowjetunion. Die 40 Vorhänge nach Undine, die er inszeniert hat, sind wichtiger als alle politischen Entscheidungen, die das Leben der Menschen beeinflussen aber „ich bin immer Idealist gewesen und ich wollte Freude und Erbauung schenken“ sind die Motti des Sängers, und wie gesagt, wahrscheinlich rechnete er mit einer Veröffentlichung in der DDR. Leise Kritik gibt es am Verbot des Auftretens von Kaiser Franz Joseph im Weißen  Röss’l und des Zarenlieds in Lortzings Oper. 1953 singt Horst Wolf seinen 100. Tannhäuser und seinen 100. Lohengrin und nach schwerer Krankheit wieder Tristan, Stolzing bei der Einweihung des Bitterfelder Kulturpalasts und die Titelpartie in Erkels Bánk Bán. 1956 bei den damals renommierten Wagner-Festspielen in Dessau hat er Tristan, Tannhäuser, Lohengrin, Loge, Siegmund und Götterdämmerungs-Siegfried auf dem Programm, gibt sich bei Ärgernissen mit Dirigenten gelassen, ist es aber nicht. Mit 70 Jahren singt er noch sieben Tannhäuser, Der Greis (1964-80) veranstaltet Liederabende, auch von Selbstkomponiertem, mit 75 Jahren imponiert er mit einer „tadellosen“ Winterreise, zum Jubiläum 25 Jahre wiederaufgebautes Dessauer Theater  notiert er mit Genugtuung, dass der Intendant an seinen Tisch gesetzt wurde- oder war es umgekehrt? Mit 80 Jahren nimmt er seine noch immer intakte Stimme auf einem Tonband auf. Wo mag es sein? Mit 86 Jahren stirbt er 1980 nach einem Brand in seinem Haus, in dem seine zweite Frau umgekommen war. Die Leserin ist berührt von diesem Leben in schwierigen Zeiten und in einem ständigen Kampf um Anerkennung einer immensen künstlerischen Leistung. Der Anhang besteht aus Rollenverzeichnis, Rollendebütverzeichnis, Gastspielorten, Operninszenierungen (416 Seiten, Verlag Klaus-Jürgen Kamprad 2020; ISBN 978 3 95755 657 8). Ingrid Wanja

Karajan und kein Ende

 

Ob Schallplatte, CD, DVD, ob Opernregie, Opernfilm, Opernhaus, Konzertpodium oder Festival: Herbert von Karajan scheint auf allen Hochzeiten zu tanzen. Zurecht spricht Florian Kraemer im jetzt erschienenen Buch „Der Karajan-Diskurs“ vom „Coca-Cola-Faktor“ Karajans. Herbert Danuser macht deutlich, was keinem anderen Dirigenten so gelang wie Herbert von Karajan: „Klang-Bilder des Schönen“ optisch wie musikalisch (in einem romantischen Sinne) zu inszenieren. Es ging ihm, darum, das „Sichtbar Schöne“ (zu dem er sich selbst und seine Körpersprache raffiniert und unter Einsatz aller technischen Möglichkeiten in Szene setzte, mit dem „Hörbar-Schönen“ zu vereinen. Zurecht weist Herbert Danuser in dem von Julian Caskel herausgegebenen Band, der die Vort­­räge eines gleichnamigen Fachkongresses am Musikwissenschaftlichen Institut der Uni­versität Köln zu Beginn des 2010 bündelte, darauf hin: „Karajans optische Ideale waren von jener Moderne beeinflusst, die ihm Riefenstahl-Filme in der NS-Zeit vor Augen geführt hatten, indem sie die Macht der Masse im Kontrast zu heroischer Individualität inszenierten. Auch nach Kriegs­ende liebte er den Vergleich des Orchesters mit einem Vogelzug, wo Hunderte von Tieren in bester Ordnung scheinbar anstrengungslos fliegen“. Er selbst begriff sich freilich als Kompassnadel und Antriebskraft des Vogelflugs.

Die Karriere Karajans begann nicht erst 1954, als der Dirigent Wilhelm Furtwängler starb. Herbert von Karajan wurde damals auf Lebenszeit zu seinem Nachfolger als Chefdirigenten und künstlerischen Leiter der Berli­ner Philhar­moniker gewählt. Schon die Nationalsozialisten hatten Karajan zum Antipoden Wilhelm Furtwänglers aufgebaut, der als unzuverlässig galt. Im Jahre des Beginns des Zweiten Weltkriegs, 1939, wurde Karajan Staatskapellmeister der Berliner Staatsoper und übernahm die Leitung der Sinfoniekonzerte der Preußischen Staatskapelle. Das „Wunder Karajan“ (das die NSDAP-treue Presse ausposaunte) nahm seinen Lauf und setzte sich als beispiellose Karriere auch nach 1945 fort. Karajan wurde zu einem der künstlerisch herausra­gen­den, mit mehr als 300 Millionen zu Lebzeiten verkauften Ton­trägern kommerziell der erfolg­reich­ste Dirigent aller Zeiten, eine Ikone der Klassischen Mu­sik und Legende multimedial ver­mark­teter, globa­lisierter Musik. Nach dem Krieg und kurzem Dirigierverbot, startete Karajan, nicht zuletzt dank des englischen EMI-Platten­Produzenten und Gründers des Philharmonia Orchestra, Walter Legge eine zweite Karriere: Teil zwei des „Wunders Karajan“. Was folgte, war ein unaufhaltsamer Aufstieg in die musi­kalische Schaltstellen Europas. Karajan wurde Künstlerischer Direktor der Wiener Gesell­schaft der Musikfreunde, Chef der Wiener Staatsoper und Künstlerischer Leiter der Salzburger Festspiele, aber auch der Mailänder Scala, um nur die wichtigsten Stationen seines enormen Aktionsradius zu nennen. Er galt als „Generalmusikdirektor Europas“.

Klaus Prieberg hat in seinem 1982 erschienenen Buch „Musik im NS-Staat“ erstmals die Frage aufgeworfen, die bis heute im Raum steht: Hat sich Herbert von Karajan mit den Nazis nur arrangiert oder spielte er eine aktive Rolle im Nazisystem? Zuvor blieb nämlich seine tatsächliche politische Rolle bisher immer noch weitgehend undurchsichtig, da er nach dem Zweiten Weltkrieg alles tat, um Spuren zu verwischen und Erinnerungen ver­gessen zu machen. Der kritische Karajan-Biograph Oliver Rathkolb widersprach schon 2010 einem Inter­view Karajans, der angeblich gestand: „Die NSDAP-Mitgliedschaft sei für ihn wie die Mitgliedschaft beim Alpenverein gewesen, damit man billig in einer Hütte übernachten kann. Karajan-Biograph Klaus Riehle hat neuerdings Dokumente zutage gefördert, die zweifelsfrei enthüllten, dass Karajan ein aktiver und opportunistischer Mitläufer gewesen sei und jeden hochkarätigen Nazikontakt genutzt habe, der ihm in seinem Karriere- und Machtstreben dien­lich war. Seine Karriere verdankte Karajan unzweifelhaft dem „tausendjährigen Reich“. Die Angst vor der Aufdeckung dieser seiner Vergangenheit beherrschte Karajan denn auch bis zu seinem Tod. Daher steuerte und kontrollierte er nach 1945 alle Informationen über sich und seine Vergangenheit. Bezeichnenderweise hat er in einem späten Interview einmal bekannt: „Ich möchte omnipräsent sein, ohne dass man mich eigentlich sieht“.

Seit ihm 1963 mit Scharouns Neubau der Berliner Philharmonie, der nicht ohne Grund „Zir­kus Karajani“ genannt wurde, ein grandioses Podium seiner Selbstdarstellung geschaffen wurde, „ein West-Symbol“ für die ganze Welt“, war dieses Gebäude das Zentrum seines weltweiten Erfolgs. Karajan stand in der Mitte, umgeben von Publikum, ein Herrscher im Reich der Töne, der Komponisten und ihrer Musik.

Er war präsent, um nicht zu sagen omnipräsent und er „ist und bleibt der Goldstandard“ in kommerzieller wie ästhetischer Hinsicht nicht nur für das Gelblabel, so Julian Caskel. Karajan hatte ja nicht nur eine dominante Stellung im Musikleben, seine Präsenz in vielen Medien war überwältigend, er hinterließ eine konkurrenzlose Fülle medial gespeicherter Aufführungen. Musikjournalistisch hat Peter Ueh­ling mit seiner Karajan-Biographie (2006) nahezu alles zusammengetragen, was aus musik­journalistischer Perspektive zum Fall Karajan gesagt werden muss und kann. Aber Karajan ist auch ein Glücksfall und Paradebeispiel auch für die „Interpretationsforschung“. Auf 446 Seit­en wird daher in Musikanalysen untersucht, „ob zwischen dem kommerziellen Monopol und der künstlerischen Methode ein Zusammen­hang besteht oder nicht.“ An den Beispielen seiner Monteverdi- „Neuerfindung“, der Inter­pretationen der „Alpensinfonie“ (R. Strauss), der sechsten Sinfonie Beethovens, der Bruck­ner-, Tschaikowski- und Sibelius-Aufnahmen, aber auch Debussys und des ganzen franzö­sischen Repertoires Karajans werden Muster einer „Warenästhetik technisch reproduzierter Musik“ deutlich sichtbar, auch und gerade im Vergleich mit Dirigenten wie Barbirolli, Bernstein oder Mengelberg.

Karajan war mehr als das, was der umstrittene Komponist Hans Pfitzner (der sich geradezu widerlich den Nazis anbiederte) einmal als „Nur -Dirigent“ bezeichnete. Was der Musik­philosoph Th. W. Adorno mit Bezug auf die „musika­lische Verwendung des Radios“ einmal den „Bildcharakter“ der Musik nannte, bestätigt Karajans eigenes Bekenntnis „Der Mensch ist von Geburt aus zuerst optisch.“ Karajan war der unanfechtbare König im Reich der Optik des glanzvollen Scheins. Er war aber auch ein Klang-Magier, was nicht vergessen werden sollte, ein Tüftler und Probierer, ein musikalischer Präzisionsfanatiker und „Ausbund von Diszi­plin“, wie Altkanzler Helmut Schmidt einmal sagte. Mancher Philharmoniker wünschte sich heute, allen Querrelen zum Trotz, die zum Bruch mit dem Maestro führten, Dietrich Steinbeck beschreibt das gewissenhaft, einen neuen Herbert von Karajan. Aber der ist nicht in Sicht (Der Karajan-Diskurs: Perspektiven heutiger Rezeption. Herausgegeben von Julian Caskel ; Verlag Königshausen & Neumann ; ISBN 978-3-8260-7144-7; 2020 – 446 Seiten). Dieter David Scholz

Jardinier fidèle

 

Er verschandele jede Melodie. Das Geigenspiel habe er nach drei Jahren aufgegeben, weil es ihm nicht einmal gelang, das Instrument zu stimmen. Alles in allem, sei er der unmusikalischste Mensch, den er kenne. „Moi, l’homme le moins mélomane que je connaisse“, kokettierte Alexandre Dumas. Andererseits kenne er wenige, die so sensibel auf musikalische Schönheiten reagieren. Und obwohl Alexandre Dumas nicht viel von der Verbindung von Poesie und Musik hielt, da sich die Musik immer die Dichtung aneignen, sie kürzen, strecken und für ihre Zwecke dienstbar machen werde, schrieb er dennoch für die Musikbühne. Nicht eben viel, nichts Bedeutendes: mit Gérard de Nerval den Text zu Hippolyte Monpous 1837 uraufgeführtem Piquillo sowie zusammen mit Adolphe de Leuwen zu der opéra-comique Le roman d’ Elvire (1860) von Ambroise Thomas. Zudem erlaubte er, dass in seinen Bühnenstücken Lieder eingelegt wurde, wovon der Chants des Girondins – mit Musik von Alphonse Varney, dem Vater des berühmteren Operettenkomponisten Louis Varnay – in der Dramatisierung von Le Chevalier de Maison-Rouge am bekanntesten wurde. Vor allem gestattete er gerne, dass seine Texte Ausgangspunkt für Romanzen wurden, deren Hingabe an vergangenen Zeiten und nostalgische Momente natürlich den historischen Kulissen von Dumas‘ Abenteuerromanen entsprachen. Ein altes Schloss und idealisiertes Mittealter beschreibt die Geschichte der von ihrem Vater bewachten schönen Isabeau, La Belle Isabeau, die von Hector Berlioz vertont wurde. Berlioz steuert zu den 17 Nummern, welche die CD Alexandre Dumas et la musique (Alpha 657) präsentiert, noch La Captive, bei. Dieses Bild der fern der Heimat Gefangenen stammt allerdings von Victor Hugo. Ebenso wie Massenets Élegie auf Louis Gallet, Henri Duparcs als lebhafte Szene für die Liebenden Ahmed und Khadija impressionierte La Fuite auf Théophile Gautier und Jocelyn auf Victor Capoul und Armand Silvestre basieren, was das ganze Unterfangen einigermaßen verwirrend macht: Dumas und seine Zeit müsste es wohl richtiger heißen.

Dem Typ der Romanze mit oftmals träumerisch vergegenwärtigten Bildern und nächtlichen Stimmungen entsprechen L’ Ange und Le Sylphe, die von Alexandre Pierre Joseph Doche und César Franck vertont wurden. Erstere wird von der Mezzosopranistin Karine Deshayes gesungen –  die sich mit prägnantem Flair und einigen schrillen Kanten auch der Sturmerzählung von der schönen Isabeau annimmt – und über Dochs etwas einfältigem Klavierpart um Präzision und Gewicht bemüht ist; sie nimmt die Stimme fein zurück und verleiht ihr, beispielsweise in den weiten Bögen von Edmond Guions Amour, printemps – Printemps, amour auch sinnliche Fülle und Gewicht. Die Sopranistin Marie-Laure Garnier gibt eine anämische Sylphe ab. Allerdings wirkt sie bei César Franck schon zupackender als in Franz Liszts wie mit Kniestrümpfen gesungener Jeanne D’Arc, wo vornehmlich das Klavier, Alphonse Cemin, dramatischen Ausdruck zeigt, als habe sie im Lauf des im Mai 2020 in der Salle Colonne in Paris aufgenommenen Programms an Zuversicht gewonnen. Massenets Sonnenuntergang, Soleil couchant, gestaltet Garnier mit Kompetenz. Einen schönen Einstieg hat der aus Großbritannien stammende, aber hörbar französisch geschulte Tenor Kaëlig Boché, der mit Massenets Élegie die CD eröffnet; zunächst wirkt der Tenor verhangen, konturlos, doch die Diktion, der Tonfall, das leicht süße Timbre, die Intensität und das morbide „Pour toujours“ am Ende gefallen. Eine Stimmung, die Boché in Benjamin Godards Te souviens-tu? weich und geradezu zärtlich aufnimmt. Gefällig, nicht ganz so elegant, wie es sein könnte, auch Nita la gondolière von Gilbert Duprez. Von Dumas‘ Gedicht Le jardin finden sich zwei Vertonungen, welche die zunehmende Abkehr vom Begriff romance verdeutlichen, eine melodie pour chant et piano von Henri Reber, eine zweite, spätere, schlicht als chanson bezeichnete von Francis Thomé; Garnier und Boché tollen abwechselnd in diesem Liebesgarten.

Interessant und gut sind die Ausschnitte aus den erwähnten Opern, das reizvolle Terzett aus der Oper über den spanischen Banditen Piquillo, der Chor der Girondisten sowie die Arie des Raoul aus André Messagers erst 1896 uraufgeführte opera-comique Le chevalier d’Hermental, für die sich Messagers Librettist Paul Ferrier durch eine gleichnamige zuerst als Roman erschienene, dann auf die Bühne gelangte Vorlage von Dumas inspirieren ließ. Das Piquillo-Terzett ist eine witzige und originelle Comique-Nummer, die bei Deshayes, Garnier und Boché ein wenig konzertant steif bleibt, der hochpatriotische Girondisten-Chor (Mourir pour la Patrie …. À la France, à la liberté) ist keine Herausforderung für unser Gesangstrio, doch die Arie des Raoul erweist sich als recht hübsche und herausfordernde Szene für einen empfindsamen Tenor, der Boché schwärmerischen Impetus verleiht. Rolf Fath

Kniendes Gebären

 

Noch immer steht Siegfried Wagner im Schatten seines Vaters Richard. Peter Pachl hat 1988 die bisher einzige umfassende Biografie des Komponisten und Wagnersohns herausgebracht, eine von positivistischem Sammelfleiß abgesehen, allerd­ings etwas verschwurbelte Arbeit mit esoterisch-astrologischem Ansatz.  Wesentlich seriöser, wissenschaftlicher geht Daniela Klotz auf Siegfried Wagner zu, wenn auch aus ungeahnter, nicht eben naheliegender Perspektive.

„Und tatsächlich eröffnet sich bei näherer Betrachtung der „Geisteswelt Oscar Wildes“ (sie bezieht sich auf einen Aufsatz von Dorothea Renkhoff) so etwas wie ein Paralleluniversum im Werk Siegfries Wagners – das Universum als Intertextualität.“

„Intertextualität“ ist ihr Zauberwort zur Entschlüsselung der Werke des Wagnersohns. Harald Blooms psychologischer Ansatz (Harold Bloom „Einflussangst. Eine Theorie der Dichtung“) ist ihre Ausgangsthese, die sich zusammenfassen lässt in den Satz: „Kein Text…existiert ohne einen Vorläufer. Vielleicht sogar ohne den einen Vorläufer.“

Die entscheidende Frage, die sich für die Autorin stellt: „Was passiert, wenn einer sich mit Kunst auseinandersetzt, indem er auf Basis dieser Auseinandersetzung seinerseits ein Werk erschafft. Entsteht so Neues auf der Basis von Altem, schafft/bedingt das Alte somit Neues oder führt die Reflexion irgendwann zum Selbstzweck, zur Kunst für die Kunst, zum Nachzählen der Schätze, statt zum Nacherzählen und damit zu neuem Schaffen? “ Im Falle Siegfried Wagners verneint das Daniela Klotz vehement.

Am Beispiel von Siegfrieds Oper „Banadietrich“ und der darin anklingenden Werke „Tristan“ und „Parsifal“ entdeckt Daniela Klotz eine „so nie vermutete Rückführung des Weltendramas … des väterlichen Schaffens… Letztendlich lässt sich das Vaterwerk im Spiegel des Sohneswerks, für das der Banadietrich nun exemplarisch steht, nicht nur über den Wieland bis zu den Feen, also nahezu den Anfang des gesamten Schaffens Richard Wagners zurückverfolgen“.

Über dessen Ironie eröffne sich im Werk Siegfried Wagners ein Paralleluniversum der Intertextualität. Opus 6, „Banadietrich“, auf den ersten Blick ein „Ring“ im Taschenformat, erweist sich für die Autorin als Zugang zu dem Vexierspiel, das das Genie Siegfried im Schatten mit den Werken seines Vaters treibt. Gleich den Prismen eines Kaleidoskops bringe der Sohn das Gesamtkunstwerk des Vaters durch leichtes Kippen und kaum merkliches Drehen „zurück auf Anfang“. Dieser Anfang ist nicht etwa eine der frühen Opern Richard Wagners, die als Nukleus einer der späteren gelten können, sondern ein Werk vor seiner Zeit: der „Faust“, der sich als wichtiges Element im Schaffen Richard Wagners erweist, vor allem aber als Dreh- und Angelpunkt im Kosmos Siegfried Wagners entpuppt. Es sei dies ein „Spiel“, dass allem Anschein nach alle Opern Siegfried Wagners durchziehe: Augenscheinlich jeweils nur auf ein Werk des Vaters bezogen, offenbaren alle Opern des jüngeren Wagner vielfältige Verweise aufeinander, auf den gesamten väterlichen Kanon und immer wieder auf den „Faust“, so Daniela Klotz.

Mit akribischen Stückanalysen (manchmal sind sie etwas sophisticated, wenn auch hochintelligent und letztlich einleuchtend), großer Textkenntnis des Vater- wie Sohneswerks, stupender Gelehrtheit und definierter Methode kommt Daniela Klotz zu dem Schluss, dass sich anhand des „Banadietrich“ belegen lässt, dass Siegfried Wagner mit den Werken seines Vaters, oder besser noch, mit den Figuren, die sein  Vater ersann, um seinem Denken Ausdruck zu verleihen, ein Vexierspiel treibt, das sich nach den Regularien der Intertextualität nachweisen lässt.“

Dieses Spiel finde aber keineswegs nur im „Banadietrich“ statt, sondern allem Anschein nach in allen Opern Siegfried Wagners. Die Autorin spricht von einem „großen Spaß; als Spiel mit dem Spiel kann es vielleicht sogar als eine Vorwegnahme der Postmoderne und deren Spielcharakter gewertet werden.“ Eben diese Kritische, innovative Auseinandersetzung mit seinem Vater und dessen Werk macht vielleicht die meist unterschätzte Größe und Freiheit Siegfried Wahnes aus.

Auch darin erweist sich Daniela Klotz als gelehrige Schülerin Harold Blooms: „Denn was uns frei macht, ist die Erkenntnis, wer wir waren, was wir wurden; wo wir waren und wohin wir geworfen wurden; wohin wir eilen, woraus wir erlöst werden; was Geburt ist und was Wiedergeburt‘ “

So ist auch der von Bloom (der den Philosophen Kierkegaard zitiert) entlehnte Titel ihres Buches zu verstehen; „Wer arbeiten will, gebiert seine eigenen Vater.“ Die Autorin präzisiert: „An sich meint das, dass, wer arbeitet, ein Vaterwerk schafft. Hier ist der Satz wörtlich zu verstehen, und damit der Sinn des Satzes, wie könnte es anders sein, in sein gerade s Gegenteil verkehrt.“

Eine imposante, psychologische Erklärung des Werks von Siegfried Wagner, wenn auch zugegeben, zuweilen vertrackt zwiebelschalenhaft um den einen zentralen Gedanken kreisend, aber doch eine lesenswerte Arbeit, die zur Promotion an der Universität Salzburg führte. Das hervorragende Literaturverzeichnis und viele weiterführenden Zitate und Angaben machen die nicht eben leichte Lektüre des Buches letztendlich zu einem Gewinn und einem Erkenntniszuwachs in Sachen des bis heute vernachlässigten Siegfried Wagner, der aus dem einen oder anderen Grund nicht nur in Bayreuth noch immer beinahe tabu ist (Daniela Klotz: Wer arbeiten will, gebiert seinen eigenen Vater: Siegfried Wagner vor dem Werk seines Vaters ; 280 Seiten, 2020 ; Königshausen & Neumann ISBN 978-3-8260-7049-5). Dieter David Scholz

Populäres

 

Ihr kalendarisches Alter von 45 Jahren Lügen straft die Stimme der Russin Ekaterina Siurina, die unter dem Titel Amour éternel eine CD mit französischen und italienischen Arien und Duetten vorgelegt hat. Das Timbre der silbrig klingenden Stimme ist mädchenhaft geblieben, das eines leichten bis lyrischen Soprans von müheloser Emission und fast ohne die Schärfe, die oft slawischen Stimmen zueigen ist. Als Charpentiers Louise weiß sie den Ton schön in einem feinen Schwebezustand zu halten, ihn delikat zu modulieren. Ihre Juliette strahlt vokale Lebensfreude aus, hat für die zu Leben und Liebe Erwachte einen schönen Glockenton und nur am Schluss schleicht sich ein wenig Spitziges ein. Es folgen zwei Szenen, die des Abschieds von Romeo, in der der Ehemann der Sängerin, der Tenor Charles Castronovo ihr Partner ist, dessen Stimme in den letzten Jahren ausgesprochen dunkel geworden ist, der deshalb zu sehr absticht von den hellen Farben des Soprans, eher ausgesprochen männlich als jugendlich wirkt. Die Gattin hingegen lässt in ihrer Stimme die Sonne strahlend aufgehen, klingt besonders zart und innig im Schluss des Duetts. Weniger als Bravourarie denn als anmutige Selbstdarstellung wird die Juwelenarie aus Gounods Faust gesungen, da funkeln nicht die Brillanten, sondern es offenbart sich eher eine verwirrte Seele. Weniger bekannt ist die Arie der Leila aus Bizets Perlenfischern, in der die Siurina sich mit einem schönen Triller aus sanfter Melancholie verabschiedet. Die letzte französische Arie ist die der Micaela aus Carmen, die in zarter Entschlossenheit vorgetragen wird.

Sehr getragen nimmt Ekaterina Siurina Puccinis „Mi chiamono Mimi“, ist von sehr zarter dolcezza und hat nicht ganz die Wärme und Fülle italienischer Kolleginnen. Im folgenden Duett fällt wieder der Kontrast der sehr hellen weiblichen zur sehr dunklen männlichen Stimme auf, die Galanterie des Ehemanns zeigt sich im Nachuntensingen am Schluss des ersten Akts, so dass die schöne Höhe der Gattin voll zur Geltung kommt, die im dritten Akt Mimi einen Hauch von Wehmut verleiht. Feine Bögen werden im „Sogno di Doretta“ entworfen, die Liù der Siurina lässt einen keuschen Klang vernehmen, aber auch ein Fehlen von innerer Spannung und an Rundung des Tons. „Das kann jede singen“, meinte einst ein bekannter Dirigent anlässlich eines Vorsingens, als die Kandidatin ihm den letzten Akt von Otello anbot. Natürlich gelingt er auch Ekaterina Siurina, auf den Rest muss die Musikwelt noch warten.

Insgesamt ist die CD, die man mit Skepsis (Warum schon wieder diese Arien und Duette und schon wieder ein russischer Sopran?) aufgenommen hat, eine erfreuliche, nicht zuletzt, aber durchaus nicht nur deswegen, weil ein gut aufgelegtes Kaunas City Symphony Orchestra unter Constantine Orbelian die kundige Begleitung ist (CD Delos DE 3583). Ingrid Wanja  

Auch mal „übernommen“

 

É strano- da liest man mit wachsendem Vergnügen ein nach langer Irrfahrt von Bologna nach Berlin gelangtes Buch, erfreut sich an aussagekräftigen Fotos, sucht bei You Tube nach Bestätigung dafür, dass Carlo Bergonzi, wie der Autor Vittorio Testa bekundet,  tatsächlich der unangefochtene, absolute Tenore di Verdi war und wird doch zunehmend verstörter, weil sich ein Dé-jà- vu- Erlebnis anzubahnen scheint. Das alles hat man doch schon einmal und dazu noch in denselben Wortlaut nicht gelesen, sondern gehört, und zwar in dem Film von Mauro Biondini, in dem der große Tenor kurz vor seinem Tod genau das erzählt, was der Verfasser des Buches zu berichten weiß, dazu in einer Art und Weise als wäre er selbst der Gesprächspartner Bergonzis gewesen. Das Buch kann aber erst nach seinem Tod entstanden sein, denn es berichtet auch vom Ableben des Sängers und enthält viele Zeugnisse der Dankbarkeit von Kollegen und Schülern des Verstorbenen, es wurde 2019, also fünf Jahre nach dem Tod Bergonzis gedruckt, und es ist anzunehmen, dass sich der Verfasser über weite Strecken hinweg des Films von Biondini bedient hat, dort aber, wo er darüber hinausgeht, oft ungenau oder unangenehm pauschalisierend wird. Das Falschschreiben ausländischer Namen gehört eigentlich zum allerdings nicht guten Ton italienischer Autoren, so dass ein „Bismark“ nicht verwundert, auch nicht ein „Lutero“, aber das pauschale Urteil über die Protestanten, die angeblich zu einer „inflessibile intolleranza“ erzogen werden, stammt zum Glück nicht von Bergonzi, sondern vom Autor des Buches über ihn. Da muss erst ein katholischer Österreicher kommen, sich von Schuberts Ave Maria erweichen lassen und Gutes tun.

Das Buch hat also viele Schwächen, wozu wohl auch die aufdringliche Familiarität gehört, mit der Testa den Sänger behandelt, der zunächst als „il nostro Carletto“, später als „il nostro eroe“ durch den Band marschiert, während dem Personal des Buches, soweit aus der Poebene stammend, ein extrem verfremdender Dialekt zugeordnet wird. . Aber man erfährt natürlich auch viel Interessantes über den Sänger, über die früh mit dem 5. Schuljahr endende Kindheit, die Arbeit in der Molkerei und als Kohlenschlepper, den Militärdienst, die Kriegsgefangenschaft in Neubrandenburg, den frühen Wunsch danach, ein Tenor zu werden. Wer die Gegend zwischen Piacenza und Parma kennt, der weiß, dass die Winter neblig trüb, die Sommer drückend heiß sind, der Verfasser verklärt die Landschaft und auch den Charakter ihrer Bewohner, falls es einen speziell solchen gibt, nimmt einen durchgehenden Jubelton an, der dem Portraitierten wahrscheinlich unangenehm gewesen wäre.

Immerhin erfährt man eine Menge Interessantes, das Fehlurteil Ettore Campogaliianis, des berühmten Stimmbildners, der einen Bariton in Bergonzi sieht, das Debüt als Figaro in dörflichen Pappkulissen, das heimliche Umstudieren auf Tenor, die einzelnen Karriereschritte und Einblicke in das unmittelbare Nachkriegsleben, so mit dem Motto des Mailänder Bürgermeisters: „Prima la Scala, poi il pane“, was in krassem Gegensatz zu einem Brecht-Zitat steht. Dem Leser begegnen die Großen der lirica italiana wie Votto, Serafin, Gavazzeni, die Vorbilder Gigli, Pertile, Schipa, und der Leser bewundert den Mut des Noch-Bariton Bergonzi, der dem Tenorkollegen vormacht, wie man ein Hohes C stützt, nachdem er in aller Heimlichkeit Tag für Tag einen Viertelton auf dem Weg zum Tenor gewonnen hat, um dann weit entfernt vom heimischen Vidalenzo nahe Busseto in Bari als Tenor mit Andrea Chenier zu debütieren und triumphieren. Mit seinem berühmt gewordenen Morendo am Schluss von Celeste Aida weiß er einen Agenten zur Betreuung seine Tenorlaufbahn zu gewinnen, und gemeinsam mit der Mitschülerin Renata Tebaldi darf er bereits den 50. Jahrestag von Verdis Tod bei der RAI als Tenor mitfeiern.

Erstaunlich ist das Verhältnis zu den Tenorkollegen, wenn Mario del Monaco ihm zwei seiner Vorstellungen an der MET abtritt, Franco Corelli mit seiner Hilfe etwas von seinem Lampenfieber verliert, Pavarotti und Martinucci seinen Rat einholen. Liebenswert erscheint der Tenor dem Leser auch durch die Riten vor jedem Auftritt, die Anhänglichkeit an den Heiligen Antonius von Padua, die Großzügigkeit, was Trinkgelder aller Arten angeht, den Seitenhieb auf Andrea Bocelli und man denkt an die eigenen positiven Erfahrungen zurück, den Tenor, der vor seinem Theater in Busseto auf- und abspazierte, sofort zu einem spontanen Interview bereit war und mit 72 Jahren nicht ohne Stolz meinte:“Komm morgen wieder, da singe ich den Rodolfo“, weil der aus Bergonzis Accademia hervorgegangene junge Tenor sich überlastet fühlte.

Die Dirigenten liebten diesen Sänger, Bruno Walter bewunderte sein „Hostias“, Karajan ebenfalls, brach aber, wie bei ihm üblich, als der Tenor sich nicht reif genug für den vorgeschlagenen Pagliaccio fühlte, den Dirigenten mit einem „maleducato“ bedachte, die künstlerische Beziehung ab. Immerhin schickte er Jahre später dem Tenor ein „il più bravo tenore del mondo“ ins Hotel.

Vieles hört sich wie aus einer längst vergangenen Zeit stammend an, so die Beschreibung des einst als besonders kritisch angesehenen Publikums von Parma, das längst die schlimmsten stimmlichen Schwächen schluckt, bei Bergonzi fehlurteilte und sein morendo als Radames monierte und in zwei einander wütend bekämpfende Lager zerfiel, während die beiden Tenöre Bergonzi und Corelli selbst beste Freunde waren. Kaum zu glauben ist die vom Autor erzählte Geschichte von der Krokodilledertasche, die Bergonzis Gattin Adele von der Theaterleitung angeboten wurde, wenn sie den Tenor dazu bewegen könnte, doch weiterhin in Parma zu singen. Als Füllmaterial werden dann noch die Auseinandersetzungen anderer Sänger wie Renato Bruson mit dem Publikum von Parma herangezogen.

Das Buch ist nicht sehr sorgfältig betreut worden, denn dann befände sich nicht zweimal der gleiche Textabschnitt in ihm, begrüßenswert ist hingegen, dass auch viele andere „Autoren“ zu Wort kommen, so im Vorwort von Alberto Mattioli, im Nachwort von Enrico Stinchelli und vor allem in den vielen Lobpreisungen seiner Kollegen oder Schüler, so Raina Kabaivanska, Leo Nucci (beide auch im Film), Michele Pertusi, Alberto Gazale, Fabio Armiliato und auch Carlo Fontana.

Den Anhang bilden ein Alfabeto Bergonziano, das Repertorio discografico, DVD, Repertorio da Baritono e da Tenore (130 Seiten, Diabasis 2019, ISBN 978 88 8103 937 1). Ingrid Wanja     

Einer für alles

 

Auch vor der Oper nicht Halt macht die Globalisierung, und manch anonyme, nicht durch ein unverwechselbares Timbre wiedererkennbare Stimme ist ihr Preis. Das eher umgekehrte Phänomen zeigt sich bei der Recital-CD des ukrainischen Tenors Dmytro Popov, der in den Hymns of Love in vier Sprachen und aus vier Kulturkreisen eine kraftvolle, sehr persönlich gefärbte Stimme hören lässt, die besonders im italienischen Repertoire leicht verstört. Nun ist das Timbre einer Stimme Geschmackssache, und man sollte wohl nicht unbedingt Carlo Bergonzi mit Stille Nacht kurz zuvor gehört haben, aber in jedem Fall dürfte Recondita armonia befremdlich klingen, weil mit auch im Vergleich mit den Orchesterfarben recht dumpf erscheinender Mittellage und sehr metallischer Höhe gesungen wird, wobei schon nicht mehr ins Gewicht fällt, dass der Schluss, anders als von Puccini komponiert, im Forte dargeboten wird. Ähnliches gilt für die zweite Arie des Puccini-Des-Grieux, der sich zwischen trübsinnig  und kraftprotzend klingend bewegt, während in Cielo e mar die Stimme zu gewichtig erscheint, wenig poetisch, geradezu herrisch im „vieni o donna“, allerdings am Schluss mit ätherischen, wenn auch nicht perfekt angebundenen „sogni d’amor“. Eine sensationell sichere Höhe kann in der „gelida manina“ gefallen, womit das italienische Repertoire erledigt wäre.

Die Blumenarie aus Carmen besticht durch den selten so empfindsam gehörten Vortrag, geradezu sensationell wird der Schluss, und zwar so, wie es Bizet komponiert hat und wie es kaum je gesungen wird, dargeboten. Auch Gounods Romeo kann mit einem schönen Spitzenton mit Decrescendo punkten, klingt allerdings wenig jünglingshaft, weil sehr verhangen, auch Faust wagt einen schönen Falsettino-Schluss.

Tschaikowski ist zweifach vertreten, so mit der ersten Arie des Lenski, wo nur der Hörer etwas auszusetzen hätte, der einen Mozartsänger in der Partie  gewöhnt ist. Im fein charakterisierenden Gesang wird die Figur des Wladimir aus Borodins Fürst Igor für den Hörer erfahrbar, Dvoṙáks Prinz aus Rusalka tritt mit geradezu heldischem Aplomb auf.

Den Abschluss bilden ein Ausflug in die Operette und einer ins ukrainische Volkslied. Tenorale Prachtentfaltung kennzeichnet „Dein ist mein ganzes Herz“, ganz unverstellt und selbstverständlich klingt das Lied von den schwarzen Augenbrauen und den Augen wie Haselnüsse. Das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin unter Mikhail Simonyan begleitet kompetent (Orchid Classics ORC 100148). Ingrid Wanja

Grosser mit schwieriger Vergangenheit

 

Einen hochinteressanten Zwitter zwischen höchsten wissenschaftlichen Kriterien verpflichteter Dissertation und Emotionen wie Intellekt beschäftigender Künstlerbiografie hat Julia Zalkow mit der des Schweizer Pianisten Edwin Fischer (1886-1960) Pianist, Dirigent, Musikpädagoge- Eine Biographie, in gewichtigen mehr als 450 Seiten im Böhlau Verlag vorgelegt. Allein drei Jahre des Reisens auf der Suche nach Quellenmaterial hat die Verfasserin verbracht, um  einen fast Vergessenen wieder in das Bewusstsein zumindest der musikalisch Interessierten zurückzurufen. Sie selbst wurde durch das Hören von besonders Bachinterpretationen des Pianisten auf ihn aufmerksam, stellte sich vier Ziele mit ihrem Werk, nämlich zu erkunden, wodurch der Pianist erfolgreich wurde, was seine Künstlerpersönlichkeit ausmachte, warum er relativ schnell vergessen wurde und warum man sich an ihn erinnern sollte.

Ihre Herangehensweise an diese komplexe Aufgabe ist eine sehr vielseitige, bezieht Fotos und Beschreibungen nicht nur des Pianisten, sondern auch des Privatmenschen ein, setzt sich mit falschen Behauptungen auseinander, mit Hobbies, mit dem oft behaupteten übergroßen Einfluss der Mutter auf den früh zur Halbwaise Gewordenen, auf die Wandlungen seines Spiels, und auch eine Beschäftigung mit dem ihm verliehenen Attribut „Tastenlöwe“ wird in Angriff genommen.

Der eigentlichen Biographie geht eine Betrachtung dessen voraus, was die Autorin als „Biographienwerkstatt“ bezeichnet, der Quellenlage, den unterschiedlichen Herangehensweisen wie zum Beispiel der quantitativen Umfrageforschung oder der soziologischen Biographieforschung. Bewusst grenzt sich Zalkow ab von den gängigen Biographien, die vieles erfinden, sie bekennt sich hingegen zur Lücke, vielfach entstanden durch Kriegseinwirkungen, denn Fischer lebte bis zum Sommer 1943 vorwiegend in Berlin. Dem nicht das wissenschaftliche Werk, sondern die auch unterhaltsame Biographie Suchenden kommt es sicherlich entgegen, dass das Buch chronologisch gegliedert ist.  Hin und wieder schiebt sich die Autorin in den Erzählfluss hinein, um über besondere Probleme bei der Forschung, Ihre Vorgehensweise, Erfolge oder Misserfolge zu berichten.

Ehe der Leser in die Biographie einsteigen darf, wird er noch über Forschungsstand und Quellen, über bisher bereits Erforschtes und über das Material und die noch vorhandenen Zeitzeugen informiert.

Edwin Fischers Leben spielte sich in Basel, Berlin, Luzern ab, und selbst wer sich für den Pianisten nicht sonderlich interessiert (doch die Anteilnahme wächst mit der Lektüre), der erfährt sehr viel über die Zeit, in die er hineingeboren wurde, über die Schweiz im ausgehenden 19. Jahrhundert, ihre Ideale von Wohlanständigkeit und Arbeit, die Bedeutung der Hausmusik, auch über das bereits beim Schüler Fischer vorhandene Lampenfieber, das auch den reifen und alternden Pianisten noch plagen sollte.

Aus eine Fülle von Mosaiksteinchen setzt die Verfasserin ein so farbiges wie fundiertes Bild des mit siebzehn Jahren nach Berlin ziehenden Studenten, der bereits nach dem ersten Studienjahr auch als Lehrer tätig wird, zusammen, charakterisiert die vielen unterschiedlichen Musikschulen, die es damals in Berlin gab, und vermittelt dem Leser auch Eindrücke von den Menschen, die wichtig für den jungen Fischer waren, so von dem Sänger Ludwig Wüllner, dem er Klavierbegleiter war.

Interessant ist, was über Wiener und Berliner Salons, oft von jüdischen Familien, und das musikalische Leben dort berichtet wird, eine große Rolle spielt die Selbstreflexion des Künstlers, der sich als Vertreter  des traditionellen Interpretationsmodus sieht und gesehen wird, der sich um die Wiederherstellung von Urtexten bemüht, aber gegen Dogmatismus ist.

In der Weimarer Republik zeigt sich Fischer durchaus aufgeschlossen für moderne Musik, durchlebt zwei Episoden als Dirigent in Lübeck und München und kreiert den „Klavierdirigenten“. Interessant sind der Italien-Reisebericht einer Freundin, die Informationen über das von Fischer gegründete Musikinstitut für Ausländer in Potsdam und seine Schwierigkeiten als Professor an der UdK in Berlin.

Noch nicht zum Problem wurde Fischer seine Parteinahme für Deutschland im Ersten Weltkrieg, wohl aber sein Verbleiben in Deutschland nach der Machtergreifung der Nazis. Da gibt es auch ein Foto, das ihn vor einer riesigen Hakenkreuzfahne zeigt und ein Dankschreiben an Adolf Hitler. Ein Entnazifizierungsverfahren musste der Schweizer nicht durchmachen, wohl aber die Feindseligkeit maßgeblicher Kreise in den USA  (ähnlich wie gegenüber Furtwängler) oder die Zurückweisung von Dirigenten, die nicht mit ihm musizieren wollten, erleiden. Immerhin sprach für ihn, dass er kein Amt ausübte, sich an keiner Hetze beteiligte, keine Konzerte in besetzten Ländern gab und befreundeten Juden half. Einen aufschlussreichen Blick auf das von Ideologie durchtränkte Kulturleben gewährt ein Artikel über das angeblich „artfremde“ Musizieren eines jüdischen Pianisten im Vergleich mit dem des „artgerechten“ Wirkens von Edwin Fischer. Dieser fühlte sich dem Land, in dem er Karriere gemacht hatte, dessen Komponisten er verehrte, verpflichtet, was auch erklärt, dass er für Winterhilfswerk und KdF musizierte. Das alles wird von der Verfasserin so einfühlsam wie unter Verzicht auf ein demonstratives Überlegenheitsgefühl der Nachgeborenen ausgeführt.

Walter Legge gewann neben vielen anderen auch Fischer für Aufnahmen, der aber die „Patzer für die Ewigkeit“ fürchtete, lieber ein Trio mit Kulenkampff und Mainardi, später mit Schneiderhan bildete und bereits 1946 nach Salzburg zurückkehrte. Es folgen noch Berichte von Meisterkursen in Luzern, und unter dem Stichwort „calando“ wird von der nachlassenden Gesundheit und damit verbundenen schwindenden Qualität der künstlerischen Arbeit berichtet. 1957 findet das letzte Konzert in Zürich statt, 1958 noch ein Sommerkurs, 1960 stirbt Edwin Fischer.

Als „wissenschaftliche Künstlerbiographie“ klassifiziert Julia Zalkow ihr Buch, das sich zum Ziel gesetzt hat, auf einen „vergessenen Künstler“ aufmerksam zu machen. Immerhin war er der Rezensentin bekannt, auch sein Image als Tastentiger und „romantischer“ Bachinterpret. Doch sich alles, was auf You Tube verfügbar ist anzuhören, dazu gab das Buch den Anstoß und dazu, über die Möglichkeit, als Künstler „unpolitisch“ zu bleiben, nachzugrübeln.

Der umfangreiche Anhang besteht aus Abkürzungen, Tabellen, Abbildungen, Quellen und Literatur, Personen (460 Seiten, 2020 Böhlau Verlag; ISBN 978 3 205 21123 5). Ingrid Wanja

Alte Musik im Hall

 

Mit L’Incoronazione di Poppea, der letzten Oper von Claudio Monteverdi, begann nach der Uraufführung 1642 in Venedig so etwas wie ein Repertoire im Opernbetrieb. Denn in Venedig wurde sie danach mehrere Jahre gespielt, und mit ihr wurde 1651 die Reihe öffentlich aufgeführter Opern in Neapel eröffnet. Anschließend allerdings geriet die Oper in Vergessenheit, bis sie  wiederentdeckt wurde, als man 1888 die venezianische Druckausgabe und 1930 die neapolitanische Fassung in Bibliotheken auffand. Man vermutet, dass die Urfassung 1748 bei einem Brand des Uraufführungstheaters vernichtet wurde.

Vom letztlich sehr ernsten Spiel um Liebe und Macht ist bei BONGIOVANNI eine neuere Aufnahme erschienen. Sie entstand Anfang 2020 in der florentinischen Basilika St. Felicita, an deren hallige Akustik man sich erst gewöhnen muss. Beim Ensemble San Felice, das souverän von seinem Gründer Federico Bardazzi, einem bewährten Spezialisten für Alte Musik, geleitet wird, fällt sehr schnell auf, wie variantenreich bei stets transparentem Musizieren die unterschiedlichen Instrumente eingesetzt werden, von den Flöten bis zu den profunden Continuo-Bässen.

Das große Sänger-Ensemble besteht aus durchweg jungen Künstlern und hat internationalen Zuschnitt. Durchgehend wird schlankstimmig und meist sauber intonierend gesungen, was der verzierten Tonsprache Monteverdis und der besonderen Kirchenakustik sehr entgegen kommt.  In der Titelrolle gefällt Oksana Maltseva mit gestochen klaren Koloraturen, aber auch mit angenehm weichen Lyrismen. Nerone ist der Sopranistin Shin Yoowon anvertraut, deren volltimbrierte Stimme zur Rolle des mächtigen Kaisers gut passt. Floriano D’Auria trumpft zumindest musikalisch mit ausgesprochen klangvollem Alt als sein Gegenspieler Ottone auf. Als die im Machtspiel unterlegene Ottavia hört man die Sopranistin Choi Senyeon, die mit schön ausgesungenen Melodiebögen auf dem Weg in die Verbannung ihren traurigen Abschied von Rom anrührend gestaltet. Blass und nicht so recht überzeugend wirkt mit angestrengten, teilweise unsauberen  Höhen der Bassist Jing Shuheng als Philosoph Seneca. Aus der Vielzahl der kleineren Rollen seien noch die mit glasklarer Stimmführung singende Sopranistin Mira Dozio (Drusilla, Valletto, Venere) und  die Altistin Elisabetta Vuocolo als ausdrucksvolle Amme Arnalta hervorgehoben.

In wenigen Chorstellen, vor dem befohlenen Suizid des Seneca und im klangprächtigen Finale, kommen die Juvenes Cantores della Cathedrale di Sarzana (Einstudierung: Alessandra Montali) zum Einsatz (BONGIOVANNI GB 2581/82-2, 2 CD). Gerhard Eckels

Un vrais Héros francais

 

Eine der wirklichen Superstimmen im großen französischen Repertoire, Le Grand Repertoire, war Gustave Botiaux, in operalounge.de bereits mit einem schönen Farbfoto von einer Orphée-LP im Artikel über Reyers Sigurd vorgestellt und sogar im Original zu Pferd abgebildet. Irre!.

botiaux sigurdAuf alten Editionen wie der inzwischen vergriffenen von opera-club.net  meines verstorbenen Freundes Walter Knoeff (rip) fand sich zudem eine ganz spektakuläre Sammlung des Sängers  (geb. am 14. Juli 1926), die volle zwei CDs zusammenfasste und die ihn in Bestform im angestammten Fach des heroischen französischen Tenors zeigt, bestens aufbereitet und schlicht Staunen lehrend, denn hier brüllt keiner wie Py, Chauvet oder Poncet: Hier singt eine große und leuchtende Tenorstimme lyrisch, dabei kraftvoll und durchschlagend, ohne  auf Stimmschönheit zu verzichten. Dazu kommt die hochintelligente, rollengestaltende  Phrasierung (was man weder Chauvet noch Poncet nachsagen kann). Und natürlich die Diktion! Zum Mitschreiben, zum Mitsingen, jedes Wort verständlich. Ich würde mich in Sachen Stimmumfang und Stimmführung  sogar zu einem Vergleich mit Siegfried Jerusalem versteigen, der natürlich später und deutsch sang, aber der ähnlich seine schöne Stimme nicht forcierte und eben das Lyrische darin bewahrte. Ähnlich geht es mir bei Botiaux, dessen Sigurd eingangs auf der ersten CD mich betört und verzückt. Amazon, Spotify, youtube und andere Platformen machen zudem viele seiner Aufnahmen zugänglich.

Gustave Botiaux und seine Frau, die Sopranistin Sylvie/artslyriquefr.fr

Gustave Botiaux und seine Frau, die Sopranistin Jacqueline Sylvie/ artslyriquefr.fr

Gustave Botiaux machte beim Nationalen Gesangswettbewerb in Cannes 1945 den ersten Preis und wurde sofort als erster Tenor an das Théâtre de la Monnaie in Brüssel engagiert. Die Pariser Oper folgte bald darauf 1956 (als Messenger in Samson et Dalila, vorher die Comique mit Turiddu), an der er für viele Jahre im ersten Fach sang (erst kleine Partien wie den Tierverkäufer (Rosenkavalier) im 1. Akt, dann auch den Italienischen Sänger 1957, später Faust, Cavaradossi, Le Duc/Rigoletto 1960, Radamès). Wie opera-club.net schreibt, besaß Botiaux einen Stimmton seltener Klangschönheit, dazu war er ein schöner Mann auf der Bühne (wie die Fotos bestätigen) und beeindruckte mit seiner athletischen  Figur und einem gewissen raumverdrängenden Charisma, das ihn schnell in die übrigen Theater Frankreichs brachte.

In jener Periode erlebte die Opéra-Comique einige ihrer besten Jahre der Nachkriegszeit, auch mit einem expansiveren Repertoire wie Cavalleria und Pagliacci, und in der ersteren Oper beeindruckte 1956 der hochpräsentable Botiuax außerordentlich, während Tony Poncet den Canio gab – quelles riches!

Zwei seiner wichtigsten Rollen verdankte er der Provinz – Vasco de Gama und der Sigurd, in denen er unerreicht war und die er dort, wie in Marseille und Vichy, mit Ausdauer sang. Und es ist ein Jammer, dass Chauvet die Radioaufnahme der Reyerschen Oper (unter Rosenthal beim RTF/Chant du Monde und bis heute die einzige Gesamtaufnahme) bekam. Aber mit Botiaux gibt es einen großen Querschnitt bei Orphée/Musidisque neben seiner Partnerin Lyne Cumia unter Etcheverry.

Andrea Guiot und Gustave Botiaux in einem PR-Foto für den "Faust"-Querschnitt bei Vega/OBA

Andrea Guiot und Gustave Botiaux in einem PR-Foto für den „Faust“-Querschnitt bei Vega/OBA

Natürlich wurde in jenen Jahren fast ausschließlich in der nationalen Sprache gesungen, und der Dick Johnson in La fille de far West Puccinis wurde ebenfalls zu einer seiner Schlüsselrollen, ebenso Radamès oder Cavaradossi. Krankheit hinderte Botiaux von 1964 bis 1968 an Opernauftritten. Mit einem Wiederauftritt kehrte er im Triumph als Jean in der Hérodiade/Massenet  in Aix-en-Provence und anschließend beim Rundfunk zurück. Ebenfalls als Canio machte er von sich reden, und sogar ein Alfred in der französischen Fledermaus ist für die späte Phase nachzuweisen, während er vor allem in der Provinz den Duca/Rigoletto, Don José oder Cavaradossi mit Glanz sang.

1973 verließ er das Theater und setzte sich zur Ruhe. Sein Ausscheiden verstärkte den akuten Mangel an großen Tenorstimmen im französischen Repertoire, das nun eigentlich nur noch von Gilbert Py und Guy Chauvet beherrscht wurde und das sich von dieser Lücke nicht wieder erholt hat. Bestimmte Werke sind mit französischen Sängern nicht mehr aufzuführen, einzig Roberto Alagna kann mit seinem Cid, Werther, Roméo (und hoffentlich Vasco de Gama im Herbst in Berlin)  etc. als Nachfolger gelten, und er ist eher ein lyrischer Sänger mit viel weniger Metall in der dunkleren Stimme.

$(KGrHqN,!p0E8WdFid7sBPM3j-rWg!~~60_35Botiaux und seine Aufnahmen sind heute weitgehend vergessen. Man rekuriert immer gleich auf Georges Thill und vergisst die Zwischenzeitsänger wie Liccioni. Und deswegen war die Sammlung bei opera-club.net umso begrüßenswerter. Bei Orphée (später Vega) hat er einen großen Querschnitt aus der Tosca und aus dem Sigurd mit Lyne Cumia/Etcheverry aufgenommen,  dazu noch  drei 25 cm LPs mit Arien und Szenen ebenfalls hier. Die finden sich auf dieser Kompilation gemischt  mit einigen Live-Radioübernahmen. So  Szenen aus der Damnation de Faust (mit Jacqueline Lucazeau und Paul Cabanel, Vichy 1956), natürlich das unerreichte „Asile héréditaire“ aus dem Tell in Vichy 1960, Fausts Arien (Rundfunk), Roméo et Juliette (mit Huguette Rivièrè/Jacqeline Silvy und Xavier Dépraz, RTF 1960), Tosca (mit Suzanne Sarrocca, eine ganz wunderbare Stimme und betörend schöne Frau, Vega 1961), La Bohème, Aida, La Favorite, L´Africaine (Vega, Amati 1961); Samson et Dalila (mit Simone Couderc/Bigot RTF 1960) und schließlich Auszüge aus Louise (mit Jacqueline Brumaire unter Marcel Cariven live 1960) – ein reiches Füllhorn an Wundern aus der Schatzkiste herrlichen französischen Gesangs, wie es ihn eben nicht mehr gibt.

botiaux 3Für heutige Ohren eher bizarr ist eine Sammlung von Chansons patriotiques aus dem Ersten Weltkrieg, den unsere Nachbarn noch immer La Grande Guerre nennen und mit würdevollen Veteranen-Umzügen auf den Champs Elysées begehen. 1968 aufgenommen und mit Chor unter Eugen Bigot marschhaft zum Mitmarschieren auffordernd – es geht gegen die Deutschen, 1968 (!), und was da textlich abgeht, ist nicht eben fein. Offenbar gab es selbst so spät noch ein Publikum dafür… Dies auf dem Blog artlyriquefr.fr mit schönen Fotos, dort auch noch mehr von dem Tenor, so weitere Ausschnitte aus der Damnation, der Reine de Saba Gounods, aus dem Trouvère (französisch in der Pacini-Fassung) und mehr in sehr gutem 128 kbs-Sound. Eine besondere Kostbarkeit ist ebendort die Arie des Jean „Ne pouvant réprimer“ aus Massenets Hérodiade von 1960/Amati. Und überhaupt findet sich bei artlyriquefr.fr und im Netz viel aus Frankreich von Botiaux, was zeigt, dass er dort  doch nicht ganz vergessen ist.   G. H.

 

botiaux arienNachstehend noch einmal eine Zusammenfassung, wie sie sich auf dem bereits genannten Blog von artlyriquefr.fr findet: Gustave Botiaux, ténor français, (92.Puteaux, 14 juillet 1926), Epouse la cantatrice Jaqueline Silvy. Elève du Conservatoire de Paris, où il obtient un premier prix de chant, il fut lauréat du concours des ténors de Cannes en 1954. Le concours du Bel canto de Bruxelles en 1955 lui valut un engagement au Théâtre de la Monnaie. Engagé l’année suivante à la RTLN, il débuta à l’Opéra-Comique, puis chanta au Palais Garnier. Mais c’est en province et à l’étranger qu’il consacra la part essentielle de son activité, dans un large répertoire (HérodiadeSamson et Dalila, Lohengrin. Sigurd, l’Africaine, Werther).  Suite à la dissolution de la troupe de l’Opéra, il quitte la scène en 1973 et se retire avec sa femme en Ardèche.

botiaux arien 2Au début des années 60, il a enregistré pour la marque Orphée (Pacific) : récital n°1, dir. Giancarlo Amati (Roméo et JulietteHérodiadele Trouvèrela ToscaSigurdRigoletto) ; récital n°2, dir. Giancarlo Amati (la Favoritel’Africainela Bohèmela JuiveAïda) ; récital n°3, dir. Jésus Etcheverry (TurandotManon LescautAndré Chénierla Reine de SabaGuillaume Tellla Favorite) ; des versions anthologiques de Carmen(Don José), dir. Erasmo Ghiglia ; Faust (Faust), dir. Jésus Etcheverry ; Sigurd (Sigurd), dir. Jésus Etcheverry ; la Tosca (Mario) [version française de Paul Ferrier], dir. Giancarlo Amati ; le Pays du sourire (Sou-Chong) [version française d’André Mauprey et Jean Marietti], dir. Giancarlo Amati (1963) ; pour la marque Vogue : Chansons patriotiques, arrangements et direction d’orchestre : Michel Villard (1968). artlyriquefr.fr

Biserka Cvejic

 

Mit Bedauern hörten wir vom Tode der serbischen Mezzosopranistin Biserka Cvejić (* 5. November 1923 in Krilo-Jesenice bei Dugi Rat, damals Königreich Jugoslawien; † 7. Januar 2021 in Belgrad, Serbien) . Im Folgenden „borgen“ wir unbs eine Würdigung von dem deutschen Wikipedia aus:
Biserka Cvejić, als Biserka Katušin in dem dalmatinischen Küstenort Krilo-Jesenice, 15 km südöstlich von Split geboren, kam im Alter von einem Jahr mit ihren Eltern nach Lüttich. Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrte sie 1946 in ihre jugoslawische Heimat zurück, wo sie zunächst als Dolmetscherin arbeitete. Ihre Stimme wurde von dem spanischen Tenor José Riavez (1890–1958) entdeckt, der auch ihr Lehrer war.

Bereits während ihres Studiums an der Belgrader Musikakademie (heute: Musikfakultät) sprang sie 1950 am Belgrader Opernhaus für eine erkrankte Kollegin als Maddalena in Rigoletto ein. Ihr offizielles Debüt gab sie 1954 am Opernhaus Belgrad als Charlotte in Werther. Bis 1959 blieb sie festes Ensemblemitglied der Belgrader Oper und gab als Teil des Ensembles auch ihre ersten Auslandsgastspiele, so bei den Internationalen Maifestspielen Wiesbaden (1959) und am Opernhaus von Nizza (1960).

Im Oktober 1959 gab sie als Amneris in Aida ihr Debüt an der Wiener Staatsoper.[4] Von 1960 bis 1978 war Cvejić festes Ensemblemitglied der Wiener Staatsoper, an der sie bis Mai 1978 in insgesamt 372 Vorstellungen in 25 verschiedenen Rollen zu hören war. Sie sang dort neben der Amneris u. a. Carmen, Eboli, Azucena, Ulrica, Brangäne, Herodias und Adelaide in Arabella.

Sie gastierte in Europa u. a. am Gran Teatre del Liceu in Barcelona (1961), an der Covent Garden Opera in London (1962), am Théâtre Royal de la Monnaie in Brüssel (1963 als Carmen), am Teatro San Carlo in Neapel (1963 als Brangäne, 1968–69 sowie 1971 als Amneris), am Teatro Regio di Torino (1964 als Brangäne, 1969 als Azucena), am Teatro Massimo Palermo (1964 als Amneris) und an der Bayerischen Staatsoper München (1969 als Amneris).

Sie sang außerdem beim Edinburgh Festival und in der Arena di Verona (1968–69 als Amneris, 1971 als Azucena). In der Saison 1969/70 sang sie an der Mailänder Scala die weibliche Titelrolle in Samson et Dalila. 1972 trat sie wieder am Teatro Liceu auf, diesmal als Charlotte in Werther. 1977 sang sie an der Seite von Régine Crespin in Paris in Marie-Magdeleine von Jules Massenet.

Im April 1961 debütierte sie als Amneris in Aida an der Metropolitan Opera in New York, wo sie bis Oktober 1967 in acht verschiedenen Partien, neben der Amneris außerdem als Azucena, Ulrica, Eboli, Dalila, Laura in La Gioconda, als Principessa di Bouillon in Adriana Lecouvreur und als Giulietta in Les contes d’Hoffmann zu hören war.

In Übersee sang Cvejić außerdem zwischen 1963 und 1968 mehrfach am Teatro Colon in Buenos Aires (Dalila, Marina, Octavian, Amneris). 1967 gastierte sie in Tokio als Eboli in Don Carlos.

Ab 1978 widmete sich Cvejić verstärkt dem Gesangsunterricht und der Sängerausbildung. Sie unterrichtete als Professorin für Sologesang an der Belgrader Musikakademie, später dann an der Akademie der Künste in Novi Sad.[1][3] 1979 wurde sie zur Österreichischen Kammersängerin ernannt.[10] 1990 beendete sie endgültig ihre Bühnen- und Gesangslaufbahn.[1][2] Zu ihren Schülern gehörten u. a. der Tenor Nikola Kitanovski, die Mezzosopranistinnen Milena Kitić und Monika Bohinec sowie der international gastierende Bariton Željko Lučić.

Für ihre Verdienste wurde sie mit der Serbischen Medaille für Kunst ausgezeichnet.[2] 2001 wurde sie Mitglied der französischen Ehrenlegion.[3] 2014 erhielt sie den Dositej-Obradovic-Preis für ihr Lebenswerk (Nagrada Dositej Obradović za životno delo)

Biserka Cvejić war mit dem aus Belgrad stammenden Arzt und Dozenten Dusan Cvejić verheiratet, der auch als Sänger (Tenor) wirkte und 1958 gemeinsam mit ihr beim Weltjugendkongress in Belgrad aufgetreten war. Sie starb im Alter von 97 Jahren im Januar 2021 in Belgrad.

Repertoire und Tondokumente
Biserka Cvejić ist in insgesamt 77 Mezzosopran-Rollen in über 1800 Aufführungen auf Bühnen in der ganzen Welt aufgetreten.[3] Sie sang schwerpunktmäßig die dramatischen Mezzosopran- und Alt-Partien in den Opern von Giuseppe Verdi (Amneris, Azucena, Eboli, Ulrica, Preziosilla, Maddalena). Sie trat auch in italienischen Opern des Verismo auf.

Sie interpretierte außerdem Partien des französischen (Carmen, Dalila), des russischen (Marina und Amme in Boris Godunow, Olga in Eugen Onegin, Paulina in Pique Dame) und des deutschen Repertoires (Fricka, Brangäne, Herodias, Adelaide).

Biserka Cvejić besaß „eine dunkel timbrierte, schön gebildete Altstimme“. (Kutsch/Riemens). Ihre Stimme ist auf mehreren Operngesamtaufnahmen dokumentiert, die u. a. bei Decca (Schneeflöckchen, Eugen Onegin, Pique Dame) und auf MGM-Heliodor erschienen. Bei Jugoton wurde ein Recital mit Opernarien veröffentlicht.

Unter der Regie von Arthur Maria Rabenalt sang und spielte sie die Rolle der Zigeunerin Czipra in einer 1975 erstausgestrahlten Operettenverfilmung der Strauß-Operette Der Zigeunerbaron. Diese Rolle sang sie auch in einer 1969 bei der EMI erschienenen Gesamtaufnahme der Operette an der Seite von Grace Bumbry und Nicolai Gedda. Quelle Wikipedia (Foto oben Biserka Cvejic als Amneris an der Scala/ Foto Piccaliani/ Archivio Scala)

Legendary?

 

Seinen 40. Geburtstag feierte im gerade vergangenen Jahr/ 2020 das Label Orfeo und ehrte und vermarktete noch einmal seine berühmtesten Gesangssolisten auf zehn CDs, auf dem Cover alphabetisch aufgelistet von Baltsa bis Várady und im Innern chronologisch beginnend 1981 mit eben dieser Agnes Baltsa und endend mit dem gerade im Zenit seiner Karriere stehenden Piotr Beczala, der sich 2011/12 einem reinen Verdi-Programm widmete. Manche der Mitwirkenden – so raunte man in den frühen Jahren des Labels – hatten substanzielle Anteile an der Firma, die sich für einige ihrer Stars als Vermarktungsmaschiene darstellte …

Eher ihre Vielseitigkeit und die Entwicklung ihrer Stimme zeigt Agnes Baltsa, die mit  Rossinis Rosina und deren Cavatina beginnt und nicht die liebenswürdigste, aber hochvirtuos geführte Stimme offeriert, der man ab „ma“ alles glaubt und die als Rossinis Elena aus La Donna del Lago nicht unpassend leicht hysterische Züge annimmt. Dass sich diese Angelina nicht mehr in die Asche stoßen lassen wird, glaubt man nach ihrem „Non più mesta“, und Mozarts Sesto findet zu einem schönen Wechselspiel mit den Instrumenten. Geschmeidig ist Donizettis Favorita unterwegs, der Lady Macbeth wird in „La luce langue“ schmal und scharfzüngig das Lauernd-Schillernde verliehen, das sie ausmacht. Geschmackvoll und doch ergreifend meldet sich Santuzza schließlich zu Wort. Es begleitet das Münchner Rundfunkorchester unter Heinz Wallberg.

So kontrastreich wie die Charaktere, die sie darstellen, ist die Herangehensweise an ihre Sängeraufgabe bei Carlo Bergonzi und Dietrich Fischer-Dieskau, die mit Duetten unterschiedlicher Komponisten auf CD 2 zu finden sind. Will der Italiener im ersten Duett Alvaro-Carlo die Melodie sich entfalten, die musikalische Linie  gewahrt wissen , so geht es dem Deutschen auch um Textausdeutung, um die scharfe Charakterisierung. So kam zusammen, was zusammen nicht gehörte, dazu kommt, dass 1982 beide bereits ältere Herren waren, was man dem Tenor weniger anmerkt, das „Finalmente“  im zweiten Duett der Widersacher allerdings ist eine Wucht, und hier finden beide Sänger zu einer mitreißenden Darbietung. Fischer-Dieskau war, wie eine bange Frage während einer Tournee der Deutschen Oper Berlin an den Tenorkollegen zeigte, nie so ganz sicher, ob seine Stimme und die Art seines Singens der italienischen Tradition entsprächen. So hat er den Barnaba in den langen Jahren, in denen die Gioconda an seinem Heimatort im Repertoire war,  anders als auf dieser CD wohl nie gesungen. Es folgt ein Duett aus Otello, eine Partie, an der der Tenor  schließlich scheiterte, zwar noch die Generalprobe, aber nicht die Premiere vollständig sang. Der Bariton bringt das Lauernde in „Talor vedeste in man di Desdemona“ perfekt zum Ausdruck, übertreibt aber in „in man di Cassio“. Vater und Sohn in Verdis Vespri lassen väterlich Milde, ein schönes Legato und, was den Tenor betrifft, zu „donna perduta“ ein herrliches Crescendo hören. Wer als Verantwortlicher diese Musik zur Kenntnis nimmt, müsste eigentlich das sträflich vernachlässigte Stück sofort auf den Spielplan setzen. Perlenfischer und Bohéme verlangen eigentlich nach jungen Stimmen, aber auf der des Tenors liegt durchaus noch der Schimmer der edlen Muschelprodukte. Von Anfang an hat Fischer-Dieskau den Rodrigo, erst auf Deutsch, dann in der Originalsprache gesungen und er tut es auch im Freundschaftsduett auf dieser CD mitreißend, beide Sänger wissen, worauf es ankommt. Es begleitet das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter Jesus Lopez Cobos.

 Franco Bonisolli, von vielen Opernbesucherinnen heiß verehrt, spielte 1983 italienische Canzoni ein und prunkte oder protzte, je nachdem wie man zu seiner Art des Singens steht, mit endlosen Fermaten und Superhöhen und am besten beides in einem Atemzug. Da er ansonsten nicht allzu häufig dokumentiert wurde, ist es durchaus begrüßenswert, dass diese Aufnahme in die Geburtstags-CD-Sammlung mit aufgenommen wurde. Es begleiteten das Orchestra dell’Unione Musiciste di Roma und  I Mandolini Napoletani di Gina del Vescovo unter Elvio Monti.

1983 widmete sich Grace Bumbry ihrer Karriere als Sopran, und ihr „Pace, pace“ ist eher eine Kampfansage als von Resignation geprägt, ihre Mezzovergangenheit kommt ihr zugute, schöne Piani erfreuen den Hörer, insgesamt wird sehr agogikreich gesungen. Raffiniert spielt die Sängerin mit den Stimmfarben als „umile ancella“ in Adriana di Lecouvreur, viel Geläufigkeit hat sie für die Cabaletta der ersten Arie der Trovatore-Leonora. Eine weite Spannbreite, was die Dramatik betrifft, beweist sie als La Wally, zarte, von Wehmut überschattete Gespinste kennzeichnen des Cid Geliebte. Mit unangestrengten Intervallsprüngen überzeugt la Gioconda, Louise  mit raffinierten Crescendi,und mit Sapho und Alceste werden auch weniger bekannte Damen vorgestellt. Stefan Soltész begleitet mit dem Radio-Sinfonieorcheter Stuttgart.

Als vielseitigste von allen zeigt sich Brigitte Fassbaender, die ebenfalls 1983 vor die Mikrofone gebeten wurde. Für Händel weiß der Mezzo die Stimme instrumental zu führen, Gluck verleiht sie als Orfeo viel Wärme und Gefühl in der Stimme und einen einfach herrlichen Schwellton der Verzweiflung. Für Bellinis Romeo ist der androgyne Klang in der Stimme, die Intervallsprünge sind perfekt, mit Jeanne d’Arcs „Da, cas nastal“ macht sie sich die Tatsache zunutze, dass die meistens von Sopranen gesungene Partie (Julia Varady ist mit ihr in der Box vertreten)  auch für einen Mezzo geeignet ist, und hier vemag die Sängerin die aufgewühlten Gefühle zu verdeutlichen, ohne je die musikalische Linie zu verletzen. Weniger robuste Sinnlichkeit als chansonhafte quirrlige Herausforderung zeichnet Fassbaenders Carmen aus, die gut angebundene Tiefe kommt der sanft betörenden Dalila zugute, wunderbare Melancholie begleitet Charlotte durch ihre Arie im dritten Akt. Wie man eine Szene intelligent aufbaut und Wagner textverständlich singt, zeigt die abschließende Waltrautenszene. Hans Graf leitet das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart.

Das ertragreiche Jahr 1983 führte auch Edita Gruberová ins Aufnahmestudio von Orfeo. Mit dem Münchner Rundfunkorchester unter Lamberto Gardelli singt sie natürlich eine ihrer Paraderollen, die Zerbinetta, und lässt außer dem Wunsch nach der natürlich fast unmöglichen Textverständlichkeit keinen solchen offen, ist von unnachahmlicher Koloraturgewandtheit und ebensolcher Leichtigkeit der Emission der Stimme. Schön geflutet wird die Stimme bei der Arie der Amina, perfekt ist der canto elegiaco. Wie auf die Slowakin zugeschnitten ist die Bravourarie der Philine aus Thomas‘ früher viel gespielter Mignon.

Ein reines Tschaikowski-Programm nahm Julia Varady auf, neben Tatjana und Lisa kommen auch unbekanntere Damen wie Die Zauberin zu Wort. Die Primadonna von Berlin und München bewies auch 2000, dass sie mit ihrer Stimme einen Charakter vor den Ohren des Hörers erstehen lassen konnte, Mit vielen Schattierungen macht sie die wechselnde Seelenlage Tatjanas in der Briefszene hörbar, und man muss nicht einmal die Sprache verstehen, wenn man den Text nicht ohnehin auswendig kann. Eine frische Njanja ist Daphne Evangelatos. Die Jungfrau der Varady klingt mädchenhafter als die der Bumbry, für die Maria aus Mazeppa hat sie viel Innigkeit in deren Wiegenlied und bezaubert durch ein wunderschönes Decrescendo. Wie Lisa endet auch die Zauberin als Wasserleiche, davor verleiht ihr die Varady seelenvolle Töne, und Lisa harmoniert in ihrer zweiten Arie sehr schön mit den Orchesterfarben. Dem Münchner Rundfunktorchester sind unter Roman Kofman auch rasante Nummern aus Mazeppa vergönnt.

2007 konnte Krassimira Stoyanova ihre Vielseitigkeit beweisen, vor allem aber, dass sie die ideale Verdi-Stimme ihr Eigen nennt. Luisa Miller kann die Unbeschwertheit im ersten Akt eindrucksvoll vermitteln, der unbekanntere Verdi kommt auch mit La Battaglia di Legnano zu Wort.   Die Boccanegra-Amelia überzeugt in ihrer ersten Arie durch schillernde Stimmfarben, eine angenehm weich klingende Tiefe, und sie wetteifert an Farbigkeit mit dem Vorspiel. Zwei Arien aus den einmal höchst populären Opern von Antonio Carlos Gomes zeigen die Weitgespanntheit ihrer Interessen, für beide, sei es aus Fosca oder aus Il Guarany, gehorcht die nie angestrengt klingende Stimme jeder Regung ihrer Heldinnen. Koloraturen von leichter Emission krönen Delias  „C’era una volta un principe“, Antonia aus Hoffmann findet viele Nuancen, um die Figur unverwechselbar zu machen.  Geschmeidig und von weicher Fülle klingt Annas Arie aus Puccinis Erstlingsoper, die dolcezza von Mimi lässt sich erahnen. Friedrich Haider dirigiert das Münchner Rundfunkorchester.

Schon 2005 hatte Adrianne Pieczonka mit dem Münchner Rundfunkorchester unter Ulf Schirmer eine CD mit Werken von  Richard Wagner und Richard Strauss aufgenommen und beginnt mit einer völlig unangestrengt klingenden Hallenarie von schönem Jubelton. Wunderbar innig, mit rundem Piano und aufblühender Stimme erklingt das Gebet der Elisabeth, aus einem feinen Parlando sich zu strahlendem Klang steigernd kann man Sieglindes „Der Männer Sippe“ hören. Elsa schließlich singt eine Traumerzählung von keuschem Klang, sehr lyrisch und klug aufgebaut. Auch in der mezza  voce im zweiten Akt kann di Stimme leuchten und strahlt Zuversicht aus. Den Schluss des Wagner-Blocks bilden die Wesendonk-Lieder. Die Strauss-Ariadne gibt sich nicht als Hochdramatische, die Capriccio-Gräfin bleibt nicht hinter den Farben aus dem Orchestergraben  zurück, ist von silbrigem Glanz, Arabella macht die CD komplett.

Eine reine Verdi-CD spielte Piotr Beczala 2011 und 2012 ein, als einzige der auch in französischer Fassung vorliegenden Opern den Henri mit seiner großen Arie „O jour de peine“, und es ist eine gute Wahl, weil man hier nicht die Glut italienischer Stimmen vermisst. Streckenweise klingt di Stimme wunderbar elegisch, manchmal hört sich der Gesang zu sehr nach Kraftakt an. Trovatore, Don Carlo, Lombardi werden in der  italienischen Fassung geboten, wobei der Oronte zu der damals noch recht lyrischen Stimme am besten passt. Aus dem Trovatore gibt es den zweiten Teil des zweiten Akts, was den Hörer in den Genuss einer der schönsten Mezzostimmen der damaligen Zeit bringt: Ewa Podles. Später tritt mit dem Rodrigo von Mariusz Kwiecien noch ein weiterer polnischer Sänger von Weltruf auf. Manricos „A si“ wird sehr schön phrasiert, in Radames‘ Auftrittslied werden di Intervallsprünge perfekt gemeistert, es gibt am Schluss eine tolle Fermate, aber von Morendo keine Spur. Duca, Alfredo, Macduff und Riccardo passen zur damaligen Stimme am besten, werden stil- und geschmackvoll gesungen, die Cabaletta des Alfredo nach oben, und auch das Ingemisco erfährt eine adäquate Interpretation. In seiner jüngst erschienenen Biographie meinte der Tenor, den Carlos wolle er nicht singen, er finde ihn unsympathisch, nicht zuletzt, weil ein Verlierer seiend. Beschenkt er ihn deswegen am Schluss des Freundschaftsduetts mit einem zusätzlichen hohen Ton? Das Polish Radio Symphony Orchestra unter Lukasz Borowicz begleitet (Legendary Voices, 10 CD, Orfeo 10CD 20021). Ingrid Wanja

 

(Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.)

 

Ein ganz normaler Dirigent

 

Die Erinnerung Ralf Weikerts an sein erstes Zusammentreffen mit einem Agenten ist bezeich­nend für den Dirigenten Ralf Weikert, der sich anhören mußte: „Für Sie kann ich leider nichts machen, Sie sind ja normal.“ Das war im Jahre 1963, als Wie­kerts musikalische Lauf­bahn begann. Heut wird er als einer der vielsei­tigsten, zuverlässig­sten und undivenhaftesten Dirigenten gewürdigt, sowohl in der Oper als auch im Konzertleben.

Seien wir ehrlich: Dirigenten sind oftmals Diktatoren und Rattenfänger, Aristokraten und Polter­geister, Show Maker und Priester, Einzelgänger und Populisten, Kommandeure und Träumer, Zuchtmeister und Chaoten, Pedanten und Anarchisten, Geschäfts­leute und Idealisten, global Players und nicht selten Diven, Primadonnen, Esoteriker und Coverboys der Musikszene.

Ralf Weikert/ Weikert/Discogs

Gemeinsam ist den meisten Dirigenten ein berufsspezifischer Verhaltenskodex, der umso ausgeprägter ist, je teurer der Dirigent im Musikbusiness gehandelt wird. Im Club der Besten, zumindest aber der Teuersten zu rangieren, verlangt die Einhaltung von Spielregeln. Dafür kann man es sich dann leisten, nicht immer „top“ sein zu müssen. Im Club stützt einer den anderen. Alles greift ineinander. Man schiebt sich die Bälle zu. Wer einmal im Club ist, hat es geschafft. Und alle Mitglieder des Clubs sind selbstver­ständlich „Freunde“. Man tut zumindest so. Es dient dem „Big Business“. Eine Hand wäscht die andere. Der Rubel rollt, „Freude, schöner Götterfunken“. Wenn nur das Marketing und die PR-Arbeit stimmen. Der Marktwert gehorcht den Gesetzen der Börse. Zeitgeist redet mit. Massenwirksamkeit ist das Zauberwort. Popularität kann mithilfe der Medien aufgebaut werden. Wer schließlich herumgereicht wird an den ersten Konzertpodien und Opernhäusern der alten wie der neuen Welt, wer im Jet-Set rotiert, das entscheiden Manager und Agenten, Marke­tingchefs und Konzerne. Das Publikum zollt Beifall. Es geht im Karussell des internationalen Musikgeschäfts längst nicht mehr primär um die Musik und die künstlerische Quali­fikation dessen, der sie dirigiert.

Eine Aura von Glanz und Glamour umgibt viele Dirigenten. Vielleicht kein anderer Berufsstand ist derart schillernd und facettenreich. Die Dirigenten mit ihrem ausgeprägten Hang zur Eitelkeit, und zur Selbstdarstellung, aber auch ihrem offen zur Schau gestellten Willen zur Macht sind nicht nur Vermittler zwischen Partitur und Orchester, sondern sie sind die eigentlichen Helden unseres Musik­lebens. Sie sind Wanderer zwischen den Welten, globale Musik­heroen, Götter in schwarz, mit Macht und Nimbus, sind vielbewunderte, bestaunte, kritisierte und hofierte Stars, sind hochbezahlte Aushängeschilder, stilisierte Werbeträger und oft genug nichts als hochglanzpolierte Etiketten einer überwiegend kommerziell orientierten Musikszene, um nicht zu sagen Musikin­dustrie, in der Selbststilisierung und Selbstinszenierung zum Geschäft gehören. Dem korrespondieren die Ihnen oft zugeschriebenen Eigenschaften, wie Unnah­barkeit, Egozentrik, Kapriziertheit, Arroganz und betonte Bohème-haftigkeit.

Hang zum Luxus, Launenhaftigkeit, zur Schau gestellte Autorität und unge­hemmte Künstlerallüren verhindern oft die Wahrnehmung tieferer Wahrheiten hinter verständlicher Abschirmungstaktik. Unter der Oberfläche purer Notwendigkeit der Abgrenzung gegenüber zudringlichen Trabanten und Adoranten verbergen sich nicht selten zarte und sensible Seelen, die hinter schützenden, scheinbar undurchdringlichen Mauern das Gärtlein ihrer utopischen Empfindungen und Erkenntnisse hegen und das Elfenbein ihres Künstlertums vor Ver­witterung durch den Dunst gemeiner Realität und schnöder Alltagsbanalität bewahren. So will es der Mythos vom Maestro und so ist es.

Ganz anders Ralf Weikert: Er ist einer der wenigen Vertreter dieses Berufs­stands, der sich dem Musikbusiness weitgehend verweigert, weil es ihm auf die Musik ankommt, deshalb treffen auf ihn die genannten Etikettierungen nicht, oder sagen wir vorsichtshalber kaum zu. Etwas Eitelkeit sei ihm als Dirigenten zugestanden, denn ganz ohne Eitelkeit geht es nicht in diesem Beruf. Aber es gibt Eitelkeit in der Sache, die Musik oder aber die eigene Person betreffend, nur auf die Karriere bedacht. Zur letzteren zählt Weikert nicht.

Sagen wir es deutlich: Nicht immer sind die sogenannten „berühmten“ Diri­genten die besten. Chefpositionen, Schallplattenverträge und glänzende Auftritts­möglichkeiten besagen gar nichts. Im Rampenlicht zu stehen oder auf Schallplattenhüllen zu glänzen, sagt im Zweifelsfall mehr über kaufmännische als über künst­lerische Qualitäten aus. Bei nicht wenigen der international renommierten Maestri beruht das Geheimnis ihres Erfolges auf ausgeprägtem, wo nicht schamlosem Geschäftssinn und knallhartem, populistischem Kalkül. Bei manchen der von Agenturen oder Plattenfirmen aufgebauten Karrieren sind interpretatorische Phantasie, musikalische Intelligenz, gestalterischer Einfalls­reichtum, Repertoire-Kenntnisse sowie künstlerische Animiertheit seltene Tugenden.

Ralf Weikert ist ein Gegenbeispiel: Er hat sein Metier von der Pike auf gelernt, wie man in seiner sym­pathisch beschei­denen Autobiographie erfährt. Geboren wurde er am 10. November 1940 in St. Florian, in der dortigen „Führer­siedlung.“ Als Kind sah er noch den „Toni“, wie Anton Bruckner volkstümlich genannt wurde, unterm damals noch gläsernen Deckel des Sarkophags in der Krypta unter der Orgel des Chorherrenstifts, wie er schreibt. Bruckners Werk sollte einmal zu einem Schwerpunkt seines dirigentischen Repertoires werden. Zu seinem musikalischen Schüsselerlebnis wurde eine Aufführung von Bruck­ners „Te Deum“ mit den Wiener Philharmonikern unter Eugen Jochum. Eigentlich sollte Ralf Weikert einen „Brotberuf“ erlernen, schrieb sich daher für Elektrotechnik an der Höheren Technische Lehranstalt in Linz ein, doch daneben war „das Linzer Bruckner-Konservatorium der Mittelpunkt“ seines damaligen Lebens. Am Linzer Landestheater durfte er Bühnenmusiken dirigieren, in einem Filmclub Filmmusik komponieren. Als Statist am Landestheater lernte er Heidi, seine spätere Frau kennen, mit der er noch heute zusammenlebt. Er heuerte beim Österreichischen Rundfunk als Hilfstechniker an.1960 begann er sein Studium bei Hans Swarowsky in Wien, einer Legende unter den Dirigenten-Machern. Weikert weiß nur das Beste über Swarowski zu berichten. Als Barpianist erspielte er sich das Geld für das Studentenzimmer. Vor allem aber, so betont er, „Das Erleben großer Dirigenten wie von Karajan, Böhm, Prêtre, Sawallisch, Maazel und Monteux oder allererster Sänger und Instrumentalisten, prägte uns Studenten für unser ganzes weiteres Leben.“ 1963 beendete er sein Studium mit besonderer Auszeichnung. Dann machte er die klassische „Kapellmeister-Ochsentour“, er begann als Korrepetitor am Salzburger Landestheater. Dort durfte er auch Schauspielmusiken komponieren.

1965 gewann er einen Dirigierwettbewerb in Kopenhagen mit dem ersten Preis, was ihm in Salzburg Türen als Dirigent öffnete. Seine erste eigene Premiere war Offenbachs „Schöne Helena“. Der „Papst aller Opernagenten“, Robert Schulz vermittelte ihm dann den Posten eines 1. Kapellmeisters in Bonn. Nach mehre­ren Probedirigaten wurde er im Alter von 25 Jahren am Theater der Bundes­haupts­tadt engagiert. Elf Jahre blieb er dort und erarbeitete sich ein enormes Repertoire, von Mozart über Donizetti, Puccini, Wagner und Strauss, das französische Repertoire, Prokofiev und Strawinsky bis hin zu Hans Werner Henze.  Als GMD Hans Zender nach seinen ersten beiden Jahren das Haus verließ, wurde Weikert 1968 stolzer Chefdirigent. Er war 27 und „der jüngste Chef eines deutschen Opernhauses“.  Weikert schreibt Ehrenvolles über den Ausstattungsleiter O.W. Mayer, über die Primadonna Mechtild Gessendorf und den Regisseur Adolf Rott, aber auch Unehrenvolles über Gottfried Wagner der in Bonn einen absolut unspektakulären „Lohengrin“ inszenierte und eher dadurch auffiel, dass er Bücher gegen die eigene Familie schrieb, obwohl ihm dank seines Urahns doch überall in der Welt roten Teppich ausrollte werden. 1977 wechselte Weikert an die Oper Frankfurt, die unter dem Diri­genten-Intendanten Michael Gielen eine Blütezeit erlebte. Weikert würdigt Gielen als „hilfreichen Intendanten, zumal „zeitgemäßes Regietheater“ nicht seine Sache war und Hans Neuenfels, dessen Frankfurter „Aida“ für heftige Kontroversen sorgte, „laut grölend und oft alkoholisiert“, für ihn der unsym­pathische Inbegriff jener ungeliebten Theaterästhetik war.

Das „Unter­hosen-Theater“ des Regietheaters im 21. Jahrhundert war Weikerts Sache nie. Über Regisseure wie über Kritiker schreibt er in seinem Buch so Manches. 1981 wurde Weikert Chefdirigent des Mozarteum-Orchesters und des Landestheaters Salzburg, seit je seine Wahlheimat, in der er noch heute seinen Wohnsitz hat. Dem Regisseur Frederik Mirdita und dessen Kontakt zum „Allgewaltigen“ zu Herbert von Karajan, habe er diese Berufung zu verdanken, so bekennt Weikert freimütig.  1984 rief ihn die „Schweiz, das gebührenpflichtige Paradies“, aber er stellt klar, dass Salzburg keineswegs nur „Steigbügel für Zürich“ gewesen sei, wie ihm damals von Vielen vorgeworfen wurde. Intendant Helmut Drese holte ihn als  GMD nach Zürich und man erfährt Näheres über den singulären Bühnenbildner und Regisseur Jean-Pierre Ponnelle und seinen Monteverdi- wie Mozartzyklus und Sänger wie Matti Salminen, Edita Gruberova (mit der er den „Barbiere“ Rosinis auf CD aufnahm) Lucia Popp, Agnes Baltsa, Francisco Araiza und viele andere damalige Stars, aber auch über Dirigenten wie Fer­dinand Leitner, über den damals aufsteigenden Dirigenten Nikolaus Harnon­court (der eigentlich aus der Alten Musik kam)  und den kauzig-knorzigen Nello Santi. Auch den als konservativ verschrienen Regisseur August Everding würdigt er: „Die Zusammenarbeit mit diesem Altmeister unter den Regisseuren war eine der harmonischsten meiner ganzen Zürcher Jahre,“ auch wenn er „niemals bereit war, etwas selbst zu bezahlen und überall als Nassauer verschrien war.“ 1987 bot ihm die New Yorker Met einen Gastvertrag an, den er mit Freuden annahm, zumal die Chemie mit dem Nachfolger Dreses, Alexander Pereira, „nicht wirklich stimmte“. Dessen unbestreitbares Verdienst sei es gewesen, „Sponsorengelder aufzutreiben. Und die Welt weiß, dass daran Pereira, der große Sängernamen liebte, kräftig mit verdiente. „Im Haus hieß es, wir würden langsam zur Casa di riposo“, einem Altersheim für Sänger, die ihren Zenit überschritten hatten.“ Es war Zeit, Zürich zu verlassen, Weikert blieb dennoch bis 2013 Gastdirigent mit zehn bis 15 Dirigaten pro Spielzeit. 1992 verließ Weikert die ihm zunehmend entfremdete Stadt an der Limmat, in der es nur noch ums Geld zu gehen schien.

Reisen als Gastdirigent wurde seine Lebensform. Vor allem in seinem „Lieblingsland Italien“ ist er gern gesehen, ob in Triest, Venedig, Bologna, Mailand, Turin oder Bari. Beim Maggio musicale in Florenz, bei den Puccini-Produktionen des Festivals in Torre del Lago, in Palermo und in Catania feierte er große Erfolge. Aber auch in Neapel, im „wahrscheinlich schönsten Opernhaus der Welt“.

Gastspiele führten ihn in Deutschland an die Deutsche Oper Berlin, an die Bayerische Staatsoper, nach Hamburg, Stuttgart, Köln und Dresden, um nur einige zu nennen. Bei den Bregenzer Festspielen trat er auf und in Aix-en-Provence, aber auch in Bordeaux, Paris, Lyon, Lille und Toulouse war er gefragt. Seit 1982 dirigierte er auf Einladung Vaclav Neumanns auch Konzerte der Tschechischen Philharmonie. Seit 1982 dirigierte er am Gran Teatro del Liceo in Barcelona, wo er die von ihm verehrte Montserrat Caballé kennenlernte (mit der er eine gefeierte CD-Produktion des Rossinischen „Tancredi“ einspielte), Auch in Barcelona dirigierte er und in Madrid. Seine Gastspiele in den USA, im „häss­lichen Los Angeles“, an der Met und in San Francisco erwähnt er vorwie­gend der sängerischen Extraklasse wegen, mit der er zusammenarbeitete. Auch den Regisseur Otto Schenk, Altmeister der gediegenen Konvention, hebt er hervor. Ein besonderes Kapitel seiner Karriere bildete die Wiener Staatsoper, wo er zwischen 1974 bis 2004 immerhin 115 Mal dirigierte. Man liest Detailliertes über seine Gastspiele in Helsinki, Stockholm, und Kopenhagen, Athen, Amster­dam und Südamerika. Kurioses, Befremdliches, ja Erheiterndes schreibt er über seine (wohl pekuniär nicht ganz uninteressanten) Asiengastspiele in China, Japan (er hat es 15 Mal bereist) und Südkorea.  Die Pünktlichkeit, Sauberkeit und Ordnung der Japaner, auch ihre musikalische Präzision sei lobenswert, das Essen mit Stäbchen sei allerdings speziell, man erlerne es „schnell oder gar nicht“. Von Karl Böhm überliefert er den Satz „Mit einem Staberl kann ich mir mein Leben verdienen, mit zweien müsst ich verhungern“. Es ist eine der vielen Anekdoten des Buches. Weikerts Erfahrungen in China lesen sich fast alptraum­haft, sowohl was das Organisatorische, die Tischsitten und das ständige Aus­spucken auf der Straße als auch die Zusammenarbeit mit den Musikern angeht.

Fazit der Lebensbeschreibung dieses verträumten Jungen aus Linz hin zum kosmopolitischen Dirigenten: „Den schönsten Beruf, den des Dirigenten, ausüben zu dürfen, ein Leben lang mit der Musik zu verbringen, ist wahrlich mehr, als man jemals erhoffen durfte.“  

Eine wichtige, wenn auch nicht die wichtigste Tätigkeit seines Lebers war das Lehren, an der Zürcher Musikhochschule, bei Sommerkursen in Vieste, an der Wiener Musikuniversität und in Luzern, Die Bilanz seiner Lehrtätigkeit zog er 2018 in seinem Buch „Beruf Dirigent“

Es ist ein Vademecum für Studenten und angehende Dirigenten. Grundsätzliches wie Spezielles über Tempo und Form, Takt und Schlagtechnik, Dynamik und Partituranalyse, Umgang mit Räumen, aber auch über Voraussetzungen und Bedingungen, Traditionen und Unwägbarkeiten des Berufs werden konkret dargestellt. Wagner, Strauss und Mozart wird besondere Aufmerksamkeit zuteil. „Dirigieren ist immer Interpretieren“ lautet eine der Kernaussagen des Maestros, aber „ohne genaues Wissen“ nicht möglich“. Partitur-, Stil- und Instrumenten­kunde seien Voraussetzung jedes Dirigats. Selbstverständlich ist auch die Kennt­nis von Sängerstimmen und Gesangstechnik Voraussetzung.  „Ein Diri­gent muss stets auf drei Ebenen handeln: Er muss vor dem Erklingen genau wissen, was kommen soll, er muss während es Klingens unmittelbar agieren und er muss reagieren auf das, was soeben erklungen ist.“ Ein Kunststück! Aber über das, was man zur Vollbringung desselben lernen kann, erfährt man Einiges in diesem Buch, Praktisches wie Gelehrtes. Vor allem aber lehrt Ralf Weikert, der leidenschaftliche Musiker, Demut, die beileibe nicht allen heutigen Dirigen­ten eigen ist: „Musik bedarf der Wiedergabe, was uns nicht dazu verleiten darf, uns als ihr Schöpfer zu fühlen. Es ist und bleibt unsere Verpflichtung, aus­schließ­lich im Geiste des Schöpfers als sein Diener an seinem Werk zu wirken“ (Ralf Weikert: Der Strom der Töne zog mich fort…; Schweizer Literaturgesellschaft 2020, 188 Seiten, ISBN: 9783038831242 / Ralf Weikert: Beruf Dirigent; Böhlau Verlag 2017, 189 Seiten, ISBN: 3205205308). Dieter David Scholz