A Virgil Thomson Portable

 

Virgil Thomson, 1896 in Kansas City geboren, 1989 in hohem Alter in New York gestorben, war einer der einflussreichsten amerikanischen Komponisten des 20. Jahrhunderts, außerdem Musikschriftsteller und Kritiker. Nach dem Studium an der Harvard University prägte ihn ein Aufenthalt in Paris von 1925 bis 1940. Hier studierte er nicht nur bei der berühmten Kompositionslehrerin Nadja Boulanger, sondern kam in engen Kontakt mit der „Group de Six“ (vor allem Georges Auric, Darius Milhaud, Francis Poulenc, Arthur Honegger) und befreundete sich mit dem unkonventionell-eigenwilligen Werk von Eric Satie. Auch andere Kunstgattungen hatten ihre Wirkung auf den jungen Komponisten. So lernte er in Paris den amerikanischen Maler Maurice Grosser (1903-1986) kennen, der dann sein Lebenspartner wurde. In einem Salon traf Thomson führende Künstler der Zeit. Eine wichtige Mentorin und künstlerische Partnerin wurde die Schriftstellerin Gertrude Stein (1874-1946). Wichtige Ergebnisse der Zusammenarbeit der beiden waren die Musiktheaterwerke Four Saints in Three Acts und The Mother of Us All. Mitte der 1930er-Jahre wandte sich Thomson der Komposition für den Film zu. Für seine Musik für Robert Flahertys Dokumentarfilm Louisiana Story (1948) erhielt er 1949 den Pulitzerpreis für Musik. Thomson war außerdem ein wichtiger Autor zu musikalischen Themen. 1940 veröffentlicht er das einflussreiche Buch The State of Music und in der Folgezeit u. a. The Musical Scene (1945), The Art of Judging Music (1948), Music, Right or Left (1951) oder Music with Words: A Composer’s View (1989).

Virgil Thomson/ Library of America

Virgil Thomson hat praktisch für alle Gattungen der Musik komponiert. Immer aber spielte Kammermusik in den verschiedensten Besetzungen eine große Rolle in seinem Oeuvre. Das belegt die vorliegende Box (Virgil Thomson: Poirtraits, Self Portraits and Songs; 2 CD Everbest)  deutlich. Treibende Kraft und spiritus rector bei diesen 1990 und 1994 zuerst erschienenen und nun wiederveröffentlichten Aufnahmen war Anthony Tommasini, Pianist und seit 2000 Hauptmusikkritiker der New York Times. Tommasini, der den Komponisten in dessen letzten zehn Lebensjahren persönlich kannte und das exzellente, sehr gehaltvolle Booklet für diese Veröffentlichung verfasste, verfügt über eine einzigartige Vertrautheit mit Thomsons Oeuvre. Er schrieb auch die Biographie Virgil Thomson: Composer on the Aisle sowie Virgil Thomson’s Musical Portraits.

CD 1: Portraits and Self-Portraits: Über 70 Jahre hinweg schrieb Thomson um die 150 kleinere Stücke, in denen er Personen aus dem Bekannten- und Freundeskreis und sich selbst portraitierte. Die Arbeitsweise übernahm er von seinen Malerfreunden: Er skizzierte die Stücke in Anwesenheit der zu Portraitierenden – die er liebevoll seine „sitters“ (Sitzenden) nannte –, allerdings wurde bei der Arbeit nicht gesprochen. Um Spontaneität und Fantasie freien Lauf zu lassen, waren die Sitzungen auf maximal 90 Minuten angelegt. Die kurzen Werke zeigen eine große Vielfalt in Besetzung, Farbe, Charakter. Anthony Tommasini (Klavier) versammelte vorzügliche Instrumen–talisten um sich: Sharan Leventhal (Violine), Fenwick Smith (Flöte), Frederic Cohen (Oboe), Ronald Haroutunian (Fagott), Jonathan Miller (Violoncello). Solistisch, im Duo und im Trio vermitteln sie den Reiz dieser Miniaturen sehr eindrücklich. Die Seven Selected Portraits verraten den Einfluss von Satie, die Three Portraits, vom Geiger Samuel Dushkin für Geige und Klavier arrangiert, sind virtuos, tänzerisch, witzig und erinnern an Strawinsky – wohl nicht zufällig, verfasste er doch für Dushkin sein Violinkonzert. Die Six Selected Portraits für Soloklavier haben neoklassizistische, aber auch leicht impressionistische Züge. Jedenfalls schimmert das Französische durch. Die Nr. 6, eine „Akkordstudie“ ist „Tony Tommasini“ gewidmet. Sehr eindrucksvoll, mit weit schwingendem, schwebendem Ton und ganz im Sinne der Bezeichnung „Rapsodico“ spielt Fenwick Smith den ersten, unbegleiteten Satz des Konzerts für Flöte, Streicher, Harfe und Schlagwerk (Uraufführung 1954)

CD 2 : Mostly About Love: Songs and Vocal WorksMostly About Love ist eine Art Querschnitt durch das Vokalwerk des Amerikaners, durchaus repräsentativ, weil Werke aus frühen und späteren Schaffensphasen vorgestellt werden. Thomson verfasste um die 100 Vokalwerke: Lieder, Gesangsduette und –quartette u. a. m. Sie zeigen sein großes Interesse für die Literatur und die starke Verbundenheit mit französischen Autoren. Den Beginn macht Susie Assado (1926) auf einen Text von Gertrude Stein: knapp, lakonisch, wenn nicht minimalistisch – mit einem Sujet und Text zwischen Dada und Nonsense (im besten Sinne). Titelfigur ist eine charmante Gastgeberin die „süssen, süssen, süssen, süssen, süssen [sic!] Tee“ serviert. 1927 entstand, wieder auf einen Text Gertrude Steins Capital Capitals – ein Werk, das „die Provence, ihre Landschaft, ihr Essen und ihre Menschen evoziert, als ein Gespräch zwischen den Städten Aix, Arles, Avignon und Les Baux, hier Capitals One, Two, Three und Four genannt. Es spiegelt auch die Verbundenheit der Dichterin mit dieser sonnigen Region wider, die sie zum ersten Mal als Sanitäterin im Ersten Weltkrieg kennengelernt hatte“. So Virgil Thomson über die Komposition für vier Sänger und Klavier, die nur schwer in eine Gattungs-Schublade passen will: weniger Unterhaltung oder Assoziationen über das Thema „Kapitale“ denn ein „verbales Gefecht mit Stein’schen Statistiken und demographischen Feldstudien als Waffen“ (A. Tommasini). Sehr deklamatorisch, aber auch musikalisch als Sprechgesang mit Klavierpartner, ist es ein Werk, das man – zumal, wenn es so inspiriert und pointiert wie hier vorgetragen wird – auch ganz abstrakt und frei verstehen kann. Pigeons on the Grass Alas schließlich, Rezitativ mit Arie aus der Oper Four Saints von 1935 ist ein weiteres Ergebnis der Zusammenarbeit mit Stein.

Thomson trifft in seinen Vokalkompositionen Inhalt, Ton, Stimmung und Geist der literarischen Vorlagen, seine „Vertonungen“ verstärken oft die Wirkung der Literatur – und verhelfen auch wenig oder unbekannten Werken zur Geltung. Da gibt es Kompositionen mit religiösen Inhalten oder von der Bibel inspiriert wie Praises and Prayers, den 1963 entstandenen Zyklus auf Texte u. a. Franz von Assisis und des Kirchenvaters Augustinus sowie die reizvollen Five Phrases from the Song of Solomon (1926), kurze erotische Gedichte aus dem Hohelied Salomons, ungewöhnlich für Sopran und Schlagzeug besetzt, zum Teil in exotischem Tonfall. Zu den religiös inspirierten Kompositionen zählt auch die zwölfminütige Kantate Oraison Funebre für Solostimme und Klavier von 1930. Vorlage ist ein Trauergebet von Jacques Bossuet (1627-1704), einem in Frankreich berühmten Kanzelredner, Verfasser von Gebeten und Predigten, der auch politisch aktiv war und es sogar zum Bischof brachte. Thomsons Trauer gilt freilich nicht der Königin Henriette-Marie von Frankreich wie bei Bossuet, sondern einem früh zu Tode gekommenen Freund, dem französischen Maler Emmanuel FaŸ.

Virgil Thomson und Gertrude Stein/ virgil-thomson.org

1928 schrieb Thomson den Commentaire sur Saint Jérome auf einen Text des Marquis de Sade, später komponierte er viele Shakespeare Songs und 1959 den Liederzyklus Mostly about Love. Die Gedichte von Kenneth Koch und Thomsons Musik skizzieren verschiedene Aspekte oder Facetten der Liebe: Liebes-Erklärung, Liebes-Erörterung, Einladung zur Liebe. Und in einem Gebet an die heilige Katharina bittet ein Liebender darum, seinen Herzschmerz und seine Schüchternheit zu überwinden, um die Liebe schließlich gelingen zu lassen.

Die vorzügliche Produktion mit Interpreten, die alle auf dem gleichen, hohen Niveau musizieren, ist eine willkommene Wiederver­öffentlichung. Sie hat nichts an Wert oder Bedeutung verloren und eignet sich sehr als Einführung in das Werk dieses ebenso interessanten wie originellen Komponisten, den es in Deutschland noch zu entdecken gilt. Helge Grünewald

 

Informationen: https://www.virgilthomson.org/;    https://en.wikipedia.org/wiki/Virgil_Thomson;    David Dubal spricht mit Virgil Thomson;   https://www.youtube.com/watch?v=-wWLMGTOmRQ  ; https://www.youtube.com/watch?v=O4oMG592NiI;   Interview mit V. Thomson, Cuny TV;   https://www.youtube.com/watch?v=ID0h3zC8M6E