In einer Kölner Taverne räsonieren Mephisto und Faust über das Menschsein: „Wir alle stellen etwas dar, ich einen Zauberer, ihr einen Gelehrten. Jeder Mensch ist, wenn man Moses glaubt, lediglich ein Abbild Gottes“, so Mephisto, worauf Faust ausführt, „Der Mensch ist geschaffen nach dem Ebenbild des Schöpfers selber, und deshalb sind ihm Eigenschaften, die weder Engel noch Dämonen verstehen.“ Vielgesichtigkeit der Renata, dazu die Mischung aus realistischen Handlungssträngen, Alpträumen, Halluzinationen, sexuellen Anspielungen und das was man neudeutsch als cultural clashes bezeichnen würde faszinierte auch Emma Dante an Sergej Prokofjews Der feurige Engel. Im Mai 2019 inszenierte Italiens Maestra rätselhafter Tanz-Theaters die Oper am Teatro dell’ Opera di Roma (DVD Naxos 2.110663), wo 53 Jahre zuvor Virginio Puecher den Engel herausgebracht hatte.
Das Köln des frühen 16. Jahrhunderts findet Dante (Bühnenbild: Carmine Maringola) in den Katakomben ihrer Geburtsstadt Palermo. Der aus Amerika in das Köln des Jahres 1534 zurückehrende Ritter Ruprecht taucht in der Krypta unter Palermos berühmter Kapuzinergruft auf und trifft auf die in einem der Gräber neben den in Wandnischen gelagerten Mumien aufrecht mit Schlafhäubchen und blassrosa Kostüm ruhende Renata, die ihn von sich stößt und von ihren Erscheinungen erzählt. Als Kind war ihr ein feuriger Engel namens Madiel erschienen, der verschwand, nachdem die Jugendliche körperliche Liebe von ihm erwartete. Wenn der Knecht und die Wirtin Renata als Dirne und Verderberin beschimpfen, dringt der Geist der rustikalen Stegreifkomödie in die Gruft. Vergänglichkeit in Form der als Memento mori mahnenden Gruft und derb ländliche Lebenslust stehen in Dantes Inszenierung selbstverständlich nebeneinander. Selten grell ausgeleuchtet, wie in tänzerischen Aktionen ihrer 15köpfigen Tänzer-Equipe, doch in den erdenen Farben (Kostüme Vanessa Sannino) als selbstverständliche süditalienisch-sizilianische Verschlingung von Mystizismus, Realität und Aberglaube, Wirklichem und jenseitig Phantastischem, Engel und Dämonen.
Vor diesem Hintergrund gewinnen die Geschichte einer von sexuellen Visionen gepeinigten Frau, die Prokofjew zwischen 1919 und 1927 in seiner zweiten Oper komponierte, eine bezwingende Überzeugungskraft. Großartig die mit Büchern und wissenschaftlichen Instrumenten vollgestellte Studierstube im zweiten Akt, die die Atmosphäre der Bibliothek im oberbayerischen Kloster Ettal aufnimmt, wo Anfang der 1920er Jahre weite Teile der Partitur entstanden. Vorlage bildete der gleichnamige, 1907 veröffentlichte teilweise autobiografische Roman des russischen Symbolisten Valerij Brjussov. Der feurige Engel wurde zu Prokofjews Lebzeiten nicht aufgeführt. Erst in Jahr nach seinem Tod erfolgte 1954 in Paris die konzertante und 1955 in Venedig die von Giorgio Strehler betreute szenische Uraufführung. In Russland, wo man die ersten Aufführungen nach Sibirien und Usbekistan verbannt hatte, leite erst 1991 die von Valery Gergiev betreute und in Koproduktion mit Covent Garden entstanden Inszenierung David Freemans am Mariinsky-Theater – Emma Dantes quasi nackte Tanzggeister und Krüppel scheinen fast wie ein Zitat der lauernden Dämonen, die Freemans Konzept bestimmten – eine Kehrtwende in Russland ein. An Renata arbeiteten sich in den letzten Jahre Kosky in Berlin und München, Bieito in Zürich, Treliński in Aix und Warschau ab; Andrea Breth hatte den Feurigen Engel bereits im Vorjahr für das Theater an der Wien vorbereitet.
Renata, in stets neuer Verwandlung, darunter mit einem 18. Jahrhundert-Militärrock wie ihn auch Ruprecht trägt oder einem Hauskleid aus der Zeit, und der sie leidenschaftlich liebende Ruprecht begeben sich auf die Suche nach dem Engel (verkörpert von dem Darsteller Alis Bianca) und unternehmen in diesem Stationendrama eine Reise durch Emma Dantes Italien und finden sich stets vor und zwischen Klostermauern ein, die oftmals nicht gar so Pappkulissenhaft wirken müssten. Dantes Truppe ist für die Halluzinationen der Renata und das stumme Spiel zwischen den Akten zuständig, doch selbst die Orgie im Kloster und die Teufelsaustreibung, bei der Faust und Mephisto aus der Proszeniumsloge zuschauen, wirken gezügelt, werden überstrahlt vom Strahlenkranz der Madonna, der Renata am Ende umgelegt wird, während der Inquisitor ihre Verbrennung befiehlt. Mit der gleichen Selbstverständlichkeit wie Dantes Inszenierung fließ, singt die mit einem sehr schönen Sopran aufwartende Polin Ewa Vesin die Renata, die weniger als Studie über Hysterie à la Salome und Elektra klingt, sondern lyrisch ebenmäßig projiziert und feinnuanciert ist; quasi mit Italianità – gesungen wird natürlich russisch – doch kraftvoll und durchhaltestark. Ruprecht ist keine dankbare Partie. Leigh Melrose gelingt es, sie attraktiv zu gestalten und in Übereinstimmung mit der fast kammermusikalisch dichten Interpretation von Alejo Perez mit nicht übermäßig großem, etwas einfarbigem Bariton fast ebenso attraktiv zu singen. Das größtenteils russisches Ensemble besitzt hohes vokales Potenzial: Mairam Sokolova als Wahrsagerin und Äbtissin, Sergey Radchenko als Agrippina, Andri Ganchuk als Faust, Maxim Paster mit seinem durchdringend hohen Tenor als Mephisto und Goran Juric als imposanter Inquisitor. Unter Alejo Perez klingt Der feurige Engel weniger wild und expressiv aufgepeitscht als – der dunkel magischen Klosteratmosphäre entsprechend, etwa in den geheimnisvollen Gesängen hinter der Bühne – italienisch mystisch eingedunkelt und präzise ausziseliert. Rolf Fath