Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Giuseppe Giacomini

 

Der italienische Tenor Giuseppe Giacomini (7. September 1940 in Veggiano – 28. Juli 2021 in Agordo) ist gestorben. Er galt als der beste Otello-Darsteller des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Er sang für die königliche Familie in London und für Michail Gorbatschow in Moskau. 1992 wurde er, aufgrund seiner Verdienste an der Wiener Staatsoper, zum österreichischen Kammersänger ernannt.
Giacomini studierte bei Vladimiro Badiali, Elena Ceriati und Marcello del Monaco. Er war in Gesangswettbewerben erfolgreich und debütierte 1966 in Vercelli in Puccinis Madama Butterfly. Innerhalb kürzester Zeit trat er in ganz Italien auf, 1970 debütierte er in Berlin und es folgten Auslandsverpflichtungen in Lissabon, Barcelona und München. In Italien gastierte er an allen bedeutenden Opernhäusern, darunter La Scala in Mailand, die Oper in Roma und das Teatro Regio in Turin.

1976 debütierte er an der Metropolitan Opera von New York und im Palais Garnier in Paris, wo er in den Folgejahren in Verdis Macbeth und dessen Don Carlo reüssierte, als Canio in Pagliacci und als Cavaradossi in Tosca. 1977 debütierte er als Johnson in Puccinis La fanciulla del West an der Wiener Staatsoper und blieb diesem Haus bis ins Jahr 2000 verbunden. Er sang in Wien elf Rollen, alle aus seinem italienischen Kernrepertoire, darunter dreimal den Pollione in Bellinis Norma, elfmal die Titelpartie in Andrea Chénier und jeweils 13-mal den Canio und den Radames in Aida. 1992 wurde ihm im Haus am Ring der Titel Kammersänger verliehen.

1980 sang er erstmalig am Royal Opera House Covent Garden in London, er sollte in den 1990er Jahren regelmäßig dort auftreten. Über 20 Jahre lang war er in der Arena von Verona verpflichtet.

Im Laufe seiner Karriere trat Giacomini in den größten Opernhäusern der Welt auf. Er wird von Opernkennern wie Alan Blyth – neben Ramón Vinay (in den 1940er Jahren) und Mario Del Monaco (in den 1950er und 1960er Jahren) – als bester Sängerdarsteller des Verdi’schen Otello angesehen. Den Radames übernahm er in einer historischen Produktion in Kairo. 1988 sang er anlässlich der Eröffnung der Olympischen Spiele in Seoul den Kalaf in Puccinis Turandot. Seinen 60. Geburtstag feierte er als Cavaradossi in London. 2010 tourte er mit dem Shanghai Philharmonic Orchestra unter der Leitung von Muhai Tang durch China.

Aufnahmen: Es gibt einige Live-Mitschnitte von Opernaufführungen sowie Studioproduktionen – Norma mit Renata Scotto (1979), Manon Lescaut mit Raina Kabaivanska (1984), La forza del destino mit Leontyne Price (1984 aus der Metropolitan Opera), Cavalleria rusticana mit Jessye Norman (1990), Il tabarro mit Mirella Freni (1991), Tosca mit Carol Vaness (1993) und Otello mit Margaret Price (1997). (Quelle Wikipedia/ Foto oben: Giuseppe Giacomini als Puccinis Rodolfo/ Historical Tenors)

Heldin mit schlankem Pathos

 

Ein „Ersatzwunder“ sei diese CD-Aufnahme, heißt es im Begleittext zu der Pentatone-Aufnahme des Fidelio (2 CD PTC 5186 880). Nach der Corona bedingten Absage des Livekonzertes im Frühjahr 2020 mit der Dresdner Philharmonie fanden sich Marek Janowski und alle Mitwirkenden schließlich doch noch zwei Monate später in Dresden ein, um die Oper bei Wahrung der Abstandregelungen unter Studiobedingungen aufzunehmen; die später hinzugefügten Chorpassagen sind bei Studioaufnahmen keine Ausnahme. Unter zeitgeschichtlich aufgewühlten Voraussetzungen, aber dennoch in einer Ausnahmesituation, fand im November 1989 eine andere Dresdner Fidelio-Einspielung statt, als Bernard Haitink die Staatskapelle für das damalige Philips-Label dirigierte. Für die Ouvertüre benötigt der durchgehend flott dirigierende und auf ein hurtiges Vorandrängen achtende Janowski, der für Pentatone bereits den Freischütz, Hänsel und Gretel, Cavalleria rusticana und die Missa Solemnis aufgenommen hat, fast die identische Zeit wie Haitink. Während Haitink dem Drama Tiefe und Dringlichkeit verleiht, scheint Janowski bei allem Schwung und Energie, teilweise auch theatralischer Brisanz, mit den sauber artikulierenden Dresdner Philharmonikern doch nicht einen ähnlich packenden Gesamteindruck zu erreichen. Erst in der Kerkerszene fallen Studiosteifheit und Distanziertheit ab. Insbesondere die anfänglichen Singspielszenen huschen fast ein wenig gehetzt vorüber, wobei sich Christina Landshammer als Marzelline und Cornel Frey als Jaquino mit ihrem kecken Gezänk souverän behaupten. Von dieser Lustspielschablone löst sich Georg Zeppenfelds gar nicht biedersinniger, fast nobler Rocco. Die Sprechtexte, von Katharina Wagner (und Daniel Weber) behutsam gekürzt, wirken allerdings der Raumwirkung nicht richtig integriert, wie Leonores gewispertes „Ich habe Mut und Stärke“, das nicht auf Lise Davidsens großartige Leistung vorausweist, auch ihr Sprechtext im Anschluss an „Abscheulicher! Wo eilst du hin?“ gerät mehr als verhalten. Davidsen singt mit schlankem Pathos, mit Leidenschaft und Gefühl, man merkt, dass ihr die Partie, die sie kurz zuvor in London gesungen hatte, gut liegt, die Mittellage ist reich und ausdrucksvoll, die Höhe leicht und dennoch rund, die verhaltenen Passagen besitzen Gewicht und Intensität und die Koloraturen sind sicher. Sie hätte einen ebenbürtigen Partner verdient, was im Duett spürbar wird, wo dieser neben Davidsens Jubeltönen kaum eine Chance hat, wenngleich Christian Elsner, immerhin rund zwanzig Jahre älter als seine Leonore, mit mittlerweile spröder Stimme den Florestan mehr als achtbar und mit lyrischer Emphase singt. Ein bezwingendes, mit dieser Wucht nicht erwartetes Charakterporträt kreiert Johannes Martin Kränzle als Pizarro; als einzigem gelingt es ihm, den Sprechtext als Vorbereitung zu seiner Arie („Ha! Ha! Ha! Welch ein Augenblick!“ mit dem MDR-Rundfunkchor, während die weiteren Chorpassagen vom Sächsischen Staatsopernchor Dresden gesungen werden) quasi zwischen den Zähnen hervorzupressen und ohne vokale Übertreibungen und mit immer noch erstaunlich standfestem Bariton eine Szene zu dominieren. Luxuriös, wie es einer Studioaufnahme ansteht, die Besetzung des Don Fernando mit Günther Gröissböck. Es bleibt Davidsens Fidelio.  Rolf Fath

 

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Frühlingsweihe

 

Die Aufführung an der Opéra de Paris habe ich als eine ganz wunderbare in Erinnerung. Toll, dass es sie jetzt auf DVD gibt (BelAir BAC186), zeigt sie doch auch, zu was solch ein „wohlausgestattetes Haus“ in szenischer wie musikalischer Hinsicht in der Lage ist. Zudem ist Rimsky-Korsakows 1882 am Mariinsky-Theater uraufgeführte Snegurotschka oder Schneeflöckchen, zu dem er sich durch Ostrowskis gleichnamiges Märchendrama von 1873 inspirieren ließ, nicht gut auf Tonträgern vertreten. Und die Inszenierung des ausgewiesenen Rimsky-Korsakow-Regisseurs Dmitri Tcherniakov – nach der Zarenbraut und der Legende von der unsichtbaren Stadt Kitesch – ist ein weiteres Plus und ist Garant dafür, dass trotz beträchtlicher Aufführungsdauer (2 DVDs) niemals Langeweile aufkommt. Schneeflöckchen ist die Tochter von der Frühlingsfee und Vater Frost. Und wie der Schnee in der Sonne schmilzt, hat der Sonnengott Jarilo Snegurotschka zum Tode verurteilt, sobald sie sich in einen irdischen Menschen verliebt. Dies geschieht so unausweichlich, wie der Sommer auf den Frühling folgt und endet mit einem gewaltigen und großen Hymnus auf die Sonne. Doch davor hat Rimsky-Korsakow eine große Frühlingsfeier gerückt und eine personalreiche, märchenhaft verschlungene Handlung im „Land der Berendäer in prähistorischer Zeit“ um den Hirten Lel, den Kaufmann Mizguir, die junge Braut Kupava, den idealistisch guten Zaren Berendei, den Faschingspopanz, Waldgeister, Spielleute und Bojaren. Viel naiv Märchenhaftes ist darin, auch Mythologisches, Mystisch-Heidnisches, Christliches und Orthodoxes, wie häufig bei Rimsky-Korsakow. Tcherniakov hat – in Personalunion als Regisseur und Ausstatter (Kostüme von Elena Zaytseva) – dafür plastische, sinnliche Bilder gefunden, die eine historische Epoche mit einer postsozialistischen Gegenwart verbinden und die Märchenepisoden natürlich einbetten. Die Erscheinung der in einem Ballettsaal mit der Allüre einer Diva aus alten Zeiten residierenden Frühlingsfee (kraftvoll, darstellerisch und gesanglich mit großer Autorität: Elena Manistina) ist solch ein fesselndes Bild. Sie gebietet über eine große Schar von als Tiere kostümierte Eleven, wodurch die Märchenszene mit den singenden und tanzenden Vögeln eine realistische Grundlage erhält. Snegurotschka, ausgehfertig zum Schlittschuhlaufen, schaut staunend zu; Väterchen Frost (der damals 70jährige Vladimir Ognovenko ist immer noch von großer Ausstrahlung) kommt im Burberry-Trench hinzu. Die Eltern einigen sich darauf, ihre Tochter, von der Sonne verborgen, in den Wald zu den Menschen nach Berendei zu schicken. Diesen Wald hat Tcherniakov so suggestiv und magisch wie überhaupt auf einer Bühne nur möglich geschaffen. In kleinen Datschen haust ein fröhliches, blumenbekränztes, hippiemäßig und folkloristisch gekleidetes Aussteigervölkchen unter Führung eines grauzopfigen Anführers (einen Sänger mit diesem besonderen hohen Charaktertenor wie Maxim Paster muss man erst einmal finden), der sich unter sein Volk mischt und alten Zeiten nachhängt. Man tanzt viel und löffelt an Campingtischen von Plastikgeschirr. Snegurotschka wurde vor dem Hirten Lel gewarnt. Klar, dass sie sich in den selbstgefälligen Blonden verguckt, der wenig Interesse an ihr zeigt; bei Tcherniakov wurde die Altpartie des Hirten erstmals mit dem Countertenor Yuriy Mynenko besetzt, der der Figur etwas gläsern-geheimnisvolles verleiht. Gewaltige Bilder, im Detail liebesvoll ausgepinselt: Frühlingsfeuer mit dem Fastnachtspopanz (immerhin Franz Hawlata in der kurzen Episodenrolle, Genreszenen mit den in Wohnwagen wohnenden Pflegeeltern (Carole Wilson und Vasily Gorshkov), Auftritt des brutalen Mizguir (Thomas Johannes Mayer), der bei Snegurotschkas Anblick seine Verlobte Kupava einfach links liegen lässt, was die fast hochdramatisch blühende Martina Serafin wirklich nicht verdient hat, eine Männerchorprobe als Huldigung an den Zaren: immer pralles, kraftvolles Theater, bei dem die Hymne auf die Natur zu einer Huldigung wunderbaren Operntheaters und der Entdeckung einer schönen Oper gerät. In sämigen Breitwandsound trägt das Orchestre de L’ Opera National de Paris unter dem Paris-Debütanten Mikhail Tatarnikov zum opulenten Gelingen bei. Der Chor klang wie direkt aus Russland importiert. Und Snegurotschka? Aida Garifullina kann uns durch ihren strahlenden, gut fokussierten zart-schönen Sopran faszinieren, der der Zerbrechlichkeit der Snegurotschka, die am Ende dahinschmilzt, vollkommen gerecht wird. Rolf Fath

 

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Slawische Seele aus Archiven

 

Auf insgesamt 27 CDs bringt Warner mit Antonín Dvořák – The Slavonic Soul (Warner 0190296771997) eine Art großzügige, in Teilen sicherlich auch streitbare Selektion der wichtigsten Werke des bedeutenden tschechischen Komponisten heraus, der 1841, vor 180 Jahren also, geboren wurde. Der Schwerpunkt ist auf die Orchesterwerke gelegt, neben den obligatorischen Sinfonien also die Tondichtungen, Ouvertüren und sonstigen orchestralen Instrumentalwerke sowie die kammermusikalischen Stücke. Bewusst ausgespart bleibt das Opernschaffen Dvořáks, welches zehn Bühnenwerke umfasst.

 Anders als bei anderen Komponisten der Fall, muss sich Dvořáks Musik in den Konzertsälen der Welt nicht erst durchsetzen. Zumindest die späten drei Sinfonien gehören seit Jahrzehnten zum Standardrepertoire. Mit zunehmender Tendenz erscheinen auch die früheren, besonders die Sinfonien Nr. 5 und 6, auf den Spielplänen; ab und an hört man eine der Tondichtungen. Dass Libor Pešek hier zwei Drittel der Sinfonien (Nr. 1-6) beisteuert, erstaunt auf den ersten Blick. Ursprünglich zwischen 1987 und 1996 für Virgin eingespielt, stand sein mit dem Royal Liverpool Philharmonic Orchestra sowie mit der Tschechischen Philharmonie entstandener Zyklus von Anfang an im Schatten anderer. Zu Unrecht, wie man beim Wiederhören konstatiert. Sowohl künstlerisch als auch klanglich können diese Einspielungen sehr gut neben bekannteren bestehen. Insgesamt wählt Pešek eine etwas lyrischere Note als andere, auf Dramatik bedachte Dirigenten. Ebenfalls unter seinem Dirigat sind die Ouvertüre Husitska, die Tondichtungen Meine Heimat, Im Reiche der Natur, Karneval und Othello, die Tschechische und die Amerikanische Suite sowie das Scherzo capriccioso. Für die drei letzten Sinfonien (Nr. 7-9) griff man indes auf die deutlich geläufigeren Klassiker unter Carlo Maria Giulini zurück, die 1962 und 1976 mit dem Philharmonia Orchestra und dem London Philharmonic Orchestra für EMI entstanden. Diese offenbaren einen packenderen Zugriff als Giulinis Spätdeutungen der Werke. Er zeichnet zudem verantwortlich für die hier inkludierte Einspielung des Cellokonzerts mit dem legendären Mstislaw Rostropowitsch. Die übrigen kleineren Cellowerke werden von Paul Tortelier und André Previn (Rondo) sowie von Jacqueline du Pré und Daniel Barenboim (Waldesruhe) interpretiert. Letzterer fungiert auch in den in der Kollektion beinhalteten Violinwerken, dem Violinkonzert sowie der Romanze f-Moll, als Orchesterbegleiter für Itzhak Perlman. Einen großen Sprung gibt es beim Klavierkonzert (Solist: Pierre-Laurent Aimard). Mit dem Königlichen Concertgebouw-Orchester Amsterdam unter Nikolaus Harnoncourt tritt ein ungewohnter, aber auf seine Art ebenfalls überzeugender Dvořák-Dirigent hinzu. Auch die Sinfonischen Dichtungen Das goldene Spinnrad, Der Wassermann, Die Mittagshexe und Die Waldtaube obliegen des gebürtigen Grafen de la Fontaine Verantwortung. Ausgespart bleibt leider das auch andernorts selten aufgenommene Heldenlied. Bei den Slawischen Rhapsodien und den Slawischen Tänzen kommt mit Václav Neumann und der Tschechischen Philharmonie freilich ein idealtypisches Gespann hinzu, was die Mustergültigkeit dieser Aufnahmen beweist. Die vergleichsweise wenig geläufigen Serenaden für Streicher beziehungsweise für Bläser, Cello und Kontrabass steuern Christopher Warren-Green und Sir Neville Marriner bei; letztgenannter dirigiert auch die Nocturne B-Dur. Was die Kammermusik angeht, so ist u. a. eine Auswahl an Streichquartetten (Nr. 9 und Nr. 12 mit dem Britten Quartet, Nr. 13 mit dem Artemis Quartet und das sogenannte Zypressenquartett mit dem New Helsinki Quartet), das Klavierquartett Nr. 2 (mit Polina Leschenko, Ilya Gringolts, Nathan Braude und Torleif Thedéen), das Klavierquintett Nr. 2 (mit dem Nash Ensemble), das Streichquintett Nr. 3 sowie das Streichsextett A-Dur (jeweils mit dem Wiener Streichsextett) beigegeben. Die Slawischen Tänze finden sich zusätzlich in der Klavierfassung für vier Hände (Michel Béroff, Jean-Philippe Collard).

Eine Büste von Ladislav Šaloun schmückt Dvořáks Grab auf dem Vyšehrader Friedhof Wikiwand

Auch der Liedgesang wurde nicht ausgespart. Neben den bereits digital eingespielten Zigeunermelodien mit Barbara Hendricks, begleitet von Steffan Scheja, sind hier auch die ältesten Einspielungen dieser Neuerscheinung versammelt, nämlich die 1955 noch in Mono produzierten Mährischen Duette (Klänge aus Mähren) mit Elisabeth Schwarzkopf und Irmgard Seefried beziehungsweise mit Victoria de los Angeles und Dietrich Fischer-Dieskau, in beiden Fällen mit Gerald Moore am Klavier. Beschlossen wird die Box überraschenderweise dann doch noch großorchestral: Das Requiem unter Stabführung von Armin Jordan verteilt sich auf die letzten beiden CDs. Sicherlich gibt es weit prominentere Einspielungen (denkt man etwa an die beiden von Karel Ančerl, an István Kertész oder auch an Wolfgang Sawallisch), doch kann sich diese ziemlich in Vergessenheit geratene Einspielung aus Paris mit durchaus idiomatischer Besetzung (Teresa Zylis-Gara, Stefania Toczyska, Peter Dvorský und Leonard Mróz) insgesamt gut behaupten. Drei kurze Szenen aus Rusalka und Armida mit Lucia Popp und dem Münchner Rundfunkorchester unter Stefan Soltesz steuern ganz zuletzt dann doch noch etwas Oper in homöopathischer Dosis bei. Das Booklet ist gediegen, aber es fehlen die Aufnahmedaten (s. unten). Es ist dies eine insgesamt etwas unrunde und bunt zusammengewürfelt erscheinende Angelegenheit, die gleichwohl ihre Meriten besitzt und tatsächlich einen Einblick in die „slawische Seele“ Dvořáks bietet.  (Abbildung oben: „Böhmische Landschaft“ von Caspar David Friedrich 1808/ Staatliche Kunstsammlung Dresden/Wikipedia).  Daniel Hauser

 

Ein Wort zu den Aufnahmequellen: Anders als man das von der Warner sonst so beispielhaft gewöhnt ist (so im Umgang mit dem EMI-Nachlass) sucht sich der Interessierte hier wund nach der Herkunft  dieser Einspielungen. Während sich im Booklet absolut kein Wort zu den Herstellerfirmen und Aufnahmedaten findet bringt nur eine Lupe bei Lektüre der einzelnen CD-Hüllen-Rückseiten eben diese zu Tage. Aber woher stammen die Aufnahmen, die lapidar als „Compiled by Lee Daniel Woodland“ im Booklet angegeben werden? Warner Classics verwendet die alte His-Master´s-Voice-Firma Parlophone weitgehend für die EMI-Erbstücke (wie man von anderen Ausgaben weiß). Dazu kommen nun bei dieser Gemischtwaren-Box die Firmen Erato (von Warner nach dem Barenboim-Mozart-Opern-Debakel schnell gekauft) sowie die verblichene Firma Teldec (ehemals unabhängig als vormalige Decca-Tochter Deutschland und von Warner erworben). Und einige Aufnahmen der Firma Finlandia finden sich ebenso wie manche genuine Warner-.France und Warner-UK-Einspielungen. Wenn also Kollege Daniel Hauser von einer „unrunden und bunt zusammengewürfelten Angelegenheit“ schreibt, hat er Recht – eine andere und weniger wohlfeile Auswahl wäre unter diesen gemischten Umständen doch sinnvoller gewesen. Wenn man da an die exzellente Debussy-Ausgabe der Warner denkt … G. H.

Achtungserfolg aus dem ORF-Archiv

 

Formal war sie vielleicht die Krönung im Lebenswerk des Walzerkönigs Johann Strauss Sohn, de facto aber, gemessen an den Erwartungen, eher ein ziemlicher Reinfall, allenfalls ein Achtungserfolg. Die Rede ist von Straussens einziger Oper Ritter Pásmán, die am Neujahrstag 1892 die Ehre hatte, im k. k. Hofoperntheater am Wiener Ring unter Anwesenheit des mittlerweile 66-jährigen Komponisten uraufgeführt zu werden. Hofoperndirektor Wilhelm Jahn höchstselbst, von dem auch die Anregung zum Werk ausging, hatte das Dirigat und die Regie übernommen. Das Bühnenbild stammte von Anton Brioschi. Die Sängerbesetzung war mit u. a. Franz von Reichenberg (der 1876er Uraufführungs-Fafner in Bayreuth), Fritz Schrödter, Ellen Brandt-Forster und Marie Renard erlesen. Und doch krankte es am mediokren Libretto, welches Ludwig von Dóczi nach der literarischen Vorlage von János Arany beisteuerte. Die Banalität der Handlung, im 14. Jahrhundert angesiedelt, war bereits problematisch, doch erreichte auch die musikalische Untermalung nicht das Niveau der besten Bühnenwerke von Strauss. Immerhin haben sich einige Nummern im Repertoire halten können, besonders der Csárdás und der sogenannte Eva-Walzer, welche auch bereits bei den Wiener Neujahrskonzerten zur Aufführung gelangten. Die Ballettmusik wurde tatsächlich von der Kritik auch von Anfang an hervorgehoben. Überdies zeigte sich der alternde Komponist durchaus experimentierfreudig, erklang doch zum ersten Mal ein Cymbal im Hofopernorchester.

Nichts verdeutlicht das Schattendasein, welches der dreiaktige Ritter Pásmán seither führt, besser, als die desaströse Situation auf dem Tonträgermarkt. Bis zum Jahre 2021 gab es tatsächlich keine einzige offizielle Einspielung der kompletten Oper. Das Label Orfeo behebt diesen unhaltbaren Zustand, muss aber – fast bezeichnend – auf eine Aufnahme zurückgreifen, die ihrerseits schon beinahe ein halbes Jahrhundert auf dem Buckel hat (Orfeo C200062). Es handelt sich hierbei um einen für das Alter sehr gut klingenden Mitschnitt des Österreichischen Rundfunks vom 27. Oktober 1975, der im Wiener Musikverein konzertant zustande kam. Der in diesem Repertoire ausgewiesene Heinz Wallberg leitet dort das Radio-Symphonieorchester Wien sowie den ORF-Chor. Die Besetzung liest sich prominent: Niemand Geringerer als der gerade in Wien legendäre Eberhard Waechter, schon etwas über seinen Zenit hinaus, übernimmt die Titelpartie. An seiner Seite agieren Josef Hopfenwieser als Karl Robert von Anjou, Sona Ghazarian als Königin, Trudeliese Schmidt als Eva, Artur Korn als Rodomonte, Horst Witsche als Hofmarschall Omodé, Axelle Gall als Gundy sowie Peter Drahosch als Mischu. Besonders Waechter („Ich bin ein Ungar und ein Edelmann“) und die Schmidt („O gold’ne Frucht“) sind hervorzuheben.

Tatsächlich ist das ehrliche Bemühen von Strauss, nicht bloß eine zur hofoperntauglichen Oper umdeklarierte Operette abzuliefern, hörbar, gibt es in der stellenweise überraschend düsteren Partitur doch gar Anklänge an den Bayreuther Meister Richard Wagner (besonders in den pathetischen Chören). Marcel Prawy sprach gar davon, „[e]s meistersinger[e] in diesem Werk auf Ungarisch“. Freilich scheint sich der für seine heiteren Stücke berühmt gewordene Johann Strauss Sohn im seriösen Fach nicht vollumfänglich wohlzufühlen, so dass sich hie und da ein etwas zwanghafter Eindruck auftut, wohl den Erwartungen der großen Hofoper geschuldet.

Als Bonus ist auf der zweiten CD noch die vom Label Marco Polo übernommene komplette Ballettmusik mit dem Slowakischen Staatlichen Philhamonischen Orchester unter Alfred Walter beigegeben (Aufnahme: 1993), wohl auch, da in der Gesamtaufführung lediglich der genannte Csárdás erklingt. Ein informatives Beiheft (auf Deutsch und Englisch) mit einer Einführung von Gerhard Persché rundet diese wichtige Ergänzung der Strauss-Diskographie ab. Daniel Hauser

Von Euphrat und Themse

 

Pietro Metastasios Operntext Artaserse von 1729 zählt zu seinen häufig vertonten Libretti. Bereits ein Jahr später wurde er von Leonardo Vinci in Musik gesetzt. Mehr als 90 Komponisten folgten, darunter Johann Adolf Hasse (1730), Christoph Willibald Gluck (1741) und Carl Philipp Emanuel Bach (1760). Der Brite Thomas Arne (1710 – 1778), heute vor allem durch „Rule, Britannia“ bekannt, aber schon zu Lebzeiten erfolgreich als Theaterkomponist mit masques und songs, übersetzte den Text selbst ins Englische. Er hatte Hasses Version 1754 in London gehört – wie diese ist sein Artaxerxes eine opera seria im italienischen Stil, nur mit englischem Text. 1762 wurde sie in London zur Premiere gebracht. Die Bravour-Rolle des Arbaces (die bei Vinci und Hasse der legendäre Farinelli gesungen hatte) kreierte gleichfalls ein Kastrat: Ferdinando Tenducci. Auch die Titelrolle wurde einem Kastraten, Nicolò Perelti, anvertraut. Charlotte Brent, Arnes langjährige Schülerin und seit 1755 seine Geliebte, sang Artaxerxes’ Schwester Mandane. Die drei verbleibenden Partien wurden ebenfalls von englischen Interpreten wahrgenommen – der berühmte Händel-Sänger John Beard als Arbaces Vater Artabanes, Miss Thomas als Artaxerxes’ Geliebte Semira und George Mattocks als Armeegeneral Rimenes.

In der Musik dominieren Airs – nicht weniger als 26 Titel finden sich in der Partitur-, die allerdings im Unterschied zu Händel und seinen Zeitgenossen die Da capo-Form meiden. Statt vokaler Bravour liegt der Schwerpunkt auf melodischer Schönheit und emotionaler Unmittelbarkeit. Bemerkenswert ist der Reichtum der Instrumentierung durch den variablen Einsatz der Blasinstrumente.

Die vorliegende Aufnahme folgte einer Neuproduktion des Werkes am Royal Opera House Covent Garden im November 2009. Der Dirigent Ian Page (der bereits bei Linn die Oper 2004 eingespielt hatte; und überhaupt herrscht kein Mangel an Arnes Oper auf CD, denkt man an Fasolis bei Erato, Goodman bei Hyperion oder Rovaris bei Dynamic, wie ein Blick in den Katalog von jpc zeigt) hatte dafür die fehlenden Teile (sämtliche Rezitative und das Finale), die beim Brand des Opernhauses 1808 zerstört worden waren, ergänzt. Glücklicherweise waren die Overture sowie Airs und Duets schon gedruckt und blieben dadurch erhalten. Page fertigte die Rezitative, während er für das Finale den Komponisten und Musikwissenschaftler Duncan Druce heranzog, der es im Stil Arnes schrieb. Die Neuschöpfungen finden sich auch in dieser Einspielung, welche im November 2009 und April 2010 in London entstand und erstmals 2010 vom Label LINN herausgebracht wurde. signum CLASSICS sorgt nun für eine Wiederauflage auf zwei CDs (SIGCD672).

Ian Page leitet das 1997 gegründete Ensemble The Mozartists, das sich auf die Musik Mozarts und seiner Zeitgenossen spezialisiert hat. Schon in der Overture spürt man die Vertrautheit mit diesem Stil. Sie atmet festlichen Glanz, ist von pulsierendem Rhythmus und vorwärts drängender Verve. Der Countertenor Christopher Ainslie übernahm den Titelhelden, die Sopranistin Rebecca Bottone dessen Geliebte Semira. Ainslie überzeugt in seinem Auftritt „Fair Semira“ mit kultiviertem Vortrag und stets angenehmem Ton. Auch das Air „In infancy“ zu Beginn des 2. Aktes ist ein rundum wohllautender Titel. Bei „Though oft a cloud with envious shade“ kann er neben dem schönen Klang seiner Stimme auch virtuose Fähigkeiten einbringen. Bottone erfreut in Semiras Air „How hard is the fate“ mit nobler Stimme von leuchtendem Klang und feiner Ausformung der Verzierungen. Auch in ihrem Air im 2. Akt „If the river’s swelling waves“ entzückt sie mit lieblichem Klang. Im Unterschied zur früheren Tradition wurde die Partie des Arbaces hier nicht mit einem Counter, sondern der Mezzosopranistin Caitlin Hulcup besetzt. Das Auftritts-Air „Amid a thousand racking woes“ ist von bewegtem Duktus mit reichem Koloraturanteil. Die Interpretin bewältigt es achtbar, lässt allerdings eine sehr strenge Höhe hören. Dennoch suggeriert ihre Stimme keine männliche Figur. Delikat schwebt die Stimme im Air „O too lovely“, mit berührender Schlichtheit und Innigkeit ertönt sie in „By that belov’d embrace“. Den 3. Akt eröffnet sie mit dem Air „Why is death for ever late“ sehr empfindsam und hat gleich danach mit „Water parted from the sea“ noch ein weiteres Solo von gleichfalls getragenem Charakter. Arbaces’ Vater Artabanes ist der in der Alten Musik namhafte Tenor Andrew Staples. Mit dem getragenen Air „Behold“ führt er sich mit gleichermaßen gefühlvoller wie beherzter Stimme sehr vorteilhaft ein. Energisch trumpft er bei „Thy father!“ auf und wartet bei „Thou, like the glorious sun“ dann wieder mit sanften Tönen auf. Mit „O, much lov’d son“ hat er das längste Air der Oper zu singen – ein aufgewühltes Seelengemälde, welches Staples in seinem enormen Ausdrucksradius zeigt. Elizabeth Watts singt die Mandane. Mit dem Air von leichter Wehmut „Adieu, thou lovely youth“ fällt ihr das erste Solo des Werkes zu. Die Sopranistin singt es kultiviert und mit Wohllaut. Das Air „Fly, soft ideas“ mit munterem Hörnerklang suggeriert eine Jagdszene, welche die Sopranistin mit beherzter Attacke angemessen ausbreitet. Im Air „If o’er the cruel tyrant love“ kann sie dann wieder innige Töne hören lassen. Umso überraschender sind ihre keifenden Ausbrüche im Air „Monster, away“, doch sind diese natürlich der Situation geschuldet, soll sie doch für Rimenes der Lohn sein für dessen Mordtat an Artaxerxes. Mit dem wiegenden „Let not rage“ im 3. Akt fällt ihr eine der schönsten melodischen Eingebungen des Komponisten zu und sie nutzt diese Vorgabe mit großer Würde. Strahlender Trompetenschall begleitet ihr letztes Air „The soldier, tir’d of war’s alarms“, wo es bei den jauchzenden Koloraturen einige grelle Spitzen zu hören gibt. Der Tenor Daniel Norman komplettiert die Besetzung als Rimenes, der in den Airs „When real joy we miss“ und „To sigh and complain“ eine buffonesk-muntere Note einbringt, bei „O let the danger of a son“ im 3. Akt aber auch energisch auftrumpfen kann. Am Ende vereinen sich die Solisten mit „Live to us, to Empire live“ zum jubelnden, von Druce kongenial nachempfunden Finale (13. 07. 2021). Bernd Hoppe

Im Fahrwasser des Erfolges

 

Der ugeheuerliche Erfolg von Ruggero Leoncavallos Pagliacci im Londoner Hippodrome veranlasste die Eigentümer der Institution, eine weitere Kurzoper bei dem italienischen Komponisten in Auftrag zu geben. Seine Wahl fiel auf Puschkins Zingari, vielleicht nicht zuletzt wegen des Riesenerfolgs einer anderen Oper um eine leidenschaftliche, aber wankelmütige Zigeunerin, Carmen. So entstand unter der Federführung von Enrico Cavacchioli das Libretto um eine Fleana, allerdings Sopran, die einen Tenor aus seinem bürgerlichen Leben herausreißt, um ihn wenig später zugunsten eines Baritons zu verlassen, worauf der Tenor nicht nur sie, sondern auch den neuen Liebhaber tötet, indem er Feuer in ihr Zelt wirft. Das wie stets sehr informationsreiche Booklet zur CD von Bongiovanni weiß auch von vielen Einflüssen von Zigeunermusik auf Leoncavallos neues Werk zu berichten, die aber so bedeutend nicht sind, abgesehen vom Intermezzo zwischen den beiden Liebesabenteuern der schönen Fleana. In London wurden dann nicht wie noch heute üblich die Pagliacci an die Cavalleria gekoppelt, sondern an Gli Zingari, die immerhin auch 62 Aufführungen erlebten. Danach wurde das Werk wie die anderen Leoncavallos  außer Pagliacci schnell vergessen, auch weil zu sehr an die Pagliacci erinnernd, erlebte durch die RAI 1975 den Versuch einer Wiederbelebung und 1999 in Montecatini. Die im Jahre 2019 entstandene CD ist ein Verdienst wohl auch der Gattin des Verismo-Liebhabers, des Dirigenten  Gianandrea Gavazzeni, Denia Mazzol Gavazzeni.

Das Werk beginnt sehr schwungvoll, die Zigeunerchöre erinnern allerdings eher an die aus den Pagliacci als an echte Volksmusik. Die Musik ist sehr gefällig, sehr melodiös, die Liebesduette leidenschaftlich bis hin zur Emphase sich steigernd.

So verdienstvoll es sein mag, dass sich Denia Mazzola Gavazzini der vergessenen Opern annnimmt, so sehr ist sie doch zugleich die Crux dieser Aufnahmen, da sie den Zenit ihres Gesangvermögens bereits überschritten hat, die maestà selvaggia, die der zentralen Figur nachgesagt wird, nicht zu vermitteln vermag, oft dünn und scharf klingt und Nachdrückliches durch viel Vibrato darzustellen versucht. Man merkt zwar immer noch, dass sie um viele Finessen weiß, nur hapert es bei der Umsetzung, eine weniger spitze Stimme wäre zumindest bei den Liebesszenen wünschenswert, Abscheu und Ablehnung darzustellen, gelingt ihr besser, ein „forse“ kurz vor dem Ehebruch hört sich verheißungsvoll an, die „risata sardonica“ allerdings fällt schwach aus, und für den absoluten Schlager „Tagliami“ braucht eine Stimme einfach mehr Substanz, „dolce morir“ gelingt nicht mit so viel Vibrato.

Mit viel Slancio versucht der Tenor Giuseppe Veneziano als Rádu Schmelz in seine Stimme zu zwingen, bleibt aber zunächst recht flach, so auch im Dammi un amore, erfreut allerdings mit einer schönen Fermate auf Re. Wechselt er von Amore zu Gelosia, dann klingt die Stimme wie befreit, zeigt einen tollen Einsatz für „ Eccolo finalmente“ und  bei „Ho perduto la pace vagabonda“ wird sie dunkel, wie tief verschattet klingend. Finster drohend hört sich der Bariton von Armando Likaj in der Partie des Tamar , des zunächst Verschmähten, an. Empfindsam gibt er sich in „Taci, non dir“, im zweiten Bild kann er mehr auftrumpfen, hat er da doch eine schöne Canzone mit Canto notturno. Warm klingt der nur wenig beanspruchte Bass von Giorgio Valerio als Il Vecchio. Das Orchestra Filarmonica Italiana unter Daniele Agiman kann sich vor allem im Intermezzo, das man auch für ein Konzertstück halten könnte, auf das Angenehmste profilieren. Der Coro Ab Harmoniae klingt angenehm, weniger wild, als man von auf der Flucht vor Bestohlenen oder angesichts einer Katastrophe erwarten würde. Das Stück selbst verdient es, einmal wieder als Pendant zu den Pagliacci auf einer Bühne zu erscheinen (Bongiovanni 2585-2). Ingrid Wanja

 

Der Glanz schwerer Seide

 

Hingelagert wie eine Odaliske in eine farbprächtige Szenerie aus Pflanzen und Früchten, die Beine unter dem roten Kleid ausgebreitet, bietet Anita Rachvelishvili auf ihren neuen Sony Album Élégie (19439737022) das Bild einer eher erschreckten als klagenden Frau. Das Foto von Irma Sharikadze ist immerhin ein Eyecatcher. Mit bekannten Liedern und Romanzen von Tschaikowsky, Rachmaninoff, Tartakishvili, Tosti, Duparc und de Fall, gesungen auf Russisch, Georgisch, Italienisch, Französisch und Spanisch, will die 37jährige Georgierin neue Farben in ihrer Stimme, fernab der Opernbühne, finden. Das Opernhafte kann sie, die für das russische Repertoire Archipowa, Obrastzowa, Borodina und Hvorostovsky als Vorbilder nennt, freilich nicht abstreifen. Bei den drei Tschaikowsky-Liedern, wozu auch berühmte op. 6/6 nach Goethe „Nur wer die Sehnsucht kennt“ gehört, scheint mir das noch nicht vollkommen eingelöst. Aber in den fünf Rachmaninoff-Liedern gelingt es Rachvelishvili ihren üppig schweren und dunklen Mezzosopran auf den intimen Raum dieser Lieder herunterzudimmen und mit leisen, leuchtenden Farben und ruhigen Tönen zu überraschen, das gilt für „Du bist wie eine Blume“ nach Heine op. 8/2 oder „Sing mir nicht, meine Schöne“ nach Puschkin op. 4/4; „Ach, klagt nicht um mich“ gerät dann richtigerweise zu kleinen Opernszene, dramatisch, leidenschaftlich und tiefenschwer. Natürlich liegt ihr die aus einem fünfteiligen Zyklus stammende „Sonne des Heumonds“ ihres georgischen Landsmannes Otar Taktakishvili (1924-89) mit ihren Anklängen an die Volksmusik ihrer Heimat. Vincenzo Scalera, der Generationen von Diven, von Gencer, Caballé, Kabaivanska, Scotto bis Ricciarelli und Jo, sozusagen auf seinen Händen getragen hat, ist Rachvelishvili bei der im Januar 2020 in Tiflis entstandenen Aufnahmen ein selbstloser und gediegener Begleiter. Bei der Nr. 10 muss man nochmals nachschauen. Es handelt sich tatsächlich um Tostis „Non t’amo piu“, gesungen als schwermütige Klage eines verlassenen Landmädchens, in einem befremdlichen, vernebelten und eingedunkelten und gewöhnungsbedürftigen Ton. Rachvelishvili gelingen immer wieder betörende, zarte Linien, so auch in „Ideale“ und „Tristezza“ – erste Wahl sind die drei Tostis aber nicht. Je weiter Rachvelishvili in ihrem Programm fortschreitet, desto lässlicher erscheint es mir, wenngleich sie recht geschickt die drei Beispiele, die sie aus den 17 erhaltenen Liedern Henri Duparcs ausgewählt hat, in die Nähe der russischen Romanzen rückt und in „Élégie“ mit dem Glanz schwerer Seide aufwartet. Als Carmen kommt sie uns in den sieben kurzen Canciones populares españolas von Manuel de Falla, die sie raffiniert und stimmlich klug ausbalanciert und – und doch mit dröhnender Bruststimme –  mit einem bullerigen, „Polo“ krönt. Rolf Fath

Interessante Auswahl

 

Das französische Label ALPHA-CLASSICS ist bekannt für seine systematische Pflege des barocken Repertoires und wartet immer wieder mit überraschenden Raritäten auf. Zudem legt es Wert auf die kontinuierliche Zusammenarbeit mit bestimmten Künstlern – so der amerikanischen Mezzosopranistin Kate Lindsey, mit der es bereits einige Recitals produziert hat. Nach einem Programm mit Liedern um Kurt Weill erschien das Album „Arianna“, dem nun Tiranno“ folgt (ALPHA 736). Aufgenommen im Oktober des vergangenen Jahres in London, präsentiert es eine interessante Werkauswahl mit zwei Weltpremieren auf CD.

Omnipräsent in den vier Kantaten sowie einigen Szenen aus Monteverdis Oper L’Incoronazione di Poppea ist die Figur des römischen Kaisers Nerone. Eine Komposition Alessandro Scarlattis, welche das Programm eröffnet, trägt seinen Namen sogar im Titel – die Kammerkantate Il Nerone entstand wahrscheinlich 1698 und schildert in drei, durch Rezitative verbundenen Arien den Herrscher, in dessen Reich nur Grausamkeit regiert, der vor dem Hintergrund der brennenden Stadt noch die Leier spielt und die Klagen des leidenden Volkes zynisch imitiert. Ganz unvermittelt, ohne instrumentale Einleitung, beginnt  das Stück mit dem selbstbewussten Ausruf des Kaisers „Io son Neron!“. In der ersten Aria, „Vuò che tremi Giove ancora“, kann die Interpretin mit flüssigen Koloraturläufen aufwarten. Die Stimme ist herb und vermittelt plastisch das neurotische Naturell der Figur. In der letzten Aria, „Veder chi pena“, vermag sie ihren Mezzo ganz schlank zu führen und aufzuhellen mit dem Ergebnis eines angenehmen Klanges. Danach aber endet das Stück ganz abrupt mit einem kurzen Rezitativ von strenger Färbung.

In Scarlattis Kantate La Morte di Nerone (vermutlich aus dem Jahre 1690), welche die Anthologie abschließt, steht dagegen Neros Zögern angesichts seines eigenen Todes im Mittelpunkt. Doch die Untaten gegen seine Mutter Agrippina, seine Frauen und seinen Lehrmeister Seneca, die ihn als Schreckensbilder heimsuchen, führen schließlich zum Entschluss, aus dem Leben zu scheiden. In dieser Weltersteinspielung überrascht die Mezzosopranistin noch einmal mit neuen Farbtönen – düster, verhangen, entrückt, schimpfend, tobend, somnambul –, bis das Stück abrupt mit einem kurzen Rezitativ endet.

Die andere Novität auf dem Musikmarkt ist Bartolomeo Monaris Kantate La Poppea (von 1685). In der Programmfolge erklingt sie nach den Ausschnitten aus Monteverdis Oper, was Sinn macht, denn Molinaris Komposition ist quasi deren Fortsetzung mit der im Sterben liegenden Poppea. Schwanger mit Neros Kind, endet ihr Leben durch eine brutale körperliche Attacke ihres Gatten. In den jeweils drei Arien und Rezitativen formt die Interpretin ein plastisches Bild der unglücklichen Frau mit lamentierenden Passagen und einer dissonanten Schlussarie („Bellezza mortale“), in der sie sich an in ihre einstige und nunmehr verblassende Schönheit erinnert.

Aus Monteverdis Incoronazione wurden Szenen aus dem 2. und 3. Akt mit Nerone und Lucano (ausdrucksstark der Tenor Andrew Staples) sowie Nerone und Poppea (sinnlich lockend die Sopranistin Nardus Williams) in beider Schlussduett „Pur ti miro!“ ausgewählt. Dazwischen steht Ottavias ergreifender Abschied vor ihrer Verbannung aus Rom („Addio Roma!“). Lindsey zeichnet den Nerone in exaltierter Freude über Senecas Tod und später mit Poppea in schmeichelnder Zärtlichkeit, die Ottavia bei allem  ergreifenden Schmerz auch mit wilden Ausbrüchen einer existentiellen Notsituation.

Ein weniger bekanntes Werk Händels, der dramatische Monolog Agrippina condotta a morire, komplettiert das Programm. Zwischen 1707 und 1709 während seines Rom-Aufenthaltes komponiert, stellt das Stück quasi die Vorstufe zur 1709 uraufgeführten Oper Agrippina des Hallenser Meisters dar. Darin schwankt Neros Mutter zwischen Liebesbekundungen für ihren Sonn und Rachegelüsten wegen ihrer Verurteilung zum Tode. Der Komponist nutzt rasche Stimmungswechsel zur Schilderung der ambivalenten Emotionen und die Violinen in der ersten Aria („Orrida, oscura!“) zur Darstellung von Blitzen, in der Cavatina „Come, o Dio!“ zur Unterstreichung der Verzweiflung. Die Sängerin lässt im einleitenden Rezitativ eine keifende Stimme hören, die in der nachfolgenden Aria,„Orrida, oscura!“, mit energischen Koloraturen aufwartet. Darüber hinaus nutzt sie viele Farben und Stimmungen, um die Situation Agrippinas zu verdeutlichen. Eine Rasende ist sie in der Cavatina „Sí, sì, s’uccida!“, flehentlich und mit betörenden Tönen in „Come, o Dio“, zur Rache entschlossen in „Se infelice al mondo vissi“, nicht mehr bei Sinnen mit sich schier überschlagenden Wortfetzen in „Su lacerate il seno“. Das Ensemble Arcangelo, 2010 von seinem Künstlerischen Leiter Jonathan Cohen gegründet, begleitete die Mezzosopranistin schon bei „Arianna“ und ist auch in dieser Neuaufnahme ein inspirierender Partner für die Solistin mit Affekt betontem Musizieren. Bernd Hoppe

Überraschende Erste

 

Wer heute den Namen Wilhelm Furtwängler (1886-1954) hört, denkt zuerst an den Dirigenten. Nicht wenigen gilt er sogar als der ungekrönte König derselben, gleichsam als Prototyp eines Orchestervorstehers. Dass Furtwängler auch komponierte, dürfte zumindest geläufig sein. Dass er sich aber sogar vornehmlich als Komponisten und erst in zweiter Linie als Dirigenten begriff, erscheint aus heutiger Sicht verblüffend. Wiewohl seine Werke – zumal die zweite Sinfonie – nie komplett aus den Katalogen verschwunden sind, ist es gewiss kein Geheimnis, eine weitestgehende Absenz in den Konzertsälen zu konstatieren. Wann wurde in Berlin, München oder Wien zuletzt eine von Furtwänglers Kompositionen gespielt?

Sein recht schmales Œuvre lässt sich grob in zwei Phasen unterteilen. Zwischen seinem vierzehnten und seinem vierundzwanzigsten Lebensjahr entstanden die Ouvertüre E-Dur op. 3 (1899), der erste Satz einer nie vollendeten Sinfonie D-Dur (1902) und der langsame Satz einer Sinfonie h-Moll (1908), dessen Hauptmotiv später in der eigentlichen Sinfonie Nr. 1 wichtigstes Thema des ersten Satzes vorkommen sollte. Daneben waren es einige Chorwerke, vor allem das Te Deum (1902-1906, rev. 1909), das in dieser Frühzeit kreiert wurde. Erst Mitte der 1930er Jahre kehrte Furtwängler zu seiner Passion des Komponierens zurück. Das gewaltige Klavierkonzert (1937, rev. 1952-1954) machte den Anfang, gefolgt von drei Sinfonien in h-Moll (1941), e-Moll (1947) und schließlich c-Moll (1954). Daneben stehen kammermusikalische Stücke wie die beiden Violinsonaten (1935 und 1939).

Das Entdeckerlabel cpo ist es einmal wieder, das uns nach zwei Jahrzehnten eine Neueinspielung der monumentalen Sinfonie Nr. 1 h-Moll beschert. Diese Erste ist gewiss die am wenigsten beachtete unter Furtwänglers drei Sinfonien. Erst 1989 erfolgte für Marco Polo die Weltersteinspielung durch die Tschechoslowakische Philharmonie unter Alfred Walter. Ein gutes Jahrzehnt später, im Jahre 2000, erfolgte die zweite und bislang auch letzte weitere Aufnahme mit der Staatskapelle Weimar unter George Alexander Albrecht für Arte Nova. Für die nun vorgelegte Neuproduktion (cpo 555 377-2) wurde die diskographisch durchaus bereits positiv in Erscheinung getretene Württembergische Philharmonie Reutlingen unter ihrem damaligen Chefdirigenten Fawzi Haimor zu Rate gezogen. Sein viel bedauerter vorzeitiger Abschied aus Reutlingen im November 2020 erfolgte nach nur drei Jahren infolge der Erschwernissen durch die Corona-Pandemie und hatte gewiss keine künstlerischen Gründe.

Furtwängler dirigiert die Berliner Philharmoniker/ Archiv Berliner Philharmoniker S69 Archiv BPH 002

Die im Studio der Württembergischen Philharmonie Reutlingen im März und Oktober 2019 entstandene Einspielung verweist die älteren Aufnahmen klangtechnisch auf die Ränge. Auch hinsichtlich der reinen Spielzeit stellt sie mit gut 88 Minuten einen neuen Rekord auf, ist zehn Minuten länger als bei Walter und immerhin noch fünf Minuten länger als bei Albrecht, der einzig im mit Largo bezeichneten gewaltigen Kopfsatz sogar etwas mehr Zeit veranschlagt. Die breiten Zeitmaße, welche Haimor anschlägt, bekommen dem Werk ganz ausgezeichnet. Der knapp halbstündige erste Satz könnte für sich genommen bereits als Tondichtung dastehen. Furtwänglers Tonsprache ist irgendwo zwischen Anton Bruckner und Gustav Mahler angesiedelt, von daher fest der spätromantischen Tradition verhaftet, hie und da aber doch auch mit Anklängen an die Moderne. Das unnachahmlich Nebulöse, das Furtwänglers Dirigate so faszinierend machte, findet sich auch in seinen eigenen Kompositionen. Wo der Kopfsatz dem Meister von St. Florian nähersteht, gemahnt das nachfolgende fahrige, zuweilen unheimliche Scherzo (10 Minuten) tatsächlich viel eher an Mahler. Man muss sich tatsächlich vor Augen führen, wann diese Sinfonie entstanden ist. Geschrieben zwischen 1938 und 1941 (in ihren Ursprüngen, wie gesagt, sogar auf 1908 zurückgehend), im Zeitraum zwischen Münchner Abkommen und Unternehmen Barbarossa, als die großdeutsche Megalomanie ihren wahnwitzigen vermeintlichen Höhepunkt erreichte. Hört man die großen Umwälzungen dieser Tage in der Musik? Eher nein. Vielmehr mutet es so an, als versuche sich Furtwängler zurück zu flüchten in die Tage seiner noch kaiserzeitlichen Jugend, als die ersten Skizzen entstanden. Das Adagio, den langsamen dritten Satz, kostet Haimor mit hier 21 Minuten bis zum Exzess aus (Walter: gut 18 Minuten, Albrecht: knapp 17 Minuten), schwelgt in der Tiefgründigkeit der Partitur und vermeidet doch jedweden Anflug von Kitsch. Vielmehr ist es wie das ehrliche Nachtrauern um eine längst verflossene Ära. Spätestens hier wird ein ureigener furtwänglerischer Tonfall erkennbar, der gerade auch in der Nachfolge von Wagner und Richard Strauss steht, ohne diese plump zu imitieren. Das auf Bruckner gemünzte Diktum vom Unzeitgemäßen ließe sich problemlos auf Furtwängler übertragen. Diese Sinfonie ist wahrlich aus der Zeit gefallen, deswegen aber auch zeitlos. An dieser Stelle muss die sensationelle Leistung des Orchesters hervorgehoben werden, die beide Vorgängeraufnahmen hinter sich zurücklässt. Ließ sich die Mächtigkeit der Komposition bisher eher erahnen, so kann man diese nun endlich auch wirklich hören. Der Klangkörper wirkt zu keinem Zeitpunkt schmalbrüstig oder überfordert. Hier wurde zweifelsohne viel geprobt und nicht auf Gedeih und Verderb das erstbeste Ergebnis festgehalten (was der für heutige Verhältnisse lange Aufnahmezeitraum bestätigen würde). Der dreißigminütige Finalsatz übertrifft an Dimension sogar noch die vorherigen. Eine Anknüpfung an die Tradition der überlebensgroßen Finali in den Sinfonien Bruckners und Mahlers lässt sich nicht zu leugnen. Einerseits baut sich dieser Schlusssatz ganz allmählich auf, andererseits gibt es doch die „wild herausfahrenden“ Momente. Gänsehaut ist bereits beim ersten Auftreten der eingängigen Melodie garantiert, die schließlich in der kolossalischen Schlussapotheose gipfelt. Diese erhebende, durchaus pathosgetränkte Coda ist wie eine extrem kunstvoll ausgearbeitete und von Dirigent und Orchester meisterhaft umgesetzte Melange aus dem Ende von Bruckners Fünfter und Mahlers Titan. Es grenzt an Unmöglichkeit, hiervon unberührt zurückzubleiben.

Der Begleittext von Eckhardt van den Hoogen ist eine philosophische Abhandlung auf dem gewohnt hohen Niveau. Sie vervollständigt gleichsam diese in jedweder Hinsicht herausragende Neuerscheinung. Hier wurde ohne Wenn und Aber die neue Messlatte gelegt in Sachen Furtwänglers erster Sinfonie. Nun bliebe trotz des aufgelösten Kontraktes auf weitere diskographische Bereicherungen in Sachen des Komponisten Wilhelm Furtwängler durch die Reutlinger unter Maestro Fawzi Haimor zu hoffen. Daniel Hauser

Mythische Damen

 

Von weither sei man angereist, berichtete Stendal, um dieses morceau de génie zu hören. Der französische Schriftsteller und Rossini-Biograf bezog sich bei seiner Schwärmerei, mit der er sogar Goethe ansteckte, der sich daraufhin von Zeller die Noten besorgen ließ, auf das Sextett aus Johann Simon (Giovanni Simone) Mayrs  ElenaUngewiss, ob er die zweiaktige Semiseria bei ihrer Uraufführung im Januar 1814 in Neapel am Teatro die Fiorentini erlebt hatte, wo sie unmittelbar auf Mayrs zwei Monate zuvor am San Carlo uraufgeführte Medea in Corinto folgte, oder wohl eher 1816 an der Mailänder Scala, wo Elena als Elena e Constantino gegeben wurde. Der 51jährige Mayr befand sich auf dem Höhepunkt seiner Karriere.

Gut 50 Opern hatte er größtenteils für Venedig und Mailand geliefert, zehn weitere sollten folgen, bis er sich Anfang der 1820er Jahre vom Opernleben zurückzog. Elena, die vom Siegelbewahrer von Mayrs Schaffen, Franz Hauk, im August 2018 in Neuburg an der Donau vorgestellt wurde (Naxos 2 CD 8.660462-63), ist insofern bemerkenswert, weil sich hinter der sich unter dem Namen Riccardo bei dem Bauern Carlo verdingenden Elena eine Schwester im Geist von Beethovens Leonore verbirgt. Andrea Leone Tottola, Hauslibrettist der neapolitanischen Theater, hatte sich Jean-Nicolas Bouillys Vorlage zu Méhuls 1803 in Paris uraufgeführten Opéra-comique Héléna bedient. Bouillys Héléna ist eine weitere Variation seiner Leonore (1798), deren Schicksal von Paër über Mayr bis zu Beethoven führt. Ausgehend von der gewichtigen Ouvertüre verbindet Mayr die sechzehn Musiknummern trotz der nicht unernsten Handlung durch einen lustspielhaften Ton, der entsprechend der Gepflogenheiten der Semiseria, also der weder rein komischen noch durchgehend ernsten Operngattung, über einen nicht unbedeutenden Choranteil verfügt und neben den Arien, einige Duette, Terzette, ein Quartett mit Chor – das fröhliche „Cantiam de‘ nostri cuori“ – das erwähnte Sextett (kurz vor Ende der Oper) und ein sehr umfangreiches Finale primo besitzt. Also eher à la Rossinis Gazza ladra als Meyerbeers vor vier Jahren in Martina Franca wiederentdeckte Margherita d’Anjou, bei der die komischen Elemente nur Einsträusel in einer an sich ernsten Handlung sind. Obwohl nur der von Niklas Mallmann mit leichtem Bass gesungene neapolitanische Bauer Carlo, den es mit seiner Tochter Anna und dem Hirten Urbino in die Provence verschlagen hat, eine reine Buffafigur ist, mit dem sich Teile nicht nur des neapolitanischen Publikums identifizierten („Quanno co la perucca“/ „Als ich mit der Perücke durch Neapel lief“), ist der durch die kunstvolle Instrumentation im Schatten der Wiener Klassik fein aufgebrochene Duktus nahezu durchgängig ein heiter hurtiger, wie er sich in der schelmischen Arie „Brutto uccello di rapina“ der Anna zeigt, der Anna-Doris Capitelli ein Gesicht gibt. Eintrübungen kommen Elena bzw. Riccardo zu, der Gattin des von einem bösen Usurpator fälschlicherweise des Mordes an seinem Vater, dem Herrscher von Arles, beschuldigten Herzogs Constantino, die in ihrer Duett-Romanze „Un Provenzale d’illustro stato“ besseren Zeiten nachhängt und dem Sohn Paolino die Vorgeschichte erzählt; den Sohn, eine Hosenrolle, hatte seine Eltern auf der Flucht vor Carlos Hütte ausgesetzt usw…..Die große Szene der Titelheldin folgt im zweiten Akt „Ah! non partir“; Julia Sophie Wagner singt sie mit geschmeidigem lyrischem Sopran, dem es für die tragische Situation allenfalls ein wenig an Gewicht fehlt. Den Gatten Constantino hat es schwerer getroffen, wie er mit vielen Klagefiguren in seiner Szene und Arie „Son solo … o miei sospiri! Ah! Se mirar potessi!“, der umfangreichsten Szene der Oper, unterstreicht, bevor er ohnmächtig wird; Der als Bassist bezeichnete Daniel Ochoa, der wohl eher ein Bariton ist, gefällt durch Koloraturlockerheit und einen gepflegten, ausdrucksreichen Vortrag. Mit Unterstützung des klugen Bauern Carlo und des von Markus Schäfer mit versiertem und charaktervollem Tenoreinsatzes gesungenen Edmondo, dessen Vater der Mörder war, widerfährt dem Paar Elena und Constantino, das – typisch für derartige pièces à sauvtage – gerade noch mal seiner am Ende des ersten Aktes geforderten Hinrichtung entgangen ist, Gerechtigkeit. Hauk und die Concerto de Bassus-Spieler sowie der Simon Mayr Chor musizieren mit überspringender Spielfreude. Der Tenor Fang Zhi als Gouverneur, Anna Feith als Ernesta, Mira Graczyk als Paolino tragen zu zweieinhalb kurzweiligen Stunden bei (Naxos  8.660462-63, 2 CD, mit Bookl2t und digitalem Libretto).

Die Diva Neapels bediente Mayr vier Jahre später mit einer szenischen Kantate, die eine Stunde lang deren sämtlichen singdramatischen Talente in strahlendstes Licht rücken sollte. 1811 war Isabella Colbran nach Neapel gekommen, wo sie bereits 1813 Mayrs Medea kreiert hatte, bevor sie als Uraufführungssängerin von acht Opern Rossinis zur Primadonna assoluta aufstieg. Nach einer dem Anlass gemäßen festlich, pompösen Ouvertüre entfaltet Mayr in 14 Nummern pflichtgemäß das Schicksal der von Theseus verlassenen Ariadne, die auf Naxos glücklicherweise auf Bacchus trifft. Das Libretto hatte ihm Tottolas Kollege Giovanni Schmidt geliefert. Die Diva musste sich nicht verausgaben. Allein bestreitet Arianna nur zwei Rezitative und eine Arie, dazu drei Rezitative und zwei Duette mit Bacco. In der bereits 2007 im Neuen Schloss in Ingolstadt entstandenen Aufnahme stand Franz Hauk, der mit dem Simon Mayr Ensemble die orchestralen Qualitäten Mayrs auf eminente Weise herausarbeitet, keine adäquate Interpretin (Cornelia Horak) zur Verfügung, die die dramatische Kraft und das Pathos der Rezitative vermitteln könnte. Als junger Gott machte Thomas Michael Allen eine bessere Figur. (Naxos 8.573065; Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.) Rolf Fath

Fröhliche Wissenschaft

 

Keine Scheu vor diesem Buch mit dem einschüchternd langen Titel zu haben (Scheu vorm Artefakt? – Abenteuer eines kunstbedachten Gambusinos und Wanderpredigers) von Volker Klotz, möchte ich dem unentschlossenen Leser empfehlen. Eine spannende, lehrreiche und unterhaltsame Lektüre erwartet ihn auf stattlichen 540 Seiten, der Untertitel „Abenteuer“ verspricht nicht zu viel. Der längst emeritierte, aber nach wie vor quicke und produktive Literaturprofessor und Theaterexperte Volker Klotz zieht hier eine Lebens- und Schaffensbilanz, die reich ist an „unerhörten Begebenheiten“, denkwürdigen Begegnungen und luziden Gedanken. Pünktlich zum 90. Geburtstag des Autors im vergangenen Dezember erschienen, lässt das Buch über seinen Gegenstand hinaus ein wechselvolles Jahrhundert lebendig werden.

Die Scheu vor dem Artefakt, die Klotz nicht nur großen Teilen der akademischen Zunft, sondern auch den meisten Feuilletonschreibern unterstellt, äußert sich in deren mangelnder Bereitschaft (oder auch Fähigkeit), ein Kunstprodukt in seiner Eigenart und Einzigartigkeit zu erkennen und zu analysieren. Die Frage, was das Besondere an einem Werk der Literatur, der Musik, der Malerei oder der Architektur sei (zum Kino, das alle diese Künste in sich vereint, hat der Autor merkwürdigerweise keine Beziehung), werde in der Regel gar nicht gestellt, stattdessen weiche man aus auf vor allem biographische, psychologische oder ideologische Aspekte und ergehe sich in raunender Bedeutungshuberei (Klotz spricht von „Tiefsinns-Hochstaplern“). Im ersten einleitenden Teil wird der historische Prozeß dieser wissenschaftlichen Fehlentwicklung beschrieben.

Der zweite  liest sich wie ein Entwicklungsroman in der Tradition von Wilhelm Meister und Anton Reiser. Die frühe Kindheit ist von Musik geprägt. Die Mutter spielt hingebungsvoll Klavier, die Oma singt schön und laut, im Kirchenchor übertönt sie alle und antwortet auf die Bitte, sie möge sich etwas zurückhalten: „Entweder singt mer, odder mer lässts bleiwe“. Von ihr hört Volker schon als kleiner Junge die ersten Operettenlieder. Mit vier Jahren begeistert er sich für die Verse von Wilhelm Busch und den Struwwelpeter und versucht das, was ihm vorgelesen wird, auf den Bildern zu ertasten. Erst mit sechs, als er anfängt, selbst zu lesen, entdeckt er Grimms Märchen, die nicht illustriert waren. Vor allem die Zaubermärchen faszinieren ihn durch ihren Kontrast zum wirklichen Leben. Im Kriegsjahr 1941 erlebt der 11jährige Schüler in einer Aufführung des Troubadour und bei der Lektüre von Karl Mays Durchs wilde Kurdistan eine doppelte Initialzündung als Theaternarr und emphatischer Leser.

Nicht in der Schule und auch kaum im Studium lernt er das, was er für seine spätere Tätigkeit braucht. Seine ersten wahren Lehrmeister sind der Schwimmlehrer, der ihm auf jede dumme Frage eine einleuchtende Antwort gibt, und „Meister Ernst“, der Kfz-Mechaniker, der ihm die Funktionsweisen von Krafträdern und Autos erklärt. Auch ein Auto ist letztlich ein Artefakt wie ein Roman oder eine Symphonie, das aus zahllosen ineinander greifenden Elementen besteht.

Volker Klotz/ ZDF

Was es sonst über die Künste zu lernen gibt, erfährt Klotz nach dem Krieg und in den 50er Jahren auch außerhalb der herkömmlichen Institutionen. Im Abitursjahr 1951 ist er Zaungast bei den Internationalen Ferienkursen für Neue Musik in Darmstadt und findet in dem Komponisten und Dirigenten René Leibowitz einen liebevollen und sendungsbewussten Mentor. Ebenfalls in Darmstadt, dessen Theater 1944 zerbombt wurde, erlebt er in der Orangerie, wo kulissenlos gespielt wird, stilbildende Inszenierungen von Gustav Rudolf Sellner und Harro Dicks. Am Frankfurter Theater imponieren ihm dann die Inszenierungen von Harry Buckwitz (der den damals verpönten Brecht auf die Bühne bringt) und Heinrich Koch. Überwiegend desillusionierend fällt dagegen das literaturwissenschaftliche Studium an der Frankfurter Universität aus.

1959 stellt er seine Dissertation Geschlossene und offene Form im Drama fertig, die in ihrer Buchform noch heute ein Standardwerk ist. Dramaturg und Regisseur will er nun werden, und da kommt ihm das Angebot der Chefdramaturgen-Position durch den Darmstädter Intendanten Sellner gerade recht. Doch die Ernüchterung folgt auf den Fuß. Viel mehr als Programmhefte redigieren hätte er nicht dürfen, Einflußnahme auf den Spielplan war nicht erwünscht. Also trifft er die folgenreiche Entscheidung, die wissenschaftliche Laufbahn einzuschlagen und als Assistent Walter Höllerers an die Berliner TU zu gehen. Die zehn Berliner Jahre sind eine in mehrerer Hinsicht prägende Zeit – privat, beruflich und politisch. Er heiratet seine Frankfurter Kommilitonin Aiga, die später mit Publikationen zur Kinder- und Jugendliteratur wissenschaftliche Bedeutung erlangt, drei Töchter kommen in kurzen Abständen in Berlin zur Welt. Und an der Uni weht ein frischer Wind. Der umtriebige, immer um mediale Präsenz bemühte Höllerer mischt nicht nur den Fachbereich gewaltig auf, sondern setzt mit öffentlichen Dichterlesungen in der Kongresshalle (Literatur im technischen Zeitalter) auch deutliche Spuren im Berliner Kulturleben. Und Klotz macht mit einem Grundkurs Einführung in die Literaturwissenschaft (nicht nur für Philologen, sondern zunächst vor allem für Techniker und Naturwissenschaftler) seine ersten Erfahrungen in der Kunst des Lehrens. Daneben ist er als Theater- und Opernkritiker für die Frankfurter Rundschau, das Spandauer Volksblatt und Fachzeitschriften tätig. Er knüpft zahlreiche Kontakte zu Literaten und Theaterleuten. Eine langjährige Freundschaft verbindet ihn mit dem Schriftsteller Günter Grass, die nicht ohne ästhetische – und nach 1968 – politische Spannungen verläuft, denn Klotz macht keinen Hehl aus seiner Sympathie mit den protestierenden Studenten, bedauert sehr, dass in seinen Frankfurter Jahren die Zeit dafür noch nicht reif war.

Nach seiner Habilitation zum Thema Die erzählte Stadt, die erst nach zahlreichen internen Querelen zustande kommt, ist es für ihn an der Zeit, zu neuen Ufern aufzubrechen. Nach einer unerfreulichen Lehrstuhl-Vertretung in Münster und einer fröhlichen Gastprofessur in Stockholm wird er zu seiner eigenen Überraschung Ordentlicher Professor an der Stuttgarter Universität. Wie konnte man sich in der von jeher schwarz regierten Stadt für einen linken Volvo-Fahrer entscheiden, der vom Verfassungsschutz abgehört wurde!? Die folgenden Jahrzehnte in Stuttgart sollten zeigen, dass so ein Professorenleben gar nicht so lustig ist wegen des immerwährenden zermürbenden Kampfes gegen die Institutionen und das Kultusministerium. Reformen kommen nur sehr schleppend voran. Klotz setzt sich nachdrücklich für interdisziplinäre Dialoge und Debatten über Vorgetragenes ein.

Der dritte Teil des Buches, der mehr als die Hälfte des Gesamtumfangs ausmacht, ist Reise-, Bildungs- und Abenteuerroman (mit teilweise pikaresken Zügen) in einem. Auf ihn bezieht sich auch der Untertitel, in dem sich Klotz als kunstbedachter „Gambusino“ und „Wanderprediger“ zu erkennen gibt, als Schatzsucher also, wie er in einigen Romanen Karl Mays vorkommt, und als nimmermüder Reisender in Sachen Kultur, der in vielen ausländischen Gastsemestern und Vortragsreihen sein reiches Wissen gegen noch vielfältigere neue Erfahrungen eintauscht, Lehrender und Lernender in einer Person. Von Flugangst geplagt, erobert er sich die fernen Länder mit dem Automobil, seinem bewährten Volvo, meist mit der kompletten fünfköpfigen Familie. Dabei sind die angefahrenen Ziele durch seine Lektüren vorbestimmt, er sucht das ihm aus der Literatur Bekannte in der Realität zu entdecken und zu erkennen. Die Reisen führen ihn nach Großbritannien, Dänemark, Jugoslawien, Italien und immer wieder Spanien, aber auch nach Nordafrika, nach Algerien, Tunesien und Marokko. Eindrucksvoll werden die besichtigten Artefakte, aber auch die menschlichen Kontakte beschrieben, Begegnungen mit ausländischen Kollegen und mit Studenten, die sehr unterschiedlich auf sein Angebot eines „Rollentauschhandels“ reagieren (Motto: Ich bringe euch bei, was ihr nicht wisst, ihr bringt mir bei, was ich nicht weiß). Überraschenderweise finden sich in Algier die engagiertesten und diskussionsfreudigsten Hörer. Doch auch viele Anregungen für seine Bücher nimmt Klotz in den fremden Ländern mit. In Stratford wird bei nur mäßigen Aufführungen von Gilbert & Sullivan ein Grundstein gelegt für das erst später avisierte Operettenbuch. Die Casa Beethoven in Barcelona wird zum Sesam-Öffne-Dich auf der Suche nach Material über die Zarzuela.

Im vierten und letzten Teil (Was kam dabei heraus: schwarz auf weiß?) lässt Klotz alle Bücher und Essays seines langen Gelehrtenlebens noch einmal Revue passieren, skizziert deren Inhalte und gibt hilfreiche Einblicke in seine Methodik. Einige Titel sind Standardwerke geworden, die in keiner Bibliothek von Theaterfreunden fehlen dürfen. Neben Operette – Porträt und Handbuch einer unerhörten Kunst (München, 1991; erweiterte Fassung: Kassel, 2004) sind das vor allem die frühere Publikation Das bürgerliche Lachtheater (München, 1980/2007) und das mit vier weiteren Autoren bestrittene Kompendium Komödie – Etappen ihrer Geschichte von der Antike bis heute (Frankfurt /Main, 2013). Ich persönlich nehme auch die Bände Erzählen (München, 2004) und Verskunst (Bielefeld, 2006) immer wieder mit Gewinn zur Hand.

Scheu vorm Artefakt? schließlich krönt das schriftstellerische Werk mit einem anregenden Schmöker, der eine ideale Balance zwischen Essay und autobiographischem Roman findet (Verhältnis etwa 1:4). Er ist auch sehr vergnüglich lesbar, weil er nicht aus der abgeklärten Perspektive eines 90jährigen geschrieben ist, sondern immer wieder den Schelm eines lebenslangen Lausbuben hervorblitzen läßt, der sich über seine diversen Streiche noch heute diebisch freuen kann. In 16 durchnummerierten burlesken Intermezzi mit dem zutreffenden Titel „Unfug“, über die einzelnen Sektionen verteilt, dokumentiert sich diese Haltung am deutlichsten Volker Klotz: Scheu vorm Artefakt? Abenteuer eines kunstbedachten Gambusinos und Wanderpredigers; 540 Seiten; Königshausen & Neumann, Würzburg 2020; ISBN: 978-3-8260-6839-3). Ekkehard Pluta

Ehrung aus den Beständen

 

Anniversary Edition? Vor hundertfünfzig Jahren, am 14. Oktober 1871, wurde Alexander von Zemlinsky, der das adelige „von“ in seinem Namen seit den 1890er Jahren nicht mehr verwendete, in Wien geboren. Gestorben ist er im Alter von 71 Jahren im amerikanischen Exil in Larchmont nordöstlich von New York. „Über Zemlinsky nachzudenken“, schreibt der Musik-, Politik- und Literaturwissenschaftler Christoph Becher in seinem umfangreichen und eingehenden Text, der die Edition begleitet, „heißt zumeist, an seinem Ende anzufangen. So typisch seine Rezeptionsgeschichte für das von Weltkriegen und Nationalsozialismus gezeichnete 20. Jahrhundert zu sein scheint, bleibt doch bemerkenswert, wie unterschiedlich der Komponist in den vergangenen 150 Jahren beurteilt worden war“. Anerkennt in Wien, wo Mahler im Jahr 1900 seine zweite Oper Es war einmal an der Hofoper uraufführte, bewundert von seinem Schüler Schönberg, der sein Schwager wurde, gefeiert als Dirigent des Deutschen Theaters in Prag, „unterlag Zemlinsky noch zu Lebzeiten den musikalischen wie politischen Zeitläufen. Er wurde verjagt und vergessen“. Die Erinnerung an ihn setzte erst Mitte der 1970er Jahre wieder ein. Die Uraufführung des Traumgörge 1980 in Nürnberg, dann Gerd Albrechts Aufführung der beiden Oscar-Wilde-Einakter Eine florentinische Tragödie und Der Zwerg 1981 in Hamburg leiteten, begleitet von der 1977 bis 1981 entstandenen Einspielung der Streichquartette durch das LaSalle Quartett und Lorin Maazels Aufnahme der Lyrischen Symphonie aus dem März 1981 (beide bei der DG), die Zemlinsky-Renaissance ein. Bedeutenden Anteil daran hatte von Anfang an das Label Capriccio, das zum Geburtstag wesentliche Aufnahmen auf sechs CDs mit einer Spielzeit von 6 ½ Stunden bündelt (C7360).

Im Fall von Zemlinskys Opern bietet die letzte CD (CD 6) zentrale Ausschnitte aus den – mit Ausnahme der Florentinischen Tragödie – konkurrenzlosen Capriccio-Gesamtaufnahmen von fünf Werken. Angefangen von der Märchenoper Es war einmal (1900), die Hans Graf im Juni 1987 beim Dänischen Rundfunk aufnahm, über den 1905/06 entstandenen Traumgörge unter Gerd Albrecht (Frankfurt, September 1987), welcher im Oktober 1996 an der Hamburgischen Staatsoper auch die Live-Aufnahme von Der König Kandaules dirigierte. Bis zu Stefan Soltesz, der im Februar 1990 in Berlin die Klabund-Oper Der Kreidekreis (1933) aufnahm, und Bertrand de Billys Live-Aufnahme der Florentinischen Tragödie 2010 aus Wien. Die sorgfältig ausgewählten Ausschnitte lassen unzufrieden. Das will man ganz hören.

Den Monolog des Gyges (mit Franz Grundheber) hatte Gerd Albrecht bereits zuvor aus dem König Kandaules herausgelöst für seine Einspielung der zu einer Orchestersuite zusammengestellten Ballettstücke aus Triumph der Zeit, einem Tanzpoem in einem Aufzug von Hugo von Hofmannsthal, das unvollendet blieb, da Mahler gegen eine Aufführung an der Wiener Hofoper war (CD 2).

Albrecht hatte 1992 ebenfalls die Symphonischen Gesängen op. 20 eingespielt, sieben Liedern für Bariton und großes Orchester auf Texte schwarzer amerikanischer Dichter, die u.a. von Rassismus und Lynchjustiz handeln (CD 3). Franz Grundheber reduziert gewaltige Stimmittel zu feinstem Ausdruck. Auf die dritte CD mit den Orchesterliedern gehört auch Zemlinskys zweiter Orchesterlieder-Zyklus, die sechs Maeterlinck-Lieder op. 13 mit der pastosen Petra Lang und dem ORF Orchester unter Susanna Mälkki. Ebenfalls auf der dritten CD findet sich das Brahms gewidmete, 1896 entstandene und 1900 im Wiener Musikverein uraufgeführte Frühlingsbegräbnis für Sopran, Bariton, Chor und Orchester mit dem schwülstigen Text von Paul Heyse, der von den Tieren des Waldes erzählt, die einen „von der Sommersonne getöteten Jüngling beerdigen“. Edith Mathis und der Ende vorigen Jahres verstorbene Roland Hermann bieten noble Gesangsleistungen, ohne das längliche Werk zu retten; dringlich nehmen Chor und Orchester des NDR unter Antony Beaumont den hymnischen Ton auf. Kleine Preziosen stellen die Eichendorff-Ballade „Waldgespräch“ für Sopran, zwei Hörner, Harfe und Streicher dar und die Dehmel-Vertonung „Maiblumen blühten überall“ für Sopran und Streichsextett, die den eigenen Ton des jungen Zemlinsky zeigen. Edith Mathis umhüllt die Jahrhundertwend-Müdigkeit mit großer Finesse. Als Alternative unter Leitung eines Dirigenten käme James Conlons Aufnahme sämtlicher Orchesterlieder bei EMI (mit Isokoski, Urmana, Andreas Schmidt, Volle) in Frage.

Die Maeterlinck-Gesänge finden wir ein weiteres Mal auf der vierten CD. Diesmal in einer Bearbeitung „für Singstimme und Kammerensemble von Erwin Stein und Andreas Tarkmann“. Begleitet vom Linos Ensemble singt die an der Wiener Staatsoper tätige ukrainische Mezzosopranistin Zoryana Kushpler den knapp 20minütigen Zyklus glutvoll, erdenschwer. Die vierte CD, sozusagen die Lieder-CD, bietet weitere Besonderheiten: die sechs leichten, keineswegs folkloristischen Walzer-Gesänge nach toskanischen Volksliedern op. 6., interpretiert von dem eminenten Liedbegleiter Charles Spencer und dem etwas anämischen Tenor von Thomas Michael Allen. Mit dem die beiden zeitgleich mit Schönbergs Brettl-Liedern entstandenen Brettl-Lieder von 1901 sowohl intensiv wie buffonesk ausmalenden Tenor Thomas Ebenstein steht Spencer ein profilierterer Interpret zu Seite. Jugendstilfeine Lied-Kultur bietet Ruth Ziesak (begleitet von Gerold Huber) in den 5 Gesängen op. 7 und dem Zyklus der vier 1916 in Prag entstanden Lieder mit drei Texten Hofmannsthals und einem von Baudelaire, die erst 1995 von Antony Beaumont herausgegeben wurden. Prägnant, wortklar und erzählerisch steuert der Bariton Kay Stiefermann Heines „Es war ein alter König“ und Eichendorffs „Waldgespräch“ aus (mit Alexander Schmalcz am Klavier) bei.

Jugendstil und 30er Jahre-Moderne. Die zweite CD kombiniert die 1893 uraufgeführte viersätzige d-moll-Sinfonie, die Zemlinsky sowohl die Anerkennung von Brahms wie der Presse einbrachte, die ihm „eine gedeihliche Zukunft“ vorhersagte, und die schönheitstrunkenen Ballettsätze Triumph der Zeit von 1903 mit der 1934, für eine „praktische Besetzung“ komponierten Sinfonietta op. 23.  Albrecht dirigiert, wie erwähnt, den Triumph der Zeit, Antony Beaumont leitet das Symphonieorchester des NDR bei der Symphonie Nr. 1 d-moll, und die finnische Dirigentin und Spezialistin für Neue Musik Susanna Mälkki und das ORF Orchester widmen sich der Sinfonietta.  

Das Klarinettentrio d-Moll op. 3 von 1896, das eine Hommage an Brahms und dessen fünf Jahre zuvor uraufgeführte Klarinettentrio 114 darstellt, und das zweite der vier Streichquartette, eingespielt von Pacific Trio 2013 in Kalifornien sowie dem Wiener Artis Quartett bereits 1989 in St. Gilgen, reißen den Bereich der Kammermusik an (CD 5). Den Auftakt bildet natürlich das Orchesterwerk, das am Anfang der Zemlinsky-Renaissance stand: die Lyrische Sinfonie op. 18 für Sopran, Bariton und Orchester in Christoph Eschenbachs mit dem Grammy-Award ausgezeichneter Pariser Einspielung mit dem Orchestre de Paris, ein Musikdrama, in dem Christine Schäfers sehr leichter Sopran vor allem im zweiten und sechsten Satz leuchtet und Matthias Goerne sich in seinen vier Abschnitten souverän neben Vorbildern wie Fischer-Dieskau (DG), Hagegard (Decca) oder Allen (Carlton Classics) behauptet /Foto oben Ricordi/ Capriccio ist im Vertrieb von Naxos/ www.naxosdirekt.com).  Rolf Fath

Langer Abend

 

 Diese Serenata raubt keinem den Schlaf. Die Serenata Endimione von Joseph Haydns jüngerem Bruder Michael ist auch keine Nacht- oder Schlummermusik, sondern schlicht eine der im 18. Jahrhundert beliebten, bei besonderen Anlässen aufzuführenden Opernfestivitäten mit Seria-Charakter und übersichtlichen Inhalt, die entsprechend des exklusiven Datums nur einmal erklangen. Bekanntesten Beispiele aus der Spätphase der Gattung sind Mozarts Ascanio in Alba und Il sogno die Scipione. Der 1743 vom Erzbischof nach Salzburg gerufene und zum Hofkomponisten ernannte Michael Haydn übernahm im Laufe seines mehr als 40jährigen Wirkens an der Salzach Mozart Posten als Organist an der Dreifaltigkeitskirche und war zuletzt auch für die Dommusik zuständig. Anlässlich der Weihe von Ignaz von Spaun zum Fürstbischof von Brixen am 17. November 1776 schrieb er die abends im Salzburger Hoftheater aufgeführte Serenata in zwei Akten Endimione, die Wolfgang Brunner mit Unterstützung des Instituts für Mozart Interpretation der Universität Mozarteum und der Michael Haydn Gesellschaft und des von Graziano Mandozzi herausgegebenen Notenmaterials mehr als 240 Jahr nach ihrer ersten Aufführung wieder der Öffentlichkeit zugänglich machte (cpo 2 CD 555 288-2). Der 1721 verfasste und u.a. von Sarro, Hasse, Jommelli und Johann Christian Bach vertonte Text seit stammt von Metastasio. Die von Amor überwachten und gesteuerten Liebeshändeleien um den schönen Hirten Endimione und Diana sowie deren Begleiterin Nice sind in eine unendlich scheinende Abfolge von relativ umfangreichen Rezitativen und Arien gepackt. Genau genommen sind es im ersten Akt mit Ausnahme zweier Arien für die Göttin der Jagd, je eine Arie für jeden der Protagonisten ebenso vier Arien im zweiten Teil, in dem mir die Rezitative noch ausführlicher geraten scheinen. Für Abwechslung sorgt das Duett Diana/ Endimione am Ende des ersten Aktes und der kleine Chor am Schluss der Oper. Das Ganze dauert bekömmliche zwei Stunden. Die Arien sind durchaus bravourös, verziert, setzen mehrfach auf Tempo und jagen die Sänger durch alle Lagen, die schöne Instrumentierung unterstreicht den pastoralen Charakter der Szene in der antiken Landschaft Karien „auf den Hängen des Bergs Latmus“ in Südwestanatolien. Die Besetzung mit drei Sopranen und einem Countertenor in der Partie des vermutlich vom Kastraten Tommaso Consoli, welcher im Jahr zuvor den Ramiro in La finta giardiniera kreiert hatte, gesungenen Endimione trägt zum Gleichmaß der Serenata bei, aus der im ersten Teil Endimiones „Dimmi che vaga“ mit dem um äußersten Wohllaut bedachten Nicholas Spanos herausragt. Aleksandra Zamojska, absolut sicher in den Koloraturen und Verzierungen von Dianas erster Arie, und die eher lyrischen Ulrike Hofbauer als Nice und Lydia Teucher als Amor tummeln sich mit etwas zu gleichförmigem Ausdruck an den Berghängen, wo Dianas mehr als 13minütige Cavatina „Selve amiche“ recht ermüdend wird. Möglicherweise hätte Wolfgang Brunner das von der Salzburger Hofmusik souverän bewältigt göttlich-pastorale Getue etwas energischer lenken können.Rolf Fath

 

Aus Bayreuth nichts Neues

 

Schon Brigitte Hamann hat 2002 in ihrer Winifred-Monographien nicht nur ein Buch über die gegenseitige Umarmung zweier Ungleicher, die sich brauchten geschrieben. Winifred Wagner (die Gattin und Erbin des Wagnersohnes Siegfried) hat die Bayreuther Festspiele vor dem Bankrott gerettet, indem sie Hitler als großzügigen Beschützer und finanzkräftigen Förderer gewann, dafür hat sie ihm propagandistisch gedient als Steigbügelhalterin großbürgerlichen Renommees. Das Buch beschäftigte sich erstmal und wegweisend auch mit dem Siegfried-Sohn Wieland Wagner, dem Entrümpler und Erneuerer Nachkriegsbayreuths, der sich selbst als Saubermann stilisierte, aber wie man spätestens nach der Lektüre dieses Buches nicht länger ignorieren darf, eine nicht unerhebliche Nazi-Vergangenheit aufwies. Nicht ohne Grund nannte der Bayreuth-Regisseur Heinz Tietjen ihn „den übelsten der Hitler-Günstlinge“. Brigitte Hamann nannte ihn in einem Interview, das ich mit ihr führte, den „Obernazi von Bayreuth“. Wieland, das „Genie“ Neubayreuths der Adenauerzeit war in der Tat Hitlers Protegé gewesen, arbeitete im KZ-Außenlager Bayreuth und hatte bis 1945 sehr enge persönliche Beziehungen zu Hitler. Nach 1945 zog er sich in die französisch besetzte Zone an den Bodensee zurück, um dem Entnazifizierungsverfahren zu entgehen, dem sich seine Mutter unängstlich und entschlossen stellte.

„Wie­land hat sich der Entnazifizierung entzogen … Deswegen hat er sich an den Bodensee abgesetzt … Was muss er für Spannungen in sich ge­habt haben. Er ist ja auch früh ge­storben. … Es wird sich unser Bild von den bekann­ten Nazis und Antinazis gewaltig ver­ändern.“  (Brigitte Hamann)

Brigitte Hamann hat ein Tabu gebrochen. Es waren schließlich die Winifred-Enkel, die die Entstehung ihres Buches behinderten, im Gegensatz zum Festspielchef Wolfgang Wagner (Vater von Katharina Wagner, der jetzigen Festspielchefin), der Brigitte Hamanns akribische Recherchen im Richard Wagner-Archiv zu Bayreuth offenherzig und tatkräftig förderte, indem er ihr nicht nur viel Material zur Verfügung stellte, sondern beispielsweise auch den Zugang zu den von der Stadt Bayreuth gesperrten, aber außerordentlich aufschlussreichen Tagebüchern der ehemaligen nationalsozialistischen Archivarin Gertrud Strobel zugänglich machte. Sowohl der Briefwechsel Winifreds und Wielands, als auch der Nachlass Wielands werden von den Winifred-Enkeln bis heute unter Verschluss gehalten. „Es sind die Enkel, die eine Aufarbeitung der braunen Bayreuther Geschichte verhindern, nicht Wolfgang Wagner (Brigitte Hamann).“ 

Brigitte Hamann hat in ihrem aufsehenerregenden Buch über Winifred Wagner, die Mutter Wieland und Wolfgangs als Erste mutig auf die Verstrickung des von Hitler protegierten, zum künftigen Bayreuth-Leiter auserkorenen Sohnes Wieland hingewiesen und die gängige Meinung Lügen gestraft, er hätte eine „reine Weste“ gehabt. Nach Brigitte Hamanns Buch konnte die vorherrschende Ver­herrlichung des als verschlossen geltenden Wieland nach der Maxime Daphne Wagners, „Die Omi war Nazi, der Vater nie“, nicht länger aufrechterhalten werden.  Es war nach der Lektüre ihres Buches klar, dass die Geschichte Neubayreuths neu geschrieben werden müsse.

Albrecht Bald und Jörg Skriebeleit haben in ihrem 2003 erschienenen Buch „Das Außenlager Bayreuth des KZ Flossenbürg. Wieland Wagner und Bodo Lafferenz im „Institut für physikalische Forschung“ den Anfang gemacht. Sie haben den Wagner-Enkel Wieland als Nazi und Leiter des Außenlagers Bayreuth des KZ Flossenbürg“ aus der Grauzone der vorherrschenden Biographik des Wagner-Enkels ans Licht gezogen.

Wieland Wagner, zweifellos ein genialer Regisseur, kreierte mit seiner Weltenscheibe, auch „Wielandsche Kochplatte“ genannt, seiner Lichtregie, seiner szenischen Abstraktion und Verbannung aller Dekoration und seiner ganz und gar un-­na­tio­nalistischen, archaisch-mythischen Lesart Wagners und seiner Musikdramen einen geradezu weg­weisenden „Neubayreuther Stil“, der Theatergeschichte schrieb. Das Nachkriegs-Bayreuth mit den küh­nen, strengen Inszenierungen Wielands und dem bis heute nicht wieder erreichten vorbildlichen Sänger­ensemble wurde zum vielgepriesenen Modell neuen, modernen, unvorbelasteten Wagnertheaters.

Nicht, dass Wieland irgendeine wichtige, verantwortungsvolle Tätigkeit innerhalb des Machtapparates der Nazis innegehabt hätte. Aber er hat doch, selbstverständlich Parteimitglied, ohne den geringsten moralischen Zweifel eine bedenkliche Einrichtung der Nazis dankbar benutzt, um – obwohl er als vorherbestimmter Bayreuth-Erbe von Hitler persönlich vom Wehrmachtsdienst freigestellt war – nicht im letzten Moment noch zum Militär eingezogen zu werden und ungefährdet im Krieg zu überwintern. Er war, worauf schon Bri­gitte Hamann hingewiesen hatte, von September 1944 bis April 1945 stellvertre­tender ziviler Leiter eines Bayreuther Außenlagers des fränkischen KZs Flossenbürg, in dem Tausende von Inhaftierten ums Leben kamen.

Gemessen am Grauen dieses KZs war das Bayreuther Außenlager zwar ein angenehmes Hotel, in dem niemand zu Tode kam, wie überlebende Inhaftierte in der Dokumentation von Bald und Skriebeleit berichten, aber es war doch immerhin eine Institution, in der physikalische Experimente zur Entwicklung der Wun­­derwaffe V2 durchgeführt wurden, Experimente, an denen 85 Häftlinge mitwirken mussten.

Wieland Wagners Schwager Bodo Lafferentz, seit 1943 mit Wielands Schwester Verena Wagner verheiratet, hatte sich als SS-Multifunktionär für ein Institut zur Entwicklung einer Wunder­waffe stark gemacht. Er sorgte dafür, dass Wieland als Verbindungsmann in Bayreuth fungierte und so weder zur Wehrmacht, noch zum Volkssturm eingezogen wurde. Im Lager selbst – auf dem Gelände einer Baumwollspinnerei – konnte Wieland Experimente an Bühnenbildern und Leuchtsystemen anstellen – und dabei auf die Hilfe von Häftlingen zählen. Wieland soll sich mehrfach für die Überstellung von Häftlingen in zivile Tätigkeitsfelder eingesetzt haben. Er fungierte als Mittelsmann zu Lafferentz. Bevor das Lager im April 1945 aufgelöst wurde und die Häftlinge einen Todesmarsch ins KZ Flossenbürg antraten – erschütternde Berichte Überlebender sind in der Dokumentation nachzulesen – setzten sich Lafferentz und Wieland mitsamt kostbarer Wagner-Handschriften nach Nußdorf am Bodensee ab – in die französische Zone, wo man einer Entnazifizierung zunächst entging.

1948 kam es zum Spruchkammerverfahren. Wieland wurde aufgrund seiner Mitgliedschaft in der NSDAP, in der Reichs­kammer der Bildenden Künste und in der Reichstheaterkammer per Sühnebescheid als „Mitläufer“ eingestuft. Er zahlte ein Sühnegeld von 100 Mark plus Prozesskosten. Seine Beschäftigung im Bayreuther Außenlager aber hatte er unterschlagen. Eine Verharmlosung.

Es ist das Verdienst der Autoren Bald und Skriebeleit, diese in aller gebotenen Klarheit und Nüchternheit aufgearbeitet und sorgfältig dokumentiert zu haben. Nach der Lektüre dieser Arbeit muss sich die Wagner-Welt fortan der Tatsache stellen, dass ausgerechnet jener ästhetische Grundstein, auf dem „Neubayreuth“ und die von aller „braunen“ Deutschtümelei sich distanzierende Wagner-Renais­sance der Nachkriegs­zeit aufbaute, womöglich in einem KZ-Außenlager gelegt wurde.

Dem schließt sich das Buch des Theater- und Musikwissenschaftlers Anno Mungen an, indem es mit Fakten und Fotografien der Jahre 1941-1945 den letzten Zweifel ausräumt, dass der Spruch, den die Brüder als Leitsatz ihrer neugegründeten „Neubayreuther“ Festspiele im Festspielhaus anbrachten, Hier gilt’s der Kunst (auf dem Buchdeckel ohne Anführungszeichen, was bei einem solchen Zitat ebenso befremdlich ist wie bei der Verwendung von „Antarteter Musik“ ohne dieselben) eine Verharmlosung, ja eine Lüge ist.

Mungen betont, „nur das, was auch die Quellen hergeben“ zu verwendet zu haben. Aber sowohl die Liste verwendeten Literatur (die ideologisch einseitig ausgewählt wurde) als auch der Quellen ist äußerst schmal. Wichtigste Quellen sind für ihn die bisher nicht edierten Tagebücher Gertrud Strobels, Zeitungen und der Nachlass Wielands, der inzwischen im Bayerischen Hauptstaatsarchiv liegt.

Halb romanhafte Nacherzählung der Ereignisse, halb akribische Dokumentation der vier maßgeblichen, die Karriere Wielands bestimmenden Jahre, kommt Mungen zu keinen anderen Ergebnissen als Brigitte Hamann und Jörg Skribeleit, sein Buch geht auch nicht über ihre Forschungen hinaus.

Mungen lässt zwar wie unter einer Lupe akkurat den ganzen Bodensatz, alles Scheußliche, Inhumane, Faulige des Nazismus der Wagner-Familie, aufscheinen, von der Bayerns Finanzminister Konrad Pöhner schon 1968 urteilte: „Man weiß nicht, ob in der Familie die Dummheit oder die Gemeinheit größer ist.“

Mungen erzählt unzählige unappetitliche Ereignisse aus der Geschichte Bayreuths im chronologischen Tagebuchstil, aber wirklich Neues oder neu Erleuchtendes ist eigentlich nicht zu lesen. Die Verlogenheit der Wagnerfamilie, die Verlogenheit auch der Wieland-Hagiographie ist bekannt. Wer sich voyeuristisch daran weiden möchte, mag das reißerische Buch Mungens genüsslich verschlingen. Manchem aber wird es wohl degoutant wo nicht überflüssig erscheinen, zumal es – reichlich moralisierend und auf Betroffenheit der Lesenden setzend – als Motto ausgerechnet  den fragwürdigen, aber für einen Teil der Wagnerliteratur bezeichnenden Ausspruch von Peter Adam „The Arts of the Third Reich“, London 1992 zitiert: „One can only look at the art of Third Reich through the lens of Auschwitz“.

Dem hielt schon 1986 der britische Historiker Peter Gay entgegen: „Für den Historiker des modernen Deutschlands ist die Suche nach schädlichen, unheilvollen oder gar tödlichen Ursachen problematischer und riskanter geworden, als es sonst unvermeidlich ist – sie wird ihm zu einer Zwangsvorstellung, so dass er die ganze Vergangenheit nur noch als ein Vorspiel zu Hitler sieht und jeden angeblich deutschen Charakterzug als einen Baustein zu jenem schrecklichen Gebäude, dem Dritten Reich“.

Schon in seinem vor 1997 veröffentlichten Buch „Wagners Hitler“ hat Joachim Köhler Hitler offenbar mehr geglaubt, als Richard Wagner. Der Titel Hitlers Wagner wäre der geschichtlichen Chronologie der Beziehung zwischen Wagner und Hitler weit angemessener. Immerhin handelt es sich um einen Prozess der Usurpierung. Ein Vorgeborener wird in die Ideologie eines größenwahnsinnigen Nachgeborenen einverleibt. Was nur funktionierte, indem Hitler und die Seinen wesentliche Aspekte Wagners ausblendeten, ja ignorierten. Man kann in diesem Zusammenhang nur noch einmal daran erinnern, was der israelische Historiker Jakob Katz in seinem 1985 erschienenen Buch „Richard Wagner. Vorbote des Antisemitismus“ angesichts der Flut von Veröffentlichungen betonte, die Wagner vom Holocaust, vom Deutschen Nationalismus der Kaiserzeit, von Chamberlain und von Hitler aus rückblickend interpretieren: Die Deutung Wagners aufgrund der Gesinnung und der Taten von Nachfahren, die sich mit Wagner identifizierten, ist ein unerlaubtes Verfahren.“; es handele sich  … um eine Rückdatierung, ein Hineinlesen der Fortsetzung und Abwandlung Wagnerscher Ideen durch Chamberlain und Hitler in die Äußerungen Wagners selbst (Anno Mungen: Hier gilt’s der Kunst. Wieland Wagner 1941-1945; Westend Verlag, 150 S.; ISBN 978-3-86489-329). Dieter David Scholz