Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Les Francais(es) Symphoniques

 

Mit Fug und Recht wird man Laurence Equilbey, geboren 1962 in Paris, als eine der führenden Dirigentinnen unserer Zeit bezeichnen dürfen. Wenn es eine Aufsteigerin unter den Komponistinnen des 19. Jahrhunderts gibt, so ist dies fraglos ihre Landsmännin Louise Farrenc (1805-1875). Es erscheint insofern eigentlich konsequent, dass sich auch Equilbey nun deren Sinfonik widmet. Das Privileg, Neuland zu betreten, kann man Erato (0190296698521) allerdings nicht mehr zuerkennen, gibt es doch bereits komplette Zyklen der drei Sinfonien bei cpo (unter Johannes Goritzki), bei Naxos (unter Christoph König) und – wenn auch derzeit vergriffen – bei Disques Pierre Verany (unter Stefan Sanderling).

Eine einzelne CD mit den Sinfonien Nr. 1 und 3 macht den Anfang bei Erato. Rein von den Spielzeiten her fällt auf, dass Equilbey den Kopfsatz der ersten Sinfonie in c-Moll mit neuneinhalb Minuten deutlich flotter nimmt als König (elf Minuten) und Goritzki (gar elfeinhalb). In den übrigen Sätzen sind die Tempi bei König allerdings teils sogar noch schneller, wogegen Goritzi das getragenste Konzept verfolgt. Was ebenfalls sofort hörbar wird, ist der von der historischen Aufführungspraxis beeinflusste Ansatz. Die Pauken treten sehr hervor, hierin nicht unähnlich Goritzki, während König sie mehr in den Gesamtklang einbettet. Das Insula orchestra unter Equilbey spielt auf historischem Instrumentarium, ohne dabei im Entferntesten akademisch zu klingen. Diese Erste in c-Moll begründet bereits den Ruf Farrencs als ernstzunehmende Sinfonikerin. Der langsame Satz hat in der Neuaufnahme wirklich etwas Kantables, ist weder verhetzt noch verschleppt. Das noch altmodisch mit Minuetto bezeichnete Scherzo atmet Schumann’schen Geist – kein Wunder beim Entstehungsdatum 1841. Der Finalsatz rundet das gut halbstündige Werk adäquat ab und bietet einige wirkliche hörenswerte Einfälle.

Die dritte Sinfonie in g-Moll von 1847 ist von ihrer Besetzung her ein wenig kammermusikalischer als insbesondere die hier nicht inkludierte zweite Sinfonie. Tatsächlich scheint Equilbey gerade dieses Werk aufzuwerten, wählt sie interessanterweise doch erstaunlich breite Zeitmaße. So dauert das verträumte Adagio cantabile hier zehneinhalb Minuten und ist somit eine Minute langsamer als bei Goritzki und sage und schreibe derer zweieinhalb als bei König. Mit feuriger Dramatik, aber nicht überzeichnet, erfolgt die Darbietung des Scherzos und des Schlusssatzes. Ein Qualitätsabfall gegenüber den Vorgängerwerken ist hier gewiss nicht zu verspüren.

 Das dreisprachig gehaltene Booklet (Französisch, Englisch, Deutsch) ist informativ und verrät, dass nicht nur eine Gesamteinspielung des sinfonischen Schaffens von Farrenc geplant ist, sondern im Zuge dieses Projekts auch deren Zeitgenossinnen wie Emilie Mayer, Fanny Hensel-Mendelssohn und Clara Schumann Berücksichtigung finden sollen.

Auch klanglich eine sehr überzeugende Angelegenheit (Aufnahme März 2021; klarer als bei Naxos und ähnlich gut wie bei cpo), liefert Laurence Equilbey eine feine Ergänzung besonders zu den großsinfonischer angehauchten Interpretationen Goritzkis und bereichert die noch ausbaufähige Farrenc-Diskographie. Fortsetzung unbedingt erwünscht. Daniel Hauser

 

Unvermindert engagiert geht Fabrice Bollon mit dem Philharmonischen Orchester Freiburg daran, die Orchesterwerke des französischen Komponisten Albéric Magnard einzuspielen. Nach den bereits vorgelegten vier Sinfonien folgten nun weitere Orchesterwerke, die Naxos in Zusammenarbeit mit SWR2 in üblicher Aufmachung auf einer Compact Disc herausbringt (Naxos 8.574084). Obwohl es sich also um eine deutsche Produktion handelt, liegt der (knappe) Einführungstext von Pierre Carrive wiederum nur auf Französisch und in englischer Übersetzung vor – das ginge besser. Neben der in Sonatenform komponierten Ouvertüre op. 10 von 1895 sind Stücke mit einem bestimmten Hintergrund inkludiert. Dies beginnt beim im selben Jahr entstandenen Chant funèbre, welcher seinem eigenen Vater, dem Herausgeber von Le Figaro, gewidmet ist. Obwohl das Vater-Sohn-Verhältnis kein einfaches war, ist die ehrliche Trauer unverkennbar herauszuhören. Mit der Hymne à la justice von 1902 positionierte sich Magnard politisch eindeutig, indem er sich in der Dreyfus-Affäre auf die Seite des (wie sich herausstellen sollte) zu Unrecht des Landesverrates angeklagten jüdischen Offiziers Alfred Dreyfus stellte, der nach jahrelangem juristischen Hin und Her 1906 schließlich tatsächlich freigesprochen und völlig rehabilitiert werden sollte. Auch musikalisch triumphiert zum Schluss die Gerechtigkeit. Mit der Hymne à Vénus von 1904 setzte Magnard der weiblichen Liebe im Allgemeinen und seiner eigenen Ehefrau Julia Creton im Speziellen ein Denkmal. Den Abschluss bildet die sogenannte Suite d’orchestre dans le style ancien von 1888/92, die sich stark an den Tanzsuiten aus dem Zeitalter des Rokoko orientiert und in fünf Sätze untergliedert ist. Alle auf dieser CD enthaltenen Werke haben eine Spielzeit von knapp zwölf bis annähernd fünfzehn Minuten, stellen also eine kurzweilige, künstlerisch freilich genauso hörenswerte Alternative zu den mehr ausufernden Sinfonien dar. Die klanglichen Qualität dieser zwischen Oktober 2017 und März 2019 eingespielten Produktion ist ohne Fehl und Tadel (Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.). Daniel Hauser

 

 

Zeitlich gar nicht so viel früher entstanden sind diejenigen Werke von César Franck, die dasselbe Label nun mit dem Royal Scottish National Orchestra unter Jean-Luc Tingaud vorlegt (Naxos  8.573955). Freilich sollte dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass zwischen Franck, geboren 1822, und Magnard, geboren 1865, zwei Generationen liegen. Es sind dann auch Kompositionen aus der späten Phase des ersteren, entstanden zwischen 1875 und 1887, gerade drei Jahre vor seinem Ableben. Chronologisch den Anfang macht die Tondichtung Les Éolides, welche auf einem Gedicht von Leconte de Lisle basiert und die Töchter des Windgottes Aiolos zum Thema hat. Dem etwas unscheinbaren Stück, leicht wagnerisch angehaucht, aber doch gerade auch an Mendelssohn erinnernd, war schon zeitgenössisch kein allzu großer Erfolg beschieden, und auch heute findet man es fast nie im Konzertsaal. Anders Le Chasseur maudit von 1882, inspiriert von Gottfried August Bürgers Der wilde Jäger, welches nicht nur die bedeutendste Sinfonische Dichtung César Francks darstellt, sondern auch einen Höhepunkt der Tondichtung der Spätromantik überhaupt und über lange Zeit hinweg auch eines der am häufigsten aufgeführten Werke dieses Komponisten, auch wenn seine Beliebtheit in der letzten Zeit etwas zurückgegangen ist. Es lässt sich in vier Abschnitte unterteilen, zunächst die friedliche Sonntagslandschaft, in welcher der im Mittelpunkt stehende Graf die warnenden Kirchenglocken ignoriert und lieber zur Jagd (der zweite Abschnitt) aufbricht – freilich ein Sakrileg. Tief im Wald ereilt ihn daher auch ein furchtbarer Fluch (Abschnitt drei), mit Gänsehautstimmung umgesetzt vom Komponisten. Das Werk klingt im letzten Abschnitt in einer furiosen Verfolgung durch höllische Dämonen aus, welche in ihrer Stimmung an den Schlusssatz der Symphonie fantastique von Hector Berlioz gemahnt. Auch wenn die Referenzinterpretationen von Charles Munch nicht übertroffen werden, weiß Tingauds Lesart zu ganz überwiegend zu überzeugen. Schon von den Dimensionen her ist Psyché von 1887, im Titel bereits als Poème symphonique bezeichnet, von anderer Beschaffenheit. Diese letzte Tondichtung von Franck, seinem Schüler und Freund Vincent d’Indy gewidmet, dauert über eine Dreiviertelstunde und ist in drei Teile untergliedert. Untypisch ist auch die Hinzuziehung eines Chores (in der vorliegenden Einspielung die RCS Voices), der in immerhin drei der insgesamt acht Sätze zum Einsatz kommt. Tatsächlich knüpft Franck mit Psyché wieder mehr an die schon 1872 entstandene Poème-Symphonie Rédemption an denn an die üblichen Sinfonischen Dichtungen. Tatsächlich nimmt sich der Komponist zwar eines heidnischen Mythos an, verwandelt diesen jedoch gleichsam durch die Macht der Liebe in ein Erlösungsdrama. Der Chor ist hierbei nicht eigentlicher Handlungsträger, sondern begleitet diese vielmehr betrachtend und auch warnend. Es nimmt nicht wunder, dass sich die von César Franck selbst extrahierte, rein orchestrale viersätzige Suite weit besser durchsetzen konnte als die Komplettfassung mit Chor. Gleichwohl liefert die hier vorliegende Interpretation einen Appell für eben diese Urfassung. Tontechnisch gibt es nichts zu beanstanden (Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.). Daniel Hauser

 

Erfreulicherweise steht die französische Oper des 19. Jahrhunderts seit einigen Jahren wieder vermehrt im Interesse der Klassikgemeinde. So kann es nicht ausbleiben, dass gerade die Opéra-Comique, dieses neben der Grand opéra urfranzösischste Genre, davon ebenfalls profitiert. Wieder ist es Naxos, welches einen weiteren Vorstoß in diese Richtung unternimmt und nun eine Compact Disc mit zehn Opéra-Comique-Ouvertüren vorlegt (Naxos 8.574122). Zeitlich berücksichtigt wurden die Jahre zwischen 1800 und 1875, also tatsächlich Dreiviertel des gesamten Jahrhunderts, was man als großen Pluspunkt hervorheben kann. Freilich dominieren bei genauerem Hinsehen dann doch die 1800er, die 1850er sowie die 1870er Jahre. Den Anfang macht die exotische Ouvertüre zu Le Calife de Bagdad von François-Adrien Boieldieu, der ganz allmählich eine kaum mehr für möglich gehaltene Renaissance erlaubt (cpo brachte dankenswerterweise unlängst sechs seiner Opernouvertüren sowie das Klavierkonzert heraus). Viel zitiert, doch wenig gehört wird Étienne-Nicolas Méhul, vielleicht der führende Komponist der napoleonischen Ära, hier mit zwei Ouvertüren vertreten, zum einen zur Oper Héléna von 1803, zum anderen zu Joseph von 1805, fraglos sein größter Opernerfolg. Es kann nur begrüßt werden, dass nun endlich eine moderne Einspielung dieser Ouvertüre vorliegt. Sodann erfolgt chronologisch ein großer Sprung und man landet bereits 1831 zu Beginn der Julimonarchie, repräsentiert durch die feurige Ouvertüre zur Opera Zampa von Ferdinand Hérold. [Wer die Ära der Restauration (1815-1830) vermisst, sei nochmals auf das bereits besprochene, exzellente erste Volume der Auber-Ouvertüren unter Dario Salvi, ebenfalls bei Naxos erschienen, hingewiesen.] Gerade noch unter dem „Bürgerkönig“, nämlich 1846, wurde auch die Oper Les Mousquetaires de la reine von Jacques Fromental Halévy komponiert, deren Introduktion hier ebenfalls berücksichtigt wurde. Der Zweite Kaiserreich unter Napoleon III. ist sodann musikalisch gleich dreifach repräsentiert mit den Ouvertüren zu La Nonne sanglante von Charles Gounod (1854), zu Les Dragons de Villars von Louis-Aimé Maillart (1856) sowie zu Le Mariage aux lanternes von Jacques Offenbach (1857), auch wenn man letzteres Werk formal eher als Operette bezeichnen muss. Den Abschluss bilden zwei Opernouvertüren, die bereits nach dem endgültigen Ende der Monarchie in Frankreich komponiert wurden, nämlich Le Roi l’a dit von Léo Delibes (1873) sowie La Petite mariée von Alexandre-Charles Lecocq (1875). Es fällt nicht leicht, einzelne dieser Ouvertüren besonders hervorzuheben, ist doch allen eine hohe künstlerische Qualität zu eigen, welche zumindest zum Teil auch die lange Zeit hohe Beliebtheit dieser und jener Oper erklären dürfte. Besonders Joseph, Zampa, Les Dragons de Villars (im Deutschen Das Glöckchen des Eremiten) und Le Roi l’a dit fanden sich ja auch international durchaus im gängigen Repertoire, wovon allerdings nichts mehr geblieben ist. Da auch die künstlerische Darbietung durch das glänzend aufspielende ORF Radio-Symphonieorchester Wien unter dem erfahrenen Dirigenten Michael Halász formidabel ausfällt, könnte das Plädoyer für diese zu Unrecht in Vergessenheit geratenen Opern kaum überzeugender ausfallen (Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.). Daniel Hauser

 

06Weiland meinte der große Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki, ein bekennender Anhänger der klassischen Musik, Frauen hätten in der Kunst in vielen Bereichen ganz Großartiges geschaffen, große Komponistinnen aber, die gäbe es mitnichten. Nun sind die Namen Clara Schumann und Fanny Hensel, geb. Mendelssohn Bartholdy, zwar alles andere als unbekannt, aber erstere primär als Pianistin und Ehefrau von Robert Schumann, letztere vorrangig als jüngere Schwester des Komponisten Felix Mendelssohn Bartholdy. Bringt man den Namen der Französin Louise Farrenc (1804-1875) ins Spiel, dürfte man vermutlich Achselzucken ernten. Dabei war die Pariserin zeitlebens nicht nur als Pianistin und Musikwissenschaftlerin, sondern eben auch als Komponistin  nicht nur bekannt, sondern auch anerkannt. Ihr Altersgenosse Hector Berlioz scheint sie sehr geschätzt zu haben. Auch wenn sie sich vorrangig mit der Komposition von Kammer- und Klaviermusik auseinandergesetzt hat, sind es gerade ihre überschaubaren Orchesterwerke, die allmählich wieder im Interesse der Öffentlichkeit stehen. Immerhin drei Sinfonien, entstanden zwischen 1841 und 1847, zwei Ouvertüren von 1834 sowie zwei sogenannte Grandes Variations für Klavier und Orchester, im Grunde genommen Klavierkonzerte in einem Satz, hat sie hinterlassen. Alle diese Werke entstanden auf ihrem künstlerischen Zenit; im Alter ging ihre Kompositionstätigkeit stetig zurück und erlosch in ihrer letzten Lebensdekade beinahe vollständig.

Die Pioniertat der Wiederentdeckung dieser interessanten Persönlichkeit wurde indes schon zwischen 1997 und 2003 getan, als sich cpo aufmachte, die Sinfonien und die Ouvertüren mit der Radio-Philharmonie Hannover des NDR unter Johannes Goritzki einzuspielen (. Wie gut diese Aufnahmen auch künstlerisch sind, kann man heute, wo Vergleichseinspielungen vorliegen, noch besser nachvollziehen. 2001 folgte eine weitere Einspielung der drei Sinfonien mit dem Orchestre de Bretagne unter Stefan Sanderling für Disques Pierre Verany (lange vergriffen). Nun legt auch Naxos bereits seine zweite Farrenc-CD vor, wie bereits die erste mit den Solistes Européens, Luxembourg, unter der musikalischen Leitung von Christoph König (Naxos 8.574094). Inkludiert sind die erste Sinfonie, die beiden Ouvertüren sowie – als Weltersteinspielung – die auf etwa 1838 datierten Grandes Variations sur un thème du comte Gallenberg für Klavier und Orchester mit Jean Muller als Solisten. Bei den Ouvertüren Nr. 1 in e-Moll und Nr. 2 in Es-Dur gibt es nur geringfügige Unterschiede zu Goritzkis Interpretationen (Sinfonien 1 & 3 auf CD 8389514, Sinfonie 2 auf CD 3935008. Da wie dort sind beide Konzertstücke etwa sieben Minuten lang und verbinden gekonnt die Wiener Klassik mit der Romantik. Hie und da fühlt man sich an Beethoven, aber auch an Mendelssohn und Schumann erinnert – in letzterem Falle quasi eine Vorwegnahme, entstanden dessen Orchesterwerke ja erst ab 1841. Die Ouvertüre Nr. 2 ist wohl das gewichtigere Werk, trotz der Dur-Tonart mit düsterem Beginn in Moll versehen, der gar leicht an die Don Giovanni-Ouvertüre von Mozart erinnert. Ist die Klangtechnik schon in den alten cpo-Produktionen wirklich ausnehmend gut, mag Naxos hier gar noch um Haaresbreite vorn liegen. Im Allgemeinen ist der Klang etwas dunkler timbriert und wirkt zumindest bei der Aufnahmesitzung vom 26. November 2018 im Großen Saal der Philharmonie Luxembourg, in welcher die Ouvertüren und das Klavierstück eingespielt wurden, auch etwas voller. Das ist insofern kurios, da es sich bei der bereits am 13. November 2017 aufgenommenen  Sinfonie in derselben Lokalität genau andersrum verhält, die Einspielung von Goritzki irgendwie „größer“ und etwas räumlicher klingt. Womöglich liegt dies aber auch ein wenig an den breiteren Spielzeiten, die Goritzki anschlägt – er ist mit 35 Minuten beinahe fünf Minuten getragener als König, der im langsamen, liedhaften Satz fast zwei Minuten und in den übrigen Sätzen jeweils etwa eine Minute schneller unterwegs ist. Dies nimmt der Aufnahme nichts von ihrer Wirkung, selbst wenn ich persönlich Goritzki hier noch etwas überzeugender empfinde. Sie sprechen beide ein Plädoyer aus für den sinfonischen Erstling, der keineswegs zurückhaltend, sondern stellenweise sogar sehr effektvoll instrumentiert ist. Louise Farrenc scheint gerade auch die Pauken geliebt zu haben, die manch deftigen Einsatz haben. Die beiden Themen im Kopfsatz sind nicht wirklich gegensätzlich, sondern ergänzen sich gegenseitig. Das Menuett steht ganz in der klassischen Tradition. Das Finale schließlich ist insgesamt vorwärtsdrängend, doch gibt es immer wieder ein kurzes Innehalten, gleichsam ein Rückbesinnen auf das zuvor Gewesene. Mit prachtvollem Gestus klingt das Stück aus. Mag man auch das Geniale der im selben Jahr komponierten Frühlingssinfonie von Schumann vermissen, muss sich das Stück wahrlich nicht verstecken. Gibt es einen spezifischen französischen Tonfall? Eher nicht. Denkt man an Berlioz‘ Symphonie fantastique, diesen Meilenstein von 1830, kommt Farrencs Erste doch ziemlich deutsch-österreichisch daher. Die Vorbilder wurden ja bereits genannt. Sehr hörenswert auch die Grandes Variations, die ein Thema des österreichischen Grafen Wenzel Robert von Gallenberg aufgreifen, ein virtuoses Mini-Klavierkonzert von erlesener Eleganz, hierin vielleicht noch ihr französischster Beitrag in Sachen orchestraler Musik. Eine feine Neuerscheinung, die jedem Liebhaber von Musik der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ans Herz gelegt werden darf – Reich-Ranicki hätte womöglich unerwartete Freude daran gehabt. Da blickt man auch über das nur in englischer und französischer Sprache vorliegende, sehr knappe Booklet hinweg.

Ein paar Jahre nach ihrer ersten Sinfonie von 1841 komponierte Louise Farrenc, die bedeutendste weibliche Sinfonikerin Frankreichs im 19. Jahrhundert, noch zwei weitere Sinfonien, Nr. 2 in D-Dur (1845) und Nr. 3 in g-Moll (1847). Greifbar sind mittlerweile sowohl die etwa zwei Jahrzehnte alten Einspielungen der NDR Radiophilharmonie unter Johannes Goritzki (cpo 999 820-2 sowie 999 603-2) als auch die kürzlich vorgelegte Neuaufnahme der Solistes Européens, Luxembourg, unter Christoph König (Naxos 8.573706).

Gewichtig und recht düster der Auftakt der Zweiten, die erst im Verlaufe des Kopfsatzes auch lichtere Momente durchblicken lässt. Die Tonart D-Dur ist dieselbe wie in Beethovens zweiter Sinfonie. Wie schon bei Farrencs Erster unterscheiden sich die beiden Aufnahmen eher in Details denn im Grundsätzlichen. Goritzki ist in allen vier Sätzen etwas langsamer unterwegs, eine Spur tiefgehender. Klanglich fällt es schwer, einer der Produktionen den Vorzug zu geben, sind sie doch beide gelungen, wobei die Pauken in der älteren cpo-Aufnahme noch stärker hervortreten, der Klang insgesamt einen Hauch klarer herüberkommt und somit eine Nasenspitze vorn liegt. Der langsame, in seiner Grundstimmung lyrische zweite Satz profitiert von den achteinhalb gegenüber den sieben Minuten bei König. Ein gewisses „mozärtliches“ Momentum ist nicht abzustreiten, wenngleich man sich besonders im Scherzo auch deutlich an Schubert erinnert fühlt, der mit seiner fünften Sinfonie ja eine noch weitergehende Mozart-Hommage schuf. Richtig monumental der Beginn des Finalsatzes, einer der stärksten Momente des Werkes, das sich dann doch seiner Grundtonart erinnert und ins Freudige übergeht. Anklänge ans Ende der Jupiter-Sinfonie und der Beethoven’schen Eroica sind vorhanden, ja selbst ein Bezug zu Bachs Kunst der Fuge lässt sich aufgrund der archaischen Form des Satzes herstellen. Eine wirklich starke Komposition, mit einigem Recht der Geheimtipp in Sachen Farrenc.

Die Dritte, Farrencs letzter Beitrag in Sachen Orchestermusik, fällt durch eine vergleichsweise kleine Besetzung von den beiden früheren Sinfonien ab (nur zwei Hörner). Zu ihren Lebzeiten erfreute sich dieses Werk, in welchem sie, wie in der Ersten, wieder zur Moll-Tonart zurückkehrte, großer Beliebtheit. Tatsächlich ist das Stück kammermusikalischer als die Zweite. Dass König mit zwölf Minuten über drei Minuten länger für den Kopfsatz benötigt, liegt im (verschmerzbaren) Auslassen einer Wiederholung bei Goritzki – genauso im Scherzo. Bei genauem Hinsehen ist die ältere cpo-Einspielung wiederum im Zeitmaß etwas getragener, wie besonders anhand des atmosphärischen langsamen Satzes ersichtlich wird (neuneinhalb gegenüber acht Minuten), einem Musterbeispiel für die Hochromantik. Die noch brillantere Tontechnik bei cpo ist ungemein transparent; bei Naxos geht im direkten Hörvergleich dieses und jenes Detail im Gesamtklang etwas unter. Die klassische Sinfoniekonzeption stand bei der Dritten weniger im Fokus; sie ist eher auf einer Wellenlänge mit Mendelssohn und Schumann. Das tänzerische Scherzo ist sehr vorwärtsdrängend. Das Finale schließlich, in beiden Einspielungen mit sechseinhalb Minuten fast auf die Sekunde genau gleich schnell, nicht ganz so überschäumend wie der Abschluss der zweiten Sinfonie, im besten Sinne biedermeierlich, in der Coda dann freilich mit der notwendigen Dramatik beschlossen.

Das Beiheft bei Naxos ist (wie üblich) sehr knapp ausgefallen und wieder nur auf Englisch und Französisch. Hier ist cpo deutlich überlegen, dreisprachig (Deutsch, Englisch, Französisch) und zudem ausführlicher. Nicht zuletzt daher ist Goritzi dann doch der Vorzug zu geben (Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.). Daniel Hauser

 

Camille Saint-Saëns (1835-1921) hat, abgesehen von seiner berühmten Orgel-Symphonie und dem Karneval der Tiere, bis heute einen nicht ganz leichten Stand unter den großen französischen Komponisten, auch wenn sein Name durchaus geläufig ist. Dabei war er eigentlich in quasi jedem Genre der klassischen Musik tätig, von Liedern über Klavier- und Orgelsolowerken sowie Kammermusik, großangelegten Konzerten für Klavier, Violine und Cello, großer Sinfonik und geistlicher Musik bis hin zu Oper, Ballett und Bühnenmusik. Einzig Samson und Dalila von 1877 hat sich mehr oder weniger im Opernrepertoire gehalten. Dabei hielt schon Arnold Schönberg bezeichnenderweise den 1890 entstandenen Ascanio für ein weitaus gelungeneres Werk. Diese Grand opéra basiert auf dem Drama Benvenuto Cellini (1852) von Paul Meurice, welches wiederum auf den gleichnamigen Roman (1843) von Alexandre Dumas d. Ä. zurückgeht. Wer nun ein Déjà-vu hat, irrt nicht, denn bereits Berlioz nahm sich dieses Stoffes mit seinem Benvenuto Cellini (1838) an. Wohl auch, um Verwechslungen zu vermeiden, entschied sich Saint-Saëns für Cellinis Lehrling als Namensgeber seines Werkes. Schon bei der Uraufführung rief Ascanio, der im Jahre 1539 während eines Aufenthaltes Cellinis im Paris Franz‘ I. angesiedelt ist, unterschiedliche Reaktionen hervor. Während der Schriftsteller und spätere Nobelpreisträger George Bernard Shaw kein Wort über die Musik verschwenden wollte, lobte der Komponistenkollege Reynaldo Hahn den „höchsten Triumph von Geschmack und Eleganz – die gesamte Renaissance auf ein paar Seiten“. Auf der Bühne zu halten vermochte sich Ascanio indes mitnichten. Erst 1921, im Todesjahr des Tonschöpfers, erfolgte eine Wiederaufnahme. Die Weltersteinspielung sollte sage und schreibe erst beinahe ein Jahrhundert später, im Jahre 2017, zustande kommen und ist dankenswerterweise mittlerweile auf CD erschienen (dazu den Artikel und  die Rezension in operalounge.de). Zum Misserfolg des Werkes mag der Umstand beigetragen haben, dass sich die klassische fünfaktige Grand opéra bereits 1890 eindeutig im Niedergang befand und Saint-Saëns‘ Nachzügler insofern mehr die Vergangenheit repräsentierte denn die Zukunft.

„Ascanio“: Emma Eames sang die erste Colombe d´Estourville/ Victrola Book of Opera

Einzig die Ballettmusik aus dem dritten Aufzug erfreute sich auch im Nachhinein einer gewissen Beliebtheit. Es ist zu begrüßen, wenn Naxos diese nun in einer Neuproduktion mit dem Sinfonischen Orchester Malmö aus Schweden unter Jun Märkl vorlegt (Naxos 8.574033). Dirigent und Klangkörper, bereits durch frühere Einspielungen hinreichend bekannt, können auch diesmal vollauf überzeugen. Die knapp 25-minütige, höfisch anmutende Ballettmusik wird angereichert um alternative Fassungen zweier Stücke daraus. Den Rest der gut 73 Minuten umfassenden CD machen insgesamt sechs noch deutlich unbekanntere Ouvertüren und Vorspiele aus, die von der Ouverture d’un opéra-comique inachevé von 1854 bis hin zur Ouvertüre zu Andromaque von 1902 reichen und somit ein halbes Jahrhundert abdecken. Diese Stücke mag man beinahe als das eigentliche Highlight dieser Produktion ansehen. Zeigen die späten Werke Andromaque und Les Barbares (1901) den Dramatiker, sind die früheren Ouvertüren zu La Jota aragonese (1880) und La Princesse jaune (1871/72) voller Exotik und Heiterkeit. Da auch die klangliche Qualität der zwischen 20. und 24. August 2018 im Konzertsaal von Malmö eingespielten Aufnahmen zu überzeugen weiß, kann trotz der mageren Textbeilage guten Gewissens eine Empfehlung ausgesprochen werden (Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.). Daniel Hauser

 

Lange, sehr lange sogar musste man darauf warten, doch nun tut sich tatsächlich etwas in Sachen Daniel-François-Esprit Auber (1782-1871), des persönlich liebenswürdigen und die Pariser Eleganz idealtypisch verkörpernden französischen Komponisten, der die dortige Opernlandschaft über ein halbes Jahrhundert lang – teilweise sehr stark – prägte. Seine erste Oper Julie, ein Einakter von 1805, entstand kurz nach der Kaiserkrönung Napoleon Bonapartes; seine letzte Oper Rêve amour datiert auf Dezember 1869 – kein Jahr vor dem Zusammenbruch des Zweiten Kaiserreiches Napoleons III. Allein dies verdeutlicht Aubers nachhaltige Bedeutung, seit 1842 Direktor des Pariser Konservatoriums und ab 1857 Maître de Chapelle des Kaisers. Ein ganz großes Lob muss hier dem Label Naxos ausgesprochen werden, das sich hinsichtlich der Pflege dieses allzu vernachlässigten großen Komponisten nicht lumpen lässt und nun eine Gesamteinspielung wirklich sämtlicher Ouvertüren zu Aubers 31 Opéras-comiques, sieben Opéras, drei Drames lyriques und sieben weiterer Bühnenwerken ankündigt. Ein gewaltiges Projekt, das viele Jahre in Anspruch nehmen dürfte, sich aber langfristig fraglos lohnen wird. Dass Bewegung in die Sache kommt, lag bereits im Busch. Ebenfalls 2019 brachte Naxos die Oper La Sirène heraus (dazu die Rezension in operalounge.de) und schon 2016 wollte man das Ouvertüren-Projekt in Angriff nehmen, als seinerzeit eine als Vol. 1 angekündigte CD mit dem Orchestre de Cannes unter Wolfgang Dörner veröffentlicht wurde.

Die sehr durchwachsene Kritiken zu dieser Einspielung mag Naxos veranlasst haben, nun doch auf andere Interpreten zu setzen. Mit dem Tschechischen Philharmonischen Kammerorchester Pardubice unter dem schottisch-italienischen Dirigenten Dario Salvi konnten bei dieser Neuerscheinung (Naxos 8.574005) nun andere Künstler gefunden werden, mit denen das Mammutvorhaben offenbar bestritten werden soll. Und soviel darf bereits vorausgeschickt werden: Es hat sich wirklich gelohnt. Wie im knappen, aber informativen Begleittext von Robert Ignatius Letellier betont wird, wurde diesmal besonderer Wert auf den richtigen französischen Spielstil gelegt und sich zudem akribisch an die originalen Metronomvorgaben Aubers gehalten. Letellier bietet eine kurze Einführung zu den insgesamt 16 eingespielten Stücken aus acht Opern. Von allen liegen nunmehr die Ouvertüren vor; teilweise wurde zudem Aktvorspiele berücksichtigt. Abgesehen von einem einzigen Fall handelt es sich sämtlich um Weltersteinspielungen, was diese Neuerscheinung umso kostbarer macht. Man verzichtete (vielleicht bewusst) auf die landläufig bekanntesten Auber’schen Ouvertüren und setzte gewissermaßen auf volles Risiko. Das Ergebnis gibt dem Unterfangen Recht. Im Mittelpunkt steht der frühe Auber vor seinem endgültigen Durchbruch mit La Muette de Portici (1828) und Fra Diavolo (1830). Bis auf die 1813 noch unter Napoleon entstandene Ouvertüre zur Oper Le Séjour militaire erhält man ein reizvolles musikalisches Portrait der Ära der Restauration (1815-1830), die mit den Opern Le Testament et les Billets doux (1819), Le Bergère châtelaine (1820), Emma, ou La Promesse imprudente (1821), Leicester, ou Le Château de Kenilworth (1823), La Neige, ou Le Nouvel Éginard (1823), Le Maçon (1825) sowie Le Timide, ou Le Nouveau Séducteur (1826) ausgezeichnet abgebildet wird. Spritzigkeit und Esprit – nomen est omen – sind all diesen Werken gemein. Die Ouvertüren dauern zwischen knapp sechs und knapp neun Minuten und zeigen einen gewissen italienischen Einfluss á la Rossini, ohne jedoch dafür ihr urfranzösisches Idiom zu opfern. Auber darf mit Fug und Recht zu den französischsten Compositeuren überhaupt gerechnet werden, das wird noch einmal ganz klar deutlich. Kein Wunder, dass sein wohlklingender, aber nie oberflächlicher Stil gerade in der Restaurationsära Ludwigs XVIII. und Karls X. sowie später in der Juli-Monarchie Louis-Philippes ankam. Wie das Booklet kundig weiß, entwickelte sich besonders Le Maçon zu einem Dauerbrenner, der bis 1896 nicht weniger als 525 Aufführungen in Paris erlebte und sich in Deutschland unter dem Titel Maurer und Schlosser bis in die 1930er Jahre im Repertoire halten konnte. Künstlerisch von besonderem Rang ist aber gerade auch Leicester, nicht nur die erste so folgenreiche Zusammenarbeit mit Eugène Scribe, sondern auch aufgrund des royalen Sujets bereits auf den gewichtigeren späteren Stil Aubers hinweisend, der sich in den fünfaktigen Grand opéras – eine Gattung, die Auber gewissermaßen „erfand“ – La Muette de Portici und Gustave III, ou Le Bal masqué (1833) voll entwickelt hatte. Es nimmt nicht wunder, dass die Leicester-Ouvertüre am ausgedehntesten gerät. Die orchestrale Darbietung ist sehr adäquat, schön detailliert, nie dick oder zähflüssig, auf der anderen Seite aber auch nicht Gefahr laufend, allzu kammermusikalisch zu erklingen. Salvis Dirigat lässt den Werken hörbar Gerechtigkeit widerfahren. Die sehr gute Klangqualität dieser zwischen 28. und 31. Oktober 2018 im Kulturhaus Dukla in Pardubice in Tschechien eingespielten Aufnahmen unterstreicht dies noch. Volle Punktzahl in allen Belangen (Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.). Daniel Hauser

 

Zumindest hierzulande ist der französische Komponisten Albéric Magnard (1865-1914)  weitgehend unbekannt (seine Oper Guercoeur hatte vor nicht zu langer Zeit in Osnabrück Deutschland-Premiere, wie in operalounge.de berichtet wurde). Er hatte zunächst das Studium der Rechtswissenschaft begonnen, das er jedoch nach einem Besuch von Tristan und Isolde in Bayreuth abbrach, um am Pariser Konservatorium bei Jules Massenet und Vincent d’Indy zu studieren. Nur etwa 20 seiner Kompositionen sind erhalten, was auch daran lag, dass 1914 bei einem Brand seines Hauses  eine ganze Reihe seiner Werke, u.a. die frühe Oper Yolande, vernichtet wurde. als er es gegen eine Gruppe deutscher Soldaten verteidigen wollte. Aus seinem schmalen Werk gelten neben den beiden erhaltenen Opern Guercœur und Bérénice, einer Violinsonate und einem Streichquartett besonders seine Sinfonien Nr. 3 und 4 als herausragende Werke der französischen Musikgeschichte um 1900. Das Philharmonische Orchester Freiburg hat sich mit „seinem“ Generalmusikdirektor Fabrice Bollon um diese Sinfonien verdient gemacht, indem es sie bei Naxos eingespielt hat.

Während in Magnards beiden ersten Sinfonien noch der Einfluss seines Lehrers d’Indy spürbar ist, wird in der 1895/96 entstandenen und unter Leitung des Komponisten 1899 in Nancy uraufgeführten 3. Sinfonie seine eigene Handschrift deutlich. Es gibt Ähnlichkeiten zu César Franck und Gabriel Fauré, jedoch ohne impressionistische Farben. Bei der Interpretation dieser Sinfonie betont Fabrice Bollon mehr die in sich ruhenden Passagen, von denen das Werk viele hat, so die wie ein Choral klingende Introduction des ersten Satzes (Ouverture) und von den beiden Themen des Hauptteils eher die zärtlichen Melodiebögen als die gegensätzlichen, rhythmisch energischen Momente. Damit gibt er dem Orchester viel Raum, ausgewogenen Bläserklang zu zelebrieren. Im Dances genannten Scherzo erklingen flotte Volksweisen aus der Auvergne, wo Magnard öfter seine Ferien verbracht haben soll. Die Pastorale beginnt mit einem wunderschönen, etwas melancholischen Oboen-Solo und schwelgt in ruhiger Farbigkeit. Im Final konkurrieren wieder zwei Themen miteinander, ein fröhliches und ein träumerisches, ohne dass beide wirklich zu kompositorischer Gemeinsamkeit verwoben werden.

Die 1913 entstandene 4. Sinfonie ist Magnards letzte Komposition, die er einer feministischen Organisation widmete und sie vom Orchester der Union von Musiklehrerinnen und Komponistinnen am 2. April 1914 uraufführen ließ. Es ist auch insoweit ein Verdienst des Freiburger GMD, dass er großen Wert auf Durchhörbarkeit der temperamentvollen, an Themen reichhaltigen Komposition legt. So können besonders in dieser Sinfonie alle Instrumentengruppen des ausgezeichneten Orchesters mit zahlreichen Soli glänzen (Naxos 8.574082, Sinfonien 1 & 2 sind auf Naxos 8574083 in der selben Besetzung erhältlich; Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.). Gerhard Eckels

 

 Seien wir ehrlich: Mit dem Namen Charles Gounod verbindet man keinen Sinfoniker. Seine Domäne war die Oper, wobei auch dort ganz primär eine einzige, natürlich Faust, dominiert. Selbst in Sachen Sakralmusik wurde Gounod bekannter denn als Komponist sinfonischer Musik. Und nicht zuletzt ist er sogar der Komponist der heutigen Hymne der Vatikanstadt. Und doch: Immerhin zwei Sinfonien stammen von ihm, beide aus der frühen Phase seiner Komponistentätigkeit: Die Sinfonie Nr. 1 in D-Dur wurde 1855, die Sinfonie Nr. 2 in Es-Dur 1856 vollendet. Selbst Kennern der französischen Sinfonik des 19. Jahrhunderts werden sie eher peripher bekannt sein, auch wenn die Diskographie entgegen der ersten Annahme gar nicht einmal so klein ist. Eingespielt haben sie bis dato Sir Neville Marriner (Philips), Michel Plasson (EMI), Patrick Gallois (Naxos), John Lubbock (ASV) und Hervé Niquet (Timpani). Christopher Hogwood legte immerhin die Erste vor (Decca). Oleg Caetani spielte beide und sogar das Fragment der 3. Sinfonie ein (cpo).

Chandos betritt mit seiner neuesten Veröffentlichung mit dem Iceland Symphony Orchestra unter dem französischen Dirigenten Yan Pascal Tortelier also kein Neuland (Chandos CHSA 5231). Der Vorteil der Neuaufnahme ist auf den ersten Blick vor allen Dingen klanglicher Natur, wird diese doch auf einer hybriden SACD vorgelegt, die den höchsten Ansprüchen genügt und bei diesen Werken wohl tatsächlich die neue Referenz darstellt (Aufnahme: Eldborg, Harpa, Reykjavík, 30. April sowie 2. bis 4. Mai 2018).

Es ist gar nicht so einfach, diese Musik zu beschreiben. Sie klingt, hört man die Erste, ein wenig nach Mendelssohn und Schumann, den führenden Sinfonikern nach Beethoven und Schubert – und doch völlig anders. Lassen sich typische gallische Charakteristika ausmachen? Nicht unbedingt. Man fühlt sich stellenweise deutlich an Mendelssohn Italienische und Schottische erinnert. Der gewichtigste Satz der ersten Sinfonie ist neunminütige Finale mit seiner unerwartet gestrengen und langsamen Einleitung. Freilich weicht diese Introduktion allzu bald einem fröhlichen Hauptteil, bei dem sich Gounod bereits auf der Höhe seiner Meisterschaft präsentieren kann, ohne übers Ziel hinauszuschießen. Diese Sinfonie versucht gar nicht erst, den Titanen Beethoven noch zu übertrumpfen – ein ambitioniertes Unterfangen, das Schumann bekanntlich zum Scheitern verurteilte. Der dritte Satz darf als Hommage an Haydn gedeutet werden. Mit gerade knapp 26 Minuten Spielzeit sind die Vorbilder wirklich im klassischen Zeitmaß zu suchen.

Die zweite Sinfonie ist trotz ihres ebenso heiteren Grundcharakters doch großformatiger angelegt, was sich bereits anhand der zehn Minuten längeren Spielzeit ausmachen lässt. Tatsächlich ist die Anlehnung an Beethoven bei der Zweiten deutlicher. Im gut elfminütigen Kopfsatz tun sich deutliche Assoziationen mit der Eroica auf. Augenscheinlich strebte Gounod hier doch ein Konzept an, das über jenes des Erstlings hinausging. Der langsame Satz, mit Larghetto bezeichnet, bildet gleichsam das Zentrum des Werkes und gemahnt an die Mitte des 19. Jahrhunderts auflebende Bach-Begeisterung. Anders als die Erste hat die Zweite ein wirkliches und wirklich für sich einnehmendes, stellenweise geradezu dramatisches Scherzo. Der Finalsatz greift ab und an wieder die Seriosität des Anfangs auf, und doch gibt es hier dann doch noch so etwas wie französische Jovialität in musica. Der Abschluss gerät furios. Trotz alledem war diesem Werk bei seiner Uraufführung kein großer Erfolg beschieden – womöglich der Grund, wieso Gounod sich danach nicht mehr ernsthaft mit dem Genre der Sinfonik beschäftigte. Soviel lässt sich sagen: Die Zweite ist definitiv die bedeutendere der beiden Sinfonien. Zumindest sie verdiente eine Aufnahme ins Konzertrepertoire.

Was zur klanglichen Qualität bereits gesagt wurde, darf unisono zur künstlerischen Darbietung ergänzt werden. Das bereits seit längerem als Geheimtipp geltende Orchester aus Island spielt dermaßen glänzend auf, so dass es diese Stücke wahrlich im bestmöglichen Lichte präsentiert, was nicht zuletzt an der begnadeten Stabführung Torteliers liegt, der die neue Messlatte in Sachen Gounod-Sinfonien sehr hoch legt. Diese Veröffentlichung ist ein Glücksfall in jedweder Hinsicht (Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei https://www.note1-music.com/shop/.) . Daniel Hauser

Geisterspuk und Elfentanz      

 

Das „Phantastische“ ist ein heikler Fall. Zurecht weist Elisabetta Fava zu Beginn ihres Buches darauf hin, dass es sich einer eindeutigen Definition entziehe Phantastisch sei alles, was verstöre und befremde, was nicht mit den gewöhnlichen Denkkategorien vereinbar sei, was unverständlich, unerklärlich bleibe und gegen die Regeln des gesunden Verstandes verstoße, so liest man.  Nicht zu verwechseln mit dem Wunderbaren, das einem begegnet, wenn man das Übernatürliche erkenne, jenseits der Täuschung, die das Phantastische zum puren Trick degradiere.

Seien wir ehrlich: Das Bedürfnis nach dem Phantastischen ist eine uralte, quasi metaphysische Konstante menschlichen Denkens und Wahrnehmens, aber auch menschlicher Kreativität im Künstlerischen wie im Religiösen.

Der Großmeister der mittelalterlichen Phantastik und ein nachhaltiger Initiator phantastischen Malens war Hieronymus Bosch, aber es gibt auch in der Musik des Barocks bereits Komponisten, die immer wieder phantastische, bizarre Momente in ihre Kompositionen einflochten. Man denke nur an Jean-Férie Rebels „Les Elements“, aber auch an die vielen Zauberszenen in der barocken Oper.

Doch die große Stunde des Phantastischen in der Literatur, im Theater, in der nonverbalen Musik wie in der Oper kam im 19. Jahrhundert. Zuvor deckte sich das Phantastische weitgehend mit dem Wunderbaren. Der Manierismus lebte davon. Wann genau diese Verwandlung des Wunderbaren zum Phantastischen geschah, weiß auch die Autorin nicht, gesteht sie. Um sich nicht aufs Glatteis zu begeben, beschränkt sie sich daher von vornherein aufs 19. Jahrhundert und auf Deutschland, wo das Phantastische ein großes, weit verbreitetes Thema wurde. Aber schon Mozarts „Zauberflöte“, mehr noch dessen „Don Giovanni“ waren, man liest viel darüber in diesem klugen Buch, wegweisende Paradebeispiele der Entstehung von etwas Neuem:  Dämonen und Feen, Geister und übernatürliche Erscheinungen des Jenseitigen bevölkern plötzlich die Bühne, auch Halluzinationen und Alpträume. Sie befriedigen das neue metaphysisch-psychologische Gruselbedürfnis des Publikums.

Der Traum ist es, der das Tor zwischen zwei Welten öffnet. Bestes Beispiel ist das Werk Richard Wagners. Ihm widmet die Autorin viel Aufmerksamkeit. ausführlich untersucht sie Wagners frühe Opern, aber auch seine reifen Musikdramen. „Was Lohengrin betrifft, kann man nicht umhin, über die außerordentliche Klangerfindung zu sprechen, die Wagner hier zum ersten Mal vorstellt: das leise Tremolo der (in Gruppen geteilten) Violinen-mit Dämpfer – evoziert die weißen Federn des Schwans, aber auch das wunderbare Licht des Grals und lässt uns daher eine überirdische Welt erahnen, das Präludium beginnt mit einem körperlosen Klang, den die Flageolettöne von vier Soloviolinen hervorbringen; ein nie zuvor gehörter, übermenschlicher, schwebender Kang.“ Viele ähnlich konkrete Beispiele musikalischer Phantastik nennt die Autorin, der es darum geht, so etwas wie eine „Grammatik des Phantastischen“ zu erstellen.

Elisabetta Favas zentrale Einsicht: „Für den Romantiker ist die Phantastik der Riss in der bekannten Welt, die dauerhafte Kapazität zu träumen, etwas zu fürchten, das über die Grenzen der Immanenz und der Alltäglichkeit hinausführt.“

Ziel ihrer Untersuchung ist es, darzustellen, „wie die Musik bewusst phantastische Themen behandelt und daraus ein erkennbarer, wiederkehrender und dauerhafter Jargon entsteht, der als Gegenstück der literarischen Gestalt des Phantastischen zu würdigen ist,“ die zweifellos von eminenter Bedeutung für die deutsche Literatur ist. Darüber wurde viel geschrieben, nicht aber über die musikalische Phantastik.

Die Autorin gibt zum ersten Mal einen Gesamtüberblick der Verwendung des Phantastischen in der Musik der deutschen Romantik. Ihr Buch entfaltet eine Art musikalisches Panorama, mit Querbezügen zur französischen, italienischen und russischen Literatur. Fava zitiert den Franzosen Charles Nodier, der schon 1830 in der Revue de Paris erkannt hatte „Deutschland ist reicher als jegliches andere Land an dieser Art Schöpfungen“. Er bezog sich vornehmlich aufs Literarische. Elisabetta Favas Interesse gilt hingegen der Beantwortung der Frage, ob und wie die deutsche Phantastik auch im musikalischen Gebiet eine ebenso große Rolle wie in der Literatur gespielt hat.  Ihr Buch bejaht diese Frage eindrucksvoll, die Lektüre lohnt unbedingt.

Das Buch ist die von der Autorin (gelegentlich etwas holperig) ins Deutsche übersetzte, ursprünglich italienisch abgefasste Dissertation, die der Universität Bern vorgelegt wurde. Dennoch eine gut lesbare wissenschaftliche Fleißarbeit, die mit Literaturverzeichnis und nützlichem Namensregister ein respektables, konkurrenzloses Nachschlagewerk zum Thema musikalischen Geisterspuks und Elfentanzes geworden ist (Elisabetta Fava: Geisterspuk und Elfentanz – Musikalische Phantastik im Deutschland des frühen 19. JahrhundertsKönigshausen & Neumann 2021, 384 S, ISBN: 978-3-8260-7361-8). Dieter David Scholz

 

Hochsinnliche Oper des Frühbarock

 

Königinnen und Abenteurerinnen sind beliebte Gestalten in der Opernwelt – und die antike Königin Semiramis war sogar beides. Kein Wunder, dass die Geschichten, die sich um sie ranken, zu den meistvertonten der Musikgeschichte gehören. Jetzt ist eine frühe französische Version der Semiramis-Oper erschienen. Diese Sémiramis ist eine Tragédie Ballet aus dem Jahr 1718 von André Destouches, einem originellen und visionären Hofkomponisten in Versailles – leider oft vergessen zwischen Lully und Rameau.

Bei der Aufnahme handelt es ich um eine vorzügliche Interpration, initiiert vom Ensemble Les Ombres. Am Pult stand Sylvain Sartre und es ist atemberaubend zu hören, wie er die Vielseitigkeit der Partitur herauskehrt. Trotz exzellenter Gesangs-Solisten sind die Instrumentalisten hier die Helden: Vom trommelfellerschüttenden Pomp der Massenszenen bis zu kammermusikalisch fein schattierten Tänzen und Rezitativen erlebt man eine weitgefächerte Palette an Klängen. Eine der sinnlichsten Frühbarock-Opern seit langem auf dem CD-Markt (André Destouches: „Sémiramis“ mit Éléonore Pancrazi, Emmanuelle de Negri, Mathias Vidal, Thibault de Damas | Choeur du Concert Spirituel | Les Ombres | Sylvain Sartre, Leitung; 2 CD Château de Versailles Spectacles; CVS 038 mit einem vorzüglichen Booklet in drei Sprachen, auch deutsch; Rez. 04. 08. 2021). Matthias Käther

Kronprinz Franz Lehárs – Paul Abraham

 

Paul Abraham war einer der originellsten, rebellischsten und frechsten Operetten­komponisten im Übergang von der Weimarer Republik zum Dritten Reich. Seine Musik spiegelt die Eu­phorie, die Hoffnungen, aber auch die Brüche dieser Zeit. Vergnügliches, Schmissiges, Pi­kantes, Frivoles mischt sich mit Nostalgie, mit ungarisch-österreichisch-berlinerischem Lo­kal­kolorit, aber auch mit amerikanischem Jazz. Zurecht wertet der Operetten-Spezialist Kevin Clarke vom Operetta Research Center: „Das Besondere an Paul Abrahams Operetten ist der Klang, diese Klangfarben, diese Klanggewalt, dieser Rausch, den er entwickelt, das ist natürlich der typi­sche Klangrausch der späten Zwanziger-, frühen Dreißigerjahre in der deutschsprachigen Operette, aber mir ist niemand bekannt, von den anderen Operettenkomponisten, der solche Wucht und solchen Drive in der Musik hat.“

Die Liedtexte und Dialoge der Abraham-Operetten sind sarkastisch, ironisch, gewagt und tagesaktuell, oftmals durchzieht sie aber Melancholie. Abraham hatte die besten Librettisten seiner Zeit, Fritz Löhna-Beda und Alfred Grünwald, sie verstanden sich auf feinen Humor der Ausgegrenzten. Und es geht in den Stücken immer darum, wie finden sich Mann und Frau, und wie wird man einander wieder los:

Abrahams Operetten bevölkern Männer von Welt, Parvenüs und Nichtsnutze, Salon­löwen, Damen, Flitt­chen, Femme fatales und Mäuschen. Es sind hinter­sinnige Stücke von Liebesfreud und Liebesleid sowie Irrungen und Wirrungen zwischen den Geschlechtern, wie sie kein anderer so auf die Bühne brachte.

Abrahams Karriere war kometengleich. Vom Nobody aus dem kleinen süd­ungarischen Ort Apatin, kam er 1930 über Budapest nach Ber­lin, stieg er innerhalb von nur drei Jahren zum europaweit bestbezahlten und umjubelten Star-Operet­tenkom­ponisten seiner Zeit auf. Abraham wurde reich, Lud zu Cham­pagner und Kaviar, besaß Limousinen, Butler und Chauffeur, kaufte sich in der noblen Berliner Fasa­nenstrasse eine schlossartige Villa. Doch so steil wie seine Kometenbahn 1930 aufstieg, so steil stürzte sie 1933 ins Nichts. Alles detailliert nachzulesen bei Klaus Waller. Abraham floh über Budapest, Wien, Paris und Havanna nach New York. In den USA konnte er an seine Erfolge in Europa allerdings nicht anknüpfen, er­krank­te an Syphilis, war geistig verwirrt und verbrachte schließlich 10 Jahre – von der Welt ver­gessen – in einer psychiatrischen Klinik. Ein besonders tragischer Fall von deutschem Emigrantentum in den USA, das Klaus Waller ausführlich darstellt

Durch einen Zeitungsartikel im New Yorker „Aufbau“ aufmerksam geworden, überschrieben „Der Komponist im Irrenhaus“ wurde 1956 Paul Abraham auf Betreiben von Freunden, organisiert in einem „Paul-Abraham-Komitee“, vor allem aber auf Initiative des Psychiaters und Neurologen Professor Bürger-Prinz am Eppen­dorfer Klinikum Hamburg nach Europa zurückgeholt. Abraham verbrachte in Ham­burg die letzten 4 Jahre seines Lebens in Hamburg. Der renommierte Professor Bürger-Prinz hatte nach 1945 seine Nazi-Vergangenheit und seine Mitwirkung an Euthanasie-Projekten geleugnet. Das erschütternde Schlusskapitel aus dem Leben Paul Abrahams wird in der zuverlässigen, ungeschönten Biographie von Klaus Waller nicht verschwiegen:

„Der von den Nationalsozialisten verfolgte Paul Abraham wurde nun von einem Arzt behandelt, der im Dritten Reich unter anderem als Richter im ‚Erbgesundheitsgericht‘ tätig war…, Bürger-Prinz konnte der Patient nur Recht sein, denn er war dabei, sich in der Bundesrepublik ein neues Renommee zu verschaffen“ (Waller).

Das Buch von Klaus Waller beschreibt aber auch gewissenhaft die wesentlichen Werke Abrahams, ihre Aufführungsge­schichte und ihre Darsteller, unter denen die Soubrette Rosy Barsoni und der Buffo Oscar Denes, die zu den Lieblingen Abrahams gehörten. Man höre sich nur die historischen Aufnahmen mit diesem Sängerdarstellern an. Unübertroffen bis heute.  Diese vitale, völlig unkitschige, ja angriffslustige Operettentradition wurde von den Nazis beendet, wie Waller verdeutlicht. Klaus Waller spricht es deutlich aus.  Seine Abraham-Biographie enthält darüber hinaus nicht nur einen auf­schlussreichen Beitrag des Arrangeurs Henning Hagedorn über die Rekon­struktion der Partituren Ab­rahams. Viele sind nicht vollständig erhalten. Es gibt auch einen Bericht Anna-Maria Keménys über Ihren Vater Egon Keme­ny, Komponist im Schatten und enger Mitarbeiter Paul Abrahams. –  Abraham stand unter manischem Produktions­zwang. Er schrieb neben unzähligen Ope­retten auch Filmmusiken und Schlager für die Film- und Operetten­größen der Zeit: Gita Alpar, Willy Fritsch, Rita Georg, Marika Rökk, Camilla Horn und Maria Müller.

Die Produktionen des Regisseurs Barrie Kosky an der Komischen Oper Berlin hatten geradezu Signalcharakter für die internationale Wiederentdeckung Abra­hams auf den Theatern. Kosky bricht denn auch in einem Gespräch mit dem Dirigenten und Pia­nisten Adam Benzwi, das im Buch abgedruckt ist, eine Lanze für Abraham als „Sinfoniker der Großstadt“ und macht ungeniert Werbung für sein Haus. Er ist stolz darauf, in den letzten Jahren immerhin vier Operetten Abrahams an der Komischen Oper aufgeführt zu haben: Dschainah. Das Mädchen aus dem Tanzhaus, Roxy und ihr Wunderteam, Ball im Savoy und Die Blume von Hawaii.

So wie Barrie Kosky mit seinen Inszenierungen an der Komischen Oper, trägt auch das Buch von Klaus Waller zur Wiederentdeckung Paul Abrahams bei, der im Gegensatz zu Franz Lehar, (der ihn seinen „Kronprinzen“ nannte), im allge­meinen Bewusstsein nicht mehr vor­handen ist. Wallers Buch ist mit fabelhaftem Bildmaterial ausgestattet, darunter viele bewegende Foto-Raritäten. Ein Buch, das nicht nur außerordentlich informativ ist, sondern den Leser neugierig macht auf Paul Abraham und seine Musik (Klaus Waller: Paul Abraham. Der tragische König der Jazz-Operette, Starfruit publications, 384 Seiten, ISBN 978-3-922895-44-2). Dieter David Scholz

 

Barocke Schätze aus Versailles

 

In der Serie Château de Versailles erschienen zwei Werke des französischen Barock – Lullys Tragédie en musique Cadmus et Hermione von 1673 (aufgenommen im November 2019) und Rameaus Opéra-ballet Les Indes Galantes von 1761 (aufgenommen im November 2019 und Juni 2020).

Erstere Einspielung (auf zwei CDs/CVS037) wird geleitet von Vincent Dumestre am Pult des Orchestre du Poème Harmonique, das er 1998 gegründet hatte. Lullys Musik vereint Chöre, Tänze, Symphonien, Märsche und Fanfaren in einem steten Wechsel von Galanterie und Wucht. Obwohl im Stil einer tragédie komponiert, verzichtete Lully nicht auf komische, aus der comédie-ballet übernommene Elemente. Diese sind den Nebenfiguren vorbehalten – Hermiones Vertrauten Charite und Aglante sowie Arbas, dem Diener des Cadmus. Dumestre vereint diese unterschiedlichen Aspekte zu einem effektvollen Klangkosmos.

Lully hatte das Libretto dem bekannten Tragödiendichter Philippe Quinault anvertraut, der der eigentlichen Handlung gemäß der Tradition einen dem König gewidmeten Prologue vorangestellt hatte. Hier treten Nymphen und Hirten auf, deren Spiele vom Neid gestört werden, der die gewaltige Schlange Python herbei ruft, die jedoch schnell vom Licht der Sonne niedergestreckt wird. Danach folgt die Liebesgeschichte zwischen dem Prinzen Cadmus, der die Stadt Theben gründete, und Hermione, Tochter von Mars und Venus, die nach vielen Heldentaten des Cadmus im 5. Akt mit beider prachtvoller Hochzeit endet.

Die männliche Titelrolle singt der Bariton Thomas Dolié mit warmer, resonanzreicher Stimme. Cadmus’ ergreifender Abschied im 2. Akt, „Je vais partir, belle Hermione“, stellt eines von Lullys schönsten Rezitativen dar und der Sänger gestaltet es so bewegend, dass es zu einem Höhepunkt des gesamten Werkes wird. Auch die vielen schmerzlichen Szenen angesichts des vermeintlichen Verlustes von Hermione formt der Sänger derart verinnerlicht, dass diese zutiefst bewegen. Seinen Diener Arbas singt Lisandro Abadie mit munterer Tongebung. Adéle Charvet ist die Hermione, deren lieblicher, von Flöten umspielter Auftritt („Cet aimable séjour“) von der Sopranistin mit leuchtender Stimme delikat ausgebreitet wird. Im Dialog mit Cadmus und ihrem nachfolgenden Solo „Amour“ im 2. Akt berührt sie mit verinnerlichtem Vortrag. Auch Marine Lafdal-Franc als Aglante und Eva Zaïcik als Charite verfügen über angenehme Sopranstimmen.

Im Prologue hat der Charaktertenor Benoit-Joseph Meier einen effektvollen, von Windmaschinen untermalten Auftritt als L’Envie. Der Counter Nicholas Scott ist als Dieu Châmpetre zu hören, später gibt er Hermiones Nourrice, die schon in der Premiere von einem Haute-Contre interpretiert wurde, mit charaktervoller Zeichnung. Der Bassist Guilhem Worms als Le Grand Sacrificateur hat einen spektakulären Auftritt im 3. Akt, begleitet von pompösem Marsch und machtvollem Chorgesang (Ensemble Aeses, einstudiert von Mathieu Romano). Zu nennen sind noch Brenda Poupard als energische Junon und anmutiger Amour sowie Virgile Ancely mit resolutem Bassbariton als Draco und Mars.  (Rez. 3. 8. 2021)

 

Mehr als 60 Jahre nach Lullys Werk,1735, kam das von Rameau zur Premiere – die vorliegende Einspielung unter dem jungen Dirigenten Valentin Tournet am Pult des Ensembles La Chapelle Harmonique auf zwei CDs (CVS031) nutzt jedoch die Fassung von 1761, die noch zu Lebzeiten des Komponisten entstand. Mit Les Indes Galantes erneuerte der Komponist das Genre Opéra-ballet, indem er exotische Völker und deren Liebeskonflikte auf die Bühne brachte. Gezeigt werden in drei Entrées ein großmütiger Türke, Inkas in Peru und tanzende Wilde in Louisiana. Wie üblich in diesem Genre gibt es einen Prologue, der junge Liebende aus vier Nationen Europas zeigt. Der Kontinent will auf den Frieden verzichten, um der Kriegsgöttin Bellone, Schwester des Gottes Mars, zu folgen. Mit einer pompösen Ouverture beginnt das Werk in feierlicher Manier. Auch die Tänze (Airs pour deux Polonais, Menuets pour la suite d’Hébé) sind von gewichtiger Substanz. Die tragenden Figuren sind die Göttin der Jugend Hébé (Ana Quintans mit leuchtendem Sopran von bohrender Intensität), die Kriegsgöttin Bellone (überraschend der Bassist Edwin Crossley-Mercer mit auftrumpfender stimmlicher Gebärde) und L’Amour (Julie Roset mit munterem Sopran).

Das Entrée I, „Les Incas du Pérou“, handelt von der peruanischen Prinzessin Phani und dem spanischen Offizier Don Carlos, die ineinander verliebt sind. Auch der Sonnenpriester Huascar liebt Phani und löst ein Erdbeben aus, weil die Prinzessin sich ihm verweigert, begeht schließlich Selbstmord ob seiner Chancenlosigkeit. Höhepunkt dieses Teiles ist die feierliche Adoration du Soleil (Sonnenanbetung), aber auch das entfesselte Tremblement de terre ist von starker Wirkung.

Das Entrée II, „Le Turc généreux“, macht mit Émilie, Sklavin des Großvisirs Osman, bekannt, die von ihm begehrt wird, ihrerseits aber ihrem Geliebten Valère treu bleibt. Als Osman die Liebenden überrascht, verzeiht er ihnen großmütig. In den lebhaften Tänzen für die amerikanischen Sklaven nutzte Rameau exotische Motive, Höhepunkt ist aber die Sturmszene.

Das Entrée III, „Les Sauvages“, eingeführt bei der ersten Wiederaufnahme des Werkes 1736, führt in die Wälder Amerikas, wo in einer Zeremonie der Bund der Indianerin Zima mit Adario. dem Truppenanführer der wilden Nation, gefeiert wird. Dieser hat zwei andere Bewerber besiegt – den Franzosen Damon und den Spanier Don Alvar. In diesem Teil ragen der rhythmisch reizvolle Tanz der Sauvages (Wilden) und die abschließende Chaconne als Höhepunkte heraus.

In der Besetzung finden sich mit Emmanuelle de Negri und Mathias Vidal zwei renommierte Interpreten des französischen Barockrepertoires. Die Sopranistin singt zuerst die Phani und bezaubert in deren Auftritts-Air „Viens Hymen“ mit lieblichen Tönen. Im Entrée II ist sie die Émilie und klingt hier zunächst verschattet und melancholisch. Dann aber fährt sie die Stimme in einer Sturmszene („Vaste emptrs de mers“), wo auch der Choeur einen großen Moment hat, mächtig auf. In der Ariette „Régnez, Amour“ besticht sie mit Jubeltönen.

Der Tenor ist mit klangvoller Stimme und fabelhafter Diktion als Valère, Don Carlos und Damon zu hören. In Valères Air „Hâtez-vous de vous embarquer“ beeindruckt er mit ungestümer Tongebung, in Damons „La terre, les cieux“ und „Les époux les plus soupçonneux“ mit  Verve und beherzten Spitzentönen. Mit dieser Partie singt er sich souverän an die Spitze der Besetzung.

Ana Quintans, die schon im Prologue als Hébé zu hören war, singt die Zima mit Kultur. Besonders in ihrer prunkvollen Ariette vor dem Finale, „Régnez, plaisirs et jeux“, entfaltet sie vokalen Zauber.

Alexandre Duhamel ist der Huascar mit profundem, zuweilen auch dröhnendem Bass, der in seinem Air „Obéissons sans balancer“ prahlerisch auftrumpft. In „Clair flambeau du monde“ ist er zurückhaltender und mehr um Linie bemüht.

Edwin Crossley-Mercer als Don Alvar und der lyrische Bariton Guillaume Andrieux als Osman sowie Adario komplettieren die Besetzung. Letzterer interpretiert Adarios Air „Rivaux de mes exploits“ mit nobler Linie. Valentin Tournet, der die Musik in ihrer erhabenen Größe grandios entfaltet hat, ist es vorbehalten, mit der pompösen Chaconne im Finale noch einen Höhepunkt zu setzen. Die beiden Aufnahmen bieten einen aufschlussreichen Vergleich über das Schaffen der beiden französischen Großmeister des Barock (Rez. 3. 8. 2021). Bernd Hoppe

Zwischen Barock und Brexit

John Gays Ballad Opera von 1728  The Beggar’s Opera gilt als eine der ersten musikalischen Komödien. Der Komponist verwob brillant klassische und populäre musikalische Motive zu einer satirischen Legende mit Londoner Dieben, Zuhältern und Huren in den Hauptrollen.

OPUS ARTE bringt nun auf einer Blu-ray Disc eine neue Version des Stückes von Regisseur Robert Carsen und Dramaturg Ian Burton heraus, die im April 2018 im Pariser Théâtre des Bouffes du Nord zur Aufführung kam (OABD7283 D). Deren hoher musikalischer Rang ergibt sich durch die Mitwirkung von Musikern des renommierten Ensembles Les Arts Florissants unter William Christie. Bühnenbildner James Brandily und Kostümdesignerin Petra Reinhardt siedeln die Geschichte ganz im Heute an, lassen sie in einer Szenerie aus aufgestapelten Pappkartons spielen, wo Obdachlose in Hoodies hausen. Sie singen und agieren auch tänzerisch. Rebecca Howells Choreografie ist deutlich inspiriert vom Break Dance und Hip-Hop. Mitten in diesem Ambiente des Elends und der Trostlosigkeit sitzen die Musiker und der Dirigent. Er bringt Gays Musik in ihrer Mischung aus klassischen Themen und populären Weisen mit rasantem Schwung zu fetziger Wirkung.

Mit Ohren betäubendem Lärm und Sirenengeheul beginnt das Spektakel – eine Razzia der Polizei ist zu befürchten. Schnell müssen sich die Gauner aus ihren Pappen schälen. Ihr Chef Mr. Peachum in Gestalt von Robert Burt ist ein gewiefter Typ, der wie alle anderen Sängerdarsteller von Carsen/Burton aktualisierte Sprechtexte aufsagen darf, die politische Skandale unserer Tage entlarven und parodieren, Die Frau an seiner Seite, Mrs. Peachum alias Beverley Klein, steuert ordinäre Töne bei. Kate Better ist eine sexy Polly, die in ihrem Song „Turtle Dove“ einen angenehmen Sopran hören lässt. Der von ihr ersehnte Gatte, Macheath, ist mit Benjamin Purkiss ungewöhnlich jung und smart besetzt, aber der Sänger kann auch cool und fies sein. Fünf extravagant gekleidete und flott die Beine werfende Escort-Girls begleiten ihn. Sie animieren ihn zu einem auftrumpfenden Song, der die Freuden des Lebens preist. Die herrlich deftige Wirtin Diana (Beverley Klein in einer Doppelrolle) lallt dazu. Einen resoluten Auftritt hat Olivia Brereton als Lucy, die Macheath im Gefängnis besucht und dort von ihm ein Eheversprechen erhält. Als dazu noch Polly erscheint und sich als rechtmäßige Gattin ausgibt, kommt es zu heftigen, von den beiden Damen köstlich ausgespielten Konfusionen. Emma Kate Nelson als Jenny ist die Kühle Blonde mit flötenden Soprantönen.

Am Ende winselt Macheath angesichts des Galgenstricks, der über ihm baumelt. Schon läutet die Glocke und nicht weniger als vier Damen wollen sich von ihm verabschieden, da kommt die Eilmeldung vom Rücktritt der Premierministerin (!). Alle bekommen einen Posten und die Gaunergeschäfte beginnen von vorn. Die so vergnügliche wie fulminante Aufführung wird vom Publikum gebührend bejubelt. Bernd Hoppe

Giuseppe Giacomini

 

Der italienische Tenor Giuseppe Giacomini (7. September 1940 in Veggiano – 28. Juli 2021 in Agordo) ist gestorben. Er galt als der beste Otello-Darsteller des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Er sang für die königliche Familie in London und für Michail Gorbatschow in Moskau. 1992 wurde er, aufgrund seiner Verdienste an der Wiener Staatsoper, zum österreichischen Kammersänger ernannt.
Giacomini studierte bei Vladimiro Badiali, Elena Ceriati und Marcello del Monaco. Er war in Gesangswettbewerben erfolgreich und debütierte 1966 in Vercelli in Puccinis Madama Butterfly. Innerhalb kürzester Zeit trat er in ganz Italien auf, 1970 debütierte er in Berlin und es folgten Auslandsverpflichtungen in Lissabon, Barcelona und München. In Italien gastierte er an allen bedeutenden Opernhäusern, darunter La Scala in Mailand, die Oper in Roma und das Teatro Regio in Turin.

1976 debütierte er an der Metropolitan Opera von New York und im Palais Garnier in Paris, wo er in den Folgejahren in Verdis Macbeth und dessen Don Carlo reüssierte, als Canio in Pagliacci und als Cavaradossi in Tosca. 1977 debütierte er als Johnson in Puccinis La fanciulla del West an der Wiener Staatsoper und blieb diesem Haus bis ins Jahr 2000 verbunden. Er sang in Wien elf Rollen, alle aus seinem italienischen Kernrepertoire, darunter dreimal den Pollione in Bellinis Norma, elfmal die Titelpartie in Andrea Chénier und jeweils 13-mal den Canio und den Radames in Aida. 1992 wurde ihm im Haus am Ring der Titel Kammersänger verliehen.

1980 sang er erstmalig am Royal Opera House Covent Garden in London, er sollte in den 1990er Jahren regelmäßig dort auftreten. Über 20 Jahre lang war er in der Arena von Verona verpflichtet.

Im Laufe seiner Karriere trat Giacomini in den größten Opernhäusern der Welt auf. Er wird von Opernkennern wie Alan Blyth – neben Ramón Vinay (in den 1940er Jahren) und Mario Del Monaco (in den 1950er und 1960er Jahren) – als bester Sängerdarsteller des Verdi’schen Otello angesehen. Den Radames übernahm er in einer historischen Produktion in Kairo. 1988 sang er anlässlich der Eröffnung der Olympischen Spiele in Seoul den Kalaf in Puccinis Turandot. Seinen 60. Geburtstag feierte er als Cavaradossi in London. 2010 tourte er mit dem Shanghai Philharmonic Orchestra unter der Leitung von Muhai Tang durch China.

Aufnahmen: Es gibt einige Live-Mitschnitte von Opernaufführungen sowie Studioproduktionen – Norma mit Renata Scotto (1979), Manon Lescaut mit Raina Kabaivanska (1984), La forza del destino mit Leontyne Price (1984 aus der Metropolitan Opera), Cavalleria rusticana mit Jessye Norman (1990), Il tabarro mit Mirella Freni (1991), Tosca mit Carol Vaness (1993) und Otello mit Margaret Price (1997). (Quelle Wikipedia/ Foto oben: Giuseppe Giacomini als Puccinis Rodolfo/ Historical Tenors)

Heldin mit schlankem Pathos

 

Ein „Ersatzwunder“ sei diese CD-Aufnahme, heißt es im Begleittext zu der Pentatone-Aufnahme des Fidelio (2 CD PTC 5186 880). Nach der Corona bedingten Absage des Livekonzertes im Frühjahr 2020 mit der Dresdner Philharmonie fanden sich Marek Janowski und alle Mitwirkenden schließlich doch noch zwei Monate später in Dresden ein, um die Oper bei Wahrung der Abstandregelungen unter Studiobedingungen aufzunehmen; die später hinzugefügten Chorpassagen sind bei Studioaufnahmen keine Ausnahme. Unter zeitgeschichtlich aufgewühlten Voraussetzungen, aber dennoch in einer Ausnahmesituation, fand im November 1989 eine andere Dresdner Fidelio-Einspielung statt, als Bernard Haitink die Staatskapelle für das damalige Philips-Label dirigierte. Für die Ouvertüre benötigt der durchgehend flott dirigierende und auf ein hurtiges Vorandrängen achtende Janowski, der für Pentatone bereits den Freischütz, Hänsel und Gretel, Cavalleria rusticana und die Missa Solemnis aufgenommen hat, fast die identische Zeit wie Haitink. Während Haitink dem Drama Tiefe und Dringlichkeit verleiht, scheint Janowski bei allem Schwung und Energie, teilweise auch theatralischer Brisanz, mit den sauber artikulierenden Dresdner Philharmonikern doch nicht einen ähnlich packenden Gesamteindruck zu erreichen. Erst in der Kerkerszene fallen Studiosteifheit und Distanziertheit ab. Insbesondere die anfänglichen Singspielszenen huschen fast ein wenig gehetzt vorüber, wobei sich Christina Landshammer als Marzelline und Cornel Frey als Jaquino mit ihrem kecken Gezänk souverän behaupten. Von dieser Lustspielschablone löst sich Georg Zeppenfelds gar nicht biedersinniger, fast nobler Rocco. Die Sprechtexte, von Katharina Wagner (und Daniel Weber) behutsam gekürzt, wirken allerdings der Raumwirkung nicht richtig integriert, wie Leonores gewispertes „Ich habe Mut und Stärke“, das nicht auf Lise Davidsens großartige Leistung vorausweist, auch ihr Sprechtext im Anschluss an „Abscheulicher! Wo eilst du hin?“ gerät mehr als verhalten. Davidsen singt mit schlankem Pathos, mit Leidenschaft und Gefühl, man merkt, dass ihr die Partie, die sie kurz zuvor in London gesungen hatte, gut liegt, die Mittellage ist reich und ausdrucksvoll, die Höhe leicht und dennoch rund, die verhaltenen Passagen besitzen Gewicht und Intensität und die Koloraturen sind sicher. Sie hätte einen ebenbürtigen Partner verdient, was im Duett spürbar wird, wo dieser neben Davidsens Jubeltönen kaum eine Chance hat, wenngleich Christian Elsner, immerhin rund zwanzig Jahre älter als seine Leonore, mit mittlerweile spröder Stimme den Florestan mehr als achtbar und mit lyrischer Emphase singt. Ein bezwingendes, mit dieser Wucht nicht erwartetes Charakterporträt kreiert Johannes Martin Kränzle als Pizarro; als einzigem gelingt es ihm, den Sprechtext als Vorbereitung zu seiner Arie („Ha! Ha! Ha! Welch ein Augenblick!“ mit dem MDR-Rundfunkchor, während die weiteren Chorpassagen vom Sächsischen Staatsopernchor Dresden gesungen werden) quasi zwischen den Zähnen hervorzupressen und ohne vokale Übertreibungen und mit immer noch erstaunlich standfestem Bariton eine Szene zu dominieren. Luxuriös, wie es einer Studioaufnahme ansteht, die Besetzung des Don Fernando mit Günther Gröissböck. Es bleibt Davidsens Fidelio.  Rolf Fath

 

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Frühlingsweihe

 

Die Aufführung an der Opéra de Paris habe ich als eine ganz wunderbare in Erinnerung. Toll, dass es sie jetzt auf DVD gibt (BelAir BAC186), zeigt sie doch auch, zu was solch ein „wohlausgestattetes Haus“ in szenischer wie musikalischer Hinsicht in der Lage ist. Zudem ist Rimsky-Korsakows 1882 am Mariinsky-Theater uraufgeführte Snegurotschka oder Schneeflöckchen, zu dem er sich durch Ostrowskis gleichnamiges Märchendrama von 1873 inspirieren ließ, nicht gut auf Tonträgern vertreten. Und die Inszenierung des ausgewiesenen Rimsky-Korsakow-Regisseurs Dmitri Tcherniakov – nach der Zarenbraut und der Legende von der unsichtbaren Stadt Kitesch – ist ein weiteres Plus und ist Garant dafür, dass trotz beträchtlicher Aufführungsdauer (2 DVDs) niemals Langeweile aufkommt. Schneeflöckchen ist die Tochter von der Frühlingsfee und Vater Frost. Und wie der Schnee in der Sonne schmilzt, hat der Sonnengott Jarilo Snegurotschka zum Tode verurteilt, sobald sie sich in einen irdischen Menschen verliebt. Dies geschieht so unausweichlich, wie der Sommer auf den Frühling folgt und endet mit einem gewaltigen und großen Hymnus auf die Sonne. Doch davor hat Rimsky-Korsakow eine große Frühlingsfeier gerückt und eine personalreiche, märchenhaft verschlungene Handlung im „Land der Berendäer in prähistorischer Zeit“ um den Hirten Lel, den Kaufmann Mizguir, die junge Braut Kupava, den idealistisch guten Zaren Berendei, den Faschingspopanz, Waldgeister, Spielleute und Bojaren. Viel naiv Märchenhaftes ist darin, auch Mythologisches, Mystisch-Heidnisches, Christliches und Orthodoxes, wie häufig bei Rimsky-Korsakow. Tcherniakov hat – in Personalunion als Regisseur und Ausstatter (Kostüme von Elena Zaytseva) – dafür plastische, sinnliche Bilder gefunden, die eine historische Epoche mit einer postsozialistischen Gegenwart verbinden und die Märchenepisoden natürlich einbetten. Die Erscheinung der in einem Ballettsaal mit der Allüre einer Diva aus alten Zeiten residierenden Frühlingsfee (kraftvoll, darstellerisch und gesanglich mit großer Autorität: Elena Manistina) ist solch ein fesselndes Bild. Sie gebietet über eine große Schar von als Tiere kostümierte Eleven, wodurch die Märchenszene mit den singenden und tanzenden Vögeln eine realistische Grundlage erhält. Snegurotschka, ausgehfertig zum Schlittschuhlaufen, schaut staunend zu; Väterchen Frost (der damals 70jährige Vladimir Ognovenko ist immer noch von großer Ausstrahlung) kommt im Burberry-Trench hinzu. Die Eltern einigen sich darauf, ihre Tochter, von der Sonne verborgen, in den Wald zu den Menschen nach Berendei zu schicken. Diesen Wald hat Tcherniakov so suggestiv und magisch wie überhaupt auf einer Bühne nur möglich geschaffen. In kleinen Datschen haust ein fröhliches, blumenbekränztes, hippiemäßig und folkloristisch gekleidetes Aussteigervölkchen unter Führung eines grauzopfigen Anführers (einen Sänger mit diesem besonderen hohen Charaktertenor wie Maxim Paster muss man erst einmal finden), der sich unter sein Volk mischt und alten Zeiten nachhängt. Man tanzt viel und löffelt an Campingtischen von Plastikgeschirr. Snegurotschka wurde vor dem Hirten Lel gewarnt. Klar, dass sie sich in den selbstgefälligen Blonden verguckt, der wenig Interesse an ihr zeigt; bei Tcherniakov wurde die Altpartie des Hirten erstmals mit dem Countertenor Yuriy Mynenko besetzt, der der Figur etwas gläsern-geheimnisvolles verleiht. Gewaltige Bilder, im Detail liebesvoll ausgepinselt: Frühlingsfeuer mit dem Fastnachtspopanz (immerhin Franz Hawlata in der kurzen Episodenrolle, Genreszenen mit den in Wohnwagen wohnenden Pflegeeltern (Carole Wilson und Vasily Gorshkov), Auftritt des brutalen Mizguir (Thomas Johannes Mayer), der bei Snegurotschkas Anblick seine Verlobte Kupava einfach links liegen lässt, was die fast hochdramatisch blühende Martina Serafin wirklich nicht verdient hat, eine Männerchorprobe als Huldigung an den Zaren: immer pralles, kraftvolles Theater, bei dem die Hymne auf die Natur zu einer Huldigung wunderbaren Operntheaters und der Entdeckung einer schönen Oper gerät. In sämigen Breitwandsound trägt das Orchestre de L’ Opera National de Paris unter dem Paris-Debütanten Mikhail Tatarnikov zum opulenten Gelingen bei. Der Chor klang wie direkt aus Russland importiert. Und Snegurotschka? Aida Garifullina kann uns durch ihren strahlenden, gut fokussierten zart-schönen Sopran faszinieren, der der Zerbrechlichkeit der Snegurotschka, die am Ende dahinschmilzt, vollkommen gerecht wird. Rolf Fath

 

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Slawische Seele aus Archiven

 

Auf insgesamt 27 CDs bringt Warner mit Antonín Dvořák – The Slavonic Soul (Warner 0190296771997) eine Art großzügige, in Teilen sicherlich auch streitbare Selektion der wichtigsten Werke des bedeutenden tschechischen Komponisten heraus, der 1841, vor 180 Jahren also, geboren wurde. Der Schwerpunkt ist auf die Orchesterwerke gelegt, neben den obligatorischen Sinfonien also die Tondichtungen, Ouvertüren und sonstigen orchestralen Instrumentalwerke sowie die kammermusikalischen Stücke. Bewusst ausgespart bleibt das Opernschaffen Dvořáks, welches zehn Bühnenwerke umfasst.

 Anders als bei anderen Komponisten der Fall, muss sich Dvořáks Musik in den Konzertsälen der Welt nicht erst durchsetzen. Zumindest die späten drei Sinfonien gehören seit Jahrzehnten zum Standardrepertoire. Mit zunehmender Tendenz erscheinen auch die früheren, besonders die Sinfonien Nr. 5 und 6, auf den Spielplänen; ab und an hört man eine der Tondichtungen. Dass Libor Pešek hier zwei Drittel der Sinfonien (Nr. 1-6) beisteuert, erstaunt auf den ersten Blick. Ursprünglich zwischen 1987 und 1996 für Virgin eingespielt, stand sein mit dem Royal Liverpool Philharmonic Orchestra sowie mit der Tschechischen Philharmonie entstandener Zyklus von Anfang an im Schatten anderer. Zu Unrecht, wie man beim Wiederhören konstatiert. Sowohl künstlerisch als auch klanglich können diese Einspielungen sehr gut neben bekannteren bestehen. Insgesamt wählt Pešek eine etwas lyrischere Note als andere, auf Dramatik bedachte Dirigenten. Ebenfalls unter seinem Dirigat sind die Ouvertüre Husitska, die Tondichtungen Meine Heimat, Im Reiche der Natur, Karneval und Othello, die Tschechische und die Amerikanische Suite sowie das Scherzo capriccioso. Für die drei letzten Sinfonien (Nr. 7-9) griff man indes auf die deutlich geläufigeren Klassiker unter Carlo Maria Giulini zurück, die 1962 und 1976 mit dem Philharmonia Orchestra und dem London Philharmonic Orchestra für EMI entstanden. Diese offenbaren einen packenderen Zugriff als Giulinis Spätdeutungen der Werke. Er zeichnet zudem verantwortlich für die hier inkludierte Einspielung des Cellokonzerts mit dem legendären Mstislaw Rostropowitsch. Die übrigen kleineren Cellowerke werden von Paul Tortelier und André Previn (Rondo) sowie von Jacqueline du Pré und Daniel Barenboim (Waldesruhe) interpretiert. Letzterer fungiert auch in den in der Kollektion beinhalteten Violinwerken, dem Violinkonzert sowie der Romanze f-Moll, als Orchesterbegleiter für Itzhak Perlman. Einen großen Sprung gibt es beim Klavierkonzert (Solist: Pierre-Laurent Aimard). Mit dem Königlichen Concertgebouw-Orchester Amsterdam unter Nikolaus Harnoncourt tritt ein ungewohnter, aber auf seine Art ebenfalls überzeugender Dvořák-Dirigent hinzu. Auch die Sinfonischen Dichtungen Das goldene Spinnrad, Der Wassermann, Die Mittagshexe und Die Waldtaube obliegen des gebürtigen Grafen de la Fontaine Verantwortung. Ausgespart bleibt leider das auch andernorts selten aufgenommene Heldenlied. Bei den Slawischen Rhapsodien und den Slawischen Tänzen kommt mit Václav Neumann und der Tschechischen Philharmonie freilich ein idealtypisches Gespann hinzu, was die Mustergültigkeit dieser Aufnahmen beweist. Die vergleichsweise wenig geläufigen Serenaden für Streicher beziehungsweise für Bläser, Cello und Kontrabass steuern Christopher Warren-Green und Sir Neville Marriner bei; letztgenannter dirigiert auch die Nocturne B-Dur. Was die Kammermusik angeht, so ist u. a. eine Auswahl an Streichquartetten (Nr. 9 und Nr. 12 mit dem Britten Quartet, Nr. 13 mit dem Artemis Quartet und das sogenannte Zypressenquartett mit dem New Helsinki Quartet), das Klavierquartett Nr. 2 (mit Polina Leschenko, Ilya Gringolts, Nathan Braude und Torleif Thedéen), das Klavierquintett Nr. 2 (mit dem Nash Ensemble), das Streichquintett Nr. 3 sowie das Streichsextett A-Dur (jeweils mit dem Wiener Streichsextett) beigegeben. Die Slawischen Tänze finden sich zusätzlich in der Klavierfassung für vier Hände (Michel Béroff, Jean-Philippe Collard).

Eine Büste von Ladislav Šaloun schmückt Dvořáks Grab auf dem Vyšehrader Friedhof Wikiwand

Auch der Liedgesang wurde nicht ausgespart. Neben den bereits digital eingespielten Zigeunermelodien mit Barbara Hendricks, begleitet von Steffan Scheja, sind hier auch die ältesten Einspielungen dieser Neuerscheinung versammelt, nämlich die 1955 noch in Mono produzierten Mährischen Duette (Klänge aus Mähren) mit Elisabeth Schwarzkopf und Irmgard Seefried beziehungsweise mit Victoria de los Angeles und Dietrich Fischer-Dieskau, in beiden Fällen mit Gerald Moore am Klavier. Beschlossen wird die Box überraschenderweise dann doch noch großorchestral: Das Requiem unter Stabführung von Armin Jordan verteilt sich auf die letzten beiden CDs. Sicherlich gibt es weit prominentere Einspielungen (denkt man etwa an die beiden von Karel Ančerl, an István Kertész oder auch an Wolfgang Sawallisch), doch kann sich diese ziemlich in Vergessenheit geratene Einspielung aus Paris mit durchaus idiomatischer Besetzung (Teresa Zylis-Gara, Stefania Toczyska, Peter Dvorský und Leonard Mróz) insgesamt gut behaupten. Drei kurze Szenen aus Rusalka und Armida mit Lucia Popp und dem Münchner Rundfunkorchester unter Stefan Soltesz steuern ganz zuletzt dann doch noch etwas Oper in homöopathischer Dosis bei. Das Booklet ist gediegen, aber es fehlen die Aufnahmedaten (s. unten). Es ist dies eine insgesamt etwas unrunde und bunt zusammengewürfelt erscheinende Angelegenheit, die gleichwohl ihre Meriten besitzt und tatsächlich einen Einblick in die „slawische Seele“ Dvořáks bietet.  (Abbildung oben: „Böhmische Landschaft“ von Caspar David Friedrich 1808/ Staatliche Kunstsammlung Dresden/Wikipedia).  Daniel Hauser

 

Ein Wort zu den Aufnahmequellen: Anders als man das von der Warner sonst so beispielhaft gewöhnt ist (so im Umgang mit dem EMI-Nachlass) sucht sich der Interessierte hier wund nach der Herkunft  dieser Einspielungen. Während sich im Booklet absolut kein Wort zu den Herstellerfirmen und Aufnahmedaten findet bringt nur eine Lupe bei Lektüre der einzelnen CD-Hüllen-Rückseiten eben diese zu Tage. Aber woher stammen die Aufnahmen, die lapidar als „Compiled by Lee Daniel Woodland“ im Booklet angegeben werden? Warner Classics verwendet die alte His-Master´s-Voice-Firma Parlophone weitgehend für die EMI-Erbstücke (wie man von anderen Ausgaben weiß). Dazu kommen nun bei dieser Gemischtwaren-Box die Firmen Erato (von Warner nach dem Barenboim-Mozart-Opern-Debakel schnell gekauft) sowie die verblichene Firma Teldec (ehemals unabhängig als vormalige Decca-Tochter Deutschland und von Warner erworben). Und einige Aufnahmen der Firma Finlandia finden sich ebenso wie manche genuine Warner-.France und Warner-UK-Einspielungen. Wenn also Kollege Daniel Hauser von einer „unrunden und bunt zusammengewürfelten Angelegenheit“ schreibt, hat er Recht – eine andere und weniger wohlfeile Auswahl wäre unter diesen gemischten Umständen doch sinnvoller gewesen. Wenn man da an die exzellente Debussy-Ausgabe der Warner denkt … G. H.

Achtungserfolg aus dem ORF-Archiv

 

Formal war sie vielleicht die Krönung im Lebenswerk des Walzerkönigs Johann Strauss Sohn, de facto aber, gemessen an den Erwartungen, eher ein ziemlicher Reinfall, allenfalls ein Achtungserfolg. Die Rede ist von Straussens einziger Oper Ritter Pásmán, die am Neujahrstag 1892 die Ehre hatte, im k. k. Hofoperntheater am Wiener Ring unter Anwesenheit des mittlerweile 66-jährigen Komponisten uraufgeführt zu werden. Hofoperndirektor Wilhelm Jahn höchstselbst, von dem auch die Anregung zum Werk ausging, hatte das Dirigat und die Regie übernommen. Das Bühnenbild stammte von Anton Brioschi. Die Sängerbesetzung war mit u. a. Franz von Reichenberg (der 1876er Uraufführungs-Fafner in Bayreuth), Fritz Schrödter, Ellen Brandt-Forster und Marie Renard erlesen. Und doch krankte es am mediokren Libretto, welches Ludwig von Dóczi nach der literarischen Vorlage von János Arany beisteuerte. Die Banalität der Handlung, im 14. Jahrhundert angesiedelt, war bereits problematisch, doch erreichte auch die musikalische Untermalung nicht das Niveau der besten Bühnenwerke von Strauss. Immerhin haben sich einige Nummern im Repertoire halten können, besonders der Csárdás und der sogenannte Eva-Walzer, welche auch bereits bei den Wiener Neujahrskonzerten zur Aufführung gelangten. Die Ballettmusik wurde tatsächlich von der Kritik auch von Anfang an hervorgehoben. Überdies zeigte sich der alternde Komponist durchaus experimentierfreudig, erklang doch zum ersten Mal ein Cymbal im Hofopernorchester.

Nichts verdeutlicht das Schattendasein, welches der dreiaktige Ritter Pásmán seither führt, besser, als die desaströse Situation auf dem Tonträgermarkt. Bis zum Jahre 2021 gab es tatsächlich keine einzige offizielle Einspielung der kompletten Oper. Das Label Orfeo behebt diesen unhaltbaren Zustand, muss aber – fast bezeichnend – auf eine Aufnahme zurückgreifen, die ihrerseits schon beinahe ein halbes Jahrhundert auf dem Buckel hat (Orfeo C200062). Es handelt sich hierbei um einen für das Alter sehr gut klingenden Mitschnitt des Österreichischen Rundfunks vom 27. Oktober 1975, der im Wiener Musikverein konzertant zustande kam. Der in diesem Repertoire ausgewiesene Heinz Wallberg leitet dort das Radio-Symphonieorchester Wien sowie den ORF-Chor. Die Besetzung liest sich prominent: Niemand Geringerer als der gerade in Wien legendäre Eberhard Waechter, schon etwas über seinen Zenit hinaus, übernimmt die Titelpartie. An seiner Seite agieren Josef Hopfenwieser als Karl Robert von Anjou, Sona Ghazarian als Königin, Trudeliese Schmidt als Eva, Artur Korn als Rodomonte, Horst Witsche als Hofmarschall Omodé, Axelle Gall als Gundy sowie Peter Drahosch als Mischu. Besonders Waechter („Ich bin ein Ungar und ein Edelmann“) und die Schmidt („O gold’ne Frucht“) sind hervorzuheben.

Tatsächlich ist das ehrliche Bemühen von Strauss, nicht bloß eine zur hofoperntauglichen Oper umdeklarierte Operette abzuliefern, hörbar, gibt es in der stellenweise überraschend düsteren Partitur doch gar Anklänge an den Bayreuther Meister Richard Wagner (besonders in den pathetischen Chören). Marcel Prawy sprach gar davon, „[e]s meistersinger[e] in diesem Werk auf Ungarisch“. Freilich scheint sich der für seine heiteren Stücke berühmt gewordene Johann Strauss Sohn im seriösen Fach nicht vollumfänglich wohlzufühlen, so dass sich hie und da ein etwas zwanghafter Eindruck auftut, wohl den Erwartungen der großen Hofoper geschuldet.

Als Bonus ist auf der zweiten CD noch die vom Label Marco Polo übernommene komplette Ballettmusik mit dem Slowakischen Staatlichen Philhamonischen Orchester unter Alfred Walter beigegeben (Aufnahme: 1993), wohl auch, da in der Gesamtaufführung lediglich der genannte Csárdás erklingt. Ein informatives Beiheft (auf Deutsch und Englisch) mit einer Einführung von Gerhard Persché rundet diese wichtige Ergänzung der Strauss-Diskographie ab. Daniel Hauser

Von Euphrat und Themse

 

Pietro Metastasios Operntext Artaserse von 1729 zählt zu seinen häufig vertonten Libretti. Bereits ein Jahr später wurde er von Leonardo Vinci in Musik gesetzt. Mehr als 90 Komponisten folgten, darunter Johann Adolf Hasse (1730), Christoph Willibald Gluck (1741) und Carl Philipp Emanuel Bach (1760). Der Brite Thomas Arne (1710 – 1778), heute vor allem durch „Rule, Britannia“ bekannt, aber schon zu Lebzeiten erfolgreich als Theaterkomponist mit masques und songs, übersetzte den Text selbst ins Englische. Er hatte Hasses Version 1754 in London gehört – wie diese ist sein Artaxerxes eine opera seria im italienischen Stil, nur mit englischem Text. 1762 wurde sie in London zur Premiere gebracht. Die Bravour-Rolle des Arbaces (die bei Vinci und Hasse der legendäre Farinelli gesungen hatte) kreierte gleichfalls ein Kastrat: Ferdinando Tenducci. Auch die Titelrolle wurde einem Kastraten, Nicolò Perelti, anvertraut. Charlotte Brent, Arnes langjährige Schülerin und seit 1755 seine Geliebte, sang Artaxerxes’ Schwester Mandane. Die drei verbleibenden Partien wurden ebenfalls von englischen Interpreten wahrgenommen – der berühmte Händel-Sänger John Beard als Arbaces Vater Artabanes, Miss Thomas als Artaxerxes’ Geliebte Semira und George Mattocks als Armeegeneral Rimenes.

In der Musik dominieren Airs – nicht weniger als 26 Titel finden sich in der Partitur-, die allerdings im Unterschied zu Händel und seinen Zeitgenossen die Da capo-Form meiden. Statt vokaler Bravour liegt der Schwerpunkt auf melodischer Schönheit und emotionaler Unmittelbarkeit. Bemerkenswert ist der Reichtum der Instrumentierung durch den variablen Einsatz der Blasinstrumente.

Die vorliegende Aufnahme folgte einer Neuproduktion des Werkes am Royal Opera House Covent Garden im November 2009. Der Dirigent Ian Page (der bereits bei Linn die Oper 2004 eingespielt hatte; und überhaupt herrscht kein Mangel an Arnes Oper auf CD, denkt man an Fasolis bei Erato, Goodman bei Hyperion oder Rovaris bei Dynamic, wie ein Blick in den Katalog von jpc zeigt) hatte dafür die fehlenden Teile (sämtliche Rezitative und das Finale), die beim Brand des Opernhauses 1808 zerstört worden waren, ergänzt. Glücklicherweise waren die Overture sowie Airs und Duets schon gedruckt und blieben dadurch erhalten. Page fertigte die Rezitative, während er für das Finale den Komponisten und Musikwissenschaftler Duncan Druce heranzog, der es im Stil Arnes schrieb. Die Neuschöpfungen finden sich auch in dieser Einspielung, welche im November 2009 und April 2010 in London entstand und erstmals 2010 vom Label LINN herausgebracht wurde. signum CLASSICS sorgt nun für eine Wiederauflage auf zwei CDs (SIGCD672).

Ian Page leitet das 1997 gegründete Ensemble The Mozartists, das sich auf die Musik Mozarts und seiner Zeitgenossen spezialisiert hat. Schon in der Overture spürt man die Vertrautheit mit diesem Stil. Sie atmet festlichen Glanz, ist von pulsierendem Rhythmus und vorwärts drängender Verve. Der Countertenor Christopher Ainslie übernahm den Titelhelden, die Sopranistin Rebecca Bottone dessen Geliebte Semira. Ainslie überzeugt in seinem Auftritt „Fair Semira“ mit kultiviertem Vortrag und stets angenehmem Ton. Auch das Air „In infancy“ zu Beginn des 2. Aktes ist ein rundum wohllautender Titel. Bei „Though oft a cloud with envious shade“ kann er neben dem schönen Klang seiner Stimme auch virtuose Fähigkeiten einbringen. Bottone erfreut in Semiras Air „How hard is the fate“ mit nobler Stimme von leuchtendem Klang und feiner Ausformung der Verzierungen. Auch in ihrem Air im 2. Akt „If the river’s swelling waves“ entzückt sie mit lieblichem Klang. Im Unterschied zur früheren Tradition wurde die Partie des Arbaces hier nicht mit einem Counter, sondern der Mezzosopranistin Caitlin Hulcup besetzt. Das Auftritts-Air „Amid a thousand racking woes“ ist von bewegtem Duktus mit reichem Koloraturanteil. Die Interpretin bewältigt es achtbar, lässt allerdings eine sehr strenge Höhe hören. Dennoch suggeriert ihre Stimme keine männliche Figur. Delikat schwebt die Stimme im Air „O too lovely“, mit berührender Schlichtheit und Innigkeit ertönt sie in „By that belov’d embrace“. Den 3. Akt eröffnet sie mit dem Air „Why is death for ever late“ sehr empfindsam und hat gleich danach mit „Water parted from the sea“ noch ein weiteres Solo von gleichfalls getragenem Charakter. Arbaces’ Vater Artabanes ist der in der Alten Musik namhafte Tenor Andrew Staples. Mit dem getragenen Air „Behold“ führt er sich mit gleichermaßen gefühlvoller wie beherzter Stimme sehr vorteilhaft ein. Energisch trumpft er bei „Thy father!“ auf und wartet bei „Thou, like the glorious sun“ dann wieder mit sanften Tönen auf. Mit „O, much lov’d son“ hat er das längste Air der Oper zu singen – ein aufgewühltes Seelengemälde, welches Staples in seinem enormen Ausdrucksradius zeigt. Elizabeth Watts singt die Mandane. Mit dem Air von leichter Wehmut „Adieu, thou lovely youth“ fällt ihr das erste Solo des Werkes zu. Die Sopranistin singt es kultiviert und mit Wohllaut. Das Air „Fly, soft ideas“ mit munterem Hörnerklang suggeriert eine Jagdszene, welche die Sopranistin mit beherzter Attacke angemessen ausbreitet. Im Air „If o’er the cruel tyrant love“ kann sie dann wieder innige Töne hören lassen. Umso überraschender sind ihre keifenden Ausbrüche im Air „Monster, away“, doch sind diese natürlich der Situation geschuldet, soll sie doch für Rimenes der Lohn sein für dessen Mordtat an Artaxerxes. Mit dem wiegenden „Let not rage“ im 3. Akt fällt ihr eine der schönsten melodischen Eingebungen des Komponisten zu und sie nutzt diese Vorgabe mit großer Würde. Strahlender Trompetenschall begleitet ihr letztes Air „The soldier, tir’d of war’s alarms“, wo es bei den jauchzenden Koloraturen einige grelle Spitzen zu hören gibt. Der Tenor Daniel Norman komplettiert die Besetzung als Rimenes, der in den Airs „When real joy we miss“ und „To sigh and complain“ eine buffonesk-muntere Note einbringt, bei „O let the danger of a son“ im 3. Akt aber auch energisch auftrumpfen kann. Am Ende vereinen sich die Solisten mit „Live to us, to Empire live“ zum jubelnden, von Druce kongenial nachempfunden Finale (13. 07. 2021). Bernd Hoppe

Im Fahrwasser des Erfolges

 

Der ugeheuerliche Erfolg von Ruggero Leoncavallos Pagliacci im Londoner Hippodrome veranlasste die Eigentümer der Institution, eine weitere Kurzoper bei dem italienischen Komponisten in Auftrag zu geben. Seine Wahl fiel auf Puschkins Zingari, vielleicht nicht zuletzt wegen des Riesenerfolgs einer anderen Oper um eine leidenschaftliche, aber wankelmütige Zigeunerin, Carmen. So entstand unter der Federführung von Enrico Cavacchioli das Libretto um eine Fleana, allerdings Sopran, die einen Tenor aus seinem bürgerlichen Leben herausreißt, um ihn wenig später zugunsten eines Baritons zu verlassen, worauf der Tenor nicht nur sie, sondern auch den neuen Liebhaber tötet, indem er Feuer in ihr Zelt wirft. Das wie stets sehr informationsreiche Booklet zur CD von Bongiovanni weiß auch von vielen Einflüssen von Zigeunermusik auf Leoncavallos neues Werk zu berichten, die aber so bedeutend nicht sind, abgesehen vom Intermezzo zwischen den beiden Liebesabenteuern der schönen Fleana. In London wurden dann nicht wie noch heute üblich die Pagliacci an die Cavalleria gekoppelt, sondern an Gli Zingari, die immerhin auch 62 Aufführungen erlebten. Danach wurde das Werk wie die anderen Leoncavallos  außer Pagliacci schnell vergessen, auch weil zu sehr an die Pagliacci erinnernd, erlebte durch die RAI 1975 den Versuch einer Wiederbelebung und 1999 in Montecatini. Die im Jahre 2019 entstandene CD ist ein Verdienst wohl auch der Gattin des Verismo-Liebhabers, des Dirigenten  Gianandrea Gavazzeni, Denia Mazzol Gavazzeni.

Das Werk beginnt sehr schwungvoll, die Zigeunerchöre erinnern allerdings eher an die aus den Pagliacci als an echte Volksmusik. Die Musik ist sehr gefällig, sehr melodiös, die Liebesduette leidenschaftlich bis hin zur Emphase sich steigernd.

So verdienstvoll es sein mag, dass sich Denia Mazzola Gavazzini der vergessenen Opern annnimmt, so sehr ist sie doch zugleich die Crux dieser Aufnahmen, da sie den Zenit ihres Gesangvermögens bereits überschritten hat, die maestà selvaggia, die der zentralen Figur nachgesagt wird, nicht zu vermitteln vermag, oft dünn und scharf klingt und Nachdrückliches durch viel Vibrato darzustellen versucht. Man merkt zwar immer noch, dass sie um viele Finessen weiß, nur hapert es bei der Umsetzung, eine weniger spitze Stimme wäre zumindest bei den Liebesszenen wünschenswert, Abscheu und Ablehnung darzustellen, gelingt ihr besser, ein „forse“ kurz vor dem Ehebruch hört sich verheißungsvoll an, die „risata sardonica“ allerdings fällt schwach aus, und für den absoluten Schlager „Tagliami“ braucht eine Stimme einfach mehr Substanz, „dolce morir“ gelingt nicht mit so viel Vibrato.

Mit viel Slancio versucht der Tenor Giuseppe Veneziano als Rádu Schmelz in seine Stimme zu zwingen, bleibt aber zunächst recht flach, so auch im Dammi un amore, erfreut allerdings mit einer schönen Fermate auf Re. Wechselt er von Amore zu Gelosia, dann klingt die Stimme wie befreit, zeigt einen tollen Einsatz für „ Eccolo finalmente“ und  bei „Ho perduto la pace vagabonda“ wird sie dunkel, wie tief verschattet klingend. Finster drohend hört sich der Bariton von Armando Likaj in der Partie des Tamar , des zunächst Verschmähten, an. Empfindsam gibt er sich in „Taci, non dir“, im zweiten Bild kann er mehr auftrumpfen, hat er da doch eine schöne Canzone mit Canto notturno. Warm klingt der nur wenig beanspruchte Bass von Giorgio Valerio als Il Vecchio. Das Orchestra Filarmonica Italiana unter Daniele Agiman kann sich vor allem im Intermezzo, das man auch für ein Konzertstück halten könnte, auf das Angenehmste profilieren. Der Coro Ab Harmoniae klingt angenehm, weniger wild, als man von auf der Flucht vor Bestohlenen oder angesichts einer Katastrophe erwarten würde. Das Stück selbst verdient es, einmal wieder als Pendant zu den Pagliacci auf einer Bühne zu erscheinen (Bongiovanni 2585-2). Ingrid Wanja

 

Der Glanz schwerer Seide

 

Hingelagert wie eine Odaliske in eine farbprächtige Szenerie aus Pflanzen und Früchten, die Beine unter dem roten Kleid ausgebreitet, bietet Anita Rachvelishvili auf ihren neuen Sony Album Élégie (19439737022) das Bild einer eher erschreckten als klagenden Frau. Das Foto von Irma Sharikadze ist immerhin ein Eyecatcher. Mit bekannten Liedern und Romanzen von Tschaikowsky, Rachmaninoff, Tartakishvili, Tosti, Duparc und de Fall, gesungen auf Russisch, Georgisch, Italienisch, Französisch und Spanisch, will die 37jährige Georgierin neue Farben in ihrer Stimme, fernab der Opernbühne, finden. Das Opernhafte kann sie, die für das russische Repertoire Archipowa, Obrastzowa, Borodina und Hvorostovsky als Vorbilder nennt, freilich nicht abstreifen. Bei den drei Tschaikowsky-Liedern, wozu auch berühmte op. 6/6 nach Goethe „Nur wer die Sehnsucht kennt“ gehört, scheint mir das noch nicht vollkommen eingelöst. Aber in den fünf Rachmaninoff-Liedern gelingt es Rachvelishvili ihren üppig schweren und dunklen Mezzosopran auf den intimen Raum dieser Lieder herunterzudimmen und mit leisen, leuchtenden Farben und ruhigen Tönen zu überraschen, das gilt für „Du bist wie eine Blume“ nach Heine op. 8/2 oder „Sing mir nicht, meine Schöne“ nach Puschkin op. 4/4; „Ach, klagt nicht um mich“ gerät dann richtigerweise zu kleinen Opernszene, dramatisch, leidenschaftlich und tiefenschwer. Natürlich liegt ihr die aus einem fünfteiligen Zyklus stammende „Sonne des Heumonds“ ihres georgischen Landsmannes Otar Taktakishvili (1924-89) mit ihren Anklängen an die Volksmusik ihrer Heimat. Vincenzo Scalera, der Generationen von Diven, von Gencer, Caballé, Kabaivanska, Scotto bis Ricciarelli und Jo, sozusagen auf seinen Händen getragen hat, ist Rachvelishvili bei der im Januar 2020 in Tiflis entstandenen Aufnahmen ein selbstloser und gediegener Begleiter. Bei der Nr. 10 muss man nochmals nachschauen. Es handelt sich tatsächlich um Tostis „Non t’amo piu“, gesungen als schwermütige Klage eines verlassenen Landmädchens, in einem befremdlichen, vernebelten und eingedunkelten und gewöhnungsbedürftigen Ton. Rachvelishvili gelingen immer wieder betörende, zarte Linien, so auch in „Ideale“ und „Tristezza“ – erste Wahl sind die drei Tostis aber nicht. Je weiter Rachvelishvili in ihrem Programm fortschreitet, desto lässlicher erscheint es mir, wenngleich sie recht geschickt die drei Beispiele, die sie aus den 17 erhaltenen Liedern Henri Duparcs ausgewählt hat, in die Nähe der russischen Romanzen rückt und in „Élégie“ mit dem Glanz schwerer Seide aufwartet. Als Carmen kommt sie uns in den sieben kurzen Canciones populares españolas von Manuel de Falla, die sie raffiniert und stimmlich klug ausbalanciert und – und doch mit dröhnender Bruststimme –  mit einem bullerigen, „Polo“ krönt. Rolf Fath

Interessante Auswahl

 

Das französische Label ALPHA-CLASSICS ist bekannt für seine systematische Pflege des barocken Repertoires und wartet immer wieder mit überraschenden Raritäten auf. Zudem legt es Wert auf die kontinuierliche Zusammenarbeit mit bestimmten Künstlern – so der amerikanischen Mezzosopranistin Kate Lindsey, mit der es bereits einige Recitals produziert hat. Nach einem Programm mit Liedern um Kurt Weill erschien das Album „Arianna“, dem nun Tiranno“ folgt (ALPHA 736). Aufgenommen im Oktober des vergangenen Jahres in London, präsentiert es eine interessante Werkauswahl mit zwei Weltpremieren auf CD.

Omnipräsent in den vier Kantaten sowie einigen Szenen aus Monteverdis Oper L’Incoronazione di Poppea ist die Figur des römischen Kaisers Nerone. Eine Komposition Alessandro Scarlattis, welche das Programm eröffnet, trägt seinen Namen sogar im Titel – die Kammerkantate Il Nerone entstand wahrscheinlich 1698 und schildert in drei, durch Rezitative verbundenen Arien den Herrscher, in dessen Reich nur Grausamkeit regiert, der vor dem Hintergrund der brennenden Stadt noch die Leier spielt und die Klagen des leidenden Volkes zynisch imitiert. Ganz unvermittelt, ohne instrumentale Einleitung, beginnt  das Stück mit dem selbstbewussten Ausruf des Kaisers „Io son Neron!“. In der ersten Aria, „Vuò che tremi Giove ancora“, kann die Interpretin mit flüssigen Koloraturläufen aufwarten. Die Stimme ist herb und vermittelt plastisch das neurotische Naturell der Figur. In der letzten Aria, „Veder chi pena“, vermag sie ihren Mezzo ganz schlank zu führen und aufzuhellen mit dem Ergebnis eines angenehmen Klanges. Danach aber endet das Stück ganz abrupt mit einem kurzen Rezitativ von strenger Färbung.

In Scarlattis Kantate La Morte di Nerone (vermutlich aus dem Jahre 1690), welche die Anthologie abschließt, steht dagegen Neros Zögern angesichts seines eigenen Todes im Mittelpunkt. Doch die Untaten gegen seine Mutter Agrippina, seine Frauen und seinen Lehrmeister Seneca, die ihn als Schreckensbilder heimsuchen, führen schließlich zum Entschluss, aus dem Leben zu scheiden. In dieser Weltersteinspielung überrascht die Mezzosopranistin noch einmal mit neuen Farbtönen – düster, verhangen, entrückt, schimpfend, tobend, somnambul –, bis das Stück abrupt mit einem kurzen Rezitativ endet.

Die andere Novität auf dem Musikmarkt ist Bartolomeo Monaris Kantate La Poppea (von 1685). In der Programmfolge erklingt sie nach den Ausschnitten aus Monteverdis Oper, was Sinn macht, denn Molinaris Komposition ist quasi deren Fortsetzung mit der im Sterben liegenden Poppea. Schwanger mit Neros Kind, endet ihr Leben durch eine brutale körperliche Attacke ihres Gatten. In den jeweils drei Arien und Rezitativen formt die Interpretin ein plastisches Bild der unglücklichen Frau mit lamentierenden Passagen und einer dissonanten Schlussarie („Bellezza mortale“), in der sie sich an in ihre einstige und nunmehr verblassende Schönheit erinnert.

Aus Monteverdis Incoronazione wurden Szenen aus dem 2. und 3. Akt mit Nerone und Lucano (ausdrucksstark der Tenor Andrew Staples) sowie Nerone und Poppea (sinnlich lockend die Sopranistin Nardus Williams) in beider Schlussduett „Pur ti miro!“ ausgewählt. Dazwischen steht Ottavias ergreifender Abschied vor ihrer Verbannung aus Rom („Addio Roma!“). Lindsey zeichnet den Nerone in exaltierter Freude über Senecas Tod und später mit Poppea in schmeichelnder Zärtlichkeit, die Ottavia bei allem  ergreifenden Schmerz auch mit wilden Ausbrüchen einer existentiellen Notsituation.

Ein weniger bekanntes Werk Händels, der dramatische Monolog Agrippina condotta a morire, komplettiert das Programm. Zwischen 1707 und 1709 während seines Rom-Aufenthaltes komponiert, stellt das Stück quasi die Vorstufe zur 1709 uraufgeführten Oper Agrippina des Hallenser Meisters dar. Darin schwankt Neros Mutter zwischen Liebesbekundungen für ihren Sonn und Rachegelüsten wegen ihrer Verurteilung zum Tode. Der Komponist nutzt rasche Stimmungswechsel zur Schilderung der ambivalenten Emotionen und die Violinen in der ersten Aria („Orrida, oscura!“) zur Darstellung von Blitzen, in der Cavatina „Come, o Dio!“ zur Unterstreichung der Verzweiflung. Die Sängerin lässt im einleitenden Rezitativ eine keifende Stimme hören, die in der nachfolgenden Aria,„Orrida, oscura!“, mit energischen Koloraturen aufwartet. Darüber hinaus nutzt sie viele Farben und Stimmungen, um die Situation Agrippinas zu verdeutlichen. Eine Rasende ist sie in der Cavatina „Sí, sì, s’uccida!“, flehentlich und mit betörenden Tönen in „Come, o Dio“, zur Rache entschlossen in „Se infelice al mondo vissi“, nicht mehr bei Sinnen mit sich schier überschlagenden Wortfetzen in „Su lacerate il seno“. Das Ensemble Arcangelo, 2010 von seinem Künstlerischen Leiter Jonathan Cohen gegründet, begleitete die Mezzosopranistin schon bei „Arianna“ und ist auch in dieser Neuaufnahme ein inspirierender Partner für die Solistin mit Affekt betontem Musizieren. Bernd Hoppe