Geisterspuk und Elfentanz      

 

Das „Phantastische“ ist ein heikler Fall. Zurecht weist Elisabetta Fava zu Beginn ihres Buches darauf hin, dass es sich einer eindeutigen Definition entziehe Phantastisch sei alles, was verstöre und befremde, was nicht mit den gewöhnlichen Denkkategorien vereinbar sei, was unverständlich, unerklärlich bleibe und gegen die Regeln des gesunden Verstandes verstoße, so liest man.  Nicht zu verwechseln mit dem Wunderbaren, das einem begegnet, wenn man das Übernatürliche erkenne, jenseits der Täuschung, die das Phantastische zum puren Trick degradiere.

Seien wir ehrlich: Das Bedürfnis nach dem Phantastischen ist eine uralte, quasi metaphysische Konstante menschlichen Denkens und Wahrnehmens, aber auch menschlicher Kreativität im Künstlerischen wie im Religiösen.

Der Großmeister der mittelalterlichen Phantastik und ein nachhaltiger Initiator phantastischen Malens war Hieronymus Bosch, aber es gibt auch in der Musik des Barocks bereits Komponisten, die immer wieder phantastische, bizarre Momente in ihre Kompositionen einflochten. Man denke nur an Jean-Férie Rebels „Les Elements“, aber auch an die vielen Zauberszenen in der barocken Oper.

Doch die große Stunde des Phantastischen in der Literatur, im Theater, in der nonverbalen Musik wie in der Oper kam im 19. Jahrhundert. Zuvor deckte sich das Phantastische weitgehend mit dem Wunderbaren. Der Manierismus lebte davon. Wann genau diese Verwandlung des Wunderbaren zum Phantastischen geschah, weiß auch die Autorin nicht, gesteht sie. Um sich nicht aufs Glatteis zu begeben, beschränkt sie sich daher von vornherein aufs 19. Jahrhundert und auf Deutschland, wo das Phantastische ein großes, weit verbreitetes Thema wurde. Aber schon Mozarts „Zauberflöte“, mehr noch dessen „Don Giovanni“ waren, man liest viel darüber in diesem klugen Buch, wegweisende Paradebeispiele der Entstehung von etwas Neuem:  Dämonen und Feen, Geister und übernatürliche Erscheinungen des Jenseitigen bevölkern plötzlich die Bühne, auch Halluzinationen und Alpträume. Sie befriedigen das neue metaphysisch-psychologische Gruselbedürfnis des Publikums.

Der Traum ist es, der das Tor zwischen zwei Welten öffnet. Bestes Beispiel ist das Werk Richard Wagners. Ihm widmet die Autorin viel Aufmerksamkeit. ausführlich untersucht sie Wagners frühe Opern, aber auch seine reifen Musikdramen. „Was Lohengrin betrifft, kann man nicht umhin, über die außerordentliche Klangerfindung zu sprechen, die Wagner hier zum ersten Mal vorstellt: das leise Tremolo der (in Gruppen geteilten) Violinen-mit Dämpfer – evoziert die weißen Federn des Schwans, aber auch das wunderbare Licht des Grals und lässt uns daher eine überirdische Welt erahnen, das Präludium beginnt mit einem körperlosen Klang, den die Flageolettöne von vier Soloviolinen hervorbringen; ein nie zuvor gehörter, übermenschlicher, schwebender Kang.“ Viele ähnlich konkrete Beispiele musikalischer Phantastik nennt die Autorin, der es darum geht, so etwas wie eine „Grammatik des Phantastischen“ zu erstellen.

Elisabetta Favas zentrale Einsicht: „Für den Romantiker ist die Phantastik der Riss in der bekannten Welt, die dauerhafte Kapazität zu träumen, etwas zu fürchten, das über die Grenzen der Immanenz und der Alltäglichkeit hinausführt.“

Ziel ihrer Untersuchung ist es, darzustellen, „wie die Musik bewusst phantastische Themen behandelt und daraus ein erkennbarer, wiederkehrender und dauerhafter Jargon entsteht, der als Gegenstück der literarischen Gestalt des Phantastischen zu würdigen ist,“ die zweifellos von eminenter Bedeutung für die deutsche Literatur ist. Darüber wurde viel geschrieben, nicht aber über die musikalische Phantastik.

Die Autorin gibt zum ersten Mal einen Gesamtüberblick der Verwendung des Phantastischen in der Musik der deutschen Romantik. Ihr Buch entfaltet eine Art musikalisches Panorama, mit Querbezügen zur französischen, italienischen und russischen Literatur. Fava zitiert den Franzosen Charles Nodier, der schon 1830 in der Revue de Paris erkannt hatte „Deutschland ist reicher als jegliches andere Land an dieser Art Schöpfungen“. Er bezog sich vornehmlich aufs Literarische. Elisabetta Favas Interesse gilt hingegen der Beantwortung der Frage, ob und wie die deutsche Phantastik auch im musikalischen Gebiet eine ebenso große Rolle wie in der Literatur gespielt hat.  Ihr Buch bejaht diese Frage eindrucksvoll, die Lektüre lohnt unbedingt.

Das Buch ist die von der Autorin (gelegentlich etwas holperig) ins Deutsche übersetzte, ursprünglich italienisch abgefasste Dissertation, die der Universität Bern vorgelegt wurde. Dennoch eine gut lesbare wissenschaftliche Fleißarbeit, die mit Literaturverzeichnis und nützlichem Namensregister ein respektables, konkurrenzloses Nachschlagewerk zum Thema musikalischen Geisterspuks und Elfentanzes geworden ist (Elisabetta Fava: Geisterspuk und Elfentanz – Musikalische Phantastik im Deutschland des frühen 19. JahrhundertsKönigshausen & Neumann 2021, 384 S, ISBN: 978-3-8260-7361-8). Dieter David Scholz