Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Iranische Opern von Behzad Abdi

.

Trommeln und Hörner, Stimmgewirr, Schreie. Amir Touman und seine schwer bewaffneten mongolischen Krieger wüten beim Einfall im Iran gnadenlos und metzeln die unbewaffneten Menschen mit Speeren und Schwertern und mit äußerster Brutalität nieder. Überall bricht Feuer aus. Inmitten des Infernos gibt es keine Anzeichen von Gnade. Die trunkene Kavallerie reitet über die toten Körper. Derart plastisch beschreibt Behrouz Gharibpour in seinem Libretto für Behzad Abdi die erste Szene zur zweiaktigen Oper Rumi. Der 1973 in Teheran geborene Abdi hat für Film und Fernsehen komponiert. Rumi sei die erste iranische Nationaloper, heißt es auf der Einspielung (2 CD Naxos 8.660424-25), was sich schwer widerlegen lässt.

Behzad Abdi (b. 1973) is an Iranian composer. He studied the setar and Iranian traditional music with Masoud Shoari and Mohsen Nafar and Western classical music with Liudmila Yurina and Vadim Juravitsky at the Tchaikovsky Academy in Ukraine. Abdi is the first composer to write Iranian traditional opera fusing Iranian traditional and Western classical music. He is also a composer of film soundtracks and has won two awards at the Fajr International Iranian Film Festival, among others./ Wikipedia

Entstanden ist die Aufnahme im Dezember 2009 in Kiew, wo der Komponist mittlerweile lebt und offenbar eine größere Schar in klassisch persischer Musik ausgebildete Musiker um sich versammelt hat, die auch bei der Einspielung seiner folgenden Oper Hafez im Februar 2014 (2 CD Naxos 8.666426-27) im Haus des Rundfunks, wo Vladimir Sirenko erneut das National Symphony Orchestra der Ukraine und den Credo Chamber Choir leitete, Hauptrollen übernahmen. Um ein Monument der persischen Kultur handelt es sich bei dem Weisen und Dichter Rumi. Behzad Abdi gelingen faszinierende Klangbilder, in der sich instrumentale Stimmungen und die oftmals wie Klagesänge wirken Solostimmen zu 15 Szenen verflechten, in die die beiden, insgesamt 105-minütigen Akte untergegliedert sind. Um eine internationale Hörerschaft zu erreichen, habe er das System der traditionellen persischen Kunstmusik, dastgāh, mit westlichen klassischen Formen verbunden, so Abdi. Mit Hilfe der englischen Übersetzung von Gharibpours Text kann man einigermaßen den Stationen im Leben Rumis folgen, des im 13. Jahrhundert lebenden Sufi-Mystikers und Gelehrten, der als einer der bedeutendsten persischen Dichter gilt. Doch die Stationen und Orte scheinen nicht das Wesentliche zu sein, sondern Rumis Träume, sein Weg zur Erkenntnis und die Lehre von der Liebe als Hauptkraft des Universums, wie er sie in den Begegnungen und Gesprächen mit seinem Mentor, dem Mystiker und Derwisch Schams-e-Tabrizi, kurz Shams, formulierte, den er später in einer Gedichtsammlung verewigte. In Shams und Rumis Gespräch zu Beginn des zweiten Aktes spielen die Tenöre Homayoun Shajarian (Shams) und Mohammad Motamedi (Rumi) die Möglichkeiten des melismatischen Sprechgesangs der klassischen persischen Musik eindrucksvoll aus. Der bezwingende Ton wiederholt sich in ihrer zweiten Begegnung, deren mystischer Zug durch den anschließenden rituellen Shema unterstrichen wird, der eine Element der spirituellen Trancetänze ist. In der letzten Szene schlagen Rumi und seine Anhänger, denen der Geist des tanzenden Shams erschienen war, die mongolischen Feinde durch ihren Tanz in die Flucht – „As if the weapon of these people against the enemy is the message of love of the God and their power looks fiercely for the enemy“ –  und Rumi verkündet seine Botschaft „Let us gild this world of dirt with gold /Come! Let us be the early spring of Love!“.  Abdi gelingen geradezu plastische theatralisch Szenen, bei den er auch auf seine Erfahrungen als Filmkomponist zurückgreifen kann, die auch naive Hörer unmittelbar anzusprechen vermögen.

Das gleiche Erfolgsrezept wendete Abdi auch bei seiner nächsten Oper Hafez an. Wieder steht eine Symbolfigur der persischen Literatur im Mittelpunkt. Diesmal der Dichter Hafez, bei uns als Hafis und die Rezeption durch Goethe in seinem West-östlichen Divan bekannt. Wieder hat der Regisseur Gharibpour, der dafür Gedichte des Hafis verwendete und in Dialogform brachte, das Libretto geschrieben (unter www.naxos.com/Libretti leider nur auf persisch verfügbar). Wieder hat die Oper zwei Akte von jeweils gut 50 Minuten, ist in sieben bzw. sechs Szenen gegliedert, für die Abdi die gleichen Muster wie in Rumi benutzt, wobei Hafez farbiger und allein schon aufgrund des umfangreichen Personals – es werden mehr als 20 Figuren aufgelistet – abwechslungsreicher wirkt. Abdi und Gharibpour beschreiben das Leben des im 14. Jahrhundert lebenden Hafis (Mohammad Motamedi) angefangen von der Übergangszeit nach dem Tod von Sultan Abu Eshaq (Ali Momenian) und der Machtergreifung durch Sultan Mobarezedim (Babak Sabouri), der später durch seinen Sohn Schah Shoja (Mehdi Ernami) gestürzt wird, bis zum Abschied von Schiras und der Schlussszene, in der die Anhänger des Dichters um sein Grab tanzen. Wieder spielen Traumszenen und Erscheinungen, so der Traum, in dem Hafis neben anderen Dichter auch Rumi (Alireza Mehdizadeh) begegnet, und ausgedehnte rituelle Tänze eine zentrale Rolle. Teilweise mutet Hafez mit den Schreien, kreischenden Rufen, Reden und kleingliedrigen Wechselgesängen, die in die persischen Klänge hineinmontiert wurden und sie fast überlagern wie ein experimentelles Hörspiel an; unter den typischen Instrumenten werden in umfangreichen Abschnitten Nej, Kamantsche, Oud, Santur und Daf mit den Musikern Pasha Hanjani Danial Ajdari, Behnaz Behnamnia, Puya Saraei und Zakaria Yusefi solistisch ausgestellt. Obwohl Abdi zwei Szenen des Hafis ausdrücklich als Hafez‘ Aria I und Hafez‘ Aria II bezeichnet und es ausgedehnte Abschnitte melismatisch durchdringenden Solosingens gibt, lässt sich Hafez schwer neben westlichen Werken einordnen, andererseits wirkt die Musik keineswegs sperrig und unzugänglich, da Abdi eine exotisch sinnliche, aber auch wild zerklüftete Atmosphäre von besonderer Faszination kreierte (Abbildung oben: Hafis/Anselm Feuerbach/ Wikipedia).  Rolf Fath

.

.

(Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.)

Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Spanier in der Arena

 

Gut durch die bisherige Corona-Pandemie gebracht hat Cecilia Gasdia, einst hier als Liù und in anderen Partien gefeiert, als direttore artistico die Arena di Verona, und so gab es auch trotz ausgedünnten Programms im Jahre 2020 eine Gala mit Plácido Domingo, in diesem Jahr bei „normalem“ Programm, doch reduzierter Zuschauerzahl einschließlich Jonas-Kaufmann-Gala, Bolle-Gala und Verdi-Requiem plus Neunter als nachträgliches Geburtstagsgeschenk wieder einen Domingo-Auftritt. Von dem wird sicherlich auch bald eine DVD auf dem Markt erscheinen, zunächst aber geht es um die aus dem Vorjahr, die der nunmehr Bariton-Star gemeinsam mit der spanischen Sopranistin Saioa Hernández gestaltete. In diesem Jahr war übrigens ebenfalls eine spanisch sprechende Sopranistin, Maria José Siri, an seiner Seite.

Viel Platz hatte das Orchester in der Mitte des Riesenraums, die Gradinate waren dünn, teilweise gar nicht mit Zuschauern besetzt, wofür der Applaus ungemein üppig klang. Eine raffinierte Lichtregie sorgte für eine abwechslungsreiche Optik und eine geheimnisvolle Stimmung, so dass man das Fehlen des traditionellen Lichtermeers aus den Kerzen der Zuschauer verschmerzen konnte. Abstandsregeln galten auch an diesem Abend, und so versagte  Padre Germont der armen Violetta die Umarmung als figlia , beim Schlussapplaus allerdings kam man sich dann in der Freude über den schönen Erfolg doch näher.

Das Orchester der Arena unter Jordi Bernácer hatte, da es zwecks Kontaktvermeidung keine Pause gab, viel zu tun, entledigte sich seiner Aufgabe mit hörbarer Spielfreude und Bravour, dankenswerterweise nicht mit allzu bekannten Stücken, sondern mit den Sinfonie zu Giovanna d’Arco und I Masnadieri und dem Intermezzo aus Fedora, in dem „Amor ti vieta“ den Ton angibt.

Das Zentrum des Abends bildeten zwei große Verdi-Szenen, das Kernstück des zweiten Akts von La Traviata und das große Duett Leonora-Luna aus Il Trovatore. Der Bariton erwies sich als gut bei Stimme seiend, klingt aber nach wie vor wie ein Tenor mit hart und nur im mezza forte optimal ansprechender Stimme, zuweilen hörbar kurzatmig, bewegend mit „genitor“, und als Giordanos Gerard gibt er alles, überzeugt noch einmal als großer Singschauspieler. In den Zarzuela-Zugaben unterstreicht Domingo durch elegante Bewegungen seine Herkunft.

Saioa Hernández wurde international bekannt als Odabella bei der Scala-Eröffnung mit Verdis  Attila. Auch an diesem Abend erweckt sie den Eindruck, als wenn die kämpferisch-entschlossenen Damen bei ihr besonders gut aufgehoben sind. Als Trovatore-Leonora beginnt sie etwas gequetscht im Duett, erst in „Tacea la notte“ lässt sie den Sopran dunkler Grundierung schön strömen, eine große Stimme, die große Bögen singen  und im Verismo mit „La mamma morta“ aus dem Vollen schöpfen kann. Zwar tritt sie im Verlauf des nicht allzu langen Abends in drei unterschiedlichen, aber durchweg recht matronenhaft wirkenden Roben auf, auch die zusätzliche „spanische“ Stola für die Zarzuelas lassen den Eindruck nicht verblassen, eine Kostümberatung könnte mehr aus der eigentlich attraktiven Sängerin machen. Hoffen wir, dass, ja, dass Domingo auch 2022 wieder in der Arena sein wird, vor allem aber, dass es wieder eine ganz normale Saison mit gut gefüllten Gradinate geben wird (Bluray C Major 758104). Ingrid Wanja 

 

(Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.)

Unverwüstlich

 

Ob wirklich die Unfähigkeit des Impresario, die Starallüren der Prima Donna oder die Klotzköpfigkeit von Mamma Agata, die oft auch die titelgebende Person ist, den Untergang des hübschen Operntheaters und seine Entwürdigung als Tiefgarage herbeigeführt haben, sei dahingestellt. Tatsache ist, dass zu Beginn eine junge Frau der Jetztzeit mit vielen Einkaufstüten aus einem Auto steigt und entschwindet, ehe zur Sinfonia von Donizettis  Le convenienze ed in convenienze teatrali ein Mitwirkender nach dem anderen in dem heruntergekommenen Theater mit zugemauerter Bühne zur Probe erscheint. Im zweiten Akt dann erstrahlt das Theater in Plüsch und Glanz, erst nach dem Abgang des letzten Darstellers strömen Bauarbeiter herein, um mit den Abrissarbeiten zu beginnen. Das lässt natürlich nur den Schluss zu, dass das ganze, vage in den Dreißigern (Frisur der Primadonna!) angesiedelte, Unternehmen scheitern muss, alle auseinanderstieben, um die eigene Haut zu retten, von einer großzügigen Rettung der Aufführung durch das Opfer von Mamma Agata, die ihren Schmuck versetzt, damit man die von der Stadt geforderte Kaution bezahlen kann, nicht die Rede sein kann. Ursprünglich handelte es sich bei der Farsa, für die Donizetti selbst das Libretto schrieb, auch um einen Einakter, der für die Uraufführung in Mailand zum Zweiakter erweitert wurde.

Stücke, die Sitten und Unsitten des Theaterlebens im 19.Jahrhundert und davor zum Thema haben, gibt es viele, die Mamma Agata allerdings ist einzigartig und besonders komikträchtig, weil sie von einem Mann, einem Bariton, gesungen wird, der eine Frau spielt, die wiederum einen Mann darstellen und singen will, was wiederum nicht so abwegig ist für die Zeit, in der die Oper eigentlich angesiedelt war. Die Aufnahme stammt aus dem Jahr 2017 aus Lyon, die Produktion wurde aber auch in Barcelona, Genf und Madrid gezeigt.

Mit viel Liebe für Details, angefangen bei den italienischen Oldtimern in der Tiefgarage, hat Chantal Thomas die Bühne ausgestattet, die Kostüme sind charakterisierend, aber nie karikierend, wunderbar die für die des Stücks im Stück, das im antiken Rom spielt) , die Regie von Laurent Pelly ist einfühlsam, mit viel Sinn für Komik, aber auch sie artet nie in Klamauk aus, erfreut durch die Ausgewogenheit, durch den Sinn für Feinheiten und Zwischentöne. Das gilt auch für das Dirigat von Lorenzo Viotti, Sohn des früh verstorbenen Marcello, der nie in die Versuchung gerät, mehr zu wollen, als die Orchesterbegleitung hergibt, aber auslotet, was in ihr steckt.

Prominent ist die Besetzung der beiden Hauptpartien mit Patricia Ciofi als Primadonna und Laurent Naouri als Mamma Agata. Der Sopran gibt sich angemessen exaltiert und zickig und erweckt Erstaunen nicht nur durch die Fähigkeit, trotz komischer Verzerrungen des Gesichts, einer ausdrucksvollen Mimik betörend schöne Töne zu singen. Der Bariton ist urkomisch, sein Bemühen um ein rossiniwürdiges Prestissimo ist anerkennenswert, wenn auch nicht durchgehend von Erfolg gekrönt, die Parodie von Rossinis Canzone del Salice umwerfend. Charles Rice verteidigt mit markantem Bariton als Procolo die Gattin, Enea Scala ist der deutsche Tenor mit russischem Namen und italienischem „Non è morte“ aus Donizettis Alfredo, Clara Meloni als seconda donna brilliert erstklassig als Fausta. An die Zeiten, als der Librettist auch Regisseur, der Komponist auch Dirigent war, erinnern Enric Martinez-Castignani mit etwas steifem Tenor und Pietro di Bianco mit leicht dumpfem Bass. Alles in allem ist das beste Unterhaltung auf hohem Niveau, und man fragt sich einmal mehr, warum das Stück nicht öfter und auch auf deutschen Bühnen auftaucht (Opus arte OABD 72890). Ingrid Wanja     

Trübe Aussichten

 

Selbst an einem strahlenden Sommertag gelesen, könnte einen Opernfreund die Sammlung von Interviews, die der scheidenden Münchner Intendant Nikolaus Bachler unter dem Titel Sprachen des Theaters mit Regisseuren führte, in trübe Bußtags- bis Totensonntagsstimmung versetzen, wenn ihm als Quintessenz und Höhe- wie Schlusspunkt in Aussicht gestellt wird, bald würde man auch Eingriffe in die Substanz der Werke als selbstverständlich hinnehmen. Dass Bruchstücke romantischen Liedguts bereits jetzt als Baumaterial für eine zeitgenössische Dichtung benutzt werden, erfährt der Leser in der geheimnisvoll raunenden, mit endlosen Aufzählungen wie krassen Gegensätzen arbeitenden Einleitung zum Buch von Albert Ostermaier, mündend in ein ER, den Regisseur und so recht überraschend doch noch zum Thema des Buches passend.

15 Regisseure hat Bachler befragt, den Anfang macht Hans Neuenfels, mit dessen Frankfurter Aida, in der Brathähnchen zum Triumphmarsch durch die Luft flogen, alles begann, eine Lösung, die verhinderte, dass durch Dirigent Gielen das Stück ganz gestrichen wurde. Wenn Bachler bei Regisseuren zwischen Visionären und Praktikern unterscheidet, dann gehört Neuenfels sicherlich zu den Ersteren, allerdings nicht nur in seiner Regiearbeit, sondern auch, wenn er rückblickend meint, die Sänger seien zwar nicht immer sofort mit seinen Lösungen einverstanden gewesen, letztendlich aber doch, wobei er Julia Varady als Beweis nennt. Wer Einblick in die Zustände an der Deutschen Oper Berlin der 80er und 90er hatte, weiß allerdings auch um einen Dano Raffanti, der als Duca wegen der Regiezumutungen nicht seine gewohnte Leistung abrufen konnte, von einem Alexandru Agache, der als Nabucco erst durch Intendant Götz Friedrich wieder zurück auf die Probenbühne geholt werden konnte ( Was ihm der Regisseur auf der Premierenfeier übel vergalt.) einem Paolo Coni, der fassungslos über die Trovatore-Produktion und entsprechend beeinträchtigt war. Man sollte also mit Vorsicht genießen, was einem als Leser sowohl vom Interviewer wie vom Interviewten aufgetischt wird.

Es folgt das Interview mit dem Polen Krzysztof Warlikowski, in dem es nicht nur um Regie geht, sondern u.a. auch um den polnischen Antisemitismus oder den Umgang der polnischen Gesellschaft mit Aidskranken, der Oper nähert man sich wieder mit dem Erstaunen des Regisseurs über die unfreundliche Aufnahme seine Iphigenie-Inszenierung durch das Pariser Publikum. Romeo Castellucci und sein Kollektiv Societas Raffaello Sanzio schließen sich an, der Text atmet die Begeisterung für die Schönheit, Dankbarkeit für den Wahnsinn, für diese, der Oper innewohnende Schönheit so viel Geld auszugeben, wie es zumindest in Deutschland geschieht. Frank Castorf behauptet zwar zu Beginn, DDR und Volksbühne vollkommen vergessen zu haben, widerlegt dies jedoch sofort mit einem endlosen Schwall von Erinnerungen daran. In gewohnter Weise kokettiert er mit der Ablehnung, die seine Arbeiten erfahren, meint über das Orchester, „man muss es eigentlich besiegen“, was immer das auch heißen mag. Auf Zustimmung dürfte er mit der Behauptung stoßen, Berghaus, Müller und Konwitschny, d.h. ihren Arbeiten, mangele es an Sinnlichkeit. Ob an ihn Andreas Kriegenburg gedacht hat, wenn er meint, die meisten Regisseure seien „sozial gestört“? Seine Ausführungen liest man gern, sie bestätigen Bachlers Behauptung, bei Kriegenburg handle es sich um einen „poetischen Regisseur“, der sich übrigens selbst als „handwerklicher“ Vertreter der Gattung sieht. Arpad Schilling ist einer der vielen Opernregisseure, die nie Opernregie studiert oder durch Assistenz erlernt haben, aber die Forderung nach einem Rigoletto ohne Buckel verzeiht man ihm. Andreas Dresen kommt vom Film, studierte vor der Inszenierung der Fanciulla del West das Leben moderner Bergarbeiter, strebt aber das Gegenteil von Realismus an. Donna Anna sieht er der Lüge überführt, weil sie im Piano nach Hilfe ruft. Hat er schon einmal von einem vor Entsetzen  fast erstickten Schrei gehört? Als Laienverfassungsrichter lehrt ihn die Wirklichkeit vielleicht noch einiges an Psychologie.

Amélie Niermeyer sieht Regiearbeit als Teamarbeit, aber auch hier kommt, wie in allen bisherigen Beiträgen, der Dirigent nicht vor. Der wird erst genannt, als es darum geht, diesen Berufsstand „offener werden (zu lassen) für Eingriffe“, wohl solche, die es ihr ermöglichen „in die Extreme (zu) gehen.“ Gleiches schöpferisches Vermögen wie das eines Malers oder Schriftstellers sieht David Bösch im Regisseur verborgen. Und mit dieser Gabe will er auch „bei 80jährigen was bewirken“. Ob es Martin Kusej gelingt, einerseits mit den Dirigenten zusammen zu arbeiten und gleichzeitig in die Substanz eines Werks einzugreifen? Ihm ist es „nicht mehr als ein Kodex, demzufolge das Werk unantastbar und sakrosankt ist“. Gleichzeitig plagt ihn die Angst, als „alter weißer Mann“ nicht mehr auf der Höhe der Zeit zu sein.

Zu Sinnlichkeit und Kitsch, wenn auch mit schlechtem Gewissen, bekennt sich Axel Ranisch, aber auch zur „Pflicht, zu suchen, von welcher Seite das Stück noch nie betrachtet worden ist“. Das wird natürlich immer schwieriger, bald gibt es nichts mehr, was nicht schon war. Vielleicht besinnt man sich dann wieder auf die Musik.

Nach dem Choreographen Sidi Larbi Cherkaoui kommt Mateja Koleznik zu Wort, die mit der Einsicht erfreut, „die Musik spielt eine große Rolle“, den Dirigenten aber als Konkurrenten sieht. Sympathisch berührt, dass sie sich nicht als Künstlerin sieht, das Werk nicht neu erschaffen, sondern nur in einem neuen Licht escheinen lassen will. Ein Dirigent wie Riccardo Muti, der um den perfekten Klang im Zusammenspiel von Orchester und Sängern besorgt ist, ist da allerdings ein Störenfried.

Erfrischend in seiner Direktheit, Unvoreingenommenheit und seinem Realitätssinn ist der Beitrag von Barrie Kosky, besonders aber in seiner Toleranz gegenüber den Teilen des Publikums, denen es vor allem um die Musik und die Sänger geht, da bekennt er sogar: „Wenn die Stimmkunst außergewöhnlich ist, erträgst du alles“. Wer außer ihm kommt in diesem Buch schon zu der Einsicht, dass Regietheater im Widerspruch zum Musiktheater steht, dass es Dilettanten anzieht und duldet, dass es „zur Parodie seiner selbst“ geworden ist. „Man hat es oder man hat es nicht“- die Fähigkeit, ein Stück zeit-, publikums- und werkgerecht auf die Bühne zu bringen. Und nicht nur überzeugend, sondern darüber hinaus sympathisch ist das Zugeständnis, zwei Enttäuschungen erlebt zu haben: die Operette für das 21. Jahrhundert nicht neu haben erfinden können und keine Antwort auf die Frage zu haben: Was soll Oper jetzt sein. Am ehesten wohl die Rückkehr zum griechischen Modell sei vorstellbar.

Nach so vielen klugen und tröstlichen Bemerkungen erträgt man sogar noch die wehleidigen Ausführungen von Dmitri Tscherniakov über seine  Befindlichkeiten beim Inszenieren von Opern und hofft inständig, dass die von Interviewer und Interviewtem ausgesprochene Vermutung, bald würde man in die Partitur eingreifen können, nie Realität wird (320 Seiten, Schirmer/Mosel 2021; ISBN 978 3 8296 0926 5). Ingrid Wanja          

 

 

Die Sirene von Procida

 

Sirena oder Farfalla, d.h. nicht Alarmsirene, sondern verführerisch singende Wassernixe oder Schmetterling: Maria Dragoni, die mit Hilfe von Alice Mechelli ihre Memoiren (La sirena di Procida) im katholischen italienischen Verlag Pegasus Edition geschrieben hat, bekennt sich zu beiden Existenzen, sieht sich als das in häuslicher Enge aufgewachsene Insekt, das vergeblich bereits als Teenager der Elterngewalt zu entfliehen versucht, wie natürlich als die Publikum wie Kollegen betörende Sopranistin, die selbst nach inzwischen längst im Niedergang befindlicher Karriere und überstandener Krebskrankheit noch von in der Zukunft liegenden Erfolgen träumt. Widersprüchlich wie vieles in dem 110-Seiten-Buch ist bereits das Verhältnis zu den Eltern, denn dem Vater ist das Werk gewidmet, die Mutter spielt zunächst eine eher unrühmliche Rolle, wird ihr dann aber sehr plötzlich zur Lebensgefährtin.

Vielseitig begabt zeigt sich die junge Maria, die Vizeschönheitskönigin von Procida wird, ein beachtliches Talent fürs Malen hat, aber auch zu berichten weiß, dass sie mit einem Fell geboren wurde. Bei der Mutter lernt sie die Acuti, von Afrikanern den Jazz, der ihr wiederum dazu verhilft, der Stimme Ausdruck zu verleihen. Und ganz plötzlich wird der Leser davon informiert, dass ihre Stimme im Film „Sex and the City“ als Aida zu hören ist.

Ansonsten aber folgt das Buch im wesentlichen dem Lebens- und Karrierelauf, weist die in italienischen Werken häufigen Fehler bei der Schreibung von Namen auf, hier mit Mheta oder Khun, begleitet die spätere Sängerin aufs Lyceo von Frosinone, zum Singen in einem Complesso für leichte Musik, lässt sie Komplimente hören wie canta come la Callas e dipinge come Raffaello und sich selbst und andere vergleichen mit Marilyn Monroe.

Ab 1977 singt die Dragoni im Chor der RAI (ja, so etwas gab es damals noch), in drei Monaten Unterricht bei Maria Alòs, die mit der Caballè studiert hatte, lernt sie die Technik für klassischen Gesang, und von der 17jährigen wünscht sich ein geheimnisvoller regista tedesco die Norma. Viel Eigen- und viel Fremdlob machen einen großen Teil des Buches aus, dass sie Einladungen u.a. von Pavarotti und Egon von Fürstenberg ablehnte, nur die von Muti und Gattin Cristina annahm und erster Gast in deren Gästezimmer war, ist des Erzählens wert, offensichtlich viel mehr als eine Charakterisierung und Entwicklung ihrer Stimme, die Auseinandersetzung mit ihren Partien, die einfach nur erwähnt werden, von denen sie zu berichten weiß, dass sie sie wie Sonnambula erblondet (Monroe!) singt, aber es dabei bewenden lässt.

Neben vielen Berühmtheiten der Musikszene wie Rodolfo Celletti und Alberto Zedda, über die man gern mehr erfahren hätte, tauchen obskure Gestalten auf wie eine geheimnisvolle Duchessa mit ebenso geheimnisvollen Medikamenten oder Hypnose, die zur Trennung von einem Mario und der Hinwendung zu einem Ciro führt, der aber auch verlassen wird. Rollen und Auftrittsorte werden aufgezählt- und damit ist Schluss, während die fromme Erweckung durch den Papstsegen und das Turiner Grabtuch sich größerer Zuwendung erfreuen.

Als roter Faden durchziehen das Buch zwei Gedanken: trasformare il dolore in arte und tutti gentili e mi accolsero come una vera diva. Von einer Künstlerin  erwartet der Leser etwas weniger Selbstbespiegelung und viel mehr Auskunft über ihre Kunst. Im Kapitel „Le origini“ erfährt man immerhin etwas über die Besonderheiten von ihrem Geburtsort Procida, das „neue Jahrhundert“ scheint eine Spontanheilung bereitgehalten zu haben ( Über Bocelli: „Quando mi vidi….“), es  hält Probleme wie Übergewicht und hohen Blutdruck bereit, aber auch bedeutende Rollen wie Turandot in Torre del Lago oder 2005 La Gioconda. Konzertourneen u.a. in Deutschland gehören schon nicht mehr zum Allerrühmlichsten, was man sich als Künstler wünschen kann, von einem jungen Sänger, dem sie wohl eine Art Patin ist, ist die Rede, auch von einem attuale compagno, und mit Lebensweisheiten wie Mai dire mai e mai dire sempre wird der ratlose Leser, der sich mehr künstlerische Ein- und Ansichten und weniger Eigenlob gewünscht hätte, entlassen. Leider verhält es sich mit dem Fototeil nicht anders, der zwar viele Aufnahmen eines sehr hübschen jungen Mädchens, aber kaum Rollenportraits enthält. Trotzdem wünscht man Maria Dragoni, dass es ihr, so wie sie es vor hat, gelingt, ihre Karriere wieder aufzunehmen (2021 Pegasus Edition, 118 S.; ISBN: 8872111633Ingrid Wanja

Am Swimmingpool

 

Es hatte ein paar Jahre gedauert, bis jenes Werk, das die Zusammenarbeit von Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal begründete, auf die Bühne des Festspielhauses gelangte. Beide, Strauss und Hofmannsthal, gehörten neben Max Reinhardt zu den Gründungsvätern der Salzburger Festspiele. Hinzu kamen noch Franz Schalk, mit dem sich Strauss 1919-24 die Direktion der Wiener Staatsoper teilte, und Alfred Roller. Am 22. August 1920 trat dann Alexander Moissi erstmals als Jedermann vor die weiße Fassade des Salzburger Domes, von wo die Nachdichtung des Jedermann von Hofmannsthal seither nicht mehr wegzudenken ist. Von Hofmannsthal stammte auch ein Entwurf für ein Salzburger Programm, „Oper und Schauspiel, und von beiden das Höchste…Salzburg will dem klassischen Besitz der Welt dienen. Der Glaube an Europa ist das Fundament unseres geistigen Daseins“. Bescheiden fing die Oper im Jahr darauf mit Bastien und Bastienne an, 1922 teilten sich Strauss und Schalk die Aufführungen der Da-Ponte-Opern, 1926 erlebte mit der Ariadne auf Naxos erstmals ein Werk von Strauss seine Festspiel-Premiere, 1934 wurde dann erstmals Elektra aufs Programm gesetzt; Clemens Krauss dirigierte, Rose Pauly, Viorica Ursuleac und Gertrud Rünger sangen. 1937 wurde die Inszenierung Lothar Wallersteins abermals gezeigt, diesmal unter Hans Knappertsbusch mit den Damen Pauly, Hilde Konetzni und Rosette Anday. Zwanzig Jahre später setzte mit der Mitropoulos-, 1964 mit der Karajan-Aufführung die neuere, auf CD dokumentierte ElektraRezeption der Festspiele ein.

Die im Jahrjahr gefeierte, jetzt auch auf 3Sat ausgestrahlte und in der Mediathek verfügbare Geburtstags-Elektra (DVD Unitel 804308) schließt sich würdig an und wird keineswegs als Corona-Experiment und erste große Oper nach dem Lockdown vor einem nach Schachbrett-Muster verteilten Publikum in Erinnerung bleiben. Bevor Franz Welser-Möst und die Wiener Philharmoniker aber in die Orchesterfluten eintauchen können und Schauerliches, Grelles und Wüstes lustvoll spätromantisch aufwühlen und dann wieder hochvirtuos kammermusikalisch abdämpfen, steht ein Monolog der Klytämnestra, in dem sie den Mord an Agamemnon bekennt. Auf der breiten Bühne der Felsenreitschule hat Malgorzata Szczęśniak eine ihrer vielfach gebrochenen Bühnenräume verteilt, die sie in schöner Regelmäßigkeit für Krzystof Warlikowski baut. In der oberen Hälfte bleibt Platz für Kamil Polaks Video- und Filmsequenzen, die den mittigen Swimmingpool-Bereich flankierenden Nebenräume geben Warlikowski hinreichend Gelegenheit, den von den plantschenden Kindern bis zu den durch das Wasser watenden Greisen alle Generationen einschließenden Fluch der Rache auszumalen und in einer kühlen Lobby- oder Sanatoriumsatmosphäre Gegenwärtiges und Vergangenes zu vermischen. Ein tiefenpsychologisch aufpoliertes, mit den von Warlikowski geliebten Verweisen und Assoziationen arbeitendes Kammerspiel. Sehr gekonnt, aber auch ein bisschen vorhersehbar routiniert. Auf dem Bildschirm lässt sich die Weite der Bühne vermutlich auch nur unzureichend erahnen. Warlikowski konzentriert sich auf die Hauptfiguren: voran die beiden litauischen Sängerinnen Aušrine Stundyte und Asmik Grigorian als Schwesterpaar Elektra und Chrysothemis. Letztere wird von Grigorian als an seinen Zigaretten nestelndes Girlie, das sich nicht von der Schwester vereinnahmen lässt, aber sich von dem Fluch befreit und als Mittäterin sein Leben in die Hand nimmt, virtuos aufmüpfig und selbstbewusst gespielt und leidenschaftlich, fast kämpferisch und mit schlank durchschlagkräftigem Sopran gesungen. Sie ist die stärkere der beiden. Schwester Elektra ist eine aus ihrem Jungmädchenkleid herausgewachsene reife Frau mit einem verständlichen Hass auf die Mutter, die sich, resignierend, letztlich mit Tabletten umbringt. Stundytes dunkler, raugeschmeidger Sopran ist höhenstark und gut konditioniert, stellt sich den Orchestermassen würdevoll entgegen; Tanja Ariane Baumgartner dominiert als nervlich zerrüttetes Muttertier mit Haltung. Baumgartner, die auch den Prolog mit Intensität wuchtet, singt mit schöner farbenreicher Tiefe, guter Textdeutlichkeit, die ansonsten in dieser Aufführung ein bisschen auf der Strecke bleibt, und böse wuchernden Vertraulichkeiten. Orest, im Bubenpullover, von Derek Welton ein wenig zögerlich gesungen, schreckt vor dem Mord zurück. Am Ende ist er ein Wrack. Interessant in Warlikowskis Deutung auch die Figur des smarten Ägisth (stimmlich etwas leichtgewichtig: Michael Laurenz). Rolf Fath

Gewaltloser Widerstand

 

2008 kam Gandhi nach New York. Nicht der indische Rechtsanwalt und Friedenskämpfer Mahatma Gandhi höchstpersönlich, sondern die Hauptfigur in Satyagraha, der Oper, die Philip Glass über ihn geschrieben hat. Nach Einstein on the Beach von 1976 und vor dem 1984 in Stuttgart uraufgeführten Echnaton (engl. Akhnaten) bildet die als Auftragswerk der Niederländischen Oper 1980 in Rotterdam uraufgeführte Gandhi-Oper, deren Titel Satyagraha (gleichbedeutend mit „Festhalten an der Wahrheit“) Gandhis zentrale Botschaft vom gewaltlosen Widerstand zitiert, den Mittelteil eines Triptychons über bedeutende Männer der Weltgeschichte. Der 1937 geborene Glass, heute ein Klassiker der Avantgarde, etablierte sich damit als wesentlicher Repräsentanten der Minimal Music. Aus der zeitlichen Distanz mutet die Avantgarde der 1980er Jahre freilich schon wieder ein wenig museal an, was die von der English National Opera ausgeliehene Aufführung unterstreicht, die 2007 in London ihre Premiere hatte und im April 2008 erstmals an der Met gezeigt wurde, worauf sie im November 2011 eine Wiederaufnahme erlebte (DVD OMM 5010). Im Gegensatz zu Achim Freyer, dessen bildgewaltige, optisch bezwingende und vom der historischen Ausgangssituation losgelöste Inszenierung 1981 an der Stuttgarter Oper eine Sensation war, worauf er konsequenterweise 1984 mit einer nicht minder ausdrucksvollen Inszenierung auch zum Steigbügelhalter für Echnaton wurde, bietet der eine Generation jüngere englische Schauspieler und Regisseur Phelim McDermott die Volkshochschulvariante der Opera in Three Acts. Zugegeben, das Stück ist kompliziert. Es spielt auf unterschiedlichen zeitlichen Ebenen zwischen 1896 bis 1913 und zeichnet in den „Tolstoy“, „Tagore“ und „King“ überschriebenen Akten, die innerhalb der Akte zeitlich nochmals hin und herspringen, einen Ausschnitt aus dem Leben Gandhis in Indien und in Südafrika nach – Gründung der Zeitung „The Indian Opinion“, Verbrennung der Identitätskarten, mit denen die Kolonialmacht die Ausländer überwachte, und der „Marsch der Fünftausend“ –  beschäftigt sich aber vor allem mit dem Entstehen seiner Lehre von Askese und Gewaltfreiheit. Indem Satyagraha einen Bogen schlägt zu Martin Luther King unterstreicht die Oper die Aktualität des gewaltlosen Widerstands als Mittel politischen Handelns und lässt sich als Reflex auf die amerikanischen Protestbewegungen der 1960er Jahre lesen. Seit Mitte der 60er Jahre hatte sich Glass, der durch den indischen Sitarspieler Ravi Shankar und den Komponisten Alla Rakha wesentliche Impulse für die repetitiven Strukturen seiner Musik erhielt, mit den Schriften Gandhis beschäftigt und Indien bereist. Zudem wird in Sanskrit gesungen; die Texte hat Constance De Jong aus der altindischen Bhagawad Gita zusammengestellt.

Ein theatralisches Ereignis ist diese Aufführung nicht. Doch schlicht und ehrlich ist sie, was die Londoner Times mit den Worten „a masterwork of theatrical intensity and integrity“ umschrieb. Plausibel stecken McDermott, sein Ausstatter Julian Crouch und sein Kostümbildner Kevin Pollard den historischen Rahmen ab. Das mag oft etwas betulich und plakativ wirken, birgt aber eine eminente Sinnfälligkeit und entbehrt nicht opernhaft eindringlicher Momente, wie die Szene, in der Mrs. Alexander (Mary Philips) Gandhi vor den aufgebrachten Männern schützt und die aus einem indischen Kostümfilm stammen könnte. Andächtige Gruppenbilder, bedeutungsvoll statische Begegnungen, Slow-Motion im Vordergrund, meditative Versenkung. Das Skills Ensemble bewegt im Hintergrund Zeitungen, Puppen und spinnt Fäden. Mit Orchestra and Chorus der Metropolitan Oper verleiht Dante Anzolini, der alle 14 Satyagraha-Aufführungen an der Met leitete, der Musik Zugkraft und psychedelischen Rausch, denen sich das Publikum nicht entgegenstemmen konnte und denen das vortreffliche Ensemble mit eindringlichen Porträts folgte: Richard Croft, der 1991 sein Met-Debüt als Belmonte gegeben hatte, trägt den Dhoti mit Würde und singt den Gandhi mit Hingabe und fein fokussierter Stimme. Viele aus der zweiten Reihe nutzen die Möglichkeit, endlich zum Zuge zu kommen: der Bariton Kim Josephson singt den Mr. Kallenbach wie eine italienische Paraderolle, die Bassbaritöne Bradley Garvin und Richard Bernstein geben die mythologischen Gestalten Prinz Arjuna und Krischna, der Bassbariton Alfred Walker den indischen Mitarbeiter Parsi Rustomij, Rachel Durkin ist Gandhis Sekretärin Miss Schlesen, die unverzichtbare Maria Zifchak seine Frau Kasturbai, während Molly Filmore, die indische Mitarbeiterin Mrs. Naidoo, nur eine sehr kurze Met-Karriere hatte. (Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.) Rolf Fath

Enrico C. zum Hundertsten

 

Mit  der  Zeitmaschine herab in den tiefen Brunnen der Vergangenheit, zurück ins Teatro alla Scala am 17. Februar 1901, in eine Auführung von Gaetano Donizettis „L’Elisir d’amore“. Dem Beifall des Publikums gehorchend,  erlaubt der sonst unnachgiebige  Arturo Toscanini seinem Tenor zwei Dacapos der Romanze „Una furtiva lagrima“. Gleich nach der Aufführung  sagt er hingerissen: „Per Dio! Se questo Napoletano continua à cantare così, farà parlare di se il mondo intero!   Bei Gott! Wenn dieser Neapolitaner weiter so singt, wird die ganze Welt über ihn reden“.

Ein Jahr später, am 11. April 1902, steht der Sänger im Mailänder Grand Hotel vor dem Trichter: Enrico Caruso. Mit seinen ersten zehn Platten sichert er dem Grammophon die Würde eines Instruments und sorgt für einen epochalen Wandlungsprozess in der Wahrnehmung von Musik. „He made the gramophone“, sagte Fred Gaisberg, der ihn für die Platte entdeckt hatte – und vice versa: das Grammophon machte ihn und sorgte dafür, dass er bis heute, hundert Jahre nach seinem Tod, wie Luciano Pavarotti bekannte, das Vorbild aller italienischen Tenöre“ geblieben ist.

Enrico Caruso vor einem Phonographen mit seiner Aufnahme in der Hand/ Wikipedia

Warum ER und nicht einer der vielen, die alsbald, im Sog seines Erfolges,  ihre ersten Platten machten: der damals als „la gloria d’Italia“ verehrte  Fernando de Lucia; der durch die Uraufführung des „Otello“ berühmte Francesco Tamagno; der von Connaisseurs  wegen seiner virtuosen Eleganz  bewunderte Alessandro Bonci; oder der als „tenore delle donne“ angehimmelte  Giuseppe Anselmi  – um nur vier aus einer Garde exzellenter oder sehr guter  Tenöre zu nennen, deren Platten erst durch die Archäologie des CD-Zeitalters wiederentdeckt wurden. Noch einmal: Warum ER und auch nicht einer seiner direkten Nachfolger wie der goldgänzende Benjamino Gigli oder der feurige Giovanni Martinelli? Oder später ein Tribun wie Mario del Monaco?

Wahrscheinlich deshalb, weil sie sich am Unnachahmlichen versuchten. Bevor Caruso kam, bemerkte der Komponist Sydney Homer, Ehemann der Altistin Louise Homer, einer oftmaligen Partnerin des Tenors, „war ich nie einer Stimme begegnet, die der seinen auch nur entfernt ähnelte, und nach ihm habe ich Stimme um Stimme gehört, große und kleine, hoch liegende und tiefe, die sich seiner Stimme, oft gewaltsam, anzugleichen versuchten“. Es war jedoch, wie später auch bei Mario del Monaco oder  Giuseppe di Stefano,  Richard Tucker  oder Plácido Domingo mehr als nur der Versuch einer Angleichung der Stimme als vielmehr die Nachahmung der Manier.

Caruso singt „Vesti la giubba“/ „I pagliacci“/ Victrola Book of the Opera

Caruso hatte seine Karriere im Verlauf einer Zeitenwende begonnen: des Übergangs von der Musik der Romantik (Bellini und Donizetti)  und Verdis hin zur  veristischen Oper. Deren Siegeszug hatte1891 und 1892 mit den Uraufführungen von Pietro Mascagnis „Cavalleria Rusticana“ und Ruggero Leoncavallos „Pagliacci“ begonnen. In den ersten zwei Jahren seiner Laufbahn hat Caruso zwar  belcantische Partien wie Elvino („La Sonnambula“), Arturo („I Puritani“) gesungen  – wenn auch sehr selten und wegen seiner damals noch nicht sicher plazierten Höhe transponiert – ,  aber  sein Stil, oder seine vokale Manier, wurde geprägt durch die Musik des mittleren Verdi, von Ponchielli, Mascagni, Leoncavallo und Cilea. Es war nach der Uraufführung von „Fedora“ (27. November 1897) –   mit der Show-Stopper Arie „Amor ti vieta“ –,  dass  die Verträge auf ihn „niederprasselten wie ein Platzregen“ (Caruso). Der Klangstrom seiner Aufnahme (30. November 1902) zeigt, wie er eine klassisch geformte Belcanto-Kantilene mit der Leidenschaft der maniera verista durchglüht.

Dank der Zeitmaschine herauf in die Gegenwart: „Una furtiva lagrima“, aufgenommen 1. Februar 1904 im Room 826 der Carnegie Hall. In fünf Minuten und 22 Sekunden ist der Wandel des Singens zu erleben:  wie sich das Dekor des belcantischen Gesangs mit der Affekt-Gestik der maniera verista verbindet. Da betritt ein Nemorino die Klangbühne, der berauscht ist vom unverhofften Liebesglück, der in jedem Ton, in jeder Arabeske, in jeder Phrase in dem Gefühl aufgeht:   „Verweile doch, du bist so schön“.  Das wirkt sich aus auf die Sing-Zeit: Sie ist etwa eine Minute länger als bei allen anderen (52 wurden zum Vergleich herangezogen.)

Caruso intoniert den Beginn – das F auf „Una“ – mit kosender Halbstimme und wirkt am Ende der ersten Phrasengruppe – Belcanto pur – eine Arabeske ein. Das Ges am Ende von „che più cercando io vo“ lässt er mit einer Messa di voce aufblühen und geht auf einem Atem über in das emphatische „M’ama“ („sie liebt mich“), bevor er die Phrase („lo vedo“) selig-zeitvergessen pianissimo ausklingen lässt. Nur ein virtuos-selbstgefälliger Effekt? Nein, in der vokalen Geste offen-bart sich „das innerste Wesen der menschlichen Gebärde“.

Caruso mit Emmy Destin in „La Fanciulla del West“ an der Met/ Met Opera Archives

In dem Moment, in dem Nemorino vor Seligkeit meint sterben zu können, wechselt das Largetto nach B-Dur: „Cielo! Si può morir.“ („Himmel! Ich könnte sterben“). Wieder durchwirkt Caruso etliche Phrasen mit zarten Arabesken und dehnt sie durch subtile Rubati. Endlich die Kadenz, der Ort für die Entfaltung sängerischer Phantasie: in der Partitur nur ein Takt vorgesehen, ein Koloratur-Melisma aus 24 Noten, auf einem Atem zu bilden. Caruso interpoliert vor der Kadenz ein hohes B, dehnt es durch eine messa di voce und reiht in der Koloraturkette (auf „chiedo“) die Töne wie Perlen auf eine Seiden-schnur. Das letzte Wort der finalen Phrase „si può morir d‘amor“ beginnt er mit einem gewaltigen Crescendo, das er nach einigen Sekunden durch ein rasches Vibrato aufflackern lässt wie ein Feuer durch einen Windstoß.   Vollendung des Belcanto und Ende des Belcanto.  Es gibt, wie einige Connaisseurs sagen, keine schönere Tenor-Platte.

Die Kadenz! Die von Caruso war nur eine von mehreren Varianten, die damals in Gebrauch waren und auch auf Platten zu hören sind.  Aber in mehr als 200  späteren Aufnahmen ist, wie Will Crutchfield dokumentiert hat,  nur die Caruso-Kadenz zu hören  (mit vier Ausnahmen); so, wie alle „Rigoletto“-Herzöge die Ballata „Questa o quella“ mit den gleichen Akzenten und die Kanzone „La donna è mobile“ mit derselben Koloratur-Kadenz wie Caruso singen; oder wie alle Sänger vom Leid des Canio in „Pagliacci“ mit dem Caruso-„Schluchzer“ künden. Das Lamento „Recitar … vesti la giubba“ hat Caruso drei Mal aufgenommen.  Mit der Version  vom 17. März 1907 hat er seine akustische Signatur hinterlassen. Die Majestas der Klangentladung in der auf einem Atem gesungenden klimaktischen Phrase „sul tuo amore infranto“ ist unnachahmlich;  aber ein Echo haben das Verzweiflungslachen und der Schluchzer am Ende vor „il cor“ gefunden.

Schluchzer? Bei Caruso  ist es das Atemfassen eines vor Schmerz Erstickenden. Benjamino Gigli ließ den seufzer-durchsetzen Klagegesang in ein antikisches Heldenjammergeschrei ausgehen, das er im Nachspiel, hysterisch das Wort „infamia“ stammelnd, fortsetzte. Diese Singhiozzo– (Seufzer)-Manier – die naturalistische Imitation des  Affekts –  ist später auch bei Mario del Monaco zu erleben, der schon die letzte Phrase „il cor“ wie Jammerlaute stammelt. Dass er in der klimaktischen Phrase „sul tuo amore – infranto“ einen Zwischenatmer braucht, erklärt sich wiederum aus dem Versuch einer Imitatio: mit maximaler Klangausladung zu singen, ohne Rücksicht auf die Phrasierung.  Wie bei ihm und vielen Nachfolgern wurde aus dem Affekt ein Effekt – Wirkung ohne Ursache.

Caruso als Radamès/Mishkin/ Victrola Book of Opera/Broadway Photographs

Es gibt eine zweite Antwort auf die Frage: Warum ER? Es ist die Stimme selber.  Sie ist, über den ganzen Zwei-Oktaven-Umfang hin bis zum hohen H, einzigartig: rund, voll, farbenreich und farbenecht auf allen Vokalen, dynamisch flexibel, sonor in der unteren Oktave, schimmernd in der Höhe. Ob der Spontaneität seines Singens sprach die Sopranistin Luisa Tetrazzini von der „impertinenza, mit er seine vollen und gerundeten Töne verströmte.  Die in den Aufnahmen von 1902 bewahrte Stimme des 29jährigen ist ein heller, samtig-weicher und schimmernd-schöner Tenor.  Das Timbre wurde – mit einer oxymoronischen Metapher – als „geschmolzenes Gold in einem  Man-tel aus  Samt“ beschrieben. In der Region direkt über dem Passaggio – des Übergangs von der Bruststimme in die hohe Lage – ist zu spüren, dass er sich nicht immer sicher war, ob er ein G oder ein A offen oder gedeckt (abgedunkelt) singen sollte. Aber schon die ersten amerikanischen Aufnahmen von 1904 und 1905 zeigen, dass ihm alle  Mittel  zur Verfügung standen: der sanft-süße und üppige Klang, die  geschmeidige Führung, das Ebenmaß der Linie, die Ökonomie des Atems, die weitgespannten Abstufungen der Dynamik und die geschmeidigen Lagenwechsel – ohne jeden „Overdrive“ beim Übergang in die hohe Lage.

Caruso und Frieda Hempel in „L´Elisir d´amore“ an der Met/ Victrola Book of Opera

Anders als viele Tenöre der letzten Jahrzehnte  stemmt Caruso keine breit geschlagenen Töne in die Region nördlich des Passaggio, sondern bildet sie in schlanker  Fassung. Graphisch dargestellt: die Klangsäule gleicht nicht aufgetürmten Quadern, sondern einer sich sanft verjüngenden Säule. Was die Dynamik angeht, so kann er ein intensiv-klangreiches Piano ausströmen lassen und  ein durchdringendes Forte bilden. Dass der Umfang der Stimme – der Vollstimme – in der hohen Lage  mit dem H an seine Grenze gelangte, lag an ihrer dunklen Klangstruktur. Aber er fand auch die Mittel, die Stimme der Musik fügsam zu machen, und nicht umkehrt.

Zu erleben ist dies in vier Aufnahmen vom 11. Februar 1906. Diese Aufnahmen sind einzigartige Dokumente sängerischer Kunst insofern, als sie die Interdependenz von Musik und Technik als Voraussetzung für Stil demonstrieren.  Für Manricos Stretta aus „Il Trovatore“ wählt Caruso einen männlich-dunklen Klang, mit dem kein leuchtend-offenes „do di petto“ wie das etwa von Jussi Björling erreichbar ist. Er begnügt sich – auf „o teco“ und „l´armi“– mit dem hohen H.  Auch in Rodolfos „Che gelida manina“ wählt er für die klimaktische Phrase statt des C das H, wie es ihm von Puccini zugestanden worden war.

Unentbehrlich für Sammler sind die von Ward Marston restauirerten Aufnahmen Carusos bei Naxos (12 CDs 8101201)

In den  Aufnahmen von Fernandos „Spirto gentil“ aus Donizettis „La Favorita“ ist der elegische Klang einer Viola d’amore zu hören, in Fausts „Salut, demeutre chaste et pure“ ein weicher Oboen-Klang. Die ersten drei Phrasen der Donizetti-Arie bindet er, mit sanfter Mezza voce und lückenlosem Legato, auf einem Atem. Das hohe C trifft er blitzartig im Zentrum und lässt es anschwellen. Beim C in Fausts Arie (auf „divine la pré-sence“) setzt er mit der voix mixte ein und lässt den Ton crescendieren. Es gibt viele andere Beispiele, wie er die Kopfstimme oder das Falsett für delikate Nuancierungen gebraucht.

Wie zauberhaft seine voix mixte in Nadirs „Je crois entendre encore“ aus Bizets „Perlenfischern“ oder im Final-Duett aus „Aida“;  und dass ein Falsett nicht effeminiert oder gesäuselt klingen muss, zeigt die Auf-nahme von Assads Arie „Magiche note“ aus Goldmarks „Königin von Saba“.

Der Autor: Jürgen Kesting/ OBA 

Der Versuch einer letzten Antwort auf die Frage: Warum ER? Dass Giacomo Puccini bei ersten Begegnung mit dem 24jährigen Caruso mehr hörte als die Pracht der Stimme, spricht aus seinem Ausruf: „Wer hat DICH geschickt? Gott?!“  Wie ähnlich ein Satz von Richard Strauss: „Er singt die Seele der Melodie.“  Es war ein inneres Ohr, mit dem sie Carusos in der Klangfärbung sich offenbarendes Gefühl für Schönheit hörten – Schönheit als Offenbarung des Geistigen oder Seelischen. In den 250 Platten, die, von Ward Marston (für Naxos) meisterhaft restauriert, ist in jeder Phrase, ja in der Färbung jedes Tons zu erleben und zu erleiden, dass er begnadet und gesegnet war mit allen Freuden, den unendlichen, und geschlagen und gequält von allen Schmerzen, den unendlichen. Bewundert wird in ihm der Orpheus des 20. Jahrhunderts.  Jürgen Kesting

 

Den Artikel übernahmen wir mit großem Dank an den renommierten Musikjournalisten und Stimmenfachmann par excellence, Jürgen Kesting, dessen Hommage an Caruso in  der Zeitschrift FAZ vom 2. August 2021 erstmals erschien.

Meyerbeers „Alimelek oder Wirt und Gast“

 

Die Corona-Zeit war auch eine kritische Phase für die Klassiklabel – schließlich konnte von 2020 an bis weit in dieses Jahr hinein nicht in dem Umfang Musik aufgenommen werden, wie es ursprünglich geplant war. Viele behalfen sich, indem sie in die Archivkiste griffen – so veröffentlicht das Label Sterling jetzt eine Oper von Giacomo Meyerbeer, die bereits 2010 vom SWR aufgenommen wurde.

Alimelek oder Wirt und Gast ist eindeutig keine große Erfolgsoper Meyerbeers, aber eine echte Entdeckung. Souverän und elegant bringt der 23-jährige Meyerbeer orientalisches Kolorit in die Musik seiner ‚Jugendoper‘. Man kann über seinen Einfallsreichtum nur staunen – gerechtigkeitshalber muss aber erwähnt werden, dass er sich eng mit seinem Freund Carl Maria von Weber beraten hat, beide komponierten damals an orientalischen Opern und waren in engem Austausch.

Alle drei Hauptakteure bei dieser Aufnahme – Jan Kobow, Britta Stallmeister und Lars Woldt – sind perfekt besetzt, sowohl gesungen als auch gesprochen versteht man jedes Wort. Ola Rudner am Pult und der Chamber Choir of Europe lassen die wundervolle Instrumentierung leuchten – ein Volltreffer im Genre ‚Deutsche Oper‘. (Giacomo Meyerbeer: Alimelek oder Wirt und Gast; mit Jan Kobow, Lars Woldt, Britta Stallmeister, Timothy Oliver | Chamber Choir of Europe | Württembergische Philharmonie | Leitung: Ola Rudner; Sterling CDO 1125/1126-2/ weitere Information zu den CDs/DVDs im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de). Matthias Käther

Teufel auch

 

Wer an die französische Operette denkt, der denkt unweigerlich an ihre Glanzzeit in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Im 20. Jahrhundert ist der Ruhm etwas verblasst – kaum ein Werk zwischen 1900 und dem Zweiten Weltkrieg hat es ins Repertoire geschafft. Doch in letzter Zeit machen französische Labels auf genau diese vergessenen Schätze aufmerksam. Mit Le Diable à Paris, (Der Teufel in Paris), hat das Label B Records eine Operette aus dem Jahr 1927 von Marcel Lattès veröffentlicht.

Von einer zweitrangigen Operette kann hier keine Rede sein: Der fast vergessene Komponist Marcel Lattès war einer der Pioniere, wenn es darum ging, U- und E-Musik in den musikdramatischen Gattungen zusammenzubringen. Auch als Filmkomponist war er für Frankreich ein Meilenstein. Besonders tragisch: Lattès war Jude und gehört auf die Verlustliste derer, die in Auschwitz umgekommen sind.

Das Sängerensemble, das bei dieser frechen Faust-Parodie zu hören ist, ist nicht immer erste Sahne, vieles ist etwas scharf in den Höhen. Dafür spielt mit dem Orchestre des Frivolités Parisiennes ein fantastischer Klangkörper, der auf betörende Weise Akkuratesse mit Leidenschaft kombiniert (Marcel Lattès Le Diable à Paris; Operette in drei Akten; Marion Tassou, Sarah Laulan, Julie Mossay, Mathieu Dubroca, Demnis Mignien | Orchestre des Frivolités Parisiennes | Dylan Corlay, Leitung; B Records LBM 033). Matthias Käther

 

Saint-Saens‘ Oper “La Princesse jaune”

.

Ein Wort vorweg: Als „erbitterter“ Fan des Palazetto Bru Zane und seiner vielen bemerkenswerten Initiativen und Veröffentlichungen – die wir bei operalounge.de vielfach gepriesen haben – mag es erlaubt sein, angesichts der glegentlich diskutablen  Veröffentlichungspolitik des Palazzetto zu maulen. So wie nun bei der neuen Princesse jaune von Camille Saint-Saens, dessen 100. Todestag  in diesem Jahr begangen wird und der bereits reichlich beim Palazzetto mit der zähen Proserpine und manchen anderen Aktivitäten geehrt wurde (Gottseidank nicht mit einem weiteren Samson). So sehr ich das Engagement des künstlerischen Palazzetto-Direktors Alexandre Dratwicki schätze, so verwirrend ist es doch, angesichts vieler anderer fehlender wichtiger Titel anderer Komponisten der Epoche nach unnötigen Doubletten diesmal nun sogar eine Triplette einer gut verfügbaren Oper zu bekommen, die bereits bei Chandos und in einer verdienstvollen alten Aufnahme des französischen Rundfunks vorliegt. Wenn man dann noch liest, dass auch eine neue Vestale Spontinis (auch nicht eben selten) auf uns zukommt und man gerade den Verdruss über eine weniger als mittelmäßig gesungene Perichole vergessen hat (mehr als reichlich verfügbar), dann ist nur die Aussicht auf eine neue Einspielung der Abencerages Cherubinis ein lustvolles Trostpflaster. Auch Saint-Saens´ Phryné soll folgen (die es ebenfalls bereits gibt). Das kürzliche Gespräch von Freund Kevin Clarke mit dem Firmenchef anlässlich des Operettensommers in Paris 2021 vermittelte zudem keine wirklichen Einsichten in die Veröffentlichungspolitik des Hauses.

Warum nun also ausgerechnet La Princesse jaune? Man liest, dass eigentlich La Carmelite von Saint-Saens geplant war, die – aus Corona-Gründen – flachfiel, was schade ist, denn diese Oper kennt ja wirklich niemand. Andererseits ist la Princesse jaune (aus dem Hut gezaubert?) nicht gerade unbekannt, denn zumindest die Ouvertüre – gekoppelt mit der sehr orientalischen Suite algérienne – wurde in der Vergangenheit oft im Konzert gespielt und von den Großen wie Cluytens auf Platten gebannt. Und ein nur oberflächlicher Blick zu google zeigt eine ganze Reihe an Aufführungen der Oper (1957 ORTF/MRF-LP, 2004 Paris konzertant, die Neuköllner Oper Berlin 2005 in hochverdienstvoller deutscher Erstaufführung, Siena 2010, Neuilly 2011 konzertant, Rennes 2012, Buxton 2013, Melbourne in politischer Korrektheit als The japanese Princess 2017, Leeds 2018, Buenos Aires 2018, Lugano und nachfolgend Chandos 1996/2000; Budapest 2021, Tour/Metz/Lille/Tourcoing 2021/22). Das sind ja nicht wenige. Und die Chandos-Einspielung in bestem Stereo (auch bei youtube hörbar und mit der Suite algérienne versehen) war auch nicht schlechter besetzt als nun die neue aus Toulouse vom Februar 2021 mit der Palazzetto-Hausbesetzung Judith van Wanroij, Mathias Vidal und Anais Constans; das Ganze unter Leo Husain am Pult des Orchestre National du Capitol de Toulouse in gewohnt zweisprachiger Englisch-Französisch-Ausgabe als CD-Buch mit den gewohnt gehaltvollen Artikeln zu Werk und Rezeption. Angkoppelt sind – nun wirklich selten – Saint-Saens „Mélodies persanes“ von 1870, gesungen von Philippe Estéphe, Jérôme Boutillier, Eléonore Pancrazti, Artavazd Sargsyan, Anais Constans und Axelle Fanyo), diese wirklich lohnend.

Also genug gemault, würdigen wir die Neuerscheinung (en) und warten wir auf die Abencerages Cherubinis im nächsten Jahr, die in dem würdigen RAI-Mitschnitt mit der bezaubernden Margherita Rinaldi und dem tapferen Jean Dupuy immer noch eine meiner Lieblingsaufnahmen sind. Im Folgenden übernehmen wir mal wieder mit Dank den Artikel zum Werk von Alexandre Dratwicki, dem künstlerischen Direktor des Palazzetto Bru Zane, nach einer kurzen Einführung von Hubert Dupuy. G. H.

Als großer Interpret und Komponist, der als einer der „Symphonisten“ galt, musste Saint-Saëns viele Hürden überwinden, um ins Opernhaus zu gelangen, wo er sich beweisen wollte. Klassische oder historische Sujets boten ihm einen passenden Rahmen, von dem man annahm, dass er dem Publikum bereits vertraut war. Dort konnte er sich die ganze Komplexität der menschlichen Natur zunutze machen, Menschenmassen begeistern und hochdramatische Situationen inszenieren. Aber er sah sich mit Kritik konfrontiert, die sich gegen die gewählten Themen seiner Libretti und den Klassizismus seines Stils richtete.

Vokalwerke machen die Hälfte seines gewaltigen Schaffens aus: Lieder, Chöre, Kantaten, Oden, Hymnen oder Oratorien umgeben 13 Opernwerke: La Princesse jaune (1872), Samson et Dalila (1877), Le Timbre d’argent (1877), Étienne Marcel (1879), Henry VIII (1883), Proserpine (1887), Ascanio (1890), Phryné (1893), Frédégonde (1895; unvollendet hinterlassen von Guiraud), Les Barbares (1901), Hélène (1904) und L’Ancêtre (1906), Déjanire (2. Fassung, 1911), sowie Déjanire (1. Fassung, 1898) und Parysatis (1902), komponiert für eine Freilichtaufführung in Béziers. Saint-Saëns hatte auch entschiedene Theorien über die Oper und wollte diese in die Praxis umsetzen. Er war oft mit den Opernhäusern in Konflikt geraten und seine Schriften spiegeln dies wider: „Und es gibt Leute, die mich stetig drängen, Opern zu schreiben. Ich habe, um Himmels willen, schon zu viele gemacht!!! […] Und wenn diese nicht aufgeführt werden, ist das schlimm; wenn sie aber aufgeführt werden, ist es noch schlimmer! Das Schlimmste aber ist es, mit Theaterdirektoren zu tun zu haben.“

Saint-Saens komponierte diese Oper 1871. Begierig darauf, seine erstes Drame lyrique, Le Timbre d’argent, an der Opéra-Comique zu sehen, hatte Saint-Saëns die Gelegenheit zu einem Einakter vom Theaterdirektor Camille du Locle (1832-1903) erhalten – nach dem [finanziell für Frankreich verheerenden Deutsch-Französischen] Krieg konnten kleine Formen kostengünstig zur Wiederbelebung des Pariser Kulturlebens beitragen. Du Locle brachte Saint-Saëns in Kontakt mit Louis Gallet, und aus dieser ersten Zusammenarbeit – sie wiederholten diese Erfahrung mehrmals – entstand La Princesse jaune. Diese am 12. Juni 1872 uraufgeführte opéra comique mit dezent japanischem Klang besteht aus einer Ouvertüre, gefolgt von sechs mit Dialogen durchsetzten Nummern. Die Handlung spielt in Holland. Der junge Kornélis (Tenor) projiziert all seine Sehnsucht nach Liebe und Exotik auf das Porträt einer Japanerin und ignoriert dabei die wahre Liebe, welche Léna, eine junge Niederländerin, für ihn empfindet. Mit jeweils zwei Soloarien vereinen sich die Hauptfiguren in den letzten beiden Nummern zu Duettpassagen, die Saint-Saëns zwanzig Jahre später als „eines der besten Dinge, die ich je im Theater gemacht habe“ bezeichnete. Einige Jahre zuvor gab er jedoch zu, dass „dieses unschuldige kleine Werk mit der heftigsten Feindseligkeit aufgenommen wurde“. Wenige Tage vor der Uraufführung wurde auch Bizets Djamileh uraufgeführt.

 La Princesse jaune (Die gelbe Prinzessin), deren Uraufführung am 12. Juni 1872 an der Opéra Comique stattfand, ist eine Oper ganz unter dem für das 19. Jahrhundert typischen orientalischen Einfluss. Diese künstlerische Strömung, die diese Zeit dominierte, zeugt vom Interesse für orientalische Kulturen und eine Suche nach Exotismus, der die ganze Gesellschaft verändert. Die allgemeinen Ausstellungen verstärken diese Vorliebe für das koloniale Leben, während sich die Komponisten tatsächlich schon seit dem 16. Jahrhundert davon inspirieren ließen.

Der Komponist Saint-Saens mit den Sängern von „Samson et Dalila“ in Cesena 1912/ Wikipedia

Camille Saint-Saëns hat 13 Opern geschrieben, La Princesse jaune ist seine dritte. Als der Aufstieg der Opéra Comique 1872 schon als vollendet galt, gab Camille Du Locle, der gerade der Leiter der Opéra Comique wurde, Camille Saint-Saëns, einen Auftrag für eine Oper, zusammen mit zwei anderen Werken, jeweils in einem Akt, die zusammen einen Abend konstituieren sollten. Do Locle stellte Camille Saint-Saëns Louis Gallet vor. Die beiden Männer, die denselben künstlerischen Geschmack haben, beschlossen, ein japanisches Werk zu schaffen, das den kulturellen Inspirationen der Zeit entsprach. Aber De Locle verlangte von den beiden Autoren, daraus ein halb holländisches, halb japanisches Werk zu machen.

Fünf Vorstellung fanden so statt und wurden von der Kritik gemischt aufgenommen. Dennoch prägt La Princesse jaune die Geschichte der Oper aus zwei Gründen. Einerseits war das Schwanken zwischen Realität und Traum so noch nie zuvor in eine Partitur eingebracht worden, und andererseits ist es das erste Mal, dass eine künstlerische Kreation Japan in Frankreich und Frankreich in Japan hervorruft. Das Werk ist das Symbol eines realen Fortschritts in Richtung Orientalismus, während in der Kompositionstechnik die westlichen Traditionen gewahrt blieben.

„La Princessse jaune“ beim Buxton Festival – 5th July 2013 ; Lena – Anne Sophie Duprels; Kormelis – Ryan MacPherson; Conductor – Stephen Barlow ; Director – Francis Matthews ; Designer – Lez Brotherston ; Lighting – John Bishop; Foto Robert Workman

Die Musik entwickelt sich lebhaft und leicht im Laufe des Stücks, entsprechend den fantastischen Momenten der Szenen. Wie er es schon in Stücken wie „Anat Wadô“ oder „Orient und Okzident“ gemacht hat, verwendet Saint-Saëns sparsam die pentatonische Tonleiter und spielt damit auf die japanischen Inspirationen von Kornélis an.

La Princesse jaune zeigt einen für diese Epoche unerhörten melodischen Erfindungsreichtum, vor allem durch den Gebrauch von Glocken. Das einaktige Stück zählt nur ein halbes Dutzend verbundener Teile, kurze Dialoge, die dem Genre der Opéra-comique entsprechen. Das Andantino der Ouvertüre führt sacht in die japanische Romanze ein. Der hinter der Bühne platzierte Chor, dadurch für das Publikum unsichtbar, gibt dem Stück eine breitere Dimension. (H. D.)
Und nun Alexandre DratwickiIm Schatten des Samson. „Japan war sehr in Mode; es war das, worüber alle sprachen, ein wirklicher Wahnsinn; also kam uns die Idee, ein japanisches Stück zu schaffen“, schrieb Saint-Saëns rund vierzig Jahre nach seiner Uraufführung über die Entstehungsgeschichte von La Princesse jaune. Die Uraufführung fand am 12. Juni 1872 statt. Die Partitur beinhaltet sechs Nummern, die sich mit gesprochenen Dialogen abwechseln. Mit jeweils zwei Soloarien vereinen sich die Hauptfiguren in den letzten beiden Nummern zu Duettpassagen, die Saint-Saëns als „eines der besten Dinge, die ich je im Theater gemacht habe“ bezeichnete. Allerdings gab er zu, dass „dieses unschuldige kleine Werk mit der heftigsten Feindseligkeit aufgenommen wurde“.

„La Princesse jaune“: Der Dirigent Leo Hussain und Alexandre Dratwicki, künstlerischer Direktor des Palazzetto Bru Zane, während der Aufnahme im Capitol von Toulouse/ TNCT/Palazzetto

Mit dieser Aufnahme von La Princesse jaune setzt Palazzetto Bru Zane seine Wiederentdeckung französischer Musiktheaterstücke in einem Akt fort. Oft aus Unwissenheit beschuldigt, nur von anekdotischem Interesse zu sein, wurde dieses Repertoire seit jeher von den Werken der Musikgeschichte ausgeschlossen und leidet heute unter den Zwängen seiner Kürze: Die Spielzeit dieser Einakter macht es notwendig, Doppelrechnungen zu erdenken, eine Gegebenheit, die Publikum und Programmgestalter oftmals abschreckt und die Arbeit der Regisseure erschwert. Letztere halten die dramatische Substanz manchmal für nicht dicht genug, um eine künstlerische Projektion der gleichen Intensität wie in einem Werk in drei oder fünf Akten zu erreichen. Doch die größten Namen zögerten nicht, in diesem Format zu schreiben, das zwischen fünfundvierzig Minuten und etwas mehr als einer Stunde variiert. Saint-Saëns, Bizet, Massenet und Gounod, davor Méhul, Boieldieu, Halévy und viele andere. Und es muss hinzugefügt werden, dass einige dieser ‚Miniatur-Werke‘ weder Anfängerversuche sind noch Notbehelfe, die komponiert wurden, während man darauf wartete, dass ein ehrgeizigerer Auftrag aufscheint. Im Gegenteil: Massenets La Navarraise und Le Potrait de Manon etwa wurden auf dem Höhepunkt der kreativen Reife des Komponisten geschrieben, versehen mit der absoluten Beherrschung seiner technischen und künstlerischen Mittel. Auch wenn La Princesse jaune die erste Oper von Saint-Saëns war, die 1872 uraufgeführt wurde, näherte er sich dem Alter von vierzig Jahren und war alles andere als ein Anfänger. Allein im Gesangsbereich hatte er bereits mehrere Opern und Kantaten von beachtlicher Qualität komponiert: Ivanhoé, Le Retour de Virginie, Les Noces de Prométhée und vor allem Le Timbre d’argent, geschrieben 1864, die aber bis 1877 zur Uraufführung warten musste.

Saint-Saens` Oper  „La Pricesse jaune“ in Buenos Aires/Szene/ Foto Teatro Colon

Mehr als alle bisherigen Opernwerke von Saint-Saëns pflegt La Princesse jaune den vorherrschenden Geschmack des romantischen Frankreich für Exotik und Reisen. Dies war im Übrigen eine ästhetische Dimension, in der er sich bestens zu Hause fühlte, denn er überwinterte meist in Oran, Algier, Kairo oder Las Palmas. Fasziniert von außereuropäischen Musikstilen, gelang es Saint-Saëns, deren Idiome so vollständig zu beherrschen, so dass er sie in seine eigene harmonische und rhythmische Sprache einfügte. So erzeugt La Princess jaune, deren Klangfarben nach Asien weisen, nicht nur Ganztonskalen und modale Akkorde, um eine scheinbare Exotik zu erzeugen, die genauso gut russisch wie japanisch oder algerisch sein könnte. Ab der Ouvertüre sind die charakteristischen Motive mit Pathos und Energie aufgeladen, die weit über den Rahmen der Folklore hinausgehen. Und während die beiden Arien des Kornélis eine besonders zarte asiatische Atmosphäre bieten, verschmelzen in den Duetten mit Léna gekonnt die leidenschaftlichen Wogen moderner westlicher Musik mit den Farben und Harmonien eines karikaturfreien Japonisme.

„La Princesse Jaune“ als „Die gelbe Prinzissin“ an der Neuköllner Oper Berlin 2005: Victoria Kang/ Lena und Birger Radde/Kornelis; Regie Florian Lutz/Foto Michael Heyde

Die Kürze dieser Oper ermöglichte es uns, die stimmliche Ergänzung einer bisher nicht gehörten Fassung der sechs Mélodies persanes von Saint-Saëns anzubieten und damit den Leitfaden der Sehnsucht nach exotischen Horizonten in eine andere Richtung zu spannen. Diese Lieder waren ursprünglich als Zyklus für Gesangsstimme und Klavier konzipiert. Der Komponist war so zufrieden mit ihnen, dass er sich entschloss, La Splendeur vide aus der Sammlung zu extrahieren, um es mit einer schimmernden Orchestertextur zu schmücken. Dasselbe tat er dann auch mit den fünf verbliebenen Liedern, arrangierte sie dabei aber zu einer groß angelegten symphonischen Ode für Solisten, Chor und Orchester mit dem Titel Nuit persane. Saint-Saëns verknüpfte die Originalnummern mit Orchestervorspielen und Übergängen und fügte einen gesprochenen Erzähler mit melodramatischen Passagen hinzu. Anlässlich des 100. Todestages des Komponisten präsentiert Palazzetto Bru Zane eine Neufassung dieser mélodies mit dem Ziel, deren Verbreitung in ihrer Orchestergestalt zu fördern. La Splendeur vide und die fünf mélodies aus Nuit persane wurden daher der Eingriffe durch den Chor entkleidet, in der Reihenfolge des ersten Zyklus mit Klavier neu arrangiert und durch ein kurzes Vor- und Zwischenspiel für Orchester ergänzt, beide aus der Nuit persane. Die Orchestrierungen sind durchweg vom Komponisten selbst. Der so umformulierte Zyklus ist nun bereit, in das Konzertrepertoire aufgenommen zu werden und mit Berlioz‘ Nuits d’été oder Duparcs bekannten Orchesterliedern zu konkurrieren, ohne den Vergleich scheuen zu müssen. Die erste Aufnahme ordnet jede mélodie einem anderen Künstler zu, aber Transpositionen werden es in Zukunft auch einem einzelnen Interpreten ermöglichen, die Mélodies persanes aufzuführen.

Saint-Saens` Oper „La Princesse jaune“ in Siena 2010: Carlo Allemano/Kornélis, Maria Costanza Nocentin/Lena; Dirigent Giuliano Carella; Teatro dei Rinnovati. Siena, Italy, LXVII Settimana Musicale Chigian/ SMC

Dieses Projekt, das im Februar 2021 inmitten der Coronavirus-Pandemie eingespielt wurde, konnte dank des unermüdlichen Engagements des Orchestre National du Capitole de Toulouse und insbesondere seines Direktors Thierry d’Argoubet ermöglicht werden. Ihnen allen sowie dem Dirigenten Leo Hussain und den engagierten Sängerinnen und Sängern danken wir für ihre Flexibilität angesichts einer komplexen und ungewissen Situation. Alexandre Dratwicki

Dank an Alexandre Dratwicki vom Palazzetto, dessen Text wir in der Übersetzung von Daniel Hauser (danke!) aus dem wie stets zweisprachigen und informativen Artikelkompendium der neuen Ausgabe der „Princesse jaune“ beim Palazzetto Bru Zane übernommen haben. Foto oben Buxton Festival/ Robert Workman. Dank auch an Clara Fandel von der Neuklöllner Oper Berlin für die Genehmigung zur Verwendung des Fotos zur Aufführung ebendort 2005/Matthias Heyde. Dank auch an Ingrid Englitsch für die Übersetzung aus dem Französischen.

.

.Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge in dieser Serie hier.

Kulissenzauber

 

Während des Openings schwenkt die Kamera über einen Park mit blühenden Blumenrabatten, See, üppigen Baumkronen und lieblich blauem Himmel. Es könnte durchaus in Glyndebourne sein, woher das Teatro alla Scala die am 11. Oktober im Herbstprogramm 2018 gezeigte La finta giardiniera bezog. Vier Jahre zuvor hatte der britische Opernregisseur Frederic Wake-Walker, bei dessen Namen man unwillkürlich an My fair lady denken muss, das erste Drama giocoso des 19jährigen Mozart auf die Festspielbühne in Sussex gezaubert. Mozarts frühreifer Vorgriff auf Cosi fan tutte oder Le nozze di Figaro entstand für den Karneval in München, wo er im Januar 1775 uraufgeführt wurde. Am gleichen Ort gelangte auch, wie Cesare Fertonani im Beiheft der Naxos-Ausgabe ausführt (Bluray NBD0129V), erstmals die  Edition der Neuen Mozart Ausgabe, die nach Wiederentdeckung des Autographs wieder die italienische Fassung des zuvor als deutsches Singspiel weiterlebenden Gärtnerin restituierte, zur Aufführung. Es handelte sich im Juli 1979 um eine von Bernhard Klee dirigierte und von Ferrucio Soleri inszenierte durchaus glanzvolle Festspiel-Aufführung mit den Damen Wise, Falcon, Evangelatos, Conwell sowie den Herren Ahnsjö und Mercker. An wirklich große Aufführungen der Finta giardiniera erinnert man sich mit Ausnahme der hinreißenden Herrmann-Inszenierung 1984 in Brüssel, die es leider nur zur CD- und nicht Video-Aufzeichnung geschafft hat, nicht. Trotz aller guten Absichten ist die Finta Giardiniera eine endlos lange Abfolge von Arien und Rezitativen um die falsche Gärtnerin Sandrina. Sie ist natürlich keine Gärtnerin, sondern die Marchesa Violante Orsini, die ihr Geliebter, der Graf Belfiore, in einem Anfall von Eifersucht verwundete. Der Graf glaubt, sie getötet zu haben und flieht.

Diesen Teil der Vorgeschichte zeigt uns Wake-Walker dankenswerterweise während der Ouvertüre. Gemeinsam mit ihrem Diener Nardo macht sich die Gräfin auf die Suche nach dem Grafen; beide nehmen eine Stelle an bei Don Anchise, dem Podestà von Lagonero, der sich unweigerlich in die Gärtnerin verliebt. Nardo stellt der Zofe Serpetta nach, die wiederum in den Hausherrn verliebt ist. Und der als Hausgast auf dem Anwesen weilende Don Ramiro trauert seiner Liebe zu Arminda nach, der Nichte des Podestà, die ihn wegen des Grafen Belfiore verlassen hat. Falsche Identitäten, Verwechslungen. Typische Buffo-Irrwege. Die Vorgeschichten werden nun ausführlich durchdekliniert, wobei sich Wake-Walker und Diego Fasolis, dem mit seinem auf Originalinstrumenten spielenden Ensemble aus Mitgliedern des Orchestra del Teatro alla Scala ohnehin an einem rasch vorwärtsdrängen und manchmal geradezu stürmischen Tempo gelegen ist, entschieden haben, auf ein paar Arien zu verzichten. Zum Vorteil des trotzdem noch langen Abends. Giuseppe Petrosellinis Libretto kommt ohne den Witz, die Ironie und die subversiven Untertöne eines da Ponte aus. Mozart setzt dies relativ konventionell um. Die Finali des ersten und zweiten Aktes besitzen dramatische Kraft und weisen auf den Figaro voraus. Herrmann hatte diese Typen und diese standardisierte Musik in den Griff bekommen und eine duftig leichte Landpartie kreiert, in der jede Geste Tiefsinn und Menschenkenntnis verriet. Wake-Walker, sein Ausstatter Anthony McDonald und die für die Beleuchtung zuständige Lucy Carter erfanden eine effektive Rokokovilla mit morbider grünblauer Patina mit vielen Spiegeln, großen Fenstern, Türen und Kamin wie ein Nachklang auf Jürgen Roses Amalienburg-Szenerie im alten München Rosenkavalier, die  es den Figuren erlaubt, zu klettern und fliehen, dazu reizvolle Kostümen, unter deren teilweise bizarren Mustern nicht nur die Leoparden-Unterhose des Podestà auffällt, die Kresimir Spicer, kraftvoller singend als man es in dieser Altherrenpartie gewohnt ist, mit tragikomischer Würde trägt. Alles spaßig und lebhaft, bunt, übertrieben und mit gezierter Gestik, die die Sänger verinnerlicht haben. Manchmal auch etwas zappelig, wie wenn alle als Commedia dell’arte-Marionetten an Fäden geführt werden. Nacheinander liefern sie ihre Arien ab. Wake–Waker lässt sie sich dabei entkleiden und sozusagen ihre wahren Gefühle zeigen. Julie Martin du Theil ist eine anmutige Gräfin Violante mit einem kleinen, aber technisch gut gerüsteten Sopran. Ihr Schweizer Landsmann Bernard Richter gibt den Grafen Belfiore als smarten Lebemann und Draufgänger mit ausdrucksvoll zärtlicher Phrasierung und bester Beherrschung von Nuancen und Farben, etwa in “Già divento freddo, freddo.” Die Stimmen von Du Theil und Richter verblenden sich schön im Duett „Tu mi lasci?“. Die Kastratenpartie des Ramiro charakterisierte Lucia Cirillo mit gutem Mezzosopran und sicheren Koloraturen in “Se l’augellin sen fugge”. Als eine Figur aus der Opera seria stellte Anett Fritsch die Armida mit hochseriösem Ausdruck und stellenweise steif scharfen Eifersuchtsattacken dar. Ausgesprochen sympathisch die Despina-quicke Serpetta der Giulia Semenzato und der aparte Mattia Oliveri als Nardo, dessen Arie aus dem ersten in den dritten Akt verschoben wurde. Ab dem zweiten Akt spitzt Wake-Walker die dramatischen Situationen zu: die detailliert entworfene Landvilla ist nur noch gemalte Pappkulisse, bevor sich die Beteiligten aus ihrem Puppen-Dasein befreien, die Herbstlandschaft am Ende gänzlich zerstören und die „richtigen“ Paare zu einander finden: Serpetta zu Nardo, Arminda zu Ramiro und die Gräfin zum Grafen.Rolf Fath

Immer noch verkannt

 

Siegfried Kracauer war Exilant in Paris wie Jacques Offenbach. Zurecht schreibt Alexander Flores schon im ersten Satz seines klugen Buches „Jacques Offenbach und sein Werk werden immer noch verkannt.“ Er war mehr als nur Entertainer und Spötter, Zirkusmann und zugleich Zensor der Belle Époque, mehr als nur der „Spaßmacher des Zweiten Kaiserreichs“. Auch wenn nach seiner Verdrängung im Dritten Reich Max Reinhardt und Otto Klemperer dem Vergessen und der eklatanten Fehleinschätzung, ja der Verniedlichung entgegenarbeiteten, für Alexander Flores (Alexander Flores: Jacques Offenbach und sein Werk bei Siegfried Kracauer und darüber hinaus; 2021) bleibt ein Unbehagen am verkannten Offenbach, ein Unbehagen auch an Siegfried Kracauers Versuch, Offenbach auf einen Sockel zu heben und zu rehabilitieren mit dem wegweisenden Buch „Jacques Offenbach und das Paris einer Zeit“, das 1937 erstmals in Paris erschien. Ein eminent wichtiges Buch zweifellos, aber es sei eben nicht „der ganze Offenbach“ gewesen, den Kracauer “in die gesellschaftliche Realität seiner Zeit „eingebettet habe. Flores Ziel ist es, Kracauers Buch genau zu erfassen, seinen Inhalt zu referieren, seine Vorgeschichte in Kracauers Leben zu erzählen, seine Entstehung nachzuzeichnen und das Echo zu registrieren, das sein erstes Erscheinen ausgelöst hat“. Das hat bisher noch niemand unternommen. Aber der Autor will mehr, will ein „vollständigeres Bild von Offenbach und seinem Werk …zeichnen, als es Kracauer geliefert hat.“

Es ist vor allem das Offenbachbild der 30er Jahre, das Kracauer prägte. Seine Kernthese war schon in dem Satz enthalten „Die Operette konnte entstehen, weil die Gesellschaft, in der sie entstand, operettenhaft war.“ Schon das im Grunde ein Irrtum, denn es verbietet sich bei Offenbach von „Operette“ zu reden.

Schon Egon Friedell hat in seiner geistreichen “Kulturgeschichte der Neuzeit“ von 1927 den Werken Offen­bachs bescheinigt, dass sie beißende, salzige, stechende „Persi­flagen der Antike, des Mit­tel­alters, der Gegenwart“ seien, „aber eigentlich immer nur Gegenwart und im Gegensatz zur Wiener Operette, die erst eine Generation später ihre Herrschaft antrat, gänzlich un­kitschig, amoralisch, unsentimental, ohne alle kleinbürger­liche Melodramatik, vielmehr von einer rasanten Skepsis und exhibitionistischen Sensua­lität, ja geradezu nihilistisch.“

Offenbachs genuin eigene und neue Gattung war die „systemimmanente utopische Satire in der Form des Musiktheaters“ (Peter Hawig), die seit Karl Kraus „Offenbachiade“ genannt wird. Nun hat Offenbach keineswegs nur Offenbachiaden geschrieben, sondern auch romantische Opern, große revuehafte Opern mit ausladenden Balletten (der Gattung Opéra féerie) und Werke der Opéra comique. Nur ein kleiner Teil seines Oeuvres, die einaktigen ´Stücke, nannte er „Operettes“, aber auch den gehorchten anderen Gesetzen als die Operetten Wiener oder Berliner Typs, den Offenbachschen Gesetzen der Opéra bouffe nämlich.

Flores zitiert Siegfried Dörffeldt, der die Offenbachiade folgendermaßen definiert: ,,Inhaltlich eine Parodie des Göttermythos, der Heldensage, der mittelalterlichen Romantik, der italienischen Renaissance, der deutschen Kleinstaaterei, vereinigt die Offenbachiade in ganz unbeschreiblicher und unnachahmlicher Weise allgemeine Gesellschaftssatire, Spiegelung der Sitten der Zeit, Verspottung aller scheinbaren Größe und angemaßten Autorität, Verhöhnung des Hoflebens und Verherrlichung der ‘fete impériale’, alles gehüllt in einen ‘Zustand der übermütigsten Bouffonerie“.

Auch Friedrich Nietzsche hatte Offenbachs musiksatirischem Werk, er nannte den Komponisten bewundernd „Sankt Offenbach“, bescheinigt, „französische Musik mit einem Voltaireschen Geist“ zu sein, „frei, übermütig, mit einem kleinen sardonischen Grinsen, aber hell, geistreich bis zur Banalität (er schminkt nicht) und ohne die Ge­ziert­heit krankhafter oder blond-wienerischer Sinnlichkeit.“

Flores bringt es auf den Punkt: „Der Impetus zur Satire kam Offenbach aus seinem Ungenügen an der Welt, wie sie war – mit all ihrem Elend, ihrem Unrecht, ihrer Dummheit, usw. Auf diese Widerwärtigkeit Welt kann man als Künstler mit Abkapselung und dem Aufbau einer schönen Scheinwelt reagieren, aber als fühlender und denkender Künstler wohl angemessener durch die Auseinandersetzung mit der Welt, wie sie nun einmal ist. Das ist die Methode Offenbachs und seiner Librettisten. Es gibt bei ihnen viel spöttisch-kritische Reibung an allem, was an der Welt schief, nicht in Ordnung, befremdend, widerwärtig ist. Sie haben sowohl eine Vorliebe für die satirische, parodistische, karikierende Darstellung der Welt und der Gesellschaft wie auch eine besondere Befähigung dazu. Die Mittel sind Wortwitz, Brechung von Situationen und kalkulierte Inkongruenz zwischen Situation, Wort und Musik, und das mit großer Meisterschaft. Das alles vollzieht sich aber vor einer ganz anderen Folie, die immer wieder durchscheint: Sehnsucht, Utopie, Nostalgie, Suche nach dem aus der Kindheit herüberklingenden Glück.“ Diese Einsicht kommt bei Kracauer zu kurz. Schon, weil er nur einen Bruchteil des Werks Offenbachs berücksichtigt.

Zur Zeit seiner Entstehung war das umfangreiche Oeuvre Offenbachs, darauf weist Flores hin, äußerst populär; „zeitweise wurde Offenbach an vier Pariser Bühnen gleichzeitig gespielt; sehr schnell eroberte er auch die Bühnen der französischen Provinz und vieler anderer Lander. Dann schwand das Interesse. Soweit es bestehen blieb, wurde das Werk, mit Ausnahme von Hofmanns Erzählungen, in die Kategorie ‘seichte Unterhaltung‘ eingeordnet – und allzu oft auch entsprechend dargeboten. Von Zeit zu Zeit wurde es von Kundigen auch noch angemessen gewürdigt, aber das konnte sein Bild beim breiten Publikum nicht verändern. Offenbach galt eben als Operettenkomponist, und die Operette wurde als ein Gebilde irgendwo zwischen Zeller und Lehar wahrgenommen. Was noch irgend an Nischen für ein tieferes Verständnis Offenbachs da war, dem gaben die Nazis den Rest, indem sie ihn in ihrem Machtbereich verboten. Nach dem Dritten Reich wurde er ‘rehabilitiert‘, aber diese Rehabilitation bestand darin, dass die Offenbach-Pflege in die alten Bahnen einschwenkte, womöglich noch einen Tick provinzieller wurde. Dann dauerte es noch einmal ziemlich lang, bis die Offenbach-Rezeption durch angemessene Aufnahmen, die ,,Offenbach Edition Keck“, das ,,Bad Emser Jacques-Offenbach-Journal“, den ,,Jaques Offenbach Society Newsletter“, die Offenbach-Reihe der ,,Bad Emser Hete“ und viele andere Publikationen auf etwas solidere Füße gestellt wurde. Man kann heute auf viel mehr zuverlässiges Notenmaterial, Aufnahmen und Studien zu Offenbach zugreifen, als das je der Fall war; die Wissenschaftliche, sogar die musikwissenschaftliche Beschäftigung mit Offenbach wird reger.“

Flores, der Kracauers angriffslustiges Offenbach-Buch beinahe als „antifaschistische Kampfschrift“ deutet, die „eigentlich das nationalsozia­listische Regime seiner Zeit im Blick gehabt habe, ist einer der besten Kenner Offenbachs und der Offenbachliteratur, die er präzise benennt und charakterisiert,  von Anton Henseler über Thomas Schipperges, Jean-Claude Yon, Ralf-Olivier Schwarz, Peter Hawig, Elisabeth Schmierer, Rainer Franke, über Lawrence Senelik bis hin zu Anatol Stefan Riehmer, Peter Ackermann und Alexander Grün.

Das mit sorgsamem Zitaten- und Literaturverzeichnis ausgestattete Buch von Alexander Flores schlägt einen großen Bogen, es rückt Kracauers Offenbach­buch ins rechte Licht und zieht Bilanz der Offenbachforschung (Alexander Flores: Jacques Offenbach und sein Werk bei Siegfried Kracauer und darüber hinaus; 2021; 178 Seiten; Westfälisches Dampfboot ISBN 978-3-89691-061-5.Dieter David Scholz

Instant-„Porgy“

 

 Porgy and Bess gehört zu den Meisterwerken der amerikanischen Musik – neben der „Rhapsody in Blue“ ist es George Gershwins berühmtestes Werk. So wahnsinnig viele Aufnahmen gibt es aber gar nicht. Jetzt ist das Label Pentatone in die Bresche gesprungen und hat einen Querschnitt der Oper vorgelegt: Ein „Instant-Porgy“ von 67 Minuten mit „Highlights“ bei Pentatone.

Das Problem dieses Opern-Querschnitts ist, dass man versucht hat, nicht der üblichen Opernroutine zu verfallen und zusammenzudampfen – sprich: die vielen Romanfiguren zu vier Leuten zu fusionieren. Das mag ökonomisch sein, war aber nicht die Intention Gershwins.

Angel Blue ist ein Volltreffer: Eine satte große Stimme und auch die meisten anderen Sänger sind – bis auf Lester Lynch als Porgy – gut gewählt.

Der Dirigentin Marin Alsop kann man nicht vorwerfen, dass sie unelegant dirigiert. Man kann ihr aber durchaus vorwerfen, dass sie zu elegant dirgiert: Durch diese ganze Aufnahme weht ein falscher Ton, eine Art verklebte Pathetik (George Gershwin: Porgy and Bess – Highlights; Angel Blue, Sopran; Lester Lynch, Bariton; Chauncey Packer, Tenor | Morgan State University Choir | The Philadelphia Orchestra | Marin Alsop, Leitung; Pentatone 5186883; weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de). Matthias Käther

 

Elf Uhr nachts

 

„Türen auf!“, habe Paul gestern gerufen, „Licht in meinen Tempel! Die Toten stehen auf“. Hausdame Brigitta gewährt Pauls Freund Frank, der nach längerer Abwesenheit nach Brügge zurückgekehrt ist, einen Einblick in Pauls Wohnung, die dieser im Haus zu einem „Tempel der Erinnerung“ an seine tote Frau Marie umgestaltet hat. Lange hat Paul den Verlust Maries betrauert. Doch nun ist er einer Frau begegnet, deren Ähnlichkeit mit der verstorbenen Marie ihn fasziniert und erregt.  In dieser Situation des fiebernden Neubeginns trifft Frank auf Paul, der gesteht, „Du weißt, dass ich in Brügge blieb, um allein zu sein mit meiner Toten. Die tote Frau, die tote Stadt flossen zu einem geheimnisvollen Gleichnis“.  Die tote Stadt, das Brügge aus Georges Rodenbach symbolistischem Jahrhundertwend-Roman Brugges-la-morte (1892, dt. 1903), den ihm Vater Julius Korngold unter dem Pseudonym Paul Schott zu einem Libretto einrichtete, wurde der Titel von Erich Wolfgang Korngolds dritter Oper, die ursprünglich Triumph des Lebens heißen sollte. 1920 gleichzeitig in Hamburg und Köln uraufgeführt, kehrte die einst sensationell erfolgreiche, dann von den Nationalsozialisten von den Theatern verbannte Die tote Stadt in den 1970er Jahren wieder in die Spielpläne zurück. Die Initialzündung hatte 1975 Erich Leinsdorfs Einspielung mit Kollo und Neblett geliefert, der eine Aufnahme des BR mit Karl Friedrich und Maud Cunitz aus dem Jahr 1952 vorausgegangen war. Die tote Stadt ist wieder ein Repertoirestück, an das man sich nicht nur an seinem hundertsten Geburtstag gerne erinnert, beispielsweise im Dezember 2019 an der Bayerischen Staatsoper, an der Simon Stone seine Baseler Produktion von 2016 wiederbelebte.

Für sein Operndebüt hatte sich der australisch-schweizer Regisseur, der sich im Beiheft der Bluray (Bayerische Staatsoper Recordings 4028098000050) feinsinnig über die Die tote Stadt auslässt, ein kompliziertes Werk über Trauma und Verdrängung ausgesucht, dessen Ende „ist der Beginn einer viel größeren Geschichte: Paul wird sich mit diesem Albtraum … nahezu nächtlich in den kommenden Jahren auseinandersetzen müssen. Denn er hat gerade erst die Tür geöffnet, den Tod Maries wirklich zu verarbeiten… Und Genau das macht es auch zu einem realistischen, guten Ende, denn es sagt uns: wir müssen weitermachen, und das ist oft das Schwerste von allem“. Mittlerweile sind Lear bei den Salzburger Festspielen und La Traviata an der Wiener Staatsoper gefolgt, auf deren Stehplatz sich der elfjährige Simon Stone bei einem Wien-Besuch mit seinem Vater jeden Abend „nicht eine Sekunde gelangweilt hat“.

Das Plakat zu Godards Pierrot le fou (auf dt. Elf Uhr nachts) von 1965 hängt neben anderen Filmplakaten – Antonionis Blow up – in dem modernen Haus mit der Nummer 37, das Ralph Myers als gesichtsloses Wohnkonstrukt aus Wohnzimmer, Schlafraum und Küche auf die Drehbühne gestellt hat, wo jetzt Paul fürs Großreinemachen die Plastikhandschuhe überstreift. Das Plakat verweist auf Korngolds Nachleben als Oscar-gekrönter Filmkomponist in Hollywood nach seiner Emigration in die USA und die vielfachen Wirkungen des Romans von Hitchcock bis zu weiteren Filmregisseuren. Eigentlich ist in Pauls Wohnung alles fein ordentlich in beschrifteten Pappschachteln, „Wohnzimmer“, „Bad“, „Küche“ usw., sortiert, die nun endlich ausgepackt werden. Die Schachtel mit der Aufschrift „Krankenhaus“ weist auf Maries Krankheit hin, durch die sie in der Folge auch ihre Haare verlor. Jonas Kaufmann spielt diesen Paul in Anzughose, weißem Hemd, Krawatte und Hosenträgern als habe er sich schon immer als Hausmann betätigt (Kostüme: Mel Page), dabei fordert ihn die Partie mit der strapaziösen ariosen Deklamation und den Höhenaufschwüngen im Forte von Anfang gewaltig heraus. Das baritonale Timbre verleiht ihm das nötige vokale Fundament und die dunkle Wucht, und die Kunst, auch in der Übergangslage mit empfindsamen Tönen zu zaubern, verleiht seinem Porträt eine anrührende Glaubwürdigkeit.  Eine moderne Romanze:  Marietta, die neue Frau in seinem Leben, radelt vors Haus, steigt durchs Fenster ins Haus, wo sie Paul bereits mit einem Blumenstrauß sehnsüchtig erwartet. Konversation am Küchentisch, den Paul schon gedeckt hat, und im Wohnzimmer, wo Marietta ihr „Glück, das mir verblieb“ wie einen nostalgischen Schlager ins Mikrofon trällert. Man meint, die Tränen in Pauls Augen zu sehen. Marlis Petersen singt und spielt diese moderne junge Frau burschikos, schillernd in Korngolds spätromantisch welkem Arien-Hit, dabei mit einer Empfindsamkeit, etwa wenn sich wie zufällig beider Hände finden, und einer einnehmenden lockenden Leichtigkeit und schlanken Sopranbravour in der Höhe. Simon Stone inszeniert diese Begegnung feinfühlig und selbstverständlich, mit ausgepichter Rücksicht auf die Freiräume, die die Sänger benötigen, und mit zart gesetzten Brüchen und Suspense-Momenten. Behutsam und spannend wie ein Thriller. Nach Mariettas überraschendem Aufbruch wirkt das Auftauchen der in Pauls Erinnerungen weiterlebenden Marie ganz natürlich. Stone schafft eine gebrochene Atmosphäre des magischen Realismus,  in der das Vergangene in die Realität eindringt: locker in der Szene der Künstlerkollegen in Mariettas Wohnung (Juliette: Mirjam Mesak; Lucienne: Corinna Scheurle; Victorien: auffallend der Tenor Manuel Günther; Graf Albert: Dean Power) und der im dritten Akt im Haus herumtollenden Kinder, dann zunehmend unheimlich und bedrohlich, nachdem Paul die Tote in gleich mehrfacher Gestalt erscheint und Marietta sich über die Perücke Maries lustig macht. Paul meint, Marietta erwürgt zu haben. Doch diese radelt davon, so wie sie gekommen war. Nachdrücklich unterstrichen und getragen wird die glänzende Aufführung von Kirill Petrenko und dem vorzüglichen, in allen Kanten der Partitur schwelgerische Schönheit entdeckenden Bayerischen Staatsorchester. Jennifer Johnston als Brigitta und Andrzej Filonczyk als Paul und Fritz, wodurch ihm das Lied des Pierrots „Mein Sehnen, mein Wähnen“ zufällt, sind gut, ohne sich nachhaltig einzuprägen. Rolf Fath