Barockes Gipfeltreffen

 

Für ihr neues Recital bei ALPHA mit dem Titel Passion kehrt Véronique Gens zu ihren Wurzeln zurück (747). Die französische Sopranistin lässt Armide (neben weiteren Heroinen von Lully und seinen Zeitgenossen) bis zu Charpentiers Médée wieder aufleben. Der Solistin stehen das Ensemble Les Surprises unter Leitung von Louis-Noël Bestion de Camboulas und Les Chantres du Centre de Musique Baroque de Versailles (Einstudierung: Olivier Schneebeli) zur Seite. Das Programm der CD imaginiert ein Opernsujet, dessen 1. Akt „Der Ruf der Unterwelt“ lauten könnte. Der 2. ist mit „Unglückliche Mutter“ überschrieben, der 3. mit „Grausamer Amor“. „Ruhiger Schlaf, verhängnisvoller Tod“ stehen für den 4., „Die rasende Médée“ für den 5. Akt.

Es ist aber auch eine Hommage an zwei legendäre französische Sängerinnen: Mademoiselle Saint-Christophe und Marie Le Rochois. Letztere triumphierte 1684 in der Rolle der Arcabonne in Lullys Amadis. Deren Air „Toi qui dans le tombeau“ eröffnet die Anthologie. Die Stimme der Sopranistin hat grandeur, ist von majestätischer Erhabenheit. Le Rochois sang auch die Titelrolle in der Armide, deren Air „Enfin, il est en ma puissance“ im 3. Akt folgt. Es wechselt zwischen pathetischer Strenge und aufbrausendem Zorn. Schließlich hatte die Diva nach Lullys Tod einen Riesenerfolg als Titelheldin in Marc-Antoine Charpentiers Médée. Daraus singt Gens zwei ihrem Zuschnitt extrem unterschiedliche Airs: „Quel prix de mon amour“ und „Noires filles du Styx“. Erstere ist von schmerzlicher Erkenntnis, die zweite von düsterer Umnachtung, die sich zu wilder Raserei steigert. Für Saint-Christophe schrieb Lully Rollen höchst unterschiedlicher Charaktere: Königinnen, Mütter, Zauberinnen, Göttinnen. Gens singt aus Proserpine die Partie der Cérès (tragisch umflort„Ô! Malheureuse mère“ und deklamatorisch„Que tout se ressente“), aus Atys die der Cybele (wehmütig„Espoir si cher et si doux“) und aus Alceste die Titelrolle (existentiell„La mort, la mort barbare“). Ein Riesenspektrum an Emotionen wird der Interpretin hier abverlangt und die Französin kann ihre reichen Erfahrungen in diesem Genre Gewinn bringend einbringen. Schon 2018 hatte sie mit dem Ensemble Les Surprises im Rahmen eines Festivals in Ambronay die Zusammenarbeit erprobt und dabei ein ähnliches Programm gewählt.

Kompositionen von Lullys Schülern und Zeitgenossen ergänzen die Werkauswahl. Von Pascal Collasse (1649 – 1709) erklingt das Air der Junon („Calme tes déplaisirs“) aus Achille et Polyxène, in welchem sie den Trojanern mit Höllenqualen und Hochwasser droht, was die Sopranistin mit flammenden Tönen und höchster, bis zur Hysterie reichender Expressivität umsetzt. Von Henry Desmarets (1661 – 1741) ist das wiegende Air der Éolie („Désirs, transports“) aus Circé zu hören, welches in seinem lyrischen Charakter die Stimme leuchten lässt.

Das Orchester mit schlankem, federndem Klang und der Chor brillieren in einigen Ballettszenen – der rasenden „Tempête“ aus Colasses Thétis et Pélée, dem betont rhythmischen „Entrée des Bretons“ und „Passepied“ aus Lullys Ballet du Temple de la Paix sowie der versonnenen „Sarabande Dieux des Enfers“ aus seinem Ballet de la Naissance de Vénus. Und Lully ist auch der Schlussakkord der CD vorbehalten: Aus seinem Le Triomphe de l’amour ertönt das „Air pour l’Entrée de Borée et des quatre Vents“ und sorgt für einen lebhaft-stürmischen Ausklang (08. 10. 21). Bernd Hoppe