Das französische Label ALPHA-CLASSICS ist bekannt für seine systematische Pflege des barocken Repertoires und wartet immer wieder mit überraschenden Raritäten auf. Zudem legt es Wert auf die kontinuierliche Zusammenarbeit mit bestimmten Künstlern – so der amerikanischen Mezzosopranistin Kate Lindsey, mit der es bereits einige Recitals produziert hat. Nach einem Programm mit Liedern um Kurt Weill erschien das Album „Arianna“, dem nun „Tiranno“ folgt (ALPHA 736). Aufgenommen im Oktober des vergangenen Jahres in London, präsentiert es eine interessante Werkauswahl mit zwei Weltpremieren auf CD.
Omnipräsent in den vier Kantaten sowie einigen Szenen aus Monteverdis Oper L’Incoronazione di Poppea ist die Figur des römischen Kaisers Nerone. Eine Komposition Alessandro Scarlattis, welche das Programm eröffnet, trägt seinen Namen sogar im Titel – die Kammerkantate Il Nerone entstand wahrscheinlich 1698 und schildert in drei, durch Rezitative verbundenen Arien den Herrscher, in dessen Reich nur Grausamkeit regiert, der vor dem Hintergrund der brennenden Stadt noch die Leier spielt und die Klagen des leidenden Volkes zynisch imitiert. Ganz unvermittelt, ohne instrumentale Einleitung, beginnt das Stück mit dem selbstbewussten Ausruf des Kaisers „Io son Neron!“. In der ersten Aria, „Vuò che tremi Giove ancora“, kann die Interpretin mit flüssigen Koloraturläufen aufwarten. Die Stimme ist herb und vermittelt plastisch das neurotische Naturell der Figur. In der letzten Aria, „Veder chi pena“, vermag sie ihren Mezzo ganz schlank zu führen und aufzuhellen mit dem Ergebnis eines angenehmen Klanges. Danach aber endet das Stück ganz abrupt mit einem kurzen Rezitativ von strenger Färbung.
In Scarlattis Kantate La Morte di Nerone (vermutlich aus dem Jahre 1690), welche die Anthologie abschließt, steht dagegen Neros Zögern angesichts seines eigenen Todes im Mittelpunkt. Doch die Untaten gegen seine Mutter Agrippina, seine Frauen und seinen Lehrmeister Seneca, die ihn als Schreckensbilder heimsuchen, führen schließlich zum Entschluss, aus dem Leben zu scheiden. In dieser Weltersteinspielung überrascht die Mezzosopranistin noch einmal mit neuen Farbtönen – düster, verhangen, entrückt, schimpfend, tobend, somnambul –, bis das Stück abrupt mit einem kurzen Rezitativ endet.
Die andere Novität auf dem Musikmarkt ist Bartolomeo Monaris Kantate La Poppea (von 1685). In der Programmfolge erklingt sie nach den Ausschnitten aus Monteverdis Oper, was Sinn macht, denn Molinaris Komposition ist quasi deren Fortsetzung mit der im Sterben liegenden Poppea. Schwanger mit Neros Kind, endet ihr Leben durch eine brutale körperliche Attacke ihres Gatten. In den jeweils drei Arien und Rezitativen formt die Interpretin ein plastisches Bild der unglücklichen Frau mit lamentierenden Passagen und einer dissonanten Schlussarie („Bellezza mortale“), in der sie sich an in ihre einstige und nunmehr verblassende Schönheit erinnert.
Aus Monteverdis Incoronazione wurden Szenen aus dem 2. und 3. Akt mit Nerone und Lucano (ausdrucksstark der Tenor Andrew Staples) sowie Nerone und Poppea (sinnlich lockend die Sopranistin Nardus Williams) in beider Schlussduett „Pur ti miro!“ ausgewählt. Dazwischen steht Ottavias ergreifender Abschied vor ihrer Verbannung aus Rom („Addio Roma!“). Lindsey zeichnet den Nerone in exaltierter Freude über Senecas Tod und später mit Poppea in schmeichelnder Zärtlichkeit, die Ottavia bei allem ergreifenden Schmerz auch mit wilden Ausbrüchen einer existentiellen Notsituation.
Ein weniger bekanntes Werk Händels, der dramatische Monolog Agrippina condotta a morire, komplettiert das Programm. Zwischen 1707 und 1709 während seines Rom-Aufenthaltes komponiert, stellt das Stück quasi die Vorstufe zur 1709 uraufgeführten Oper Agrippina des Hallenser Meisters dar. Darin schwankt Neros Mutter zwischen Liebesbekundungen für ihren Sonn und Rachegelüsten wegen ihrer Verurteilung zum Tode. Der Komponist nutzt rasche Stimmungswechsel zur Schilderung der ambivalenten Emotionen und die Violinen in der ersten Aria („Orrida, oscura!“) zur Darstellung von Blitzen, in der Cavatina „Come, o Dio!“ zur Unterstreichung der Verzweiflung. Die Sängerin lässt im einleitenden Rezitativ eine keifende Stimme hören, die in der nachfolgenden Aria,„Orrida, oscura!“, mit energischen Koloraturen aufwartet. Darüber hinaus nutzt sie viele Farben und Stimmungen, um die Situation Agrippinas zu verdeutlichen. Eine Rasende ist sie in der Cavatina „Sí, sì, s’uccida!“, flehentlich und mit betörenden Tönen in „Come, o Dio“, zur Rache entschlossen in „Se infelice al mondo vissi“, nicht mehr bei Sinnen mit sich schier überschlagenden Wortfetzen in „Su lacerate il seno“. Das Ensemble Arcangelo, 2010 von seinem Künstlerischen Leiter Jonathan Cohen gegründet, begleitete die Mezzosopranistin schon bei „Arianna“ und ist auch in dieser Neuaufnahme ein inspirierender Partner für die Solistin mit Affekt betontem Musizieren. Bernd Hoppe