Die Aufführung an der Opéra de Paris habe ich als eine ganz wunderbare in Erinnerung. Toll, dass es sie jetzt auf DVD gibt (BelAir BAC186), zeigt sie doch auch, zu was solch ein „wohlausgestattetes Haus“ in szenischer wie musikalischer Hinsicht in der Lage ist. Zudem ist Rimsky-Korsakows 1882 am Mariinsky-Theater uraufgeführte Snegurotschka oder Schneeflöckchen, zu dem er sich durch Ostrowskis gleichnamiges Märchendrama von 1873 inspirieren ließ, nicht gut auf Tonträgern vertreten. Und die Inszenierung des ausgewiesenen Rimsky-Korsakow-Regisseurs Dmitri Tcherniakov – nach der Zarenbraut und der Legende von der unsichtbaren Stadt Kitesch – ist ein weiteres Plus und ist Garant dafür, dass trotz beträchtlicher Aufführungsdauer (2 DVDs) niemals Langeweile aufkommt. Schneeflöckchen ist die Tochter von der Frühlingsfee und Vater Frost. Und wie der Schnee in der Sonne schmilzt, hat der Sonnengott Jarilo Snegurotschka zum Tode verurteilt, sobald sie sich in einen irdischen Menschen verliebt. Dies geschieht so unausweichlich, wie der Sommer auf den Frühling folgt und endet mit einem gewaltigen und großen Hymnus auf die Sonne. Doch davor hat Rimsky-Korsakow eine große Frühlingsfeier gerückt und eine personalreiche, märchenhaft verschlungene Handlung im „Land der Berendäer in prähistorischer Zeit“ um den Hirten Lel, den Kaufmann Mizguir, die junge Braut Kupava, den idealistisch guten Zaren Berendei, den Faschingspopanz, Waldgeister, Spielleute und Bojaren. Viel naiv Märchenhaftes ist darin, auch Mythologisches, Mystisch-Heidnisches, Christliches und Orthodoxes, wie häufig bei Rimsky-Korsakow. Tcherniakov hat – in Personalunion als Regisseur und Ausstatter (Kostüme von Elena Zaytseva) – dafür plastische, sinnliche Bilder gefunden, die eine historische Epoche mit einer postsozialistischen Gegenwart verbinden und die Märchenepisoden natürlich einbetten. Die Erscheinung der in einem Ballettsaal mit der Allüre einer Diva aus alten Zeiten residierenden Frühlingsfee (kraftvoll, darstellerisch und gesanglich mit großer Autorität: Elena Manistina) ist solch ein fesselndes Bild. Sie gebietet über eine große Schar von als Tiere kostümierte Eleven, wodurch die Märchenszene mit den singenden und tanzenden Vögeln eine realistische Grundlage erhält. Snegurotschka, ausgehfertig zum Schlittschuhlaufen, schaut staunend zu; Väterchen Frost (der damals 70jährige Vladimir Ognovenko ist immer noch von großer Ausstrahlung) kommt im Burberry-Trench hinzu. Die Eltern einigen sich darauf, ihre Tochter, von der Sonne verborgen, in den Wald zu den Menschen nach Berendei zu schicken. Diesen Wald hat Tcherniakov so suggestiv und magisch wie überhaupt auf einer Bühne nur möglich geschaffen. In kleinen Datschen haust ein fröhliches, blumenbekränztes, hippiemäßig und folkloristisch gekleidetes Aussteigervölkchen unter Führung eines grauzopfigen Anführers (einen Sänger mit diesem besonderen hohen Charaktertenor wie Maxim Paster muss man erst einmal finden), der sich unter sein Volk mischt und alten Zeiten nachhängt. Man tanzt viel und löffelt an Campingtischen von Plastikgeschirr. Snegurotschka wurde vor dem Hirten Lel gewarnt. Klar, dass sie sich in den selbstgefälligen Blonden verguckt, der wenig Interesse an ihr zeigt; bei Tcherniakov wurde die Altpartie des Hirten erstmals mit dem Countertenor Yuriy Mynenko besetzt, der der Figur etwas gläsern-geheimnisvolles verleiht. Gewaltige Bilder, im Detail liebesvoll ausgepinselt: Frühlingsfeuer mit dem Fastnachtspopanz (immerhin Franz Hawlata in der kurzen Episodenrolle, Genreszenen mit den in Wohnwagen wohnenden Pflegeeltern (Carole Wilson und Vasily Gorshkov), Auftritt des brutalen Mizguir (Thomas Johannes Mayer), der bei Snegurotschkas Anblick seine Verlobte Kupava einfach links liegen lässt, was die fast hochdramatisch blühende Martina Serafin wirklich nicht verdient hat, eine Männerchorprobe als Huldigung an den Zaren: immer pralles, kraftvolles Theater, bei dem die Hymne auf die Natur zu einer Huldigung wunderbaren Operntheaters und der Entdeckung einer schönen Oper gerät. In sämigen Breitwandsound trägt das Orchestre de L’ Opera National de Paris unter dem Paris-Debütanten Mikhail Tatarnikov zum opulenten Gelingen bei. Der Chor klang wie direkt aus Russland importiert. Und Snegurotschka? Aida Garifullina kann uns durch ihren strahlenden, gut fokussierten zart-schönen Sopran faszinieren, der der Zerbrechlichkeit der Snegurotschka, die am Ende dahinschmilzt, vollkommen gerecht wird. Rolf Fath
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