Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Händel lebt

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Bereits ihre 23. Ausgabe erleben die Göttinger Händel-Beiträge der Göttinger Händel-Gesellschaft, die auch die alljährlichen, falls nicht durch Krieg oder Pandemie verhindert,  Händel-Festspiele unterstützt, die 2022 wieder stattfinden dürfen. Auch wenn die Stadt Halle das Privileg besitzt, die Geburtsstadt des Komponisten zu sein, ist Göttingen nicht etwa eine Parallelgründung wie die Deutsche Bücherei in Frankfurt oder der Tierpark in Friedrichsfelde zu DDR-Zeiten, sondern die Gesellschaft besteht bereits seit 1920, ist vielleicht auch nach dem verlorenen Weltkrieg als Kontrast zur Wagnerei zu verstehen, als Beginn der „Göttinger Händel-Renaissance“.

Auch 2022 sind die Vorträge, die in dem gut hundertseitigen Band miteinander vereint sind, von großer Vielseitigkeit, vereinbaren Politisches mit Ästhetischem, Ökonomisches mit Ethischem und lenken das Auge des Betrachters mit dem Cover auf den in Barockes gekleideten Unterleib eines Mannes und einer Frau, womit aber nichts Anstößiges verbunden ist. Im Innern darf man sich das Bild in seiner Gesamtheit anschauen, es stellt den Kastraten Farinelli mit seiner Lieblingskollegin, mit Pagen und Hund und außerdem dem wohl meistbenutzten Librettisten der Händelzeit und auch noch danach dar: Pietro Metastasio.

Der erste Artikel, eine Einführung in das Symposium von 2021, stammt von Laurenz Lütteken und befasst sich mit der Oper als Geschäft zu Händels Zeiten, schildert das Verhältnis von Komponist und Impresario zueinander, das Verhältnis der Oper zur Frühaufklärung und das von materiellem Einsatz und sinnlichem Vergnügen.

Wolfgang Sandberger aus Lübeck befasst sich mit der in den Zwanzigern einsetzenden Händel-Bewegung, beginnend mit einer stark gekürzten Rodelinda in deutscher Sprache, die auf über zwanzig Bühnen nachgespielt wurde und sich durch eine abstrakte Bühne und die Einbeziehung choreographischer Elemente hervortat. Der Verfasser führt anschaulich aus, warum Händel als „unbelastete Identitätsfigur“ angesehen werden konnte, wie es zu Vermutungen über eine Verwandtschaft mit dem Expressionismus und eine Gegnerschaft zum Jazz kommen konnte. Anschaulich gestaltet ist der Artikel durch zahlreiche Abbildungen von Händel-Produktionen der Zwanziger, nicht selten von monumentaler Art wie in Hannover in einer riesigen Halle, einem Alexander Balus mit 910 Mitwirkenden. Als das Interesse nachlässt, wird  1931 die Göttinger Händelgesellschaft gegründet, hier hat „Völkisches“, haben aus SA-Bataillonen bestehende Statistenmassen keinen Platz. Der Leser wird mit einer Fülle von Beispielen für Hänel-Aufführungen konfrontiert, eine übersichtliche Tabelle der in Göttingen tätigen Händel-Forscher und Händel Interpretierenden erleichtert es, den Überblick zu behalten.

Von Matthew Gardner stammt der Beitrag über Sängerinnen und Sänger zur Händelzeit, über den Einzug der italienischen Oper in London. Sehr anschaulich wird darüber berichtet, wie Opern für bestimmte Sänger geschrieben, bei Neuverpflichtungen entsprechend umgeändert wurden, wie nach dem Sänger, was die Wichtigkeit angeht, der Librettist und erst dann der Komponist kam. Und man möchte hinzufügen, dass der Regisseur gar nicht vorkam. Hier und auch anderswo wird auf die Wichtigkeit der Royal Academy of Music hingewiesen, deren Verbindung zu Händel, die Bedeutung von Benefizkonzerten für Sänger, meistens die dritte Aufführung einer Reihe.

Philine Lautenschläger aus Berlin befasste sich mit dem Verhältnis zwischen Sensualisierung und Kommerzialisierung, dem Widerstand der Engländer gegen die italienische Oper nicht nur wegen der Fremdsprache, sondern auch wegen des Kontrastes zu aufklärerischen Ideen. Dem Leser wird es bewusst gemacht, welchen Stellenwert die Oper aber auch besaß in einer Gesellschaft, die nicht über die technischen Möglichkeiten des Musikerlebens späterer Zeiten hatte. Die Versöhnung mit der Aufklärung erfolgte schließlich durch die Einsicht, wie  stark die Empfindungsfähigkeit durch das Erleben von Musik gesteigert werden konnte. Notenbeispiele aus Rodelinda werden dem Leser zugänglich gemacht.

Panja Mücke informiert in ihrem Beitrag über Oper als Aktienunternehmen, ausgehend vom Impresario Swiney, der mit der Abendkasse das Weite suchte. Ähnliches gab es durchaus auch in der Jetztzeit, so bei einem nie stattgefunden habenden Festival in Taormina, zu dem zwar die Sänger, nicht aber der Veranstalter anreisten. Die Verbindung von Opernimpresario und Glücksspielunternehmer kannte man bereits aus Italien, in England kommt noch die Aktiengesellschaft, allerdings selten mit erzielter Dividende, kommen Subventionen durch das Königshaus dazu. Das alles wird in einer auch dem Nichtwissenschaftler zugänglichen Art anschaulich geschildert, ebenso die Versuche, ein zufriedenes Publikum zu gewinne, so durch zweisprachige Libretti, kurze Rezitative und die Verwendung allseits bekannter Stoffe. Damit wären wir schon beim letzten Beitrag, dem von Thomas Seedorf, und dieser befasst sich mit den Libretti , die oft von Reisen mitgebracht werden, teils Originale, teils Bearbeitungen sind, von denen ein Drittel aus Venedig stammt. Mythologie, Antike, Mittelalter, Boccaccio und Ariost sind die Quellen, wie der heutige Händel-Freund leicht anhand der Spielpläne feststellen kann. Dem Festival kann man nur wünschen, dass es so gut gelingt wie dieses aufschlussreiche und Leselust bereitende Buch (Vandenhoeck & Ruprecht Verlage 2022; 115 Seiten;  ISBN 978 3 525 27837 6). Ingrid Wanja    

Geburtstagsgabe für Dänen-König

Mit Musicalisches Schauspiel trägt Reinhard Keisers Singspiel Ulysses, welches das Label Coviello jetzt als Live-Aufnahme auf zwei CDs veröffentlicht hat (COV 92203), eine ungewöhnliche Genrebezeichnung. Das Werk wurde 1722 in Kopenhagen anlässlich des Geburtstages von König Friedrich IV. aufgeführt, der sich darin als Befreier von Schleswig feiern lässt. Keisers Komposition ging 1703 eine von Jean-Féry Rebel voraus, die in Paris jedoch ohne Erfolg blieb, trotz des hohen Aufwandes an Bühnentechnik. Keisers Version für Kopenhagen musste die bescheideneren technischen Verhältnisse des Theaters berücksichtigen. In dieser Fassung fehlen die Götter Juno und Pallas, die es in Paris noch gab, dafür findet sich mit Cephalia und Eurilochus ein zweites Liebespaar und mit dem Diener Arpax eine komische Figur. Keiser gelang in seinem Werk eine reizvolle Kombination von französischem und italienischem Stil – und das auf den deutschen Text von Monsieur de Lesner.

Die Aufnahme gibt die Generalprobe, eine Aufführung sowie Korrekturen im Theater Nienburg vom Oktober 2021 wieder. Es musiziert das Göttinger Barockorchester unter Antonius Adamske. Schon in der pompösen Intrada mit vier Trompeten kann es mit glanzvollem Spiel aufwarten. Der Göttinger Barockchor übernimmt diese Stimmung im jubilierenden Eingangschor „Froher Tag“, kann auch im munteren Chor der Geister gefallen und feiert den glücklichen Ausgang des Geschehens am Ende mit heiteren Gesängen („Singet von Ulysses’ Siegen“/“Bringt glückliche Beyde“). Graziös spielt das Orchester im Ballett der Amouretten auf, während es den Bauerndanß des 3. Aktes zu einem melodischen Reigen formt.

Im Prolog wird der Geburtstag des Königs gefeiert, sogar Jupiter erscheint mit einem Adler vom Himmel. Der Tenor Markus Brutscher singt ihn pointiert und mit lyrischem Ton. Aus dem Meer steigt Neptunus mit seinem Dreizack in Gestalt des Baritons Janno Scheller, der in der Arie „Die Ostsee, der beschäumte Belt“ mit liedhafter Gestaltung aufwartet. Er singt auch den Titelhelden, der den 2. Akt mit zwei Arien eröffnet – „Mit Freuden Thränen“ ist munter und geprägt von Koloraturläufen, „Kann ich dich nur wieder sehen“ gleichfalls lebhaft. Insgesamt fehlt der Stimme persönliches Profil.

Der 1. Akt führt in einen königlichen Garten von Ulysses Palast in Ithaca. Urilas, der seit langem vergeblich um Ulysses Gattin Penelope wirbt, erfleht in seiner Arie „Erhebt euch“ den Untergang von Ulysses Kahn. Der Bassist Jürgen Orelly singt mit energischem Nachdruck, allerdings sehr schwerfällig in den Koloraturen.

Circe will ihm bei diesem Vorhaben behilflich sein. Der Countertenor Gerald Thompson ist eine Entdeckung. Die Stimme schmeichelt, lässt mühelose Koloraturläufe hören und betört später auch in einer Arie der Amourette „Diesen Blumen“. Den 1. Akt beendet ein furioses Duett zwischen Circe und Urilas „Auff, auff zur Rache“, in welchem sich die Stimmen gut verblenden, der Counter aber doch dominiert. Hinreißend trumpft er im Duett mit Ulysses am Ende des  2. Aktes („Erzittre“) auf und auch in der Arie des 3. Aktes („Ich eile die Pfeile der Rache zu wetzen“) vermag er mit einem Koloraturfeuerwerk zu imponieren. Circes Hass gilt Penelope, weil diese ihr Ulysse entzogen hat.

Dann tritt Penelope auf, in Begleitung der vornehmen Ithacierin Cephalia und stets in Gedanken an ihren Gatten. Bogna Bernagiewicz singt sie in der Auftrittsarie „Süßer Ursprung meiner Ruh“ recht schmalstimmig, die nachfolgende Arie mit lieblichen Trillern, virtuosen staccati und melancholischer Einfärbung überzeugt eher. Sie erklingt in zwei Versionen („Nachtigall im Geäst“/„Du angenehme Nachtigall“) und auch in einer italienischen Variante („Usignuol tra rami“) von Giuseppe Maria Orlandini. Von diesem Komponisten gibt es im 3. Akt noch eine dramatisch bewegte Arie („Tu che scorgi“), in der die Interpretin den stärksten Eindruck hinterlässt. Das Accompagnato furioso „Darum zerschmettre mich“ wirkt dagegen unterbelichtet. Die Sopranistin Francisca Prudencio singt die Cephalia beherzt.

Der Schauplatz wechselt zu einem Wald am Meer unweit des Palastes mit dem Tempel der Juno in der Ferne. Ulysses Schiff legt an, in seiner Arie „Mit Freuden Thränen“ gibt der Held seinem Glücksgefühl, wieder an Land zu sein, Ausdruck. Begleitet wird er von Arpax, den der Tenor Goetz Philip Körner solide singt. Vor allem mit zwei Fassungen einer munteren Wein-Arie („Du süsser Saft der Reben“/“Ein Gläßgen Wein“) kann er erfreuen. Im Palast der Circe sehen sich Penelope und Ulysse wieder, aber die Eheleute sind entfremdet, überhäufen sich mit Vorwürfen über die vermeintliche Untreue des Partners.

Zu Beginn des 3. Aktes sieht man Cephalia und Eurilochus (Markus Brutscher hier mit bemühten Koloraturen) in einem Wald nahe Ithaca in Liebe vereint. Davon kündet ihr Duett „Schönster Engel“, in welchem sich die Stimmen glückselig umschlingen. Penelope und Ulysses aber finden sich erst, nachdem Mercurius (Goetz Philip Körner) einen Anschlag der eifersüchtigen Circe auf Penelope vereiteln konnte. Im Duett „Lass dich hertzen“ feiern sie ihr neues Glück. Im Epilogus tritt die Zeit (Jürgen Orelly) mit Sense und Sanduhr auf, erinnert an die Sterblichkeit allen Lebens und huldigt noch einmal König Friedrich. Der Chor fällt mit „Es lebe Friederich“ ein. Bernd Hoppe

US-Importe: Tilzer, Hirsch & Romberg

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Nie gehört. Weder Louis Hirsch noch Albert von Tilzer. Natürlich nicht. Selbst ausgepichte Sammler amerikanischer Musicals stoßen vermutlich nicht jeden Tag auf diese Namen. Ihre Werke gehören zu den verlorenen Musicals und Raritäten, welche die Operetta Foundation, „Dedicated to the preservation of our operetta heritage“, in ihrer Reihe Musicals Lost and Found erstmals wieder in Erinnerung ruft (siehe auch: http://operalounge.de/tag/operetta-foundation), nachdem bereits viele der Musicals von Kern, Porter, Gershwin oder Rodgers in großformatigen Studioaufnahmen vorliegen. Zwar handelt es sich bei Musicals Lost and Found um kleinbesetzte Kammeraufführungen mit Klavierbegleitung, was indes den Rang dieser ungemein verdienstvollen Reihe sowie das Hörvergnügen nicht schmälert, das klingt sogar recht apart nach Kaffeehaus- und Gaststätten-Musik, mit der diese Komponisten als Gelegenheitspianisten ihren Einstieg ins Geschäft fanden, nach Tin Pan Alley-Geklimper.

Beide, Hirsch und von Tilzer, sind im Gegensatz zum bekannten Sigmund Romberg, als Söhne von Einwanderern quasi ureigene amerikanische Gewächse. Albert von Tilzer, natürlich ein Künstlername, wurde als Sohn polnischer Einwanderer 1878 in Indianapolis als Albert Gumm bzw. Gumbinsky geboren und nahm den Namen seiner Mutter, Tilzer, an, dem er noch das aparte meist groß geschriebene „von“ voranschaltete. So verfuhren auch seine vier Brüder, die irgendwie alle in die Song-Fabrik der Tin Pan Alley fanden, wo in den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts die meisten amerikanischen Musikverlage ihren Sitz hatten. Unser von Tilzer, also Albert, zog 1900 nach New York, machte sich einen Namen als Songwriter, dessen Songs in das eine oder Musical Play am Broadway eingestreut wurden, landete seinen größten Hit mit der bis heute aktuellen Football-Hymne Take me out to the Ball Game, bevor in den 20er Jahren einige seiner Musicals am Broadway aufgeführt wurden, so im August 1922 auch The Gingham Girl, mit dessen 322 Aufführung von Tilzer die in dieser Spielzeit laufenden Shows von Gershwin, Kern, Herbert, Friml oder Romberg ausstach. Das Mädchen im Karokleid war offenbar von Tilzers größter Erfolg. Die Show tourte durch die Lande, es gab eine Verfilmung und schließlich 1927 eine Down-under Produktion in Sydney. Zuletzt hatten von Tilzer und sein Textdichter Neville Fleeson mit By, Bye Bonnie noch einen respektablen Erfolg. Dann war von Tilzer war aus der Mode gekommen und zog sich Ende der 20er Jahre von der Bühne zurück. Nachdem er am Abend zuvor in einer Fernseh-Show nochmals seine Musik gehört hatte, starb er 1956 in Los Angeles.

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The Gingham Girl erschien nun als fünfte Folge bei Musicals Lost and Found (OA 1035). Die Story ist so süß, wie sie eben nur sein kann, wenn es darum geht, Mary Thomsons Geschäft mit den Bluebird Cookies auf sichere Beine zu stellen, was mit der Hilfe des großherzigen Biscuit Company-Erben Harrison ein Leichtes sein sollte. Absoluter Gegenpol zur Bäckerin ist ihre Freundin, die kecke, freche, auf der Höhe der Zeit mitswingende Libby O’Day, die sich den Geschäftsmann Jack angelt, auf den sie schon bei seinem ersten Auftritt ein Auge geworfen hat. Mary bekommt den scheuen Country Boy John, der Biscuit-Erbe seine Verlobte Mildred. Fast sechs Seiten benötigt das dünne Booklet, um das zu erzählen; dazu gibt es aber auch noch eine schöne Einführung zu von Tilzer; die Tracklist befindet sich auf der CD-Rückseite. Da auf die Sprechtexte verzichtet wurde, passen sogar noch ein paar Alternativnummern auf die CD. Rasch gewöhnt man sich daran, dass die Musik von zwei Klavieren gespielt wird, denn Adam Aceto, zugleich Musical Director, und Rick Parent spielen mit gewinnendem Ton und flottem Zugriff, dass man spätestens beim Duett der beiden Freudinnen Mary und Libby „The Twinkle in your Eye“, einem der erfolgreichsten Nummern, Gefallen an dem Ton und dem zwischen der Provinz und New York spielenden Geschehen findet. Die Finali beinhalten swingende Tanznummern, die Szenen und Duette haben eine leicht altmodischen, walzerdurchtränkten Kaffeehaus-Stil, sind charmant und einschmeichelnd, vor allem, wenn sie so gekonnt serviert werden wie von den Singschauspielern Ina Woods als Mary und Elyse Willis als Libby und den Herren A. J. Teshin als Jack, Brian Maples als Harrison und Ryan Reithmeier als John. Ein bisschen erinnert mich das an das rund 15 Jahre später in London herausgekommene Me and my Girl von Noel Gay.

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Ein paar Jahre jünger als von Tilzer ist der 1887 in New York geborene Louis Achille Hirsch, der nach Europa ging, am Stern‘schen Konservatorium in Berlin Klavier studierte und 1906 in New York in der Tin Pan Alley als Pianist anfing. Hirsch begann mit Musik für Minstrels, bald wurden einige seiner Songs in Broadway-Show eingelegt, ab 1910 folgten abendfüllende Werke, darunter 1911 Vera Violetta, durch die Al Jolson zum Star wurde. Insgesamt soll Hirsch rund 40 Musicals und Revuen, darunter für die Ziegfeld Follies, verfasst haben, neben Jerome Kern gilt er als die zentrale Triebkraft in der Entwicklung eines amerikanischen Musiktheaters aus den Zwängen der Operetten, des edwardianischen Musicals und der Broadway-Revuen. Intensiv widmete er sich seiner Tätigkeit als Mitbegründer der amerikanischen Komponistenvereinigung ASCAP. My Home Town Girl von 1915 entzückt (OA 1031) durch ungemein gefällige Tunes, liebliche Duette, mal sentimental, mal tanzbeschwingt, und eine sich wie von selbst zwischen Ragtime, Blues und frühem Jazz textbewusst ergebende Musik, die sich sanft in die Ohren schmeichelt und wie ein gesoftetes Abbild von Gershwin anmutet; Hirsch starb ähnlich jung wie dieser, 1924 an Lungenentzündung im Alter von 36 Jahren. Im übersichtlichen Buch von Frank Stammers geht es um die Eskapaden der Freunde Dudley Van Courtland und Tony Darling und eine Ein-Millionen-Erbschaft, die in einer dreifachen Hochzeit endet. Zahlreiche Duette, darunter Dudley und Eleanors „When I found you“ oder Dorothys und Tonys „Love me in the Morning Early“ und „My Home Town“, haben ebenso Ohrwurmqualitäten wie die quicken Ensembles (z.B. „Dance, Dance, Dance“ zu Beginn des zweiten Aktes) und werden von Adam Acetos Team, der zusammen mit Stephanie Assis den Klavierpart spielt, ausgesprochen charmant umgesetzt: Joshua Shaw als Dudley, Jesse Merlin als Tony, Elyse Marchant als Dorothy und Natalie Moran als Eleanor, wobei die Herren etwas günstiger abschneiden als die soubrettig dünnen Frauenstimmen, doch weder von Tilzer noch Hirsch stellen unüberwindbare gesangliche Anforderungen, sondern setzen auf gesangsdarstellerische Prägnanz. Vergnügen bereitet das allemal. Wie im Gingham Girl sind auch hier Bonus Songs angehängt, die fallweise in die Show eingebaut wurden, aber im Vocal Score keinen Niederschlag fanden.

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Auf zwei CDs gibt es Sigmund Rombergs sich über mehreren Generationen von 1881 bis 1933 erstreckende und zwischen Frankreich und New York spielende Musical Romance Melody von 1933 (OA 1036), die Natalie Ballenger die Gelegenheit gibt, Paula de Laurier und deren Großmutter Andrée de Nemours zu spielen, Bryan Vickery ist Andrées Sohn Max de Laurier und …. doch das führt zu weit und ist zu kompliziert und wird wiederum auch auf sechs Seiten im Beiheft geschildert, das zudem wieder den Background schildert und eine detaillierte Tracklist beinhaltet. Wieder fungiert Adam Aceto als Musical Director, sein Ko-Pianist ist Brian O’ Halloran. Es beginnt mit der Hochzeit von Andrée mit dem Vicomte de Laurier, eine Zweckehe, denn Andrée liebt den Komponisten Tristan („Your are the Song“). 25 Jahre später steht Andrées Sohn Max vor seiner Hochzeit mit Ninon, die das Lied entdeckt, das Tristan einst für Andrée schrieb und sich wünscht, dass sie einen Sohn haben werden, der auch so schöne Musik schreibt. 1933 ist François, einst der Notar von Andrées Vater und ihr glühender Bewunderer, Präsident der Universal Radio Corporation in New York. Als er eines Abends wieder Tristan Lied auf einer Klavierwalze hört, beschließt er mit seinem Neffen George nach Paris zu reisen und Andrées Enkel zu suchen. Der Enkel stellt sich als Enkelin, Paula, heraus, die in einem Pariser Café die Gäste mit ihrem Gesang unterhält; ihr „Give Me a Roll on a Drum“ dürfte neben der in mehreren Reprisen aufgegriffenen Schicksals- „Melody“ der Hit der Show gewesen sein. Nach zwei Generationen findet eine Liebesgeschichte ihr Ende. George und Paula heiraten („Tonight May Never Come Again“).

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Der 1887 im westungarischen Nagykanizsa geborene Romberg, eigentlich Rosenberg, war, nachdem er u.a. in Wien bei Heuberger studiert hatte, 1909 nach Amerika ausgewandert, wo er in New York zuerst Erfolge als Caféhaus-Pianist hatte, 1914 als Hauskomponist der Shubert Brothers in die Fußstapfen von Hirsch trat und spätestens ab den 1920er Jahren mit rund 60 Bühnenwerken eine feste Größe am Broadway und in den 30er Jahren vorübergehend als Filmkomponist in Hollywood wurde. Rombergs europäisches Erbe erfüllte nicht nur bei seiner Alt-Heidelberg- Adaption The Student Prince oder der Operette über Franz Schubert The Blossom Time die amerikanische Sehnsucht nach der Alten Welt. In seinem 50. Musical Melody merkt man, dass die Zeit über ihn hinwegzugehen droht bzw. bereits gegangen ist. Der bittersüße Ton und die nostalgischen Farben huldigen einer untergegangenen Welt, der der alte François in seinem New Yorker Appartement in Erinnerung an das Paris des späten 19. Jahrhunderts ebenso nachhängt wie Romberg der Wiener Operette. Romberg schreibt nochmals Märsche, fesche Duette, walzerfeste Wendungen und große Operetten-Ensembles („Good Friends surround Me“ im ersten Akt“), die aber keine wirkliche Faszination mehr ausüben, allenfalls in der Pariser Café-Szene von 1933 findet er einen echten Ton. Natalie Ballenger als Andrée und energische Paula, Stephen Faulk als Komponist Tristan, Bryan Vickery als François und Nathan Brian als sein Großneffe George mit perfekter Mikrophonstimme verkörpern die papieren Vorlagen bestens.  Rolf Fath

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Ebenfalls von Romberg ist die bezaubernde Komödie Mlle. Modiste, die bei der Operetta Foundation (OA 1020) auf DVD als Mitschnitt einer hübschen, sehr konservativen Produktion der rührigen Ohio Light Opera von 2010 herausgekommen ist. Die Bilder muten eine frühe Hello Dolly an, der Cast wird von Sara Ann Mitchell als Fifi angeführt, dazu kommen mit munterem Spiel und hübschen Stimmen Julie Wright, Todd Strange, Boyd Machus, Dennis Jesse und eine motivierte Truppe unter der musikalischen Leitung von Michael Borowitz und in  der Regie von Steven Daigle. Empfehlenswert für Fans von Romberg (wie ich) und nicht nur die. G. H.

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Europäisches Barock

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Dieterich Buxtehude (1637–1707) war vom 11. April 1668 bis zu seinem Tod als Organist an St. Marien in Lübeck angestellt. Der damals 20-jährige Johann Sebastian Bach (1685–1750) schätzte Buxtehude so sehr, dass er 1705 die mehr als 465 Kilometer von Arnstadt nach Lübeck zu Fuß auf sich nahm, um den alternden Organisten spielen zu sehen und vermutlich mit ihn zu studieren.

Dort schrieb Buxtehude mehrere Werke, darunter Membra Jesu nostri patientis sanctissima („Die allerheiligsten Gliedmaßen unseres leidenden Jesus“) BuxWV75 (1680), ein Zyklus von sieben Passions-Kantaten, dass die betreffende Aufnahme von Luthers Bach Ensemble unter der Leitung von Tymen Jan Bronda enthält. Die im März 2021 entstandene Einspielung in der lutherischen Kirche in Groningen (Niederlande) ist die jüngste in einer Reihe von Aufführungen, unter anderem von John Eliot Gardiner (Archiv Produktion 447 298-2) und Ton Koopman (Erato 2292-45295-2).

Der Zyklus besteht aus sieben einzelnen Kantaten, die in aufsteigender Reihenfolge einer Körperpartie des Gekreuzigten gewidmet sind: 1. Ad pedes (An die Füße), 2. Ad genua (An die Knie), 3. Ad manus (An die Hände), 4. Ad latus (An die Seite), 5. Ad pectus (An die Brust), 6. Ad cor (An das Herz) und 7. Ad faciem (An das Gesicht). Dieses Werk gilt als das erste lutherische Oratorium und war ein Vorbild für Bach, insbesondere der siebte Teil (Salve caput cruentatum), den Paul Gerhardt (1607–1676) schon als Grundlage für das Kirchenlied O Haupt voll Blut und Wunden (1656) verwendete, das später von Bach in der Matthäus-Passion BWV 244 (1727) bearbeitet wurde. Allerdings stammt die Melodie, die Gerhardt und anschließen Bach verwendet haben, von Mein G’müt ist mir verwirret, das macht ein Jungfrau zart, einen Liebeslied komponiert von Hans Leo Haßler (1564-1612).

In dieser Aufnahme wurden die fünf Gesangsstimmen von die Solisten Kristen Witmer (Sopran I), Lucia Caihuela (Sopran II), Jan Kullmann (Alt), William Knight (Tenor) und Matthew Baker (Bass) übernommen. Das Barockorchester besteht aus neun Musikern, einschließlich des Basso continuo.

Von der Aufführung her ist dies eine sichere Empfehlung für Hörer, die sich mit dieser höchst einflussreichen Komposition des frühen norddeutschen Barocks vertraut machen wollen. Das Begleitheft enthält eine hochwertige Reproduktion eines Gemäldes von Giovanni Bellini, Der tote Christus, von zwei Engeln gestützt (1470–1475). Leider sind die gesungenen Texte nicht im Heft enthalten; stattdessen gibt es eine „persönliche Notiz“ und eine sehr kurze Einführung in das Werk durch den Dirigenten auf Englisch und Niederländisch, sowie biografische Skizzen auf Englisch und Farbfotos von einigen der Mitwerkenden. Hätte man die Bilder und Biografien der Interpreten weggelassen, wäre genug Platz für die lateinischen Gesangstexte und zumindest deren englische Übersetzungen geblieben. Dann wäre es ein hochwertiges Produkt auf dem Niveau der großen Plattenfirmen gewesen (Dieterich Buxtehude, Membra Jesu nostri mit Kristen Witmer, Lucia Caihuela, Jan Kullmann, William Knight, Matthew Baker, Luthers Bach Ensemble, Tymen Jan Bronda; Brilliant Classics 96592.).

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Osterkantaten des „zweite Wahl“ Thomaskantors: 1723 wollte der Magistrat der Stadt Leipzig Georg Philipp Telemann (1681-1767), den Kantor und Musikdirektor in Hamburg, als Thomaskantor anstellen. Er lehnte das Angebot ab, weil sein Arbeitgeber ihn behalten wollte. Die zweite Wahl war Christoph Graupner (1683-1760), ein ehemaliger Thomaner und Studenten der Universität Leipzig. Wegen Arbeitsverpflichtungen als Hofkapellmeister in Darmstadt musste er auch die Stelle als Thomaskantor absagen. Der Leipziger Ratsherrn Abraham Christoph Platz sagte dazu: „Da man nun die Besten nicht bekommen könne, so müsse man mittlere nehmen“. Johann Sebastian Bach (1685-1750) war nur die dritte Wahl für die Stelle, die er bis Ende seines Lebens besetzte.

Der Knabenchor Capella vocalis und Pulchra musica (aus dem Lateinischen: „Schöne Musik”) mit den Solisten Sebastian Hübner (Tenor), Johannes Hill (Bass) und Jan Manuel Jerlitschka (Countertenor) unter der Leitung von Christian Bonath bietet vier zwischen 1719 und 1743 entstandene Passions- und Osterkantaten in einer Weltpremiere Aufnahme an. Als Komponist von über 1400 Kantaten war Graupner viel produktiver als Bach, aber Aufnahmen von ihnen sind selten.

Alle vier Kantaten auf der vorliegenden zirka 57-minütigen CD bestehen aus jeweils sieben Sätzen und sind Vertonungen von Texten aus der Feder seines Schwagers, des Darmstädter Dichters Johann Conrad Lichtenberg (1689-1751). Trotz der Zeitspanne von 24 Jahren gibt es eine bemerkenswerte Übereinstimmung zwischen den hier vorgestellten geistlichen Kantaten. Diese prägnanten Werke folgen einem ähnlichen kompositorischen Muster, so dass sie leicht zu verstehen und angenehm zu hören sind. Im Gegensatz zu den heute viel bekannteren Kirchenkantaten Bachs enthalten Graupners Werke keine langen Instrumentalpassagen oder komplizierten Gesangslinien.

Die Kantate zum Gründonnerstag „Die Frucht des Gerechten“ (GWV 1126/33) aus dem Jahre 1733 enthält drei Rezitative, zwei Arien (eine für Alt und eine für Bass) und zwei Chöre. Die 1725 entstandene Kantate zum Karfreitag „Eröffnet euch ihr Augenquellen“ (GWV 1127/25) hat drei Chöre, drei Accompagnati und eine Bass-Arie. „Der Sieg ist da“ eine Kantate zum 1. Ostertag (GWV 1128/43) vom 1743 besteht aus zwei Chören, drei Rezitativen und einer Arie für Tenor sowie einer für Bass. Die Kantate zum 2. Ostertag „Ihr werdet traurig sein“ (GWV 1129/19) ist das älteste Werk auf dieser Platte; es wurde 1719 komponiert. Es umfasst zwei Chöre, ein Duett, zwei Rezitative, eine Bass-Arie und ein Accompagnato für Tenor.

Die Solisten, der Chor und das Orchester agieren durchweg mit Leidenschaft, Engagement und Liebe zum Detail. Diese CD ist ein überzeugendes Argument dafür, diesen unterschätzten Zeitgenossen Bachs kennenzulernen. Obwohl Graupner künstlerisch nicht als ebenbürtig mit Bach gilt, war er Teil der musikalischen Landschaft, in der, der Thomaskantor wirkte. Für unser Verständnis von Bach ist es von großem Wert, nicht nur Telemann und Georg Friedrich Händel (1685-1759) zu kennen, sondern auch Graupner, der zu seinen Lebzeiten bekannter war als Bach und von einigen Zeitgenossen als der größere Komponist angesehen wurde (Christoph Graupner, Osterkantaten, Sebastian Hübner, Johannes Hill, Jan Jerlitschka, Capella vocalis, Pulchra musica, Christian Bonath; Capriccio C5411).

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.Die Viola d’amore war das Lieblingsinstrument von Attilio Ariosti (1666-1729), einen in Bologna geborenen Komponisten, der in der Saison 1716/17 in London zu einem ernsthaften Konkurrenten Georg Friedrich Händels (1685-1759) wurde. Ariosti war vor allem als Opernkomponist bekannt; bevor er nach London zog, hatte er mit seiner ersten Oper in Venedig Tirsi (1696) und anschließend als Hofkomponist am Hof Sophie Charlottes in Lietzenburg bei Berlin (1697-1703) Erfolge. Zu seinen Freunden und Förderern am Hof gehörte der Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716), der sich für Ariostis Verbleib am Hof aussprach, gegen die Abberufung nach Bologna durch die heiligen Väter, die es nicht dulden konnten, dass Ariosti im Dienste der protestantischen Kurfürstin von Brandenburg stand.

1724 veröffentlichte Ariosti „Sechs Lektionen für Viola d’amore und Continuo“ im Rahmen der Sammlung von Kantaten und Lektionen für die Viola d’amore in London. So steht es im Vorwort für den Leser, „Für Sie allein, Abonnenten und Dilettanten der Musik und der Violine, sollen die folgenden Stimmungen Sie auf das Üben der Viola d’amore vorbereiten, nach der von mir entwickelten Methode, die Sie kennenlernen wollten.(…. ) Da es notwendig ist, zuerst einige Übung in diesen Stimmungen zu bekommen, bevor man diese (= die Viola d’amore) in die Hand nimmt, habe ich sie deutlich auf der Geige dargestellt, was Ihnen helfen wird, sich sicher zurechtzufinden.(….) Sie werden dann verstehen, warum es eine Notwendigkeit (und nicht eine Laune) war, Sie über die Geige einzuführen und auf ihr zu üben, ohne die Sie nicht in der Lage wären, ohne beträchtliche Schwierigkeiten erfolgreich zu sein“.

Die vorliegende Aufnahme vom Oktober 2017 präsentiert alle sechs Lektionen und eine Kantate für Solo-Sopran Pur alfin gentil viola aus der Sammlung. Mauro Righini spielt die Viola d’amore; Ugo Nastrucci (Theorbe) und Danilo Costantini (Orgel und Cembalo) begleiten ihn. Elena Bertuzzi singt das Sopransolo in der Kantate mit der richtigen vorgetäuschten Emotion für einen Text, der das Vergnügen an der Viola d’amore als Instrument feiert.

Diese Platte ist empfehlenswert, weil sie eine selten gespielte Sammlung für ein Streichinstrument präsentiert, das aus dem allgemeinen Gebrauch gefallen ist. Die Klangqualität ist klar und präsent, so dass jedes Instrument in einer Studioakustik deutlich zu hören ist, die der Musik genügend Raum zum Atmen gibt, ohne dass ein aufdringlicher Nachhall entsteht. Das Begleitheft enthält zwei informative einführende Aufsätze, einen auf Englisch und einen auf Italienisch, sowie biografische Skizzen der Musiker ausschließlich in englischer Sprache. Der gesungene Text der Kantate ist jedoch nicht enthalten.

Ariosti war wohl der führende Vertreter der Viola d’amore; nur sein jüngerer Zeitgenosse Christoph Graupner (1683-1760) komponierte eine vergleichbare Anzahl von Werken für dieses Instrument. Diese Einspielung von Ariostis Sammlung bereichert unser Verständnis von Kammermusik mit der Viola d’amore im frühen 18. Jahrhundert und ist daher für Gelehrte und Kenner der Barockmusik von Bedeutung (Attilio Ariosti, Sechs Lektionen für Viola d’amore und Continuo mit Mauro Righini, Ugo Nastrucci, Danilo Costantini, Elena Bertuzzi; Brilliant Classics 95620).

Neue Einspielungen von Komponisten der Renaissance, deren Werke wahrscheinlich nicht über ihre Lebenszeit hinaus aufgeführt wurde, veranlassen uns zu der Frage, wie sich die Musik vielleicht anders entwickelt hätte, wenn es eine kontinuierliche Aufführungstradition und damit einen Einfluss auf die nachfolgenden Generationen gegeben hätte. Giovanni Pierluigi da Palestrina (ca. 1525-1594) und Gregorio Allegri (1582-1652), zwei italienische Zeitgenossen der spanischen Komponisten Bernardino de Ribera (ca. 1520-ca. 1580), Juan Navarro (ca. 1530-1580), Sebastián de Vivanco (ca. 1551-1622) und Tomás Luis de Victoria (ca. 1548 – 1611), die auf der vorliegenden Aufnahme zu hören sind, haben die Entwicklung dessen beeinflusst, was wir gemeinhin „klassische Musik“ nennen.

Ein provokantes Gedankenexperiment ist, wie berühmte Musik von Wolfgang Amadeus Mozart geklungen hätte, wenn er sowohl mit spanische als auch italienische Renaissancekompositionen vertraut gewesen wäre. Er kannte einige Werke der italienischen Renaissance, z.B. das Miserere von Allegri, das er im April 1770, während eines Gottesdienstes in der Sixtinischen Kapelle hörte und später aus dem Gedächtnis schrieb.

Wie hätte sich Mozarts Musik entwickeln können, wenn der 14jährige auch de Ribera Navarro und andere gehört hätte? Diese Frage kann nicht beantwortet werden, aber sie macht uns bewusst, wie Aufführungstraditionen, die Musik zugänglich machen, die Musik beeinflussen, die wir schätzen. Der Zugang zu verschiedenen Renaissance-Kompositionen könnte zu einem anderen Wiener Klassizismus und damit zu einer anderen Romantik geführt haben usw.

Die vorliegende Platte bietet mehrere Weltersteinspielungen von Werken, die José Duce Chenoll, der muskalische Leiter, durch Archivrecherchen gefunden hat. Chenoll argumentiert in der Begleitbroschüre überzeugend, dass die Kenntnis dieser weniger bekannten Komponisten für das Verständnis des renommierten de Victoria unerlässlich ist, zumal de Ribera und Navarro seine Lehrer an der Kathedrale von Ávila waren. Mit dem Vokalensemble Amystis und der Instrumentalgruppe Ministriles de la Reyna bietet Chenoll die Möglichkeit, die Klangwelt eines bisher wenig erforschten Musikgenres zu erkunden.

Die Aufnahmequalität ist hervorragend, da sie das Gefühl einfängt, mit den Musikern in einer Kathedrale zu sein, wo diese Musik aufgeführt werden sollte. Die Aufnahme entstand im September 2021 in der Kirche von Santa Maria, Requena, Valencia. Das Beiheft enthält eine wissenschaftliche Einführung in die Musikwerke von Chenoll in englischer und spanischer Sprache, sowie biographische Skizzen und Farbfotos der Musiker. Die lateinischen Gesangstexte sind leider nicht enthalten; die Texte zu diesen Stücken hätten anstelle von Bildern und Biografien in das Booklet aufgenommen werden können, ohne dessen Umfang zu vergrößern (Bernardino de Ribera, Juan Navarro, Sebastián de Vivanco und Tomás Luis de Victoria, Meister der spanischen Renaissance mit Amystis, Ministriles de la Reyna, José Duce Chenoll; Brilliant Classics 96409). Daniel Floyd

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„Fernand Cortez“ zum 2. & 3.

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Anderorts wären diese Raritäten Anlass für ein Festival der französischen Oper. Zum Beispiel in Paris, wo der Palazzetto Bru Zane im Juni mit Francks Hulda und Saint-Saëns opéra comique Phryné sein neuntes Festival ausrichtet. An der Oper Dortmund ergibt es sich ganz zwanglos, dass an einem Wochenende zwei Opern mit komplizierter Werkgeschichte aufeinanderfolgen: die deutsche Erstaufführung von Ernest Guirauds fünfaktigem Drame lyrique Frédégonde (dazu an anderm Ort mehr) und Spontinis Fernand Cortez (in der sog. „Berliner Fassung“). Zweifellos eine Großtat. Zu verdanken der Phantasie und Initiative des Dortmunder Opernintendanten Heribert Germeshausen, der den kommenden Konwitschny-Ring mit derlei Raritäten schmückt. Dazu soll bald auch La Montagne noire, das 1895 an der Pariser Opéra uraufgeführte Hauptwerk der César Franck-Schülerin Augusta Holmès gehören.

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Friedrich Schinkel: Entwurf zu der Spontini-Oper „Fernand Cortez“, Potsdam 1828;  Kupferstichkabinett, Staatliche Museen zu Berlin /[CC BY-NC-SA] )

Dazu ein Wort zur „Berliner Fassung“ von Klaus Pietschmann: Die Idee zur Komposition der Oper Fernand Cortez verdankt sich einem Kompositionsauftrag, den Kaiser Napoleon I. nach der erfolgreichen Uraufführung von Gaspare Spontinis La Vestale (1807) mit der Intention erteilte, seinen Spanienfeldzug durch ein Propagandastück vorzubereiten. Das Libretto von Victor-Joseph Etienne de Jouy basiert auf verschiedenen historiographischen und dramatischen Vorlagen und hat die Eroberung der Hauptstadt des Aztekenreiches Tenochtitlan durch den spanischen Feldherrn Hernan Cortez zum Gegenstand. Das in Paris verwahrte Autograph lässt erkennen, dass Spontini zunächst eine Urfassung des Librettos vertonte. Kurz vor Probenbeginn wurde jedoch durch den Innenminister eine Umarbeitung des Textes gefordert und unter Mitwirkung von Joseph-Alphonse d’Esménard durchgeführt, die insbesondere die ursprünglich vorgesehene Figur des Montezuma eliminierte.

In dieser ersten Fassung gelangte die Oper am 28. November 1809 zur Uraufführung. Die insgesamt ausgewogene Perspektive dieser Fassung, die die Glorifizierung der Eroberung und den teilnehmenden Blick auf die Situation der Eroberten gleichermaßen beinhaltet, hatte zur Folge, dass die gewünschte Propagandawirkung verfehlt wurde. Gleichwohl sorgte die prominent besetzte, durch spektakuläre Bühneneffekte angereicherte Produktion für gewisses Aufsehen und zog weitere Produktionen an europäischen Bühnen nach sich. Die von Spontini sorgfältig betreute, der Kaiserin gewidmete Drucklegung der Partitur erfolgte bei Imbault vermutlich knapp zwei Jahre nach der Uraufführung. Dass Fernand Cortez bereits in dieser ersten Fassung einen Ausnahmecharakter innerhalb der Opernproduktion der Zeit einnahm, bestätigte erst 2019 die erste moderne Wiederaufführung dieser Fassung in Florenz.

Nach dem Sturz Napoleons nahm Spontini eine grundlegende Umarbeitung der Partitur vor, die am 28. Mai 1817 ihre höchst erfolgreiche Uraufführung erlebte. Neben Umstellungen und Ergänzungen, die etwa den Austausch des ersten und zweiten Aktes betreffen, ist diese zweite Fassung vor allem durch (Wieder-)Einführung der Figur des Aztekenkaisers Montezuma gekennzeichnet, deren Fehlen in der ersten Fassung beanstandet worden war.  In dieser zweiten Fassung, deren Drucklegung bei Erard Ende 1817 oder Anfang 1818 abgeschlossen war, hielt sich die Oper bis 1844 auf dem Spielplan der Opéra und wurde zu einem international vielfach nachgespielten Erfolgsstück. Ihre Berliner Erstaufführung 1818 erfolgte bereits im zeitlichen Zusammenhang mit den Vertragsverhandlungen des preußischen Hofes mit Spontini, die im selben Jahr zu seiner Bestallung als Generalmusikdirektor führten.

Friedrich Schinkel: Entwurf zu der Spontini-Oper „Fernand Cortez“,  Kupferstichkabinett, Staatliche Museen zu Berlin / [CC BY-NC-SA] )

Für die in Dortmund gespielte dritte Fassung nahm Spontini in Berlin eine weitere Umarbeitung vor, die insbesondere die Einschaltung eines „Denouement“, d.h. einer Szenenfolge zur Konfliktlösung, im dritten Akt betraf und 1824 in der Übersetzung von Johann Christoph May zur Erstaufführung gelangte. Diese Fassung wurde anscheinend nur in Darmstadt nachgespielt, allerdings lässt der 1825 erschienene Klavierauszug mit sorgfältig unterlegtem deutschem und französischem Text erkennen, dass Spontini diese Fassung auch für französische Bühnen als die nunmehr gültige ansah – trotzdem kommt es erst jetzt in Dortmund zu einer ersten Produktion. Eine vierte Fassung, die 1832 als solche angekündigt in Berlin und ein Jahr später auch in Dresden aufgeführt wurde, umfasste insbesondere die Einfügung einer Apotheose des Christentums am Schluss.

Fernand Cortez stellt damit diejenige Oper Spontinis dar, deren Bearbeitung ihn am längsten beschäftigte: Mit Unterbrechungen arbeitete er insgesamt 24 Jahre an der Partitur. Insbesondere die dritte und vierte Fassung dokumentieren dabei das Ringen um eine befriedigende Schlusslösung und erscheinen zugleich symptomatisch für die künstlerische Spätphase des Komponisten, die von erlahmender künstlerischer Inspiration und zugleich einem ins Extrem gesteigerten Perfektionismus geprägt war.

Dass in Dortmund erstmals die dritte Fassung in französischer Sprache aufgeführt werden kann, wäre vor einigen Jahren nicht möglich gewesen. Nach bisherigem Kenntnisstand war ihre musikalische Gestalt lediglich durch den von Spontini approbierten Klavierauszug dokumentiert, der 1825 in Leipzig bei Hofmeister erschienen ist. Aufgrund neuer Quellenfunde kann die 3. Fassung inzwischen als umfänglich dokumentiert gelten. So fand sich die als verschollen geltende Berliner Dirigierpartitur in den Beständen der Berliner Staatsbibliothek wieder. Allerdings weist sie erhebliche Bearbeitungsspuren auf, die zu einem Großteil auch die spätere 4. Fassung betreffen. Eine klare Unterscheidung der beiden Fassungen ist aufgrund dieser Quelle nicht immer möglich. Interessant ist in dieser Partitur die Unterlegung des deutschen Textes in lateinischer Current-Schrift – sicherlich handelt es sich bei dabei um ein Entgegenkommen an Spontini, der sich zeit seines Lebens schwer tat, die deutsche Schrift zu lesen.

„Atahualpa“: Schinkels Bühnenbild zu Spontinis „Fernand Cortez“ in berlin/ Wiki

Spontinis eifrigem Bemühen um engen Austausch mit dem europäischen Hochadel ist es zu verdanken, dass sich weitere Quellen zur 3. Fassung in Stockholm und Darmstadt finden ließen – beides Städte, in denen nach 1824 Neuproduktionen des Cortez angesetzt wurden.  Nach Stockholm sandte Spontini eine Teilabschrift, die die neu bearbeiteten Teile des 3. Akts umfasst und vom selben Kopisten stammt wie die Berliner Dirigierpartitur. Etwas irreführend ist die autographe Aufschrift „composé pour le théatre royal de Suède par moi Spontini 1824“: wohl eine Schmeichelei, denn zweifellos war die Überarbeitung primär in Erfüllung seiner Dienstpflichten als preußischer Generalmusikdirektor entstanden. Der Stockholmer Librettodruck von 1826 zeigt allerdings, dass letztlich doch die 2. Fassung in schwedischer Übersetzung gespielt wurde. Folglich weist die aus Berlin übersandte Teilabschrift keine Bearbeitungsspuren auf und dürfte folglich Spontinis ursprüngliche Konzeption der 3. Fassung exakt wiedergeben. Da auch der Klavierauszug abgesehen von wenigen kurzen Kürzungen exakt mit der Stockholmer Abschrift übereinstimmt, bietet sich für den Herausgeber eine ungewöhnlich komfortable Situation.

Tatsächlich gespielt wurde die 3. Fassung 1825 in Darmstadt, allerdings wurden die Aufführungsmaterialien im 2. Weltlkrieg zerstört. Jedoch hat sich im Hessischen Staatsarchiv Darmstadt ein handschriftlicher Entwurf zu dem „Nouveau denouement“ des 3. Akts mit autographen Zusätzen erhalten. Aus dem Begleitschreiben geht hervor, dass es Spontinis Anliegen war, dem Hof die neue Fassung zur Kenntnis zu bringen und sie nachfolgend auch in Frankreich zu verbreiten:

Spontini: „Fernand Cortez“ – der Komponist Gaspare Spontini/ Wikipedia

„In Respektierung der Gewohnheiten des Großherzogs wage ich es nicht, ihm die Musik des neuen Denouements des Cortez direkt zukommen zu lassen, aber ich bitte Sie, Herr Baron, ihm die beigefügten französischen und deutschen Texte zu übermitteln. […] Für Frankreich, wenn man es dort eines Tages übernehmen möchte, werden Jouy oder andere meine Verse leicht korrigieren können, für die ich keinerlei Stolz hege.“

Bereits in den Reaktionen auf die Premiere der zweiten Fassung in Paris war der allzu abrupte, als missglückt empfundene Schluss der Oper kritisiert worden, der in den kuriosen Worten des Cortez gipfelt: «Montézuma, pardonne-moi ma gloire; C’est ta seule amitié que je veux conquérir». Gegenüber König Friedrich Wilhelm III. behauptete der für seine Eitelkeit bekannte Spontini zwar, dass insbesondere das entfallene Schlussballett die Änderung nötig gemacht habe, aber es besteht kein Zweifel, dass ein dramaturgischer Patzer der zweiten Fassung behoben werden sollte, den ein Berliner Rezensent so beschrieb: „Weshalb Amazily, statt sich wie sonst für den gefangenen Bruder ihres Geliebten in die Hände des wüthenden Oberpriesters zu liefern, nun dem Cortez wie eine Brieftaube voranflog, um dem Montézuma zu melden, daß der spanische General im Anmarsch und guten Humors sei – über diesen unbegreiflichen Fehler in der zweiten Gestaltung wissen wir keine Rechenschaft zu geben. Ein so matter Schluss konnte auch der Musik nicht günstig sein.“

Betrachtet man Spontinis Überarbeitung genauer und vergleicht sie mit der 1. Fassung, so zeigt sich, dass er eine für ihn typische modulare Bearbeitungstechnik wählte. In den allermeisten Fällen wird das Dénouement aus existierenden Abschnitten zusammenmontiert, wobei Spontini lediglich die Arie Oberpriesters zu einem Duett mit Amazily erweiterte und einige Übergänge neu komponierte, so dass die maliziöse Bemerkung eines Rezensenten nicht ganz von der Hand zu weisen ist: «In diesem umgearbeiteten Akt des Cortez ist Alles neu, nur die Musik nicht.» Dennoch nicht zu unterschätzen ist der Zugewinn an dramaturgischer Stringenz gegenüber der zweiten Fassung – um den Preis allerdings einer deutlichen Ausdehnung dieses Bildes, das sich damit den Dimensionen der ersten Fassung annäherte, wo sich seine Handlungselemente innerhalb des gesamten dritten Akts entfalten konnten. Um diese Längen zu kompensieren, setzte Spontini auf spektakuläre Bühneneffekte wie insbesondere die Sprengung der Tempelrückwand und den Ausblick auf das brennende Mexiko.

Einem Brief Spontini an den Kronprinzen zur 4. Fassung von 1832 ist eine interessante zusätzliche Erklärung für die neue Schlussgestaltung zu entnehmen: „Den Brand der Stadt Mexiko, den ich in Berlin seinerzeit eingefügt habe, um dem großmütigen preußischen Thronfolger die sublime Heldentat des Brandes von Moskau in Erinnerung zu bringen, habe ich, da er nicht die Zustimmung des Königs fand, im 3. Akt gestrichen.“ Der Brand Moskaus hatte auf die Zeitgenossen großen Eindruck gemacht und war als militärischer Erfolg Preußens propagiert worden, obwohl es sich offenkundig um einen Sabotageakt gehandelt hatte. Im Zuge der politischen Annäherung Friedrich Wilhelms III. an Russland wurde dieser Bezug allerdings problematisch und ist wohl deshalb vom König beanstandet worden.

Der Autor: Klaus Pietschmann/Foto Musikwissenschaft Uni Mainz

Die Oper sollte Spontini noch etliche weitere Jahre beschäftigen und erst mit der 4. Fassung zu einem Abschluss gelangen. Die Arbeit an Fernand Cortez erscheint damit in einer nicht nur chronologischen Nähe zu Agnes von Hohenstaufen, die ebenfalls das Ergebnis eines langwierigen, im Dezember 1826 mit der Auswahl des Librettos einsetzenden und 1837 mit der Uraufführung der dritten Fassung endenden Prozesses war. Symptomatisch erscheint dabei, dass Spontini selbst gerade diese aus mühevollen Kraftakten hervorgegangenen Werke für seine besten hielt: Während er Richard Wagner gegenüber Agnes von Hohenstaufen als sein Meisterwerk bezeichnete, versuchte er 1840 auf gerichtlichem Wege durchzusetzen, dass die Pariser Opéra für die Wiederaufnahme des Fernand Cortez auf den überarbeiteten dritten Akt zurückgreifen und diesen neu in Szene setzen sollte. Aufschlussreich ist der Gerichtsprozess, dessen Umstände zu den spektakulären Theaterskandalen im Paris des 19. Jahrhunderts zählen, auch hinsichtlich Spontinis eigener Beurteilung der beiden Berliner Fassungen. Während nämlich in Berlin und Dresden (sowie später auch in Prag, Mainz, Rostock und New York, wohin das Dresdner Material verliehen wurde) die vierte Fassung ohne erkennbaren Widerspruch des Komponisten weitergespielt wurde, war es in Paris die dritte, deren Einstudierung er noch 1840 durchsetzen wollte. Somit ist in Dortmund zu erleben, was Spontini einst dem Pariser Publikum zugedacht hatte. Klaus Pietschmann

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Und nun Rolf Fath zur Aufführung in Dortmund: Auf Anhieb fasziniert ist man von Fernand Cortez und Spontinis perfekt auskalkulierter Dramaturgie, mit der er Chor und Solisten, Handlung und Zustandsbeschreibung im ersten Akt in einen großen Block fasst: Das Terzett der drei in mexikanischer Gefangenschaft befindlichen Spanier, das durch Sungho Kim als Alvar geadelt wird, die Einwürfe des Rache fordernden Oberpriesters der Mexikaner, die Szenen der zu ihrem Volk zurückgekehrten Amazily, ihr Duett mit dem Bruder Télasco und das Erscheinen Montezumas. Das ist packend, hat Verve und ist großartig strukturiert und wurde von Motonori Kobayashi, trotz seines kurzfristen Einspringens, bezwingend umgesetzt.

Spontinis „Fernand Cortez“ in Dortmund/ Szene/ Foto wie oben Björn Hickmann

Im Gegensatz zur Frédégonde war der von Napoleon beauftragte Fernand Cortez ou L‘ Conquête de Mexique ein ausgesprochener Renner, dessen Erfolg sich nach dem bescheidenen Erfolg der Pariser Uraufführung von 1809 mit jeder Revitalisierung, der Spontini seine Opéra unterzog, steigerte: in einer zweiten Fassung 1819 in Paris, zum dritten Mal 1824 in Berlin vier Jahre nach seinem Amtsantritt als preußischer Generalmusikdirektor sowie in einer vierten und letzten Fassung 1832 abermals in Berlin. Dortmund kündigte Fernand Cortez oder Die Eroberung von Mexiko als „Erstaufführung der 3. Fassung in französischer Sprache“ an, – die Berliner Fassung erklang an der Berliner Hofoper in der deutschen Übersetzung von Johann Christoph May und wurde nun (leider) in Dortmund in Französisch gesungen – was den vor dem Dickicht der Fassungen zurückschreckenden Besucher nicht über Gebühr belasten soll.

Wie bereits im Artikel zur modernen Erstaufführung des Werkes in Florenz 2020 (auf DVD und CD bei Dynamic) ausgiebig dargelegt war Spontini der Stratege der tableaux vivants, großformatiger Festaufzüge, gestützt von einem Klanggepräge, dessen raumgreifende Dramaturgie Einfluss auf andere Komponisten bis hin zu Wagner hatte. In diesem Zusammenhang wird oft der Maometto Rossinis, der den italienischen Fernando Cortez 1820 In Neapel gab, genannt, wie man denn überhaupt hinter der Folie aus spanischen-mexikanischen Lagern und der chorisch-solistisch verzahnten Rhetorik immer wieder Rossinis serias zu hören meint.

Die Oper ist kurz. Gerademal etwas über zwei Stunden. (..) Die eigentliche Hauptfigur ist hier iun Dortmund nicht Cortez, der nur eine große Szene und Arie am Ende des zweiten Aktes hat, die Mirko Roschkowski, der ein Cortez von gemütlicher Ausstrahlung ist, mit der richtigen Stimme und Farbe für diese Partie gibt. Die angesagte Indisposition zwang ihn im dritten Akt zu gesanglichen Ausflüchten. Die eigentliche Hauptfigur ist die mexikanische Prinzessin. Regisseurin Eva-Maria Höchmayr streicht den auch auf dem Zwischenvorhang den Namen Cortez durch, ersetzt ihn zuerst durch Amazily und schließlich durch deren historische Entsprechung Malinche, die Cortez als Übersetzerin und Sprachrohr diente, seine Geliebte und Mutter eines gemeinsamen Sohnes wurde. Malinches bzw. Amazilys Sprachbegabung wird verdeutlicht, indem französische Ausdrücke durch spanische und mexikanische Übersetzungen überschrieben werden. In Ralph Zegers Goldkammer ist Amazily allgegenwärtig, mit weiß gekalktem Gesicht immer eine Außenseiterin, die sich verwandelt, je nachdem ob sie bei den Spaniern oder ihrem eigenen weilt, wo sie, wie Montezuma und Télasco, das prächtige Federdiadem trägt (Kostüme: Miriam Grimm), dabei leidensfähig und bereit, sich für ihr Volk das Herz aus dem Leib zu reißen. Der Französin Melody Louledjian mag für die großen Ensemble die sieghafte Stimme fehlen, doch ihr farbiger Sopran trägt ausgezeichnet, sie versteht es mit perfekter Diktion und gesanglicher Gestik die Figur zu vermitteln und ihrer Arie im zweiten Akt die nötige Dramatik einzuhauchen. Mandla Mndebele singt den friedliebenden Montezuma mit breitem Ebenmaß, Danis Velev ist ein ausgesprochen eleganter Oberpriester, James Lees Télasco bleibt etwas verwaschen. In weiteren Partien traten auf: Moralès/Morgan Moody,  Prisonniers: Jorge Carlo Moreno und Ian Sidden, 1er officier espagnol: Błażej Grek, 2ème officier espagnol: Carl Kaiser, Un marin espagnol: Jaeyoun Kim.

Spontinis „Fernand Cortez“ in Dortmund/ Szene/ Foto Björn Hickmann

Höchmayr zeigt eine entgrenzte Situation, in der die feine Abendgesellschaft ihre Anzüge und Kostüme verliert, sich in Unterwäsche und mit blutigen Händen durch die spanisch-mexikanischen Konfrontationen quält, Cortez als einziger mit historischer Halskrause im Glaskasten sitzt, Kreuze geschleppt werden und Eroberer aller Länder und Epochen auftauchen, wenn die Spanier vom Sieg träumen, was der auch diesem Abend reduzierte Dortmunder Opernchor recht gut vermittelte (08. 05. 2022/ Fotos folgen).  Rolf Fath

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(Beitrag aus dem Programmheft zur Aufführung an der Oper Dortmund im Juni 2022, mit sehr freundlicher Genehmigung des Autors; Klaus Pietschmann ist Professor an der Uni Mainz im Fachbereich Musikwissenschaft: Foto oben: Spontinis „Fernand Cortez“ in Dortmund/ Szene/ Foto Björn Hickmann)

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Andree Esposito

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Kaum eine andere Sängerin im französischen Bereich hat mich so enthusiasmiert wie  Andrée Esposito. Sie hat so etwas in ihrer Stimme mit dem flirrenden Timbre, der energischen Höhe, der Sinnlichkeit im mittleren Bereich, das sie für mich un-austauschbar macht, sofort wieder erkennen lässt, etwas so Hochindividuelles, wie man das selten findet. Sie trifft mich direkt. und ist so immens vielseitig gewesen, dass ihr Repertoire staunen machen. Von der lyrischen Mireille bis zur bezaubernden Manon Massenets  zur entschlossen-erotischen Thais duchmisst sie die Rollen ihres Fachs mit dem ihr eigenen Elan, und es ist diese Entschlossenheit der Gestaltung und Bewältigung, sie sie auszeichnen. Wäre es kitschig zu sagen, ich bin ihr verfallen? Reinakustisch natürlich, weil ich sie nicht auf der Bühne mehr gehört habe. Aber ihre vielen, vielen Dokumente lassen mich immer wieder staunen und schwelgen in dieser Flut reinfranzösischen Klangs, wie es ihn heute nicht mehr gibt. Die ganze Kunst der Esposito mit ihrer unglaublich sicheren, leuchtenden Höhe, ihrer zum Mitschreiben deutlichen Diktion und ihrem unverwechselbaren französischen Timbre par excellence ist in ihren  Partien nachhörbar. Andrée Esposito gehörte zu den wirklich typischen Sänger/innen ihrer Zeit..

Andrée Esposito als Manon/Heinsen/Esposito

Sie ist neben ihren Kolleginnen Renée Doria, Berthe Monmart, Andréa Guiot, Georgette Cammart, Suzanne Sarrocca und vielen anderen eine jener Sängerinnen in Frankreich, die nach dem Krieg das französische  Repertoire  (und nicht nur das) zu einer hohen Qualität geführt haben, eine, die in würdiger Nachfolge der Vorgängerinnen wie Félia Litvinne, Germaine Lubin oder Ninon Vallin eben jenes spezifische Flair, jene unnachahmliche Diktion, jenen Strahl der unverwechselbar französisch geführten Stimme aufbrachte, jene sofortige Wiedererkennbarkeit der individuellen Stimme zeigt, die uns heute so vergessen scheint. Die Esposito ist nicht übermäßig oft  „offiziell“ dokumentiert worden (viele Veröffentlichungen sind Radiomitschnitte, die erst nach ihrer Karriere veröffentlicht wurden). Sie steht damit nicht allein – ihre Kollegen Alain Vanzo, Albert Lance (kein originaler Franzose), Charles Richard (dto.), Julien Haas, die Crespin, die Doria, Michel Dens, Pierre Mollet, Andre Pernet, Guy Chauvet, Janine Collard, Hélène Bouvier aus der älteren Generation, natürlich Robert Massard ebenfalls unvergessen, und viele, viele andere waren von dem Umbruch betroffen, der mit Liebermanns Übernahme der Pariser Oper begann und der die französischen Sänger in die Provinz und ins Radio schickte, während in der Hauptstadt – bis heute – ausländische Sänger in der Originalsprache ein anderes Verständnis von Oper einführten und das Typische verdrängten.

Andrée Esposito, am 7. Februar 1934 in Algier geboren, trat ebendort erstmals bei einem Konzert 1951 auf, ging nach Studien bei Nougera und Panzera nach Nancy (1956 Debut in Erlangers Juif polonais), anschließend an alle großen französischen Bühnen, namentlich Nizza, wo sie sie mit ihrem späteren Mann, den Bass-Bariton Julien Haas, sang. 1959 gab sie ihr glanzvolles Debut als Violetta an der Pariser Oper (Palais Garnier), eine Rolle, mit der sie stets identifiziert wurde und die sie noch in den Neunzehnhundert-Achtzigern als Einspringerin sang. Auch an der Pariser Opéra-Comique hatte sie ihre Erfolge, namentlich mit Bondevilles Madame Bovary. Sie war eine der bedeutendsten dramatischen Koloratursopranistinnen in Frankreich mit einer hervorragenden Eignung zum dramatischen Repertoire, so als Violetta, Manon, Juliette oder Marguerite, aber auch mit weniger gängigen Partien. Zudem  war sie eine bedeutende Liedsängerin, wie einige Dokumente belegen. Für mich hatte sie eine der attraktivsten und französischsten Sopranstimmen! Ein erstes Hören in den Siebzigern ließ mich diese hellen, glitternden, in allen Registern so vortrefflich durchgearbeiteten Sopranstimme verfallen. Viele Momente bleiben von ihr in Erinnerung, etwa das „Enfin“ in der Manon-St.-Sulpice-Szene, wenn Manon ihren Des Grieux endlich „rumgekriegt“ hat, ihr hochdifferenziert gesungenes Air de Bijoux im Faust, ihre vielschichtige angelegte erste Arie in der Thais, aber auch ihre barocken Ausflüge und für mich vor allem die Auftrittsarie der Teresa in Benvenuto Cellini: welcher Glanz, welcher Jubel, welche Persönlichkeit in der Stimme.

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Alain Vanzo und Andrée Esposito/ Filmszene aus „Manon“/OBA

Andrée Esposito ist auf recht vielen Dokumenten erhalten (vor allem bei youtube), auch auf manchen Radiomitschnitten und davon wichtigen. Dies schreibe ich, während im Hintergrund ihre ganz wunderbare Marguerite in Gounods Faust singt, die Bella Voce (des umtriebigen Walter Knoeff) auf einem Mitschnitt des Faust mit Robert Massard und Albert Lance unter Roberto Benzi 1972 aus Amsterdam veröffentlicht hat. Die ganze Kunst der Esposito mit ihrer unglaublich sicheren Höhe, ihrer zum Mitschreiben deutlichen Diktion und ihrem unverwechselbaren, leuchtenden französischen Timbre par excellence ist hier nachhörbar. Diese junge Frau, Marguerite, auf dem Weg zum Wahnsinn, durch Keuschheit, Liebe, Verführung  und Verrat, erzählt uns eine Geschichte, breitet ein Schicksal aus – und meistert die beträchtlichen Tücken der Partie ohne jede Schwierigkeiten mit Glanz.

Ein ehemaliger Philips-Querschnitt zeigt sie ebenfalls in einem Faust, sodann gibt es sie mit Rameau bei DG (Pygmalion, Les Indes Galantes, exc.  Couraud mit Collard 1962), mit dem Chanson perpétuel von Chausson auf einer EMI-CD (Jacquillat), mit Kantaten von Vivaldi (dto.), als Glauce neben einer monströsen Médée der Rita Gorr bei La Voix de son maître (Prêtre)  in einem Querschnitt der Oper, die Philine in einem Mignon-Querschnitt (dto.) mit der intensiven Jane Rhodes, die Inès in einem Africaine-Querschnitt neben Tony Poncet bei Philips sowie Saugets Caprices de Marianne unter Manuel Rosenthal 1959 bei Solstice. Sie singt auch Clérambault-Kantaten (Médée u. a./Blanchard) bei Pathé. Auf dem Gebiet der Operette war sie auch zu Hause, so in den Dragons de Village bei Decca/Accord und eine Chauve Souris, Sangue de Vienne und Kalmáns Comtesse Mariza unter Siebert von 1962 (Éditions Montparnasse) als DVD vom Fernsehen.

Andrée Esposito als Thais/Heinsen/Esposito

Es gibt viele Lieblingsaufnahmen von ihr für mich. Die wirklich grandiose Teresa im Berliozschen Cellini, die wunderbare Marguerite, ihre unübertroffene Thais, die leuchtende Rozenn im Roi d´Ys: ach eigentlich alle. Der französische Rundfunk hat vieles von ihr konserviert (und man dankt der INA, das ist das Institut National Audiovisuel, einmal mehr für die Sorge der Franzosen um ihre nationales Erbe, während ja sonst auf Frankreichs Bühnen davon nicht immer was zu merken ist). Ihr häufiger Partner war der kürzlich bei uns noch einmal vorgestellte Tenor Alain Vanzo, wie die Esposito und Robert Massard eine der Säulen der französischen Gesangs der Sechziger/Siebziger. Der Manon auf dem Philips-Querschnitt (Etcherverry) folgte die Radio-Version von (Standardlänge für Studio/Konzert-Opern im französischen Rundfunk, 120 Minuten oft mit Ansage und Einführung) 100 reine Minuten ebenfalls Massenets Oper von 1968. Mireille 1959 aus derselben Quelle gab es bei Chant du Monde in deren wunderbarer Reihe der französischen Opern und Operetten vom Radio, wo auch Reyers Sigurd erschien. Es gibt auch eine Luisa Miller vom ORTF unter Pierre-Michel Le Conte. Anders als ihre  Kollegin Doria erotisiert sie ihre Thais, eine bei Chant du Monde von 1959 neben ihrem prachtvollen Kollegen Massard und eine spätere nicht veröffentlichte neben ihrem Ehemann Julien Haas. Die Chant du Monde-Ausgabe ist zudem interessant wegen der angekoppelten Arien und Szenen aus ihrem Standard-Repertoire: Faust, Phyrne, Benvenuto Cellini (letzter komplett vom ORTF 1969 bei Gala mit Vanzo sowie live aus Marseille 1969), Pêcheurs de Perles, Louise, Manon (das Duo Saint-Sulpice mit Vanzo, die Gesamteinspielung nur für Sammler), Traviata, Carmen, Gianni Schicchi, Rigoletto meist live aus dem Rundfunk 1958 – 1972. Wie vieles andere nur für Sammler kursieren ein Roi d´Ys von Lalo vom ORTF 1967 neben der tollen Kollegin Berthe Monmart und ihrem Ehemann Julien Haas. Ihre Juliette (Gounod) ist zweimal dokumentiert. Einmal nur als Band-Mitschnitt 1967 vom Rundfunk (ehemals auch MRF) und als gekürzte Gesamtaufnahme in sehr gutem Stereo aus Nizza 1976 bei Gala mit – wieder einmal und beglückend – Alain Vanzo; sowie bei der INA sogar eine Schmannsche Genevieve (!!!) 1977 unter Tony Aubin. Auch eine Webersche Euryanthe unter le Conte von 1965 sowie Bondevilles Madame Bovary unter demselben von 1967. Und sicher gibt’s noch mehr (s. nachstehend)! Was für eine Stimme und was für eine unverwechselbare Künstlerin. Une voix francaise jaimais oubliée!  Geerd Heinsen

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Andrée Esposito als Manon in Avignon/youtube

PS. Der meist zuverlässige Ommer (Andreas Ommer, Verzeichnis aller Operngesamtaufnahmen, DBSO26) listet noch einige andere Aufnahmen der Esposito auf, wobei zwischen Opernhaus-Mitschnitten, Industrie- und Radio-Aufnahmen zu unterschieden ist. So gibt es zwischen 1964 und 1979 allein vier mal Benvenuto Cellini (unter verschiedenen Dirigenten, auch einen aus Genf mit Gedda, dto bei Sammlern, kein guter sound), Dallapiccolas Ulisse unter Prêtre ohne Datum und wie die übrigen leider auch ohne Quelle; Iberts Persée et Andromède von 1973 unter Bigot (Bourg?); ebenso Martinus Julietta unter Charles Bruck ohne Datum (Bourg?), eine Butterfly unter Rappalo von 1969 – alle wahrscheinlich doch vom Radio. 

Dazu auch die Buchempfehlung/ David Grandis:The Voice of France (The Golden Age of the R. T. L. N.) mit einem Vorwort von Roger Pines, 261 Seiten, Abbildungen/Fotos, Index, Tabellen, MJW Fédition Paris ISBN979-10-90590-16-8). G. H.

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Und zum Schluss die Sängerin selbst in einem Interview von 2001: Man muss – nicht nur zum Singen, aber vor allem da – unbedingt Persönlichkeit haben, man muss eine Siegernatur sein, man muss musikalisch und intelligent sein und man muss vor allem ein bedingungsloser Arbeiter sein, unermüdlich und immer an sich arbeiten, wirklich. Wenn diese  Eigenschaften fehlen, dann können Sie die schönste Stimme der Welt haben, und Sie sind nichts. Man muss zudem immer neugierig sein, immer suchen. Wenn man etwas erreicht hat, darf man nie glauben, schon am Ziel zu sein – nichts ist sicher! Und man muss stets zum Besseren wollen, sonst fällt man zurück. Die Stimme selbst ist ein Wunder. Es gibt ja viele Leute, die sich physiologisch usw. damit beschäftigen, die genau sagen können, welcher Muskel wann arbeitet – aber dann fehlt der Funke. Man öffnet den Mund, man bringt einen schönen  Ton  heraus – eine Gottesgabe, keine analytische Angelegenheit.

Andrée Esposito als Leila/“Pecheurs de Perles“/Heinsen/Esposito

Eine Sängerin, eine Künstlerin, muss demütig sein. Verzeihen Sie das Bild, aber man kommt zum Gesang wie zum Kloster, man steht im Dienst des Publikums wie im Priesteramt. Man darf nie eingebildet sein, denn man selber ist ja gar nichts: Die Kunst, die Stimme ist alles. Und sehen Sie: Der Erfolg, der Ruhm ist schnell vorbei. Wenn man auf dem Höhepunkt steht und man überall bekannt ist, ist man eigentlich schon wieder passé. Man erreicht den Gipfel, und alles beginnt zu kippen.

lch habe eigentlich immer gesungen, bereits als Kind. Auf Hochzeiten, bei Kommunionsfeiern hieß es immer: ,,Los, sing etwas!“ Meinen Unterricht begann ich sehr jung schon mit 14 Jahren; Vater wollte nicht, dass ich sang – seine anständige Tochter eine skandalumwitterte Künstlerin! Unvorstellbar! Sowas tat man früher einfach nicht. Aber ich war besessen. lch mogelte mit meinem Alter, um in Algier ins Konservatorium aufgenommen zu werden. Mit 18 gewann ich den 1. Preis, den Großen Preis von Algier, in einem Alter, in dem man normalerweise erst mit der Ausbildung beginnt. Der Wettbewerbspräsident war gleichzeitig der Direktor des Pariser Konservatoriums und half mir, dorthin zu kommen. lch hatte dann das Glück, auf Charles Panzéra zu treffen – ein großer Interpret und  Musiker und ein wunderbarer Mensch, der alle Geheimnisse des Belcanto kannte und sie mir vermittelte , so wie ich sie und mehr darüber hinaus meinen Schülern vermittele .

Es gab auch Dirigenten, die für mich entscheidend waren, jeder hatte seine Quälitäten. Heute ist das anders, man lässt die vielen Talente, die Frankreich besitzt, sich nicht entfalten, man lässt ihnen nicht genug Raum zum Wachsen. In Sachen Kultur verarmt Frankreich. Wir spielen immer seltener und weniger von unserem reichen Repertoire, und wenn, dann mit Leuten, die die Feinheiten unserer Sprache nicht verstehen. Wir sind eine hochgebildete  Kultur-Nation, und es ist sicher richtig, dass die Ausländer zum Singen kommen – ein Austausch ist immer gut. Aber unsere eigene Kultur wird immer geringer zugunsten einer aus tauschbaren, anonymen. Wenn wir nicht den Kopf erheben, sind wir kulturell in Kürze ausgestorben. Wenn wir nur noch auswärtige Gäste spielen lassen, werden wir bald keine musikalische Kultur in Frankreich mehr haben.

Künstler und Sängerin zu sein ist etwas Wunderbares. Es erlaubt, tausend Frauenleben zu gestalten – Violetta, Juliette, Marguerite , Louise. Die Bovary war ,,meine“ Bovary, eine zerrissene, vielschichtige Frau. Aber ich kann nicht sagen, dass ich eine Lieblingsrolle hatte – meine schwärmerische Charakter-Seite erklärt das Vergnügen, alle diese Frauen in einer (meiner!) Person zu sein. Es gab natürlich Partien, die mir mehr lagen als andere, schwierige Rollen, die man sich erobern musste und darum besonders liebte. lch hatte immer eine Schwäche für den Pagen Oscar bei Verdi gehabt, und ich überredete die Direktion des Palais Garnier dazu, ihn mir zu geben, als ich bereits die anderen großen Partien sang, nur so aus Vergnügen an diesem Charakter – einmal dieser freche, komplizierte Bengel auf der Bühne zu sein. Was für ein Spaß.

Andrée Espodito, privat/Heinsen/Esposito

lch liebte diesen Beruf und lebte für ihn. Man darf nicht außerhalb seines eigenen Faches singen, deshalb lehnte ich zum Beispiel die Desdemona ab, was ich heute bedaure, aber ich hatte nicht genügend Stimme dafür gehabt, einfach nicht die richtige Stimme. Manon aber war meine Partie, und ich habe sie oft gesungen, 30 Jahre lang, immer unterwegs damit. lch hatte dann nicht mehr dieses Kristall-Timbre meines Anfangs, sondern mein mir eigenes, was bewirkte, dass man mich mochte oder nicht. Daran schieden sich oft die Geister, an diesem typisch Französischen in meiner Stimme.

Aber am Ende – oder sicher noch davor – war ich mit diesen Halbnuancen meiner Stimmqualität nicht mehr zufrieden. lch wollte nach  so vielen Jahren des Erfolges nicht hören: ,,Sie ist noch gut!“ Dieses ,,noch“ hatte mir wehgetan. lch sagte mir: Die jungen Leute können von meiner Erfahrung profitieren – und so bin ich Lehrerin geworden. Eigentlich war diese Neuorientierung ganz logisch. Gelegentlich will ich noch singen, ganz spontan, aber dann sage ich mir: „Bouf“ („Ach, wozu?“). lch freue mich am Erfolg der Schüler. Und ganz ehrlich, wenn ich noch singen müsste – was für ein Stress! lch möchte immer noch ständig in Form sein müssen, immer mein Leben nach meinem Beruf richten. Nein, nein, ich habe wirklich Lust, meine Koffer auf dem Speicher zu lassen. Ich brauche jetzt nicht mehr die vielen Cremes aufzutragen, um meine Haut zu schonen. Ich war lange und glücklich (mit Julien Haas) verheiratet. Jetzt will ich leben – dank meiner Schüler bleibe ich dem Theater und dem Leben verbunden, und ich gebe das weiter, was ich selber praktiziert habe. Das Wichtigste ist die Diktion, die deutliche Diktion! Der Zuhörer muss verstehen, das ist das mindeste. Zusammengestellt von Jean-Marc Schumann (2001/ Übersetzung Klaus Heinrich; Redaktion G. H.)

Weltpremiere

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Die Stimme Gottes befiehlt dem widerstrebenden Elia „Geh hinab zur Senke des Tals, über den Fluss, in die große Stadt; zum Königsschloss geh, tritt zum Tore hinein und suche, zu wem ich Dich sende“. In seinem einzigen Bühnenwerk, dem 1955 entstandenen Mysterienspiel Elia, setzt der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber das in seiner wichtigsten Schrift „Ich und Du“ aufgestellte dialogische Prinzip fort und lässt Gott zum allgegenwärtigen Gesprächspartner der Menschen werden. Der bislang (fast) nur als Dirigent bekannte, doch zeitlebens auch als Komponist tätige Antal Dorati setzt dieses dialogische Prinzip in seiner bislang weder aufgeführten noch eingespielten Oper Der Künder konsequent um, in dem die metaphysische Stimme Gottes „immer die Person (ist), zu der sie spricht“. Daraus ergeben sich geheimnisvoll suggestive Situationen, die zu einem gliedernden Kennzeichen der dreiaktigen Oper werden. Eher Mysterienspiel oder Oratorium denn ein Bühnenwerk.

Antal Dorati/Wikipedia

Martin Fischer-Dieskau stellt in seinem ausführlichen Essay im Beiheft Bezüge zu Weills Weg der Verheißung, Dessaus Pessach-Oratorium Hagadah und Schönbergs Jacobsleiter und Moses und Aron her, wobei Dorati „auf identifizierbare politisch-zionistische Bezüge“ verzichtet und sich auf das „inhaltliche Zentrum jüdischen Selbstverständnisses, das Gott als den einen und einzigen Gott preist“ konzentriert, oder Mendelsohn-Bartholdys Elias. In Der Künder geht es um den Propheten Elia, der das Volk Israel, das sich dem fremden Gott Baal zugewendet hat, wieder zurückführt zu Elohim, dem Gott Jahwe. Und es geht um den Kampf zwischen dem jüdischen Gott der Bibel und dem Gott Baal, der nach rund 160 Minuten mit der Himmelfahrt des Elia und dem Dank „Der Herr ist mein Hirte“ endet. Weitere Hauptpersonen neben dem Ziegenhirt Elia sind der König Ahab und seine Frau Isebel, der Bauernbursche Elisha und die Bauersfrau Tanit.

Martin Fischer-Dieskau hat das gewaltige Projekt gestemmt und im August 2021 in Krakau als Hommage an seinen Mentor auf die Konzertbühne gehievt (3 CDs Orfeo C220313): ein Akt der Verehrung und Bewunderung. 1978/79 war der damals 25jährige Fischer-Dieskau Doratis Assistent beim Detroit Symphony Orchestra, woraus eine langjährige Freundschaft entstand. Donati machte ihn auch mit seiner 1984 entstandenen Oper Der Künder/ The Chosen bekannt. In Krakau setzte sich Fischer-Dieskau, der sich durchaus bewusst sein dürfte, dass die Oper auf der Bühne keine Chance hat, auf überzeugende Weise für das Werk ein. Er meißelt dessen philosophischen Gehalt in der klaren, textdeutlichen Gesangsdeklamation heraus und hält die vorsichtig atonale Musik mit dem Orchester der Beethoven Akademie Krakau und dem Chor des Posener Teatr Wielki in sanfter Bewegung. Durchaus mit intensiven Steigerungen in den Zwischenspielen, in die Dorati manche Vorgänge verlegt, und mit einer ausgepichten Fähigkeit, in der über Strecken auch kantig spröden Musik subtile Farbigkeit zu erkennen und in orchestralen Ballungen rhythmische Prägnanz zu unterstreichen. Mustergültig auch die Besetzung mit dem liedhaft milde timbrierten Bassbariton Tomasz Konieczny als Elia, Michael Schade als Ahab, Rachel Frenkel als Isebel und dem Halbdutzend weiterer Solisten, die in teils mehren Partien in Erscheinung treten.

Martin Buber/ Wikipedia

Fischer-Dieskau weist in seinem Text zu dieser Welt-Ersteinspielung auch auf das musikalische Umfeld hin, in dem der aus einer ungarisch-jüdischen Musikerfamilie stammende Dorati (1906-88) in Budapest aufwuchs. Zwischen Beharren auf Traditionen und Moderne, „zwischen einer traditionell institutionalisierte, urbanen Kunstauffassung in Budapest… und einer progressiven Hinwendung zur Musik der Landbevölkerung“, so Fischer-Dieskau, beispielhaft vertreten durch seine Lehrer, seinen Onkel Ernst von Dohnányi sowie Kodály und Bartók. Bereits 1924 debütierte Donati als Kapellmeister an der Oper in Budapest, wurde 1924-28 Assistent Fritz Buschs in Dresden, anschließend Erster Kapellmeister in Münster, emigrierte 1933 nach Frankreich, wirkte in Monte-Carlo als Kapellmeister der Ballets Russes und wurde nach 1939 in New York sesshaft. Dallas, Minneapolis, Stockholm, London und Detroit waren seine weiteren Stationen, bei denen sich Donati für die Klassische Moderne, Zeitgenössisches und amerikanische Komponisten einsetzte. Meilensteine der Schallplattengeschichte sind Doratis Gesamteinspielung der Haydn-Sinfonien, aber auch die acht, glänzend besetzten Haydn-Opern und die Tschaikowsky-Ballette.     Rolf Fath

 

Auf dem Sprung nach ganz oben …

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Der in Cluj in Rumänien geborene Sänger Sebastian Catana entwickelt sich zu einem der interessantesten Verdi- und Verismo-Baritone seiner Generation. Nach ersten musikalischen Studien in seiner Heimat zog es ihn in die USA, wo er sich in den Ausbildungsprogrammen der Seattle Opera und der Baltimore Opera perfektionierte und bei zahlreichen amerikanischen und europäischen Wettbewerben mitspielt. Anlässlich seines Scarpia in Kopenhagen sprach Christian Glace mit dem Sänger.

 Sie stammen aus einer Künstlerfamilie. Singen war schon immer eine Familientradition, meine Eltern waren Solisten an der Oper von Cluj in Rumänien. Dort sah ich zum ersten Mal eine Oper, und dank dieser Aufführungen entdeckte ich, dass ich auch singen konnte. So wurde meine Leidenschaft für das Singen geboren, aber nicht meine Berufung, diesen Beruf auszuüben. Dies geschah viel später, nicht vor dem vierundzwanzigsten Lebensjahr. Davor habe ich an der Carnegie Mellon University und der University of Michigan Chemieingenieurwesen studiert und promoviert. Später lernte ich Claudia Pinza, die Tochter des legendären Ezio Pinza, kennen und begann, ihre Kurse an der Duquesne University in Pittsburgh zu besuchen, wo ich mein Hauptfach Gesang studierte. Ich habe auch privat mit meiner Mutter gelernt. Und das war der Zeitpunkt, an dem ich mich für das Singen als meine Lebensberufung entschied. Im Jahr 2001 gab ich mein professionelles Debüt mit Les Huguenots in der Carnegie Hall in New York.

Sebastian Catana/ Foto Yasuko Kageyama

Die Stadt, aus der ich komme, Cluj, hat eine große Musiktradition, und das Opernhaus war das erste in Rumänien: Es feierte 2019 sein hundertjähriges Bestehen. Die Operntradition in Rumänien ist hoch entwickelt, wobei der Schwerpunkt auf der italienischen und französischen Oper liegt. Ich möchte einige wunderbare rumänische Künstler erwähnen, die wichtige Seiten in der Geschichte der Oper in Rumänien geschrieben haben: Hariclea Darclée, die legendäre erste Interpretin der Rolle der Tosca bei der römischen Uraufführung im Jahr 1900 (der wir die Schaffung von „Vissi d’arte“ verdanken und die eine grundlegende Rolle bei der Gründung der rumänischen Nationaloper in Bukarest im Jahr 1921 spielte), der Bariton Petre Stefanescu Goanga, der in den 1920er Jahren eine wunderbare Karriere machte und der, nachdem er auf den Bühnen Frankreichs und Belgiens sehr präsent war, sein Comeback in Cluj gab, wo er große italienische, französische und deutsche Rollen interpretierte. Er war ein gefeierter Interpret des Rigoletto und muss als einer der Väter der rumänischen Operntradition angesehen werden. Neben anderen legendären Stimmen möchte ich zwei historische Baritone erwähnen, Nicolae Herlea und David Ohanesian. Ich hatte das große Glück, Herlea in den 1980er Jahren live zu hören. All diesen außergewöhnlichen Künstlern ist es zu verdanken, dass wunderbare Künstler aus unserem Land hervorgegangen sind und eine bedeutende internationale Karriere gemacht haben: Alexandru Agache, Leontina Vaduva, Angela Gheorghiu, Elena Mosuc oder, in der Vergangenheit, Ileana Cotrubas und Virginia Zeani.

Wie fühlen Sie sich, wenn Sie in die Fußstapfen Ihrer Eltern treten, insbesondere wenn Sie Figuren spielen, die Ihr Vater auf die Bühne gebracht hat? Meine Eltern sind meine ständige Inspiration: Sie sind mein Licht und meine Führer auf meinem Weg gewesen. Wenn ich Rollen wie Rigoletto oder Scarpia singe, muss ich unweigerlich an meinen Vater, Vasile Catana, und seine Interpretationen dieser Figuren denken. Mein Vater und meine Mutter haben mich gelehrt, ein Künstler zu sein, der Musik und dem Autor mit Ernsthaftigkeit, Ehrlichkeit und vor allem großem Respekt zu dienen.

Sebastian Catana als Rigoletto/  Opéra Royal de Wallonie Liège 2022- ©J Berger ORW-Liège

Wie Sie selbst sagten, war Ihr Vater ein bemerkenswerter Scarpia: Was ist Ihre Vision dieser Figur, die Sie in Kopenhagen zu interpretieren gedenken? Baron Scarpia ist eine der interessantesten Figuren des gesamten Baritonrepertoires. Er ist wahrscheinlich eine historisch existierende Figur. Wenn man die Quellen von Sardou studiert, ist Vitellio Scarpia wahrscheinlich die Verkörperung von zwei Personen: Baron Gherardo Curci, genannt „Scarf“, der für seine unreine Moral bekannt ist, und Vincenzo Speziale, der grausame Richter des Palermitanischen Magistrats. Ersterem verdanken wir das Anagramm seines Spitznamens und letzterem die beiden Initialen V und S. Vitellio, der von Sardou gewählte Name, geht wahrscheinlich auf den Namen des römischen Kaisers zurück, der für die Bestrafung der eroberten Bevölkerung bekannt war. Ich erzähle Ihnen das, weil ich gerne den Ursprung der Figuren, die ich spiele, verstehen möchte, damit ich alle ihre Eigenschaften auch stimmlich wiedergeben kann. Scarpias Gesang zeichnet sich durch große deklamatorische Momente aus, in denen er sich mit Gewalt und Autorität ausdrückt, aber es gibt auch viele kantable Phrasen, die mit sanftem Ton gesungen werden müssen. Er ist ein subtiler, perfider Mann, ein Adliger, ein Mann, der mit dem Leben anderer spielt und sie durch Macht und psychologische Folter verführt.

Dieser Scarpia in Kopenhagen folgt auf einen akklamierten  Rigoletto an der Opera Royal de Wallonie: Wie gelingt Ihnen der Übergang vom Verdi-Gesang zu einer Verismo-Rolle? Ich denke, dass es stimmlich keinen großen Unterschied gibt: Scarpia muss wie Rigoletto immer gesungen werden, und man darf nie in vulgäre Effekte verfallen, besonders an den Stellen, an denen Scarpia in Sprache singen muss. Die Orchestrierung des Verismo-Theaters ist sicherlich größer und üppiger, so dass eine Stimme erforderlich ist, die die orchestrale Klangmasse leicht überwinden kann. Die Art zu singen ändert sich also nicht (die Verismo-Komponisten sind letztlich eine Weiterentwicklung von Verdis kreativem Gleichnis), wohl aber der stilistische Ansatz, und auch der theatralische Aspekt darf nicht vergessen werden. Scarpia hat ein starkes theatralisches Gewicht, da er als Figur des Prosa-Theaters geboren wurde, bevor er zum Protagonisten von Puccinis Melodrama wurde.

Sebastian Catana/ Barnabà/ „La Gioconda“ – Teatro Municipale di Piacenza 2018 – ©Roberto Ricci

Heute ist es von grundlegender Bedeutung, ein überzeugender Darsteller zu sein, auch in szenischer Hinsicht… Oper war schon immer Theater: Wie ich schon sagte, reflektiere ich die Handlungen, die meine Figur ausführt, sehr gründlich, und dieser Prozess umfasst auch den schauspielerischen Teil. Was sich heute im Vergleich zu früher geändert hat, ist der Aufbau einer Opernaufführung. Wir haben uns an die Mechanismen des Kinos und der Fernsehserien gewöhnt, und wir wollen, dass die Oper eine ähnliche Erfahrung bietet. Außerdem befinden wir uns in manchen Kontexten in stark symbolischen oder stark körperlichen Darbietungen, so dass wir Schauspieler und manchmal auch Sportler sein müssen. Wenn ich also einen Regisseur finde, der mir seine Entscheidungen erklärt und der auf der Grundlage der Musik die Psychologie meiner Rolle aufbaut, bin ich bereit, daran zu arbeiten und ein Ergebnis zu schaffen, das theatralisch so wahr wie möglich ist.

Wie sieht die Zusammenarbeit mit dem Regisseur dieser Tosca an der Königlichen Dänischen Oper aus? Diese Inszenierung von Regisseur Peter Langdal ist wunderbar. Es handelt sich um eine inhaltlich absolut traditionelle Inszenierung, ohne die manchmal respektlosen Exzesse mancher moderner Produktionen, aber sie ist ebenso beeindruckend. Das imposante Bühnenbild und das suggestive Lichtspiel machen diese Tosca zu einer emotional intensiven Aufführung sowohl für uns auf der Bühne als auch, davon bin ich überzeugt, für das Publikum.

Ich habe hier bereits 2017 Rigoletto gesungen und freue mich nun, mit einer anderen Rolle zurückzukehren, die mir sehr am Herzen liegt und die mich an einige der renommiertesten Theater der Welt geführt hat, wie das Teatro dell’Opera in Rom, die Pariser Oper, das Teatro La Fenice in Venedig, das Teatro Massimo in Palermo (mit diesem Ensemble auch auf Tournee in Tokio, Nagoya und Osaka), das Savonlinna Festival, die Israelische Oper, das Teatro Petruzzelli in Bari und die Hong Kong Opera. Die Bühne der Königlich Dänischen Oper ist wunderschön, der Saal und das ganze Gebäude haben einen einzigartigen architektonischen Charme. Es ist eine Freude, nach Kopenhagen zurückzukehren: Diese Stadt ist unglaublich, überraschend. Ich hoffe sehr, dass das Publikum unsere Tosca genießen wird!

Sebastian Catana/Scarpia Rom© Yasuko Kageyama

Welche Rollen würden Sie gerne in naher Zukunft singen? Ich habe bereits viele meiner Traumrollen übernommen, ich würde gerne noch einmal Jago und Francesco Foscari singen und generell mein gesamtes Repertoire weiter singen. Zwei Rollen, die ich noch nicht übernommen habe und die ich gerne singen würde, sind Carlo Gérard in Andrea Chénier und Michele in Tabarro. Vor kurzem habe ich die Titelrolle in Falstaff beim Berkshire Opera Festival debütiert, und ich freue mich, dass ich sie in naher Zukunft wieder singen werde: Ich glaube, dass diese Rolle einen reifen Darsteller erfordert, der die unendlichen stimmlichen Nuancen von Verdi und die sprachlichen Nuancen von Arrigo Boitos außergewöhnlichem Libretto darstellen kann.

Nach dieser Tosca werde ich am Teatro Colòn in Buenos Aires mit Nabucco auftreten, um endlich (nach der Absage wegen Covid) mein Debüt in diesem außergewöhnlichen Theater zu geben. Danach werde ich für Nabucco und Aida in die Arena di Verona zurückkehren, und dann ist Tel Aviv an der Reihe, wo ich als Giorgio Germont in der Neuinszenierung von La Traviata auftreten werde, die im Januar 2022 wegen der Pandemie abgesagt wurde. Der Herbst wird mit La Gioconda am Teatro Filarmonico in Verona eröffnet, gefolgt von vielen anderen Projekten, die ich kaum erwarten kann, zu enthüllen (Foto oben Sebastian Catana/Scarpia Rom© Yasuko Kageyama / Foto Cataa).

Himmel in der Hölle

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Jahrzehntelang war sie der Inbegriff einer gelungenen Mefistofele-Inszenierung, die in den Achtzigern in Chicago entstandene Produktion von Robert Carsen, die noch 2018 an der MET gezeigt wurde und von der es nicht nur eine DVD in der ersten Besetzung mit Samuel Ramey in der Titelpartie gab, sondern mindestens noch eine weitere mit Ildar Abdrazakov. Bunt, heiter, ironisch, in Teilen wunderbar kitschig war sie anzusehen, nie langweilig und den Zuschauer in einer guten Stimmung zurücklassend. Mittlerweile wurde die Oper auch in Deutschland wieder mehrfach aufgeführt, so in Chemnitz oder Frankfurt und in einer phantastischen Besetzung der beiden Hauptpartien in München mit René Pape und Joseph Calleja in der Regie von Roland Schwab.

Als wolle sie ein Kontrastprogramm zur Carsen-Produktion bilden, in der Gold, Weiß und Bonbonfarben dominierten, die himmlischen Heerscharen mit ihren Blasinstrumenten triumphierend über Teufelslist und Höllenspuk, beginnt man in München nicht mit einem Prolog im Himmel, sondern einem solchen in der Hölle, die für alle gut sichtbar OPEN ist, später SOLD OUT, über die sich Stahlgitter wie ein unvollendeter Zeittunnel wölben und in der sich allerlei Sado-Maso-Volk tummelt und eifrig damit beschäftigt ist, Neuankömmlinge wie Faust ins Verderben zu ziehen. Schwarz ist die dominierende Farbe, Musikinstrumente scheinen demoliert zu sein, die Töne kommen von einer Schelllackplatte, die Mefistofele zum Schluss wütend zerbricht. Hat man von der Walpurgisnacht zu Recht schlimme Szenen erwartet, wird Schwangeren wie Föten übel mitgespielt, so ist auch Arkadien trotz der fürsorglichen Betreuung durch das Personal nicht angenehmer, weil ein Irrenhaus, in dem Faust eine der Wärterinnen für die Schöne Helena hält. Zwar gibt es als Verbeugung vor München eine Wies’n, doch die Feiernden hängen halbtot in den Sitzen des Kettenkarussells. Und ob Faust ein Gefallen damit getan wird, dass er in den Himmel abgeordnet wird, muss man angesichts der Optik auch bezweifeln, klingen die himmlischen Heerscharen auch noch so überzeugend.

Das Plus der DVD ist die Besetzung. René Pape ist ein attraktiver Mefistofele der allerschönsten Stimmfarben, der eleganten Phrasierung  und des engagierten Spiels. Allerdings hört man in ihm  noch mehr einen Méphistophélès als einen Mefistofele. Etwas neben sich und der Figur scheint der Faust von Joseph Calleja zu stehen, verstört vielleicht ob der Zumutungen der Regie, aber zum Glück nicht beeinträchtigt im Ausstellen seiner wunderbar timbrierten Tenorstimme, die er agogikreich in feinsten Schattierungen flexibel und einheitlich in allen Registern einzusetzen weiß. Strahlend klingt „Dai campi“, umwerfend raumfüllend sein „Elena, Elena“ und unangefochten sein Schlussgesang. Nur in „Forma ideale“ sind leichte Schwächen hörbar. Als fade Dame der Gesellschaft tritt Margherita auf, ehe sie von Faust auf dem Brocken vergewaltigt wird. In der Kerkerszene allerdings darf sie dem goetheschen Gretchen nahe sein. Der Sopran von Kristine Opolais leidet unter einem Übermaß an Vibrato, so dass „L’altra notte“ nicht ihren Zauber entfalten kann. Dröge klingt der Wagner von Andrea Borghini, angemessen füllt Karine Babajanyan ihre Rolle als Elena aus, auch wenn „Notte cupa“, wohl auch wegen des szenischen Ambientes, wenig berührt. Marta ist mit Heike Grötzinger eine der Teufelinnen und stützt in der Gartenszene. Neben dem Chor und den männlichen Protagonisten ist das Orchester unter Omer Meir Wellber mit schwelgerischen Klangwogen der beste Anwalt für Boitos von den Opernhäusern zu Unrecht stiefmütterlich behandeltes Werk (C Major 739208). Ingrid Wanja    

Steile Belcanto-Karriere

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Die italienische Mezzosopranistin Raffaella Lupinacci hat sich in den letzten Jahren in einigen der schwierigsten Belcanto-Partien wie Adalgisa in Norma oder Giovanna Seymour in Anna Bolena an bedeutenden internationalen Häusern behaupten können. Von Alberto Zedda für das Rossini Opera Festival in Pesaro entdeckt, stand von Beginn ihrer Karriere der Belcanto im Mittelpunkt. Mit Herbert Schneider sprach die junge Sängerin über interessante zukünftige Pläne in Deutschland und beim Rossini Opera Festival, sprach außerdem unter anderem über ihr anstehendes Debüt in Amsterdam, den ambivalenten Charakter der Giovanna Seymour sowie die Bedeutung des Worts im Belcanto.

Sie sind Italienerin. Ein paar Worte über Ihren Hintergrund? Ich wurde im wunderschönen Acri geboren, einer kleinen Stadt im Hinterland von Kalabrien. Aufgewachsen bin ich ebendort, immer im Kontakt mit der Natur und den in dieser wunderbaren Region teilweise tausend Jahre alten Kunstwerken. In Acri bin ich zur Schule gegangen, und habe dann meine Ausbildung in Cosenza fortgesetzt. Dort habe ich studiert und meinen Abschluss in Sprachen und Literatur gemacht. Parallel habe ich im dortigen Konservatorium auch meine musikalische Ausbildung begonnen und abgeschlossen.

Meine Leidenschaft zum Gesang habe ich eigentlich meinen Eltern und deren Gefühl für Musik zu verdanken. Als ich sechs Jahre alt war, begann ich Klavier zu lernen, hatte aber schon eine deutliche Veranlagung zum Gesang und insbesondere zur Oper. Ich nahm an verschiedenen Gesangswettbewerben für Kinder teil und sang bereits damals auf eine ganz andere Art als alle anderen Kinder. Und ich habe dann einfach mit vielen Stunden des Studiums die Natur meiner Stimme unterstützt und begleitet.

Ich begann erst Klavier zu lernen. Dann, als ich 16 Jahre alt war begann ich ein Studium für Operngesang am Konservatorium meiner Stadt, das ich mit 21 Jahren abschloss. Danach begann meine echte Suche was meine Stimme angeht, immer mit dem Bewusstsein, was ich in meinem Leben tun wollte. Ich habe bei mehreren italienischen Gesangslehrern studiert, aber wirklich entscheidend war meine Begegnung im Jahr 2011 mit Maestro Fernando Opa, der noch immer mein Gesangslehrer ist. Die andere wichtige Begegnung war die mit Maestro Alberto Zedda im Jahr 2012 in Pesaro. Zu diesem Zeitpunkt begann meine Karriere.

Raffaella Lupinacci / © Chiara Mirelli

Zu welchem Repertoire fühlen Sie sich am meisten hingezogen und wie gehen Sie an das Studium einer neuen Rolle heran?Alles, was Belcanto ist, ist Balsam für meine Stimmbänder, für meinen Geist und überhaupt für mich, weil das auch einfach meinen Musikgeschmack trifft. Was das Rollenstudium angeht, so beginne ich immer damit, so viel Literatur wie möglich über die Figuren und Werke zu lesen, die ich interpretieren werde. Anschließend beginne ich, die Musik zu lernen, indem ich sorgfältig auf das eingehe, was der Komponist geschrieben hat. Auf die verschiedenen musikalischen Akzente und auf die Worte. Insbesondere beim Belcanto ist das Wort und seine Nuancen von grundlegender Bedeutung. Das Wort wird im Belcanto von den Komponisten immer besonders hervorgehoben.

Von den Rollen, die ich bereits gesungen habe, habe ich sicherlich eine sehr starke Bindung zu der Figur der Donna Elvira, auch zu Giovanna Seymour und zu Adalgisa. Stimmlich und als Darstellerin liebe ich all diese weiblichen Figuren, die meine bisherige Karriere geprägt haben. Ich hoffe sehr, bald als Charlotte in „Werther“ debütieren zu können. Im Moment bin ich sehr fasziniert vom Belcanto-Repertoire und dem französischen, das mir absolut am Herzen liegt. Auf Partien, die ich wahrscheinlich nie singen werde habe ich ehrlich gesagt nicht einmal große Lust. Die genieße ich einfach, wenn ich mir als Zuhörerin das Stück ansehe.

Carmen, die Mezzosopranpartie par excellence taucht, obwohl Sie sie bereits gesungen haben, nicht sehr oft in Ihrem Kalender auf. Ist das ein Zufall oder eine bewusste Entscheidung? Ich denke beides. Es ist einerseits Zufall, denn immer häufiger bieten mir die Theater Belcanto-Rollen an. Und gleichzeitig auch irgendwie eine Entscheidung meinerseits, denn ich hatte nach meinem Rollendebüt mehrere Angebote für die Carmen, die sich aber oft mit anderen Verpflichtungen überschnitten, denen ich bereits zugesagt hatte. Oder es gab mehrere Angebote, und ich habe mich dann für das andere entschieden. Carmen ist aber sicher eine der faszinierendsten Rollen für Mezzosopran, und ich würde mich natürlich freuen, sie in Zukunft wieder zu singen.

Raffaella Lupinacci / © Chiara Mirelli

Welche Mezzosopranistinnen der Vergangenheit und der Gegenwart schätzen Sie besonders? Es gibt mehrere Sänger, die ich bewundere, aus der Vergangenheit wie aus der Gegenwart. Zwei große italienische Künstler aus der Vergangenheit sind natürlich Lucia Valentini Terrani und Fiorenza Cossotto. Aktuell gibt es viele interessante Mezzosopranistinnen, darunter etwa Elina Garanca und Anita Rachvelishvili.

Demnächst stehen Sie als Giovanna Seymour in Anna Bolena auf der Bühne der Dutch National Opera in Amsterdam: Was sind die stimmlichen und darstellerischen Herausforderungen dieser auf gleicher Weise faszinierenden wie zwiespältigen Figur? Haben Sie die Rolle in der Vergangenheit bereits gesungen? Giovanna Seymours Charakter ist sicherlich eine der größten Herausforderungen, denen sich eine Mezzosopranistin stellen kann. Die Rolle ist nicht leicht, weil die Tessitura tendeziell hoch ist, die Partie aber gleichzeitig eine starke Mittellage erfordert. Die Schwierigkeit und Herausforderung liegt darin, eine gewisse Homogenität der stimmlichen Farben zu wahren und gleichzeitig alle von der Partitur und den menschlichen Eigenschaften der Figur geforderten Schattierungen zu treffen. Im Charakter der Giovanna Seymour treffen oft widersprüchliche Eigenschaften aufeinander, wie zum Beispiel Schuld und Leidenschaft. Ich habe die Giovanna Seymour zum ersten Mal am Opernhaus von Vilnius gesungen – unter der Leitung von Maestro Sesto Quatrini – und ich habe sie erst vor Kurzem wieder am Teatro Carlo Felice in Genua interpretiert.

An die Rolle gehe ich in Holland it großem Enthusiasmus, unbeschreiblicher Freude und tiefem Verantwortungsbewusstsein heran. Ich glaube, mein Debüt an der Dutch National Opera kam zum richtigen Zeitpunkt in meiner Karriere und in meinem Leben im Allgemeinen.

Raffaella Lupinacci / © Chiara Mirelli

Zukünftigen Projekte? In den nächsten Monaten werde ich in neuen Rollen debütieren, Hausdebüts geben und mit Freude an Opernhäuser zurückkehren, an denen ich bereits gesungen habe. In chronologischer Reihenfolge wird meine erste neue Rolle der Romeo in I Capuleti e i Montecchi am Opernhaus von Vilnius sein. Dann ist die Desdemona in Rossinis Otello in Tokio an der Reihe. Ich werde für die Tudor-Trilogie des neuen „Bastarda“-Projekts ans La Monnaie nach Brüssel zurückkehren, wo ich als Giovanna Seymour und dann Sara in Roberto Devereux auf der Bühne stehen werde. Im Sommer 2023 werde ich mit der wunderbaren Rolle des Arsace in Aureliano in Palmira andas Rossini Opera Festival zurückkehren. Danach stehen die Cenerentola an der Staatsoper Hamburg und erneut Romeo in I Capuleti e i Montecchi an der Oper von Liege an (Foto obenRaffaella Lupinacci / © Chiara Mirelli) .

Verstörend

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Was hat nur die SONY zu dieser Aufnahme mit Patricia Petibon bewogen, die unter dem Titel La Traversée erschien und im November/Dezember in Basel bzw. Paris aufgenommen wurde (19439991832)? Und wer hat die Sängerin bei dieser bizarren Musikauswahl beraten? Der Titel suggeriert eine Reise, eine Überfahrt vom Barock über Mozart bis zu Offenbach und sogar Verdi. Doch viele der zu hörenden Titel stehen der Sängerin in ihren vokaltechnischen Möglichkeiten nicht zu Gebote. Da kann das La Cetra Barockorchester Basel unter Andrea Marcon noch so motiviert  und inspirierend musizieren – die Sopranistin ist mit dem gewählten Programm schlicht überfordert. Es beginnt mit Henry Purcells „Strike the Viol“ aus der Ode Come ye Sons of Art. Das Orchester leitet das Stück hinreißend ein, während die Sopranistin mit weinerlichem, später heulendem Ton und albernem Gegacker irritiert. Es folgt die „Passacaglia della via“ von Stefano Landi, die in ihrem Tarantella-Rhythmus Leben und Tod evoziert. Auch hier klingt Petibons Stimme unangenehm greinend. Zwei anspruchsvolle Arien von Georg Friedrich Händel lassen die Interpretin eklatant scheitern. Armidas „Furie terribili“ aus Rinaldo versucht die Sängerin, mit außermusikalischem Beiwerk beizukommen – spricht und schreit, untermalt vom Donnerblech, der Windmaschine und Schüssen, bis ihr Gesang bohrend und jaulend einsetzt. Für Cleopatras „Se pietá“ aus Giulio Cesare fehlt es ihr an noblem Ton, sie klingt kläglich wimmernd und intonationstrüb.

Bei Alcestes populärer Arie „Divinités du Styx“ aus Christoph Willibald Glucks gleichnamiger Oper, von vielen legendären Sängerinnen in maßstäblichen Interpretationen überliefert, vermisst man Substanz in der unteren Lage, Souveränität in der Höhe und vor allem grandeur. Die Szene der Phädra „Cruelle mère“ aus Jean-Philippe Rameaus Hippolyte et Aricie veranschaulicht den Konflikt einer Königin wegen der Liebe zu ihrem Stiefsohn, der einer rivalisierenden Prinzessin versprochen ist. Der Sopran lässt hier einen säuerlichen Beiklang hören, wie er im französischen Barock nicht ungewöhnlich ist, kommt insgesamt mit diesem Titel noch am besten zurecht. Aus Wolfgang Amadeus Mozarts opera seria Idomeneo hat Petibon zwei Arien der Elettra ausgewählt – ein kühnes Wagnis, doch mit überraschendem Ergebnis. „Tutto nel cor vi sento“, vom Orchester aufregend eingeleitet, gelingt mit fiebriger Erregung im Ausdruck und „D’Oreste, d’Aiace“ profitiert vom dramatischen  Aplomb, auch wenn einige geheulte Töne stören.

Die allerseltsamste Wahl scheint die Arie der Hélène, „Ami! Le coeur d’Hélène“ aus Giuseppe Verdis Les Vêpres sicilennes, also der französischen Urfassung dieser Grand opéra. Für dieses Repertoire ist Petibons Stimme gänzlich ungeeignet, ihr Vortrag mit einer gejaulten Kadenz am Schluss gerät zur Miniatur. Mit dem Rondo der Grande-Duchesse de Gérolstein, „Ah que j’aime les militaires“, aus Jacques Offenbachs gleichnamiger opéra-bouffe versucht die Solistin noch einen spöttisch-ironischen Tupfer zu liefern – den flotten Klängen des Orchesters kann sie leider nichts Adäquates entgegensetzen. Eine Komposition von Purcell beendet die Auswahl – „Here the Deities Approve“ aus der Ode Welcome to all the Pleasures. Hier erklingt sie  in einer a cappella-Bearbeitung als recht unspektakulärer Schlusspunkt dieser insgesamt verstörenden Platte. Bernd Hoppe

Ohne falsches Pathos

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„Gurnemanz non finisce mai, stöhnte bereits nach einer halben Stunde Parsifal vor Jahren mein italienischer Freund, und Regisseur  Graham Vick wusste wohl um die Ungeduld italienischer Zuschauer und peppte das spröde Bühnenweihfestspiel für das Teatro Massimo in Palermo 2020 ordentlich auf, ehe er ein Jahr später an Covid starb. Dabei verzichtete er keineswegs auf traditionelle naturalistische Passagen wie die des sterbenden Schwans, fügte aber, ohne die Substanz der Oper zu entstellen, einiges an Handlung hinzu, vorwiegend als Schattenspiel hinter einer Brecht-Leinwand und vorzugsweise Gewalttätiges bis hin zum Meucheln einer Schwangeren, aber auch Sinnenfreudiges oder ganz das Gegenteil davon, wenn Klingsor die Hosen herunterlässt, um einen blutigen Fleck auf Schiesser-Feinripp an der Stelle zu zeigen, an der er kurz entschlossen und ein für alle Mal hatte Schluss mit dem Sündigen machen wollen. Aus den Gralsrittern sind bei Vick Fremdenlegionäre geworden, es könnte aber auch eine auf Abwegen geratene Friedentruppe in Afrika sein, Titurel war einmal Militär, wie die Ordensspange verrät, trägt nun aber Business, Amfortas nur ein Lendentuch plus Dornenkrone, Parsifal und Gurnemanz Räuberzivil und Kundry mal Modell Schwarze Witwe, mal Ökokonformes (Kostüme Mauro Tinti). Die Charaktere aber bleiben unverändert, dem Publikum bleibt ein Schock wie ein Kundry meuchelnder Gurnemanz wie in Berlin erspart, Vick nimmt auf das italienische Publikum Rücksicht, und so war sein schlimmster Fauxpas einst eine 56jährige Mariella Devia mit Minirock als Violetta in der Arena di Verona. Die liebliche Taube, die über den Bühnenhorizont zieht, hätte er sich diesseits der Alpen wohl kaum erlaubt, dafür fällt aber der Gral, ein Henkeltöpfchen unter einem Staubtuch, recht bescheiden aus, und so unbarmherzig die Ritter hinter der Leinwand mit der einheimischen Bevölkerung umgehen, so grausam sind sie durch blutiges Ritzen ihrer Arme sich selbst gegenüber. Das alles findet auf einer absolut kahlen Bühne (Timothy O`Brien) statt. Am Schluss ist der mitteleuropäische Zuschauer erstaunt, eine Idylle mit einem herzigen Parsifal, umgeben von erlösten Kindlein zu erblicken, ist er doch daran gewöhnt, sich happy ends ins Gegenteil verkehren zu sehen, so mit einem Maccolm schlimmer als Macbeth, einem Fidelio-Minister als neuem Unterdrücker, natürlich einem Parsifal als alles andere als Erlöser.

Generalmusikdirektor Omer Meir Wellber wollte nach eigenem Bekunden Parsifal von falschem Pathos befreien, was einen durchsichtigen Klang, recht hurtige Tempi und sängerfreundliche Lautstärken zur Folge hat, irgendwie italienischer klingt, als man es gewöhnt ist.

Vorzüglich ist mit wenigen Ausnahmen das Sängerensemble mit einem in jeder Hinsicht Autorität ausstrahlenden Gurnemanz, dem John Relyea die gebieterische Statur und eine auch vokale Dominanz verleiht, die den Zuschauer bannen kann, sein in allen Lagen hochpräsenter Bassbariton ist weit entfernt von allem Alt-Männer-Grummeln, man möchte ihn einen Heldenbassbariton nennen, so viel Metall offenbart sich in der Stimme. Mit guter Diktion und schön ausgesungenen Phrasen kann sich auch der Amfortas von Tómas Tómasson profilieren, der eindrucksvoll seinen roten Königsmantel wie eine Blutspur hinter sich herzieht. Der Parsifal von Julian Hubbard hat eine sichere Höhe, die er in dieser Partie natürlich kaum zur Geltung bringen kann, in der Mittellage, die manchmal gequetscht klingt, stören hässliche Vokalverfärbungen, es gibt aber durchaus auch Passagen, in denen er  den vokalen Strahlemann hervorkehren kann. Titurel ist Alexei Tanovitski mit vergleichsweise hohl klingendem Bass. Und Kundry? Catherine Hunold ist keine dieser modernen Model-Sägerinnen, die auch optisch verführen könnte. Ihre Mittellage hingegen klingt angenehm weich, rund und warm, ihr „Schlafen“ erdawürdig, die Höhe allerdings ist wenig prägnant, da wird auch mal geschummelt. Selbst bei Blumenmädchen, Rittern, Knappen und der Stimme aus der Höhe hat man kaum einheimische Kräfte eingesetzt, abgesehen wohl von Elisabetta Zizzo, die einem Knappen und einem Blumenmädchen mediterranen Glanz verleiht, während Stephanie Marshall eine trostreiche Stimme aus der Höhe ist. Angesichts der Qualität der Aufführung und des traurigen Endes, das der Regisseur erleiden musste, kann man diesen hoch interessanten Parsifal durchaus als Vermächtnis Graham Vicks ansehen (C Major 759404). Ingrid Wanja              

Aprile Millo

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Wie kann ich meine große Liebe zu Aprile Millo erklären? Vielleicht, weil sie angesichts der vielen belang- und gesichtslosen Zeitgenössischen eben ein Gesicht auf der Stimme hat? Weil sie auf eine bestürzend beglückende Weise ein altes Stimmideal verkörperte, so eine Mischung aus Renata Tebaldi und Zinka Milanov? Weil sie im Spintofach so gut wie keine gewichtige Konkurrenz bis heute hat? Weil sie diese etwas nasale, in der Höhe absolut leuchtende und in ihrer guten Zeit fast unendliche, aber bestens gedeckte Höhe hatte? Diese kraftvolle Mitte, die ihre Opernrollen wie Verdis Griselda ebenso wie seine Aida oder BalloAmelia, die Adriana Lecouvreur oder natürlich Gioconda zu packenden, lebendigen Figuren machte (was fetzt sie sich da mit Dolora Zajic bei der Richard-Tucker-Gala!)? Aber ganz abgesehen von der bombigen Technik ist es ihr unverkennbares italienisches Timbre, dass sie in der Nachfolge der genannten Damen so einmalig macht/e.

Glamorous Aprile Millo/ Foto EMI

Gehört hatte ich sie erstmals im Auto (wenn das kein romantischer Beginn einer Liebesbeziehung ist!), auf der Fahrt zu Italiens Festivals, als eine Übertragung aus Bregenz mit Ernani (Ciannella, Bruson, Steinberg) gesendet wurde und ich meinem Fahrer buchstäblich in den Arm fiel: Das muss ich hören! Wir lauschten (kein anderes Wort ist passender) der Sopranistin, unglaublich! Erfüllt, ur-italienisch, hochindividuell, topsicher. Den Namen konnte ich mir nicht merken. Aber die Stimme bleib mir im Kopf, bis ich die erste (und einzige) Solo-LP von Aprile Millo im Electrola-Laden (dem Mekka der Opern-Fans) auf dem Berliner Ku-Damm sah und anhörte: Sie war´s. Verdi-Arien (zum Teil ohne Cabaletten), nicht ganz in der selben Wirkung für mich. Wie ich dann live feststellte.

Denn Aprile Millo ist ein „Bühnentier“, dessen Magnetismus erst „in action“ auf den Zuschauer/hörer überspringt. Und so sind es die vielen Live-Auftritte, namentlich an der Met unter James Levines schützender Hand und in der Nachfolge der Scotto, bei denen man den berühmten Schauer über den Rücken laufen spürt. Natürlich ist sie auch im nicht-amerikanischen Ausland aufgetreten, so in Paris, Rom, Santiago, Bregenz, Catania und anderswo (s. Wikipedia), aber es sind die Mitschnitte aus der Met, Philadelphia, San Francisco und natürlich auch die Auftritte bei Eve Queler und dem Opera Orchestra von Ney York (vorher Manhattan School of Music mit der Rossinischen Mathilde), die die Millo in ihrer ganzen Wirkung spüren lassen, italienische Oper at ist best, unerreicht. Für mich ist sie Amerikas letzte Spinto-Queen, da mögen Fans der verdienstvollen Frau Radvanovsky murren wie sie wollen.

Aprile Millo: „Ballo“ mit Luciano Pavarotti an der Met/ Foto Met Opera Archives/ Klotz

Aprile Millo (geb. April 14, 1958) hat nicht viel an offiziellen Aufnahmen erhalten. Den Ballo in Maschera mit Pavarotti gibt’s als DVD bei DG, die Verdi-LP/CD wurde erwähnt, die Luisa Miller gibt’s bei Sony, ebenso einen Don Carlo neben Michael Sylvester von der Met, von diesen Haus auch eine Aida optisch bei und akustisch bei Sony/DG. Ich habe sicher weiteres vergessen.

Aber live ist die Millo wie viele (denken wir an die Gencer) bei Sammlern gut vertreten, bei mir auch. Wenn ich meine Festplatte in der Suchfunktion „Millo“ öffne springen mir mehr als 50 Einträge entgegen: besagter Ernani, diverse Luisa Miller 1990 in Rom, an der Met und anderswo, die Forza 1994 in Turin, Mascagnis Zaza bei Silipigni in Newark 1995, Trovatores en masse an der Met 1989 und anderswo, Otellos 2002 in Baltimore etc, viele Don Carlos ´von der Met 1986 bis Bologna dto. Mefistofele an der Met 1999 und ebendort auch Andrea Chenier 1996, natürlich eine Menge Aidas in Caracalla 1992, Tokio 1993 sowie an der Met um 2005 herum. Auch die Liu neben Eva Marton und Linda Kelm ab1990 sowie die Tosca 2006. Und La Gioconda 2006 eben hier. Ich habe sicher einige Auftritte vergessen.

Aprile Millo: „Il Trovatore“ mit Lando Bartolini in Catania/ Foto De Blasi/Millo

Es gibt zudem hörbar lautstark bejubelte Live-Konzerte von ihr, bei vielen grauen Firmen jener Jahre, die in Teilen auch bei youtube sich wiederfinden. Die Millo in wechselnden Haarstilen und Roben, nicht immer so unendlich günstig, manchmal grenzwertig geschmackvoll, immer dicht bei ihrem Publikum, das sie kritiklos und rasend vergöttert. Amerika ist eben so. Die gemischten Programme dieser Abende (einschließlich „Danny Boy“) auch. Aber ihr „La mamma morta“ aus dem Chenier ist ein unerreichter Dauerbrenner an Wirkung, Kunst und Präsentation. Und jedesmal habe ich wieder den Schauer über dem Rücken.

Den spannenden Anteil an der späteren Karriere hatte Eve Queler mit ihren Carnegie Hall Konzerten, nach frühen Zusammenarbeiten, wo die Millo bereits 1984 neben Chris Merritt Rossinis Mathilde gab, später dann Verdis Battaglia di Legnano 1987, die Imogene Bellinis 1989, schließlich so tolle Partien wie Puccinis Minnie, die Wally 1990, Puccinis Villi 2006, und natürlich atemberaubend die Gioconda 2006 sang, die ich anlässlich meines  New Yorker Besuches bei meiner Freundin Eve live erlebte – Gelegenheit zu einem Gespräch mit der faszinierenden Erz-New Yorkerin, aus dem ich nachstehend einige Passagen wiedergebe. Die Lebhaftigkeit, die künstlerische Ernsthaftigkeit und die überspringende Empathie dieser tollen Person finden sich leider nur in Ansätzen im Geschriebenen wieder. Wie sie da in den Probenraum hereinschwebte, Hair-do und Fummel inklusive: Das war ein New Yorker Auftritt!

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Aprile Millo: Aida an der Met/ Met Opera Archives/Klotz

Nun also La Millo original anlässlich ihrer Gioconda im Konzert mit Eve Queler in der New Yorker Carnegie Hall: Sie haben eine – im besten Sinne – „un­modische“, altmodische Stimme, die den Hörer an die Goldenen Zeiten erinnert, an eine Milanov, die Ponselle und ande­re Vorkriegsstimmen. Ist das ein Ergeb­nis Ihrer Ausbildung? Oder ist dieser dunkle Klang etwas ganz Ureigenes von Ihnen selbst? Ich bin selber in einem „Goldenen Zeit­alter“ bei uns zu Hause aufgewachsen. Meine Mutter klang wie die Muzio, la Di­vina Claudia, und war eine fesselnde Schauspielerin. Mein Vater besaß eine der wunderbarsten Tenor-Stimmen in ei­ner Mischung aus Pertile und Gigli. Sie beide waren meine Lehrer, bis ich nach New York zog, wo ich mit Rita Patane arbeitete, einer Schülerin von Maria Carbone. Meine eigene bewusste Wahl war es immer, meine Stimme eben das sein zu lassen, was sie Hause war und keine Farben darüber zu stülpen, die sie nicht hat. Als Kind hörte ich nur die Aufnahmen der Muzio, Ponselle, Milanov, Olivero, Callas und meiner geliebten Tebaldi. Ich finde es hingegen schockie­rend, daß sich nur wenige heutige Sän­ger den Luxus gestatten, diesen großen Sängern der Vergangenheit zuzuhören und sich von ihnen beeinflussen zu las­sen – nur dies ist ein Weg, die wirkliche (!) Tradition am Leben zu erhalten, nicht dieses Nur-Notensingen, das wir heute hören.

Ein paar Worte zum Repertoire – Sie singen ja fast ausschließlich das italieni­sche Fach. Ist Ihre Stimme dafür beson­ders geeignet? Ich halte nichts davon, dass heute jeder alles singt. Meine Stimme ist von Grund auf ein italienisches Instrument in Hin­sicht auf Farbe und Temperament. Ich lie­be auch das deutsche Fach und wurde von Karajan (den ich angebetet habe) wegen der Elsa und Donna Anna/Donna Elvira gefragt. Er sagte, meine Stimme wäre dafür ideal, und der Lohengrin sei die italienischste Oper Wagners – genau dies wollte er in seiner Elsa hören. Wer war ich, dass ich mit ihm darüber argumentierte. Aus manchen Gründen kam es leider nicht dazu. Ich liebe auch das französische Fach und den französischen Ge­sang und habe selber die Elisabeth im Don Carlos im Original ge­sungen – die Rolle ist ganz wunderbar in Hinsicht auf Klang und Diktion. Aber ich bin doch stolz auf meinen Weg im italienischen Repertoire, der mich ganz sicher zur Norma führen wird (wozu es dann leider nicht kam/ G. H.).

Und Ihre Meinung zu den Begriffen „Belcanto“ und „Verismo“ – Gebie­te, in denen Sie ja viel gesungen und Erfahrungen gesammelt ha­ben. Singt sich das unterschiedlich? Worauf muss man als Sängerin achten? Mein Gott, was für eine Frage! Belcanto ist genau das, was das Wort besagt: schöner Gesang. Aber natürlich auch viel mehr, und unter heutigen Standards der allgemeinen Unkenntnis will ich zu­mindest das festschreiben. Der Verismo ist auf den Belcanto drauf- gesetzt und bleibt das auch – die beiden vermischen sich nie. Verdi machte aus Bellinis Genius einen – sagen wir – charismatischen Bel­canto und verbreiterte die Cantilena in bewundernswerter und un­geahnter Weise. Puccini muss gesungen und nie gebrüllt werden und ist zudem nie vulgär, wenngleich einige dunklere und vielleicht hässlichere Töne um der musikalischen Wahrheit willen erlaubt sind. Verismo erzählt eine organische Geschich­te in ebensolchen Rhythmen und einer angemessenen, natürlichen Sprache. Verdi nahm dies bereits mit dem Rigoletto in Angriff und dann natürlich mit seinen Al­terswerken. Aida, Otello oder Falstaff sind zweifel­los grandiose Werke.

Aprile Millo: „Ballo“ an der Met/ Ausschnitt aus der DG_DVD

Die stimmliche Gefahr für den Sänger besteht in der Vulgarisierung seiner Kunst bei der Ausführung durch den Gesang. Emotionen sollten durch das Gefühl eher ausgedrückt werden als durch den Klang, und billige stimmliche Tricks und ein sich vordergründig In-Szene- setzen sollten vermieden werden. Sie dienen nicht der Musik, sondern nur dem Sänger und verschleiern die ei­gentliche, musikalisch ausgedrückte Wahrheit.

Gefühle sind so eine Sache, und als Sänger ist man nicht frei davon, von den Emotionen beherrscht zu wer­den. Da muss man sehr aufpassen. Ich war von dem Text der Margherita im Mefistofele so überwältigt, dass ich lange brauchte, um sie gut singen zu können. Und gera­de jetzt – die Worte der Gioconda: was für ein Elend, welcher Kummer, was für seelische und physische Qualen. Und was für eine Oper!

In technischer Hinsicht ziehe ich flexible, spontane Tem­pi vor – nicht rigide, sondern organisch aus dem Text und den Intentionen des Komponisten heraus. Sehr wenige Dirigenten können das heutzutage. Das verlangt wirkli­ches Verständnis und wenig Ego seitens des Maestro, denn er (oder, wie im Falle von Eve Queler, sie) ist ja dafür da, die Stimme zu begleiten. Eve macht das ganz außergewöhnlich, und deshalb fühlen sich ihre Sänger auch von ihr so beschützt.

Eve Queler: Schlussbeifall nach der „Gioconda“ 2006 mit Marcello Giordani, Aprile Millo, Dolora Zajick/ Foto Queler

Wenn Sie mich nach großen Musikern fragen, die mein Leben beeinflusst haben, fällt mir Elisabeth Schwarzkopf ein, deren Unterstützung und Zuneigung mein Leben geprägt haben. Sie brachte mich nach Salzburg und ar­rangierte mein Vorsingen bei Herbert von Karajan. Und mit ihm zu arbeiten war einfach unglaublich. Ich werde nie vergessen, wie er mich gelobt und weitergebracht hat. Er wollte eine Elsa und eine Arienplatte mit mir auf­nehmen. Seine Augen strahlten eine unglaubliche Kraft aus. Ich fühlte mich bei ihm unendlich wohl, wirklich „zu Hause“. Er schätzte es, dass ich keine Angst vor ihm hat­te, und sagte mir das auch. Ich erwiderte, dass ich nur nervös sei, wenn ich vor Leuten singen müsste, die nichts davon verstünden. Mit so bedeutenden Künstlern wie ihm ist für mich alles sehr unkompliziert.

Eine etwas delikate Frage (und ich möchte kein Salz in irgendwelche Wunden reiben): Warum, glauben Sie, haben Sie keine wirklich ganz große Karriere gemacht, die Sie doch eigentlich verdient hätten? Und warum ei­gentlich nur eine in den USA? Und warum haben wir hier in der Alten Welt so wenig von Ihnen gesehen? Ich will Sie nicht verletzen, aber ich finde, Sie hätten eine Rie­senkarriere machen müssen angesichts vieler heutiger Sänger auf heutigen Bühnen…  Ich blieb in Amerika wie Rosa Ponselle, weil ich ganz „altmodisch“ an die Werte der Produktionen und an den Respekt gegenüber den Kom­ponisten in diesem Land glaube. Ich habe hingegen oft Produktionen abgelehnt, in denen Aida ihr Motorrad am Nil parkt und ähnlicher Unsinn mehr. Das ist nichts für mich, und das ist einer der Gründe, warum ich hiergeblieben bin und das europäische Regie­theater vermieden habe. Und ich habe ja doch auch einige wirklich gute Aufnahmen gemacht, immer mit guten Kollegen. Mit James Levine fand ich das richtige Ambi­ente für unseren Verdi-Zyklus.

Aprile Millo: Millo in Concert/ youtube

Ich liebe jedoch das deutsche Publikum – man behandelt bei Ihnen die Oper, wie man sie wertschätzen sollte, mit totaler Hinga­be und großer Aufmerksamkeit (und in den Aufführungen ist es so still wie in der Kir­che). Ich schätze Christian Thielemann sehr und höre, dass er diese „altmodischen“ Tra­ditionen liebt, eine „altmodische Seele“ hat. Ich würde gerne mit ihm eine Oper machen. In jedem Fall stelle ich weiterhin meine Kunst in den Dienst Gottes und der Musik. Und das Publikum versteht und anerkennt dies. Allein schon die Ankündigung, dass wir die Gioconda machen würden, versetzte die New Yor­ker Musikliebhaber in Raserei – die Car­negie Hall war im Nu ausverkauft, die Leute standen in langen Schlangen nach Restkarten an. Ich war überwältigt. Das ist alles, was ich zum Leben brau­che, nicht dieses ganze Getue um die richtigen Agenturen, Hype und Ego, was nichts mit Musik und dem Dienst am Komponisten zu tun hat. (Dank an Wolfgang Denker für die Archivarbeiten)

Niza de Castro Tank

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Nicht-südamerikanischen Opernliebhabern wird die jünst verstorbene brasilianische Sopranistin Niza de Castro Tank (10. März 1931 – 24. April 2022) vor allem wegen ihrer bemerkensweswerten  Pioniertätigkeit auf dem Gebiet des nationalen Musikheroen Antonio Gomes in Erinnerung bleiben. Ihre Aufnahme des Guarany (neben später erschienenen weiteren Gomes-Opern wie A noito do Castelo) ist eines der allerersten CD-Dokumente, und jahrzehntelang musste sich der Opernfan mit dieser klanglich recht dünnen Aufnahme zufriedengeben.

In ihrer Heimat und auf dem südamerikanischen Kontinent galt Niza de Castro Tank als Superstar im Koloraturfach, ähnlich wie die jüngere und ebenfalls kürzlich verstorbene Adelaide Negri im dramatischen. Beide zeichnete eine gewisse Robustheit der Emission aus, fast eine Bedenkenlosigkeit oder vielleicht eher Furchtlosigkeit angesichts der stimmlichen Mittel, die im Falle von Niza de Castro Tank eher im schmaleren, aber absolut zupackenden Bereich lagen. Der recht blumige Eintrag im brasilianischen Wikipedia, den wir nachstehend in einer Google-Übersetzung zitieren, wird ihr in der Aufzählung vieler Details ganz sicher in ihrem Sinne gerecht. Sie war die bekannteste lyrische Sopranstimme Brasiliens. G. H.

Niza de Castro Tank (10. März 1931 – 24. April 2022) war eine brasilianische lyrische Koloratursopranistin, die von einigen als eine der größten Sopranistinnen Brasiliens angesehen wird und auch der größte Förderer der Arbeit von Antônio Carlos Gomes ist.

Sie wurde am 10. März 1931 in Limeira als Tochter von Arthur Jorge Tank und Nicolina Ferreira de Castro geboren. Sie hatte einen ersten Kontakt mit Opern-Gesang in Limeira, wo ihr Lehrer bemerkte, dass sie seltene Qualitäten als Sängerin hatte.

Sie begann offiziell sein Gesangsstudium in Campinas bei Professor Sylvio Bueno Teixeira. Im Alter von 23 Jahren bekam sie einen Vertrag bei Rádio Gazeta de São Paulo, wo sie  fünf Jahre lang blieb und ihre künstlerische Karriere begann. Von 1957 bis 2017 wirkte sie in zahlreichen Opern in Brasilien und im Ausland mit, darunter Rigoletto, Il Barbiere di Siviglia, Lucia di Lammermoor, La Bohème, O Guarani, Lo Schiavo, La Traviatta, Il Matrimonio Segreto, Lakmé, Don Pasquale, L ‚Elisir d’Amore, La sonnambula, Die Zauberflöte und A noito do Castalo. Sie wirkte als Solistin in Mozarts Requiem in d-Moll und in der Messe in c-Moll mit; in Carmina Burana, von Carl Orff; in Colombo und Odaléa, von Carlos Gomes; in Ravels L’Enfant et les Sortilèges; in Beethovens Christus am Ölberg; in Händels Messias; in Beethovens Neunter Symphonie; in Honeggers König David; in Bachs Messe in h-Moll; und in Schuberts Salve Regina.

Sie nahm an internationalen Tourneen teil und trat in Montevideo, Moskau, Berlin, Neapel, Palermo, Tel Aviv, Jerusalem, Madrid und Caracas auf.

Niza de Castro Tank als Lucia di Lammermoor/ OSA

Sie sang unter der Leitung von Armando Belardi, Arschawir Karapetjan, Benito Juarez, Diogo Pacheco, Carlos Eduardo Prates, Eleazar de Carvalho, Flávio Florence, Frederico Gerling, Gerard Devos, Guido Santorsola, Isaac Karabtchevsky, Luiz Borges, Paoletti, Roberto Schnorrenberg, Rodrigo Müller, Roger Wagner, Simon Blech, Souza Lima, Tullio Colacciopo, Roberto Tibiriçá, Aylton Escobar, Carlos Lima, Eduardo Ostergreem, Ricardo Kanji, Fábio de Oliveira, Osman G. Gioia, Abel Rocha, Henrique Morelembaum, Ernst Mahle.

Sie wirkte bei der ersten vollständigen Weltaufnahme der Oper Il Guarany mit. 1986 nahm sie zwei Alben mit Liedern von Antônio Carlos Gomes und 1996 eine CD mit Weihnachtsliedern auf. Mit dem Orquestra Sinfônica Municipal de Campinas nahm sie 2004 die CD Campinas de todos os Sons und 2005 die Missa São Sebastião auf.

Fünf Jahre in Folge erhielt sie die Roquete Pinto Trophy. Außerdem erhielt sie die Best of the Year Trophy, die Fumagalli Trophy (für fünf Jahre), die Cacique Trophy, die Bandeirantes Trophy, die Carlos Gomes Trophy, die Ordem dos Músicos do Brasil Trophy, den Carlos Gomes Award, den Guarany Trophy, die Medaille der Vereinigung der Theaterkritiker von São Paulo, die Women Who Make History Trophy, die Samuel-Lisman-Medaille, der Verdiensttitel „Scientiarum Persona Magnífica“ und die Medaille für wissenschaftliche Verdienste „Prof. DR. Walter Radames Accorsi“.

Einmal, auf dem Weg zu einer Hochzeit, blieb sie unter einem Baum stehen und dachte nach: „Wie gut es ist, in einer Gruppe zu singen!“ Dieser Gedanke führte zur Entstehung von Madrigal Decason, das sie selbst gründete und dirigierte und gewann Carlos-Gomes-Medaille 2015.

Im Jahr 1972 heiratete Niza Samuel Abraham Lisman Baum, geboren am 6. Juli 1915 in Sachsen, Deutschland. Lismans Familie lebte bis 1924 in Deutschland, bis sie gezwungen war, nach Montevideo, Uruguay, auszuwandern. Dort studierte er Philosophie und war später Herausgeber des kolumbianischen Schriftstellers Gabriel García Marquez (Nobelpreisträger 1982). Baum lebte ungefähr 30 Jahre in Campinas, nachdem er Kulturdirektor des Círculo Militar, Präsident des Lions Clube Guanabara und Kolumnist der Zeitung Diário do Povo war. Baum starb am 23. Juli 2002 und wurde im Cemitério Israelita do Embu in São Paulo beigesetzt.

Im Jahr 2004 erlebte Niza die Veröffentlichung ihrer Biografie „Niza, Trotz der Anderen“ von ihrer ehemaligen Sekretärin Sara Lopes. Im Jahr 2008 veröffentlichte Sie das Buch „Minhas Pobres Canções“, das die Lieder von Carlos Gomes aus musikalischer Sicht und vokale Interpretation bringt, unterstützt durch die Aufnahme auf 2 CDs.

Sie hatte einen Abschluss in Kunsterziehung vom PUCCamp und in Pädagogik vom Institute of Social Sciences of Americana. Sie war Doktor der Kunst an der Unicamp, wo sie auch als Professorin für Gesangstechnik in der Musikabteilung arbeitete. Sie nahm als Gastlehrerin an mehreren Musikfestivals und Spezialkursen in Gesangstechnik und lyrischem Gesang teil.

Sie war Inhaberin und Kulturdirektorin der Campineira Academy of Letters and Arts, ordentliches Mitglied des Clube dos Escritores de Piracicaba und Präsidentin der Campineira Academy of Music.

2021 feierte sie ihren 90. Geburtstag und wurde von Freunden und wichtigen Institutionen wie der Campinas Symphony geehrt. Nach einem langen, der Kunst gewidmeten Leben verstarb sie am Morgen des 24. April 2022 im Alter von 91 Jahren in Campinas. Wikipedia

Auf Originalinstrumenten

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Geschmeidig und unschlüssig“ wollte Claude Debussy seine Musik für seine einzige Oper Pelléas et Mélisande, die „zarten Reibungen der Seele“ und „launenhafte Träumereien“ sollte sie ausdrücken können, „sie muss aus dem Dunkel kommen“ und sie sollte ganz und gar nicht an Richard Wagner erinnern. In einem überaus informationsreichen Booklet, das auch ein Interview mit dem Dirigenten der Aufführung enthält, wird der Hörer profund in das Werk eingeführt, und es wird ihm erklärt, warum die Aufnahme mit Originalinstrumenten aus der Kompositionszeit erfolgte. Überprüfen kann er dann, ob die angestrebten harmonischen Finessen tatsächlich in dieser Besetzung eher zu erreichen sind als mit einer der herkömmlichen Art. Bei den Streichern besteht der größte Unterschied darin, dass Darmsaiten benutzt wurden, so dass das Vibrato wesentlich feiner ausfällt, die Stimmen mehr zur Geltung kommen und generell der Eindruck einer ausgeprägteren Durchsichtigkeit entsteht.

Die Aufnahme entstand 2021 durch die Opéra de Lille, also zu Corona-Zeiten  und demnach in leerem Saal, es spielt das Orchester Les Siècles unter Françoise-Xavier Roth. Mit den ersten Taktes fällt die ungewöhnliche Transparenz des Klangbildes auf, eine große Farbigkeit trotz des Filigranen, die zu einer besonders dichten Atmosphäre insbesondere in den Vor-und Zwischenspielen führen und die die Sängerstimmen tatsächlich besonders präsent erscheinen lassen.

Der Dirigent hält Golaud für „die menschlichste Figur“, und die findet in Alexandre Duhamel einen adäquaten Vertreter mit nicht liebenswürdigem, aber doch zunächst Vertrauen erweckendem Timbre, mit erstklassiger Diktion, im ersten Akt durchaus zärtlichen Zügen, ehe zunehmend Bedrohlichkeit sich vernehmbar macht, immer wieder, so in den Szenen mit Yniold, zu Sanftheit gebändigt. Auch der Tenor Julien Behr lässt seinen Pelléas eine vokale Entwicklung durchmachen, gewinnt nach recht trocken klingendem Beginn zuhörens an vokaler Präsenz und damit an Farbe, erfreut durch empfindsamen Sprechgesang und glänzt im vierten Akt durch eine emphatische Zärtlichkeit in der Stimme. Tiefdunkel und archaisch lässt sich der Arkel von Jean Teitgen vernehmen, während Marie-Ange Todorovitch eine sanfte, recht hell klingende Geneviève ist. Angstflatternd mädchenhaft beginnt Vannina Santoni als Mélisande, facettenreich und voller vokaler Süße und mit einer Liebeserklärung im doppelten „Pelléas“, ehe das letzte „la veritè“ auch noch ein Geheimnis zu bergen scheint. Bewundernswert ist es, wie das Kind Hadrien Joubert die wortreiche Partie des kleinen Yniold meistert. Damien Pass und Mathieu Gourlet vervollständigen das Ensemble als Arzt und Hirte. Pelléas et Mélisande kann sehr lange dauern- diese Aufnahme lässt keinen Gedanken daran aufkommen, ist spannend vom ersten bis zum letzten Ton (harmonia mundi 905352.54). Ingrid Wanja