Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Aus der Tropfsteinhöhle

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Dass man einem Werk seine ganz eigene Regie-Handschrift aufdrücken kann, ohne es zu entstellen, stattdessen dem Zuschauer neue Möglichkeiten der Interpretation eröffnet, ohne sie ihm aufzuzwingen, beweist Damiano Michieletto mit seiner Inszenierung von Janáčeks Jenufa an der Staatsoper Berlin zu Corona-Zeiten, so dass nicht exakt auszumachen ist, welche Einfälle der Krisenzeit geschuldet und welche davon unabhängig dem Gehirn des Regisseurs entsprungen sind. So tritt der Chor nicht auf der Bühne auf, sondern ist, ganz in ziviles Schwarz gekleidet, über den gesamten Zuschauerraum hin verstreut und so kein fröhliches Fest anlässlich der Heimkehr Stewas von der Musterung möglich, was aber wiederum dazu passt, dass die Beziehungen zwischen den Personen äußerst unterkühlt sind, sie sich in einem septisch erscheinenden, Kälte ausstrahlenden  Raum, wie aus Eis herausgeschnitten, befinden, von dessen Decke sich allmählich, aber unaufhaltsam ein Eisblock herabsenkt, aus dem es zunehmend tropft, so dass sich auf dem Fußboden ein See bildet, aus dem im letzten Akt das von der Küsterin ertränkte Kind oder zumindest die Decke, in die es gehüllt war, geborgen wird (Bühne Paolo Fantin). Lediglich einige Bänke und ein mit Kerzen bestückter Altar bilden das Bühnenbild auch für den ersten Akt, zeitlos und keinerlei geographische Orientierung, dafür aber einiges an Charakterisierung bietend sind die Kostüme von Carla Teti. Stewa schleppt ein Teil herein, dass wie ein Koffer aussieht, sich dann aber als Eisblock entpuppt, immer wieder kneten die Personen kleinere Ausgaben davon in den Händen, als müssten sie sich an der Eiseskälte, die sie umgibt, abarbeiten. Erst ganz zum Schluss und dann doch unvermittelt fällt gleißendes Licht auf die Bühne, und das Paar Jenufa- Laca schreitet in das Leuchten und damit wohl in eine bessere Zukunft hinein, während die Küsterin unter dem tropfenden Eisklumpen zurückbleibt, der sie in absehbarer Zeit zu erdrücken droht. Es gibt zwar Ungereimtheiten, so die Wiege mit dem Kind auf der Bühne, während Laca die Lüge von dessen Hinscheiden aufgetischt wird, aber insgesamt ist dies doch eine wunderbare Produktion von poetischer Eiseskälte oder voll eiseskalter Poesie, an der sich die farbige, hochdramatische Musik Janaceks unter Simon Rattle geradezu wütend abarbeitet. Im Orchestergraben waren übrigens Eingriffe bei den Holzbläsern der Pandemie geschuldet.

Nicht besser besetzt sein könnte das Terzett der Frauen mit einer so optisch schmalen wie akustisch warm und begütigend klingenden Mezzosopranistin, wie sie Hanna Schwarz ist, die die Buryjovka singt und deren Bühnenpräsenz imponierend ist. Sie wie auch die Küsterin von Evelyn Herlitzius sind auch in der Jenufa-Produktion der Deutschen Oper zu erleben gewesen, und der hochdramatische Sopran kann gleichermaßen herrisch auftrumpfen wie wunderschöne flehende Töne gegenüber den beiden Heiratskandidaten Stewa und Laca produzieren, und der darstellerische Einsatz der Herlitzius zwischen selbstherrlichem Aufbegehren und demütigem Sichfügen  ist, wie von ihren Wagnerrollen bekannt, ein nicht an Intensität zu übertreffender. Optisch wie akustisch von strahlender Blondheit ist die Jenufa von Camilla Nylund, zwar kaum entstellt durch die Narbe, dafür sich aber der Haarpracht mit hektischen Scherenschnitten entledigend und atemberaubend intensiv nicht nur in der Szene, in der sie, dem roten Faden folgend, das tote Kind entdeckt.

Sehr viel schärfer, als man es sonst erlebt, sind die beiden Liebhaber charakterisiert. Ladislav Elgr ist ein brutaler, durch und durch unsympathischer Steva mit scharfem slawischem Tenor, Stuart Skelton ein tapsiger Bär von Laca mit auftrumpfendem Heldentenor. Jan Martinek gibt den bassgewaltigen Altgesell, Evelin Novak eine spritzige Karolka, Adriane Queiroz eine Barena mit italienisch geschulter Stimme und Victoria Randem einen Jano mit kristallklarem Sopran.

Die Aufführung erlebte als Stream ihre Premiere und sollte unbedingt auch vor Publikum zu genießen sein, wobei man gespannt darauf sein kann, was mit dem Chor passiert, wenn das Publikum sich den Saal zurückerobert (C Major 760504). Ingrid Wanja           

Barbara Wunderlich

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Wenn das Adjektiv „heimtückisch“ in Bezug auf eine Krankheit jemals gepasst hat, dann in diesem Fall. Barbara Wunderlich, LowBeats-Mitbegründerin, -Lektorin, -Anzeigenleiterin und aufrecht-gute Seele des Verlags, erlag am 12. April 2022 nach mühevollem und schmerzhaftem Kampf einem lange unerkannten Krebsleiden.

Als Tochter des Ausnahme-Tenors Fritz Wunderlich und als Absolventin der Münchener Musikhochschule hatte sie nicht nur eine beeindruckend klare Stimme und ein feinfühliges Klavierspiel, sondern auch das absolute Gehör. Kurz: Sie hörte ganz anders und besser als wir. Nicht selten begleitete sie unsere Hörtests mit den Worten: „Also ich hätte das jetzt anders bewertet…“

Aber sie ließ uns machen. Nicht allerdings bei den Texten. Als selbstbewusste Lektorin kürzte sie so manchen, unnötig langen Satz und machte aus verschwurbelten Technik-Elaboraten verständliche Alltags-Texte. Alle Arten von Klischees waren ihr zuwider und die übliche Frauenfeindlichkeit, die in Männerzirkeln ja fast unausrottbar ist, warf sie immer sofort mit einer scharfen Rüge an den Autor aus dem Text. Als einzige Frau der Truppe hatte sie es nicht leicht – aber am Ende setzte sich ihre Schlagfertigkeit meist durch.

Barbara war das notwendige Gegengewicht zu der Technik-Verliebtheit der vielen älteren Herren, die sich sonst bei LowBeats tummeln. Oftmals öffnete sie uns die Augen und korrigierte den Kurs. Ohne sie wäre LowBeats nicht das was es heute ist. Auch, weil sie unerbittlich auf die Einhaltung der SEO-Erfordernisse pochte. Dass man unsere Texte bei Google in der Regel recht weit vorn findet, ist in erster Linie ihr Werk.

Vor allem aber war sie als Anzeigen-Verkaufsleiterin der Motor des Ganzen. Nachdem sie etliche Jahre bei Crescendo und Opernwelt der klammen Musik-Industrie Anzeigen – und später den Anstalten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ihre Filme – verkaufte, war sie es, die das gewagte Start-up namens LowBeats auf ein festes, finanzielles Fundament stellte. Sie organisierte das Backoffice und schaffte es mit ihrer freundlich-verbindlichen Art, auch die zögerlichen Anbieter unserer Branche, immer wieder zu einer Buchung zu überreden.

Vor allem aber war sie eine ganz und gar wunderbare Frau. Aufrecht-streitbar, lebensklug und voller Liebe für jene, die sie in ihr Herz geschlossen hatte. Der Autor dieser Zeilen muss es wissen: Er durfte sie mehr als zwei Jahrzehnte auf ihrem viel zu kurzen Weg begleiten. Barbara fehlt. Schon jetzt. Sehr. Holger Biermann (Foto Biermann/ Den Nachruf entnahmen wir der website von LowBeats mit sehr freundlicher Genehmigung und danken unserem Freund Thomas Voigt für die Nachricht vom Tode Barbara Wunderlichs.)

https://www.lowbeats.de/nachruf-auf-barbara-wunderlich/?fbclid=IwAR1JG-JFD0qQ0uBBZaI65h8-32IBIdmL61808GvHdZSGy4vpjc_HJmGrkdI

Langweiliger Genderfluidismus

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„Warum vergessen wir?“, fragt die Erzählerin. Und unternimmt den Versuch, sich an eine Familiengeschichte zu erinnern, „alles begann 1598“. Sie sagt es natürlich auf Englisch, denn die wunderbar artikulierende und mit sanften Bewegungen das Gesagte anmutig umschmeichelnde italienisch-schwedische Sänger-Schauspielerin Anna Clementi ist in Olga Neuwirths Oper Orlando Sprachrohr der Schriftstellerin Virginia Woolf und gleichzeitig Schutzgeist von deren Orlando. Es sei für sie als Schriftstellerin ein Urlaub gewesen, sagte einst Virginia Woolf. Nie habe sie ein Buch schneller verfasst als ihr in einem „einmalig glücklichen Herbst“ entstandenes Hauptwerk Orlando. Ähnlich muss es Olga Neuwirth ergangen sein, als sie 2014 den Auftrag erhielt, der im Dezember 2019 zur ersten Uraufführung einer abendfüllenden Oper einer Komponistin an der Wiener Staatsoper führte. Im ausführlichen und sehr packenden Bericht im Beiheft der DVDs (2 DVDs Unitel 760708) erzählt sie, wie sie Woolfs Orlando bei der jugendlichen Suche nach weiblichen Vorbildern in der Kunst beeinflusste. Somit war der Stoff für die Wiener Oper rasch gefunden. Auch Inhalt, Aufbau, Art und Weise der Umsetzung scheinen sich rasch konkretisiert zu haben; Neuwirths Liebe zur Kalligrafie, „auch die Frage nach der Veränderung der Schreibmaterialien“ sowie der Vorgang des Schreibens werden von Regisseurin Polly Graham in ihrer artigen Bilderschau aufgegriffen. Vor allem wird die „fiktive musikalische Biografie in 19 Bildern“, wie Neuwirth ihr Werk nennt, zu dem sie zusammen mit Catherine Filloux das Libretto nach Woolfs Satire auf Geschlechterrollen geschrieben hat, von David Pountney-Mentee Polly Graham nach Art des britischen Sprechtheaters in praktikable, gefällige Bilder gefasst. Nebelumwaberte Blicke in die Landschaft, Wissenschaftskabinette, Doku-Theater und wohlfeile Appelle. Auf der Bühne überaus schlichtes Schultheater, das auf den Rück- und Seitenleinwänden Unterstützung durch die Videos von Will Duke erfährt. Dazu die eleganten Garderoben von Comme des Garçons, der vor allem in den 1980er und 90er Jahre als Avantgardelabel Kult geworden japanischen Marke, die den jungen Dichter und Edelmann Orlando, auf den Elisabeth I. ein Auge geworfen hat, in gefältelte Bänder, Spitzend und Samt hüllen. Rüschig ist die Inszenierung auch dort, wo ein kräftiger satirischer Zugriff und die Leichtfüßigkeit des Romans gutgetan hätten, etwa bei Orlandos Tee-Empfang für die Dichterkollegen Pope (Christian Miedl), Addison (Carlos Asuna), Dryden (Marcus Pelz) und Duke (Wolfgang Bankl). Mit Ausnahme der ansprechenden Kate Lindsey als Orlando, dem Countertenor Eric Jurenas als Guardian Angel und dem faszinierenden Bassbariton Leigh Melrose als Orlandos Kollege Green und Kriegsfotograf Shelmerdine lassen sich aus dem umfangreichen Ensemble nur schwer einzelne Figuren herauslösen.

Neuwirth hat für ihre „hybride Grand opéra“, die „als eine Fusion aus Musik, Mode, Literatur, Raum und Videos gestaltet sein muss“, alles bekommen. „von klassischen Sängern bis Cabaret-Sängern wie Justin Vivian Bond und singenden Schauspieler/ innen, …..bis zu einem Kinderchor, einem Männer- und einem Frauenchor, die klein besetzt sind, damit sie auch madrigalhaft singen können, einer jazzigen Bühnenband bis zu Geräuschmachern wie in der Stummfilmzeit, klassischer zeitgenössischer Musik und Hörspielartigem … fieldrecording und elektronischen Klängen sowie Samples“. Die Musik ist schillernd, hat etwas chamäleonhaftes wie die Figur des sich im Lauf der von der Renaissance bis ins 20. Jahrhundert erstreckenden Handlung in eine Frau verwandelnden Orlando, der im Erscheinungsjahr von Woolfs Roman seinen seit Jahrhunderten fortgeschriebenen Gedichtband „The Oak Tree“ veröffentlichen kann. Die musikalische Vielfalt und die Vorbilder lassen sich kaum aufführen. Neuwirths Musik ist zweifellos virtuos geschmeidig, umschmeichelt den Hörer oftmals sinnlich – und schmeißt sich mit „O Tannenbaum“ auch ein bisschen ran. Matthias Pintscher bannt die überbordende Klangpracht, steuert das Bühnenorchester der Wiener Staatsoper sicher und souverän durch die rotierenden Tonmassen und die durch die Zeiten gleitende Klangschichten.

Doch die Oper ist mit rund 2 ¾ Stunden reiner Musik etwas lang. Vor allem im zweiten Teil möchte man oftmals schreiend davonlaufen. Weniger wegen der Musik als des zusammengeschusterten Textes. Nach der Schilderung des Kindesmissbrauchs in der Viktorianischen Ära betreiben die Autorinnen mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs und entsprechenden Dokumentarblitzen Wochenschau-Theater, verlassen die im Roman geschilderte Zeit und die Epoche der Woolf, blenden rasch in den Zweiten Weltkrieg und schwenken ebenso rasch zur Generation der 1968er, in die 1980er Jahre mit dem Einzug des Computers und in die aktuelle Gegenwart. Neuwirths Oper und die vor der Flut der Informationen kapitulierende kitschige Inszenierung landen bei einer gut gemeinten Politrevue und Volkshochschuldokumentation, die vom Holocaust bis zur Atombombe, vom Klimawandel bis zur Konsumkritik, einschließlich Gender und Genderfluidismus, alles anschneiden will – und damit langweilt. Dabei hatte Orlando so schön begonnen.  Rolf Fath

Keine Konkurrenz zu Vorhandenen

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Im deutschsprachigen Raum ist es üblich eine der zwei noch existierenden Passionen von Johann Sebastian Bach (1685-1750) am Karfreitag zu hören; einige Kenner werden auch die Passionsvertonungen von Georg Friedrich Händel (1685-1759) und Georg Philipp Telemann (1681-1767) oder sogar das Oratorium „Die Sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze“ von Franz Joseph Haydn (1732-1809) als Musik für die Karwoche nennen.

Bachs Matthäus-Passion BWV 244 ist eines der am häufigsten aufgenommenen Oratorien der westlichen Musik: es gibt schon etwa achtzig Aufnahmen auf dem Markt (Stand: 20171). Die neue Aufnahme von Pygmalion unter der Leitung von Raphaël Pichon ist der Nachfolger von zwei Aufnahmen, die Harmonia Mundi schon veröffentlicht hat, eine ausgezeichnete Aufnahme unter der Leitung von Philippe Herreweghe (1998) und eine weitere von René Jacobs (2013). Bei Warner Classics gibt es die Referenz für historisch informierte Aufnahme von Concentus Musicus Wien und dem Arnold Schoenberg Chor unter der Leitung von Nikolaus Harnoncourt aus dem Jahre 2000 mit Solisten wie Christine Schäfer, Dorothea Röschmann, Bernarda Fink und Matthias Goerne.

Sowie Harnoncourt geht es auch bei Pichon um den Dialog zwischen den zwei Chören und Orchestern, wie Bach es vorgibt. Die Musiker, der Dirigent und die Solisten bieten eine transparente, lebendige und zügige, aber nicht übereilte Interpretation an. Die Aufnahme ist bemerkenswert, weil historische Instrumente verwendet wurden, um eine Klangpalette zu erzeugen, die raffiniert und modern klingt. Ein zentrales Merkmal von Bachs Genie, so Pichon in dem Heft beiliegenden Interview, sei es, die Passion auf eine persönliche Art und Weise zu erzählen, die die Menschlichkeit der Figuren hervorhebt und so das Publikum unmittelbar in das Geschehen einbezieht.

Pichons Tempi, Ausdrucksweise und Gefühl für Dynamik passen logisch zum Thema und emotionalen Inhalt, so dass die Musik und die Erzählung die Zuhörer in die Tragödie einbeziehen und die Spannung in dieser bekannten Geschichte aufrechterhalten, obwohl der Ausgang von Anfang an bekannt ist. Der Höhepunkt dieser Aufnahme ist die Sopranarie „Blute nur, du liebes Herz“, gesungen von Hana Blažíková mit emotional Intensität, Trauer und Herzeleid. Als Muttersprachler artikuliert Julian Prégardien den Evangelisten mit Klarheit und ausreichenden emotional Engagement. Sabine Devieilhe und Lucile Richardot nutzen ihre attraktive Stimmen, um ihre jeweiligen Arien technisch einwandfrei darzubieten und gleichzeitig Gefühle der Sympathie zu vermitteln.

Tim Mead hat eine gewöhnungsbedürftige Altstimme, die für mich eine meiner Lieblingsarien „Können Tränen meiner Wangen“ ruiniert. Diese Arie kann den emotionalen Tiefpunkt dieses Oratoriums vermitteln, wenn sie von den richtigen Sängern mit Leidenschaft gesungen wird. Einige Beispiele hierfür sind Christa Ludwig unter der Leitung von Otto Klemperer, Julia Hamari unter der Leitung von Karl Richter und Elisabeth von Magnus in der o.g. Harnoncourt Aufnahme.

Die Mitwerkenden haben eine gute Leistung erbracht, und teilweise anderen historisch informierten Tonaufnahmen entweder sehr nahe gekommen (wie z.B. die zwei Einspielungen, die John Eliot Gardiner vorgelegt hat) oder sie gar übertroffen (wie z.B. die zehn Jahre alte Aufnahme von René Jacobs). Pichon wäre sehr empfehlenswert, wenn es nicht so viele Alternativen gäbe; die Konkurrenz ist einfach zu groß. Wenn ich diese Aufführung auf der Bühne erlebt hätte, dann wäre ich zufrieden, aber eine Aufnahme ist für wiederholtes Hören gemeint. Um bei einem solchen unglaublichen Wettbewerb ganz vorne zu stehen, müssen alle Solisten absolut erstklassig sein.

Das 112-seitige Beiheft enthält das vollständige Libretto mit englischen und französischen Übersetzungen, einen Gespräch über die große Passion sowie Schwarzweiß-Fotos der Musiker. Die Titelliste bietet nur den Stimmtypus für jede Arie. Im Gegensatz beinhaltete das Textheft bei der o.g. Harnoncourt Aufnahme eine Titelliste, die nennt welche der Solisten (z.B. Sopran 1 oder Sopran 2) singt, sowie einen wissenschaftlichen Aufsatz von  Wolfgang Sandberger. Wer das Oratorium nicht auswendig kennt und sich auf die Informationen stützt, die mit der Pichon Aufnahme geliefert werden, muss eine Kopie der Partitur besitzen, um zu wissen wer welche Arie singt.

Wie viele Aufnahme von dem gleichen Werk, egal wie großartig es ist, sind notwendig? Diese rhetorische Frage stellt sich weil Plattenfirmen weiterhin eine kleine Auswahl von Repertoire immer wieder produzieren mit einer daraus resultierender Flut redundanter Aufnahmen, die nur selten etwas über das Werk enthüllen, das nicht bereits bekannt war. Selbstverständlich wenn neu entdeckte Primärquelle von bisher ungehörter Musik verfügbar wären, wäre eine Aufnahme (wie z.B. die 2008 veröffentlichte Ausgabe der 1742 Fassung gespielt von die Dunedin Consort unter der Leitung von John Butt) begehrenswert. Denselben Inhalt immer wieder aufzunehmen ohne neue Erkenntnise ist nicht nur überflüssig sondern auch langweilig und verschwenderisch.

Ich frage mich, warum Pichon selten gespieltes Repertoire, wie z.B. einen großen Teil von Telemanns Vermächtnis oder Werke von Christoph Graupner (1683-1760) und Jan Dismas Zelenka (1679-1745) nicht aufgenommen hat; er hätte uns damit ermöglicht, Musik, die wertvoll aber schwierig zu finden ist, zu entdecken. Pichon und sein Ensemble verfügen über ein großes Potenzial, die Vielfalt des Repertoires zu erweitern. Wir können nur hoffen, dass sie diese Gelegenheit bei ihrer nächsten Aufnahme wahrnehmen werden (Johann Sebastian Bach: Matthäus-Passion mit Julian Prégardien, Stéphane Degout, Sabine Devieilhe, Lucile Richardot, Christian Immler, Pygmalion, Raphaël Pichon; harmonia mundi musique 3 CDs HMM 902691.93). Daniel Floyd

Imaginärer Diven-Krieg

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Regelmäßig arbeitet das französische Label ALPHA CLASSICS mit den Sopranistinnen Véronique Gens und Sandrine Piau zusammen. Jüngstes Zeugnis ist ein Album mit beiden Sängerinnen, das im Juni des vergangenen Jahres in der Abbaye de Saint-Michel-en-Thiérache aufgenommen wurde (824). Das Programm ist mit Rivales betitelt und offeriert Airs et Duos d’Opéras et d’Opéras-comiques français. Es stellt eine Hommage an zwei legendäre französische Gesangskünstlerinnen dar, die beide Mitte des 18. Jahrhunderts geboren wurden und Triumphe in Paris und am Hofe Ludwig XIV. feierten. Madame Saint.Huberty und Madame Dugazon sind sich auf der Bühne wahrscheinlich nicht begegnet. Erstere besaß eine dramatische, zum Mezzo tendierende Stimme, die sie für Partien von Gluck, Piccinni und Cherubini prädestinierte. Sie liebte das Pathos und die majestätische Gebärde. Ganz gegensätzlich präsentierte sich die andere Diva, war lyrisch leicht und zart, war Schäferin und naive Jugendliche. Unschwer zu erraten, dass auf der CD Véronique Gens das Fach der Saint.Huberty übernimmt, während Sandrine Piau die Dugazon vertritt. Begleitet werden beide von Le Concert de la Loge unter Julien Chauvin, der gemeinsam mit Benoît Dratwicki vom Centre de Musique Baroque de Versailles das Konzept des Albums erstellt hatte. Darin finden sich nicht weniger als acht Weltersteinspielungen, was zum hohen Wert der Veröffentlichung beiträgt.

Sandrine Piau eröffnet das Programm mit dem Air „Où suis-je?“ aus La Belle Arsène von Pierre-Alexandre Monsigny. 1773 feierte die Dugazon in diesem Werk große Erfolge. Mit aufgewühltem Toben wird die Nummer eingeleitet und Piau nimmt diese Stimmung mit erregter Stimmgebung auf. Schon in diesem ersten Titel ist die Wandlung ihrer Stimme hin zum Dramatischen deutlich hörbar. Ihr folgt Véronique Gens mit der Scène „Mais, Thésée est absent“ der Titelheldin in Ariane dans l’île de Naxos von Jean-Frédéric Edelmann, in der die Saint-Huberty 1782 triumphierte. Das ist der  leidenschaftliche Ausbruch einer verlassenen Frau, von der Solistin beeindruckend gestaltet und vom Orchester aufregend untermalt. Danach gibt es das erste Duett mit beiden Sopranen zu hören – „Me infelice! Che intendo?“ aus Johann Christian Bachs La clemenza di Scipione. Es beweist, wie harmonisch sich die beiden Soprane, die ohnehin eine gewisse Ähnlichkeit im Klang aufweisen, mischen.

Im Folgenden wechseln die Sängerinnen mit ihren Airs einander ab. Piau singt mit leuchtender Höhe und bohrender Intensität das Air des Sesto, „Se mai senti“, aus Glucks La clemenza di Tito, das im Melos der Iphigénie ähnelt und in der die Dugazon reüssierte, wie auch als Pauline in Fanny Morna von Louis-Luc Loiseau de Persuis. Piau ist mit deren Air „Ô divinité tutélaire“ zu hören. Nach einem ausgedehnten dramatischen Vorspiel beginnt dieses mit gesprochenem Text ganz in der Tradition der opéra comique, bis sich das Air kantabel aufschwingt. Einen ihrer ersten Erfolge feierte Dugazon in der weiblichen Titelrolle von André-Ernest-Modeste Grétrys Oper Aucassin et Nicolette, aus der Piau das Air „Cher objet de ma pensée“ hören lässt und dabei mit ihrem Ausdruck zu berühren vermag.

Gens präsentiert das bekannteste Stück der Anthologie – Alcestes „Divinités du Styx“ aus Glucks Oper, in der Saint-Huberty brillierte. Die Interpretation der vielen illustren Vorgängerinnen kann Gens mit der ihren natürlich nicht vergessen machen, doch wartet sie gleichermaßen mit Schlichtheit wie grandeur auf und bietet einen soliden Vortrag. Saint-Huberty übernahm auch die Rolle der Rosette in der Uraufführung von Grétrys L’Embarras des richesses 1782. In  deren Air „Dés notre enfance“ kann Gens mit ihrer reizvollen Mittellage betören. Aufsehen erregend war der Triumph der Saint-Huberty als Armide in Antonio Sacchinis Renaud 1782, weil sie die Partie einer Rivalin wegnahm, die  sich daraufhin von der Bühne zurückzog. Mit dem Air „Barbare Amour“ gelingt Gens das  leidenschaftliche Porträt einer liebenden Frau.

Schließlich sind beide Sängerinnen noch in zwei weiteren Duetten zu hören. Aus Luigi Cherubinis Démophon (1788 mit Saint-Huberty als Dircé) gibt es die Scène Dircé/Ircile „Un moment. À làutel“, eigentlich kein Duo, sondern eine Konversation zwischen den beiden Figuren, wobei Dircé der Hauptanteil zufällt. Mit dem dramatisch erregten Duo Camille/Adolphe „Ciel protecteur des malheureux“ aus Nicolas Dalayracs Camille ou le souterrain (1791 mit der Dugazon als Camille) endet diese originelle und preisverdächtige Anthologie (12.04.22). Bernd Hoppe

Hallo Hallo …

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„Hallo, hallo!“, fröhlich wie ein trommelnder Clown auf dem Rummelplatz kündigt der Lautsprecher, „den man nicht sieht, nur hört“, die Oper an, „Sie hören jetzt der Kaiser von Atlantis, eine Art Oper in vier Bildern. Es treten auf: Kaiser Overall von Atlantis in eigener Person, den man schon seit vielen Jahren nicht gesehen hat denn er ist ins einem Riesenpalast eingeschlossen, ganz allein, um besser regieren zu können…“. Mit praller Komödiantik springt Lars Woldt ins Geschehen und lässt die Worte wie Luftballons ins Prinzregentheater schweben, wo das Münchner Rundfunkorchester im Oktober 2021 die Kammeroper vom „Tod, der beschließt, von nun an niemand mehr sterben zu lassen“ aufführte (900339). Ein kleines, kurzes, überschaubar zu besetzendes Werk, mit dem viele Bühnen bei eingeschränkten Möglichkeiten den Anspruch an bedeutendes Musiktheater aufrechterhielten. Die 1943 im KZ Theresienstadt entstandene Kammeroper Der Kaiser von Atlantis des böhmischen Komponisten Viktor Ullmann ist ein bewegendes Zeugnis des künstlerischen, geistigen Widerstands gegen den Terror. Eine Aufführung im Lager wurde vorbereitet, fand aber nicht mehr statt. Im Oktober 1944 wurden Ullmann und sein Librettist, der Grafiker und Zeichner Peter Klein, nach Auschwitz deportiert und gleich nach ihrer Ankunft ermordet. Erst 1975 folgte die Uraufführung des Kaisers von Atlantis, der sich 1995 bzw. 1996 die Uraufführungen von Ullmanns vorausgegangenen Opern Der Sturz des Antichrist und Der zerbrochene Krug in Bielefeld bzw. bei den Dresdner Festspielen anschlossen. In München „inszenierte“ Patrick Hahn nun die Parabel mit einem perfekt ausgewählten Ensemble so zirkusleicht wendig, hintergründig, mit galliger Süße und lapidarer Düsternis, dass kein Wort und keine Nuance der wirkungsvoll aus Moritat und Songstil der 1920er Jahre, Lutherchoral, Chanson und Arie montierten Musik und des musikalisch-literarischen Beziehungsgeflechts verlorengeht. Manchmal ein wenig glatt, doch plastisch und bildkräftig. Suggestiv und gleichsam gespenstisch, wie Johannes Chum mit zartem Tenor das Mondlied des Harlekins als expressionistische Klanggeste ausleuchtet und mit Tareq Nazmis elegantem Tod auf dem Bänkchen über Mond, Wein und Tod räsoniert. Die Attitüde des Overall, die Adrian Eröd aufplustert, die freche, spritzige Süße von Juliana Zaras Bubikopf und die resolute, pathetisch ausschwingende Mezzokraft von Christel Loetzschs Trommler lassen die Aufnahme zu einem Erlebnis werden, das sich auch auf der CD überzeugender nachvollziehen lässt als zuletzt auf der Aufnahme unter Facundo Agudin mit dem Orchestre Musique des Lumières (BR Klassik 32018). Rolf Fath

 

Ein neuer Stern am Sopran-Himmel

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Unwillkürlich muss man an die junge Renée Fleming denken, wenn man die neue Platte mit Rachel Willis-Sørensen bei SONY (19439968352) auflegt. Nicht nur in der damenhaft-eleganten Erscheinung und als Typ ähnelt sie ihrer amerikanischen Landsfrau, sondern vor allem in der üppig fließenden Stimme von cremigem, leuchtendem Klang. Und nicht zuletzt finden sich viele Parallelen im Repertoire der beiden Sängerinnen. Davon zeugt auch das neue Recital, das im Juli des vergangenen Jahres im Teatro Carlo Felice in Genua produziert wurde. Das Orchester des Opernhauses begleitet die Sopranistin unter Frédéric Chaslin. Dennoch findet sich nur eine Arie in französischer Sprache in der Auswahl – die Romance der Hélène, „Ami, le coeur d’Hélène“, aus Verdis Les Vêpres sicilennes, also der französischen Urfassung des Werkes. Rachel Willis-Sørensen sang die Partie erstmals 2018 an der Bayerischen Staatsoper in München. Die von Wehmut umflorte Stimme ist betörend, die Kadenz am Ende der Arie mit ihren schwierigen Skalen perfekt gemeistert.

Mit einer ungleich populäreren Verdi-Arie – Violettas Schluss-Szene aus dem 1. Akt von La traviata – beginnt das Album. In dieser groß angelegten, dreiteiligen Scena ed Aria hat die Interpretin Gelegenheit, all ihre stimmlichen Möglichkeiten und gestalterischen Fähigkeiten einzubringen. Sie sang die Rolle zum ersten Mal 2020 in Bordeaux und diese szenische Erfahrung ist auch akustisch jederzeit spürbar. Schon das Rezitativ wird geprägt von der „Fülle des Wohllauts“, schwelgerisch und mit wehmütigem Beiklang entfaltet sich die Arie, in der sogar Variationen und eingelegte Spitzentöne zu hören sind. Im virtuosen Schlussteil mit leuchtenden exponierten Noten und brillantem Koloraturfluss  ist der Tenor Giovanni Sala ein emphatischer Alfredo.

Wie die Violetta war auch die Desdemona in Otello ein Fixpunkt in Flemings Karriere und es wundert daher nicht, dass Willis-Sørensen für ihre CD auch die Canzone del salice und das Ave Maria ausgewählt hat. Sehr wehmütig leitet das Orchester die Szene ein und die Sängerin nimmt die Stimmung mit ihrem ahnungsvollen Gesang berührend auf. Die Sopranistin Olivia Kahler assistiert ihr als Emilia. Desdemona ist eine Traumpartie für die Sopranistin, wie auch die Leonora in Il trovatore, für die es bereits konkrete Aufführungspläne in den nächsten Jahren gibt. Deren Auftritt im 1. Akt bietet Gelegenheit für eine weit ausschwingende Kantilene in der CavatinaTacea la notte placida“ und Sopran-Bravour in der Cabaletta „Di tal amor“. Die Sinnlichkeit des Soprans und dessen schwelgerisches Volumen sind überwältigend wie auch die souveräne Bewältigung der Koloraturketten.

Auch bei der Donna Anna in Mozarts Don Giovanni findet sich ein Verweis zur Fleming, die die Rolle von New York bis Salzburg an vielen großen Häusern gesungen hat. Für Willis-Sørensen markierte sie ihre allerersten Auftritte und zählt daher zu ihren Favoriten. Beide große Arien sind hier zu hören. In „Don Ottavio son morta!/Or sai chi l’onore“  aus dem 1. Akt überzeugt der dramatisch-erregte Ausdruck im Rezitativ (wieder mit Sala als Don Ottavio), in der Arie die Vehemenz und differenzierte Dynamik in den drei Strophen.

„Crudele?/Non mi dir“ aus dem 2. Akt verlangt dagegen Betroffenheit im Rezitativ, die große Linie samt tiefer Empfindung in der Arie und im Schlussteil Koloraturbrillanz. Die Solistin setzt sich mit ihrer mustergültigen Interpretation an die Spitze der derzeitigen Interpretinnen der Partie.

In zwei Szenen der Mimì aus Puccinis La bohème – der Arie „Mi chiamano Mimì“ und dem Duett mit Rodolfo „O  soave fanciulla“ – wirkt mit Jonas Kaufmann ein prominenter Tenor mit. 2019 war Willis-Sørensen dessen Partnerin bei seinem Album mit Wiener Operettenmelodien. Für die Figur der Mimì findet sie die ideale Balance zwischen Innigkeit und schwelgerischem Aufschwung.

Mit der Rusalka und ihrem „Lied an den Mond“ aus Dvoráks Oper ergibt sich ein weiterer Bezug zur Fleming. Willis-Sørensen sang die Partie in San Francisco in einer Inszenierung von David McVicar und hält diesen Auftritt für eine ihrer bisher schönsten Opernerfahrungen. Der Ausdruck von Sehnsucht und Hoffnung bestimmt ihren Vortrag, hinreißend ist der trancehaft entrückte Schluss.

Mit einem Ausflug nach Wien, dem „Vilja-Lied“ aus Lehárs Die lustige Witwe,  endet das Programm. Hier begleitet die Capella Cracoviensis und sorgt gemeinsam mit der Solistin für einen Ausklang voller Melancholie und Raffinement. Das exzellente Deutsch lässt auf zukünftige Rollen in diesem Repertoire hoffen – Wagners Eva und Elsa sowie Strauss’ Arabella und Daphne – womit sich der Kreis zur Fleming schließen würde. Bernd Hoppe

Gestalterisches Potenzial

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Die australische Sopranistin Emma Moore (am DMT Weimar engagiert) und ihre Klavierpartnerin Klara Hornig nennen ihre gemeinsame Produktion für das decurio-Label Volupté, was so viel wie Lust, Wollust und Wonne bedeutet. Man darf bei diesem außergewöhnlichen Lieder-Programm darüber diskutieren, ob der delikate Tonatz aus der Feder von Claude Debussy, Clemens Krauss und Viktor Ullmann diesem Etikett mehr entspricht oder eben die Sprachkunst von Charles Baudelaire, Rainer-Maria Rilke und Ricarda Huch.

Claude Debussy hat sich in seinen zwischen 1887 und 1889 komponierten Liedern von jenen rauschhaften Fantasien inspirieren lassen, welche Charles Baudelaire in seinen „Fleurs de Mal“ niederschrieb. Diesen Momentaufnahmen der Ausschweifung stellte Claude Debussy eine Musik zur Seite stellte, welche mit ihren dominierenden Wagner-Einflüssen bis hin zur vielfach dominierenden Tristan-Harmonik eine Sonderstellung in Debussys Werk einnimmt. Ebenso hatten es Emma Moore und Klara Hornig auf die Lieder von Clemens Krauss (1893-1954) abgesehen, welche bisher einen Exotenstatus im Repertoire beanspruchten. Aber gerade deswegen stand dieser heute eher unbekannte Zeitgenosse von Richard Strauss auf der Wunschliste des Duos, der sich hier der metaphernreichen Sehnsuchtspoesie der „Acht Gesänge“ nach Gedichten von Rainer Maria Rilke angenommem hat.

Viktor Ullmanns (1898-1944) Bekanntheitsgrad definiert sich vor allem durch seine Oper „Der Kaiser von Atlantis“ – und noch mehr durch seine Lebensschicksal: Von den Nazis ins KZ Theresienstadt deportiert, etablierte er in Gefangenschaft ein Konzertleben, das zum Symbol für die Kraft von Musik unter feindlichen Bedingungen wurde. Völlig unpolitische, hochromantische Liebeslyrik präsentiert sein fünfteiliger Zyklus nach Gedichten von Ricarda Huch, der Jahre vor Ullmanns Deportation entstand. Es geht vor allem um die vielen kleinen, zarten Zeichen, mit welchen die Realität verzaubert wird. Verglichen mit den aufbrausenden Debussy-Liedern am Anfang und den spätromantischen Ausschweifungen bei Clemens Krauss überwiegt in diesem dritten Programmpunkt dieser Aufnahme eine schlankere Diktion. Aber in jedem Fall entfaltet der Gesang von Emma Moore bei diesen drei Repertoire-Entdeckungen viel flexibles gestalterisches Potenzial. Das will etwas heißen bei der breiten Ausdruckspalette dieses Repertoires mit ihrem immensen Tonumfang in vielen Passagen. Wohlgemerkt: Emma Moores vielseitig herausgeforderte vokale Bravour lässt die gemeinsame Augenhöhe mit ihrer Klavierpartnerin Klara Hornig nie außer acht. Letztere macht ihrem Ruf als ausgemachte Spezialistin für Liedbegleitung Ehre, wenn sie mit ihrem weitsichtig vorausdenkenden Spiel immer dort ist, wo sie gebraucht wird – was wiederum Emma Moore das „Eintauchen“ erleichtert. (Emma Moore und Klara Hornig mit Liedern von Debussy, Ullmann, Krauss; decurio 2022). Stefan Pieper

Gino Marinuzzis „Palla de‘ Mozzi“

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Ein bemerkenswerter Fund ließ mich auf den Komponisten Gino Marinuzzi aufmerksam werden, den man ja eigentlich nur als Dirigenten vieler alter Rundfunkaufnahmen der Cetra-Vorgängerin EIAR kennt. Bei meinem ungemein verdienstvollen Sammlerfreund und Opernspezialisten Einhart Luther fand sich in seiner immensen Sammlung von Tondokumenten ein verheißungsvoller Audio-DAT-Clip von rund 10 Minuten, ein kurzer Mitschnitt aus der deutschen Erstaufführung von Marinuzzis Oper Palla de´ Mozzi am Deutschen Opernhaus Berlin vom 2. Juni 1940 unter Leitung eben des Komponisten. Es handelt sich – in bester Klangqualität – um einen Ausschnitt aus dem Prolog im Kloster, wo zwei Nonnen einen Soldaten (Signorello) pflegen. Niemand Geringere als Elisabeth Schwarzkopf ist hier neben dem bemerkenswerten Tenor Henk Noort und der Mezzosopranistin Bertha Sietzler sowie – ebenfalls erste Garde – Gotthelf Pistor als Titelheld zu hören (Szene Signorello-Nonnen A1; Finale 1, Finale 2 in deutscher Übersetzung). Ein wirklich „kostbares“ Dokument aus der Zeit der nicht nur kulturellen Kollaboration der Achsenmächte Italien-Deutschland. Ein Mehr an Musik fand sich nicht in Luthers Sammlung, und auch weitere Nachforschungen verliefen im Sande. In Italien selbst gab es in den Siebzigern eine Rundfunkaufnahme der gesamten Oper, die aber nie wieder aufgetaucht ist, wenngleich bei zwei Sammlern gebunkert, die sie nicht herausrücken wollen. Sehr frustrierend.

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Gino Marinuzzi und sein Kollege Franco Alfano/ ipernity.com

Umso begrüßenswerter und überraschender ist nun die Dynamic-Einspielung aus einer Aufführungs-Serie im mutigen Theater von Cagliari, das Kenner ja eh für seine interessanten Spielpläne schätzen (vd. Gomes et al bei Dynamic). 2020 gab es nun dort Palla de´Mozzi, unter Coronabedingungen leider nicht als optischen Stream. Aber der Musikfreund ist dankbar für den akustischen Mitschnitt, der nun als CD mit exzellentem Booklet vorliegt (aus dem wir nachstehend Auszüge des Artikels von zitieren, ebenso auch Anmerkungen des Dirigenten der Aufführung in Catania, Giuseppe Grazioli). Unter Grazioli am Pult des Orchesters und des Chores des Teatro Lirico di Cagliari singen EliaFabbian/ Palla, Leonardo Caimi/Signorello sowie Francesco Verna, Francesca Tiburzi (in der Schwarzkopf-Rolle der Anna Bianca), Cristian Saitta und viele mehr. Eine Besprechung unserer Freundin und Kollegin Eva Pleus macht den Anfang (Dank an den online-Merker!), dann folgen Auszüge aus dem Booklet zur Aufnahme bzw. aus dem Programmheft der Aufführung in Catania 2020 (2 CD Dynamic CDS7925.03 mit Libretto). G. H.

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Eva Pleus zur Aufführung: Gino Marinuzzi (1882-1945) war neben dem fast gleichaltrigen Antonio Guarnieri, dem um 15 Jahre älteren Arturo Toscanini und dem um 10 Jahre jüngeren Victor De Sabata einer der bedeutendsten italienischen Dirigenten. Mit letzterem teilte er den Anspruch auf die Komposition eigener Werke. Trotz einiger der Nachwelt auf seinerzeit erfolgreichen Einspielungen erhaltenen Kompositionen blieb Marinuzzi den Kennern aber in erster Linie als Dirigent im Gedächtnis, dessen umfangreiches Repertoire von Monteverdi bis zu seinen Zeitgenossen ging, und der sich als internationaler Künstler besonders um die Interpretation von Wagner und Strauss verdient gemacht hat. Letzterer bewunderte Marinuzzis dirigentische Fähigkeiten sehr und vertraute ihm auch die italienische Erstaufführung der „Frau ohne Schatten“ an.

Marinuzzi: „Palla de´Mozzi“ in Catania 2020/ Szene/ Foto Priamo Tulu

Das Komponieren blieb aber eine Leidenschaft des Dirigenten, die neben seinen symphonischen Arbeiten auch drei Opern entstehen ließen. Nach „Barberina“ (1903) und „Jacquerie“ (1918) entstand in zehnjähriger Arbeit „Palla de‘ Mozzi“, 1932 an der Scala unter dem Autor in glanzvoller Besetzung uraufgeführt. Es folgten Palermo, Genua, Rom, Neapel, Turin, Triest, Bologna und 1942 nochmals Rom in einer leicht überarbeiteten Fassung. Auffallend ist, dass es trotz des behaupteten Erfolgs überall nicht mehr als 3-4 Aufführungen gab. Im Ausland wurde die Oper nur in Buenos Aires und Berlin nachgespielt, wobei es in Berlin 1940 den absolut größten Widerhall seitens Kritik und Publikum mit 12 (!) Vorstellungen gab.

Worum geht es in dieser Oper, deren Textbuch von Giovacchino Forzano stammt, der bekanntlich der Librettist von Puccinis „Suor Angelica“ und „Gianni Schicchi“ war, aber u.a. auch für Mascagni arbeitete? Mittelalterliche Sujets wie etwa Zandonais „Francesca da Rimini“ waren en vogue, und so erfand Forzano einen Söldnerführer, der unter dem Condottiere Giovanni de‘ Medici gedient hatte.

Marinuzzi: „Palla de´Mozzi“/ Bühnenbild-Entwurf von Antonio Valente zur Uraufführung/ Ricordi Archivio Storico

Zum Inhalt: Der aus einem Nebenzweig der Medici stammende Giovanni war der Begründer der sogenannten Bande nereeiner von ihm zusammengestellten und um Landsknechte bereicherten Truppe, die sich je nach Bezahlung für die Republik Siena, den Papst und andere Auftraggeber schlug. Die Handlung beginnt nach Giovannis Tod, als der – erfundene – Palla mit seinen Söldnern die Festung Montelabro seit bereits 40 Tagen erfolglos belagert. Er begehrt am Ostersamstag vom Bischof, dass seine Fahnen geweiht werden, denn seit der Exkommunikation durch den Papst sei ihm das Kriegsglück nicht mehr hold gewesen. Nach der Weigerung des Bischofs segnet er die Fahnen selbst. Pallas Sohn Signorello ist aus anderem Holz geschnitzt und leidet unter der Brutalität des Soldatenlebens. Das ist der Inhalt des 1. Akts. Im 2. hat Palla Montelabro tatsächlich eingenommen, reitet nach Siena, um Bericht zu erstatten, und vertraut seinem Sohn die Bewachung des gefangenen Schlossherrn an. Dessen Tochter Anna Bianca gelingt es, vier von Pallas Hauptleuten zu bestechen, damit der Vater fliehen kann. Sie wäre deren Beute gewesen und bittet sich aus, Signorello verführen zu dürfen, damit dieser nichts von der Flucht mitbekommt. Signorello hat aber alles gehört, widersteht den Verführungskünsten der jungen Frau, lässt aber die Flucht ihres Vaters zu, wohl wissend, dass auf diesen Verrat die Todesstrafe steht. Angesichts der Opferbereitschaft der beiden gegenüber den jeweiligen Vätern erkennen sie ihre Seelenverwandtschaft, die zur gegenseitigen Liebe führt. Im 3. Akt kehrt Palla zurück und erfährt mit Grauen, dass sein Sohn ein Verräter ist. Nach einem öffentlichen Urteil soll dieser hingerichtet werden, aber Anna Bianca beschwört den Augenblick der Vergebung und Auferstehung, da inzwischen Ostersonntag ist. Sie vermag auch die Soldateska zu überzeugen, aber Palla, der inzwischen auch vom Verrat seiner Hauptleute erfahren hat, kann nicht ohne Ehre leben und tötet sich. Signorello übernimmt sein Schwert, das er aber im Kampf für ein zu vereinigendes Italien einsetzen wird.

Marinuzzi: „Palla de´Mozzi“ in Catania 2020/ Szene/ Foto Priamo Tulu

Die Musik: Marinuzzis Musik ist voller raffinierter Farben und verlangt ein umfangreiches Orchester. Es kommt immer wieder zu umfangreichen rein orchestralen Stellen, die sehr viel Atmosphäre verströmen. Die Behandlung der Gesangslinie ist in erster Linie deklamatorisch mit manchen schwierig zu singenden Höhenexplosionen, die an einen Verismo erinnern, den Marinuzzi eigentlich überwinden wollte, was in der an Ravel und Debussy, aber auch vor allem Richard Strauss erinnernden Orchesterhandlung deutlich wird. Fanfaren und Marschmusik beherrschen die militärischen Moment, während man sich für die lyrischen Momente, vor allem im großen Duett Signorello-Anna Bianca des 2. Akts eine dramaturgisch straffere Hand wünschen würde.

Die Aufführung: Giuseppe Grazioli, der merklich an Marinuzzi glaubt (er hat auch dessen Sinfonia in la und Suite siciliana eingespielt), leitete das Orchestra del Teatro Lirico mit sicherer Hand durch das komplizierte klangliche Gewebe und war bei aller (oft nötigen) Lautstärke den Sängern ein sorgsamer Begleiter, der sie nie zudeckte. In der Titelrolle war der kraftvolle Bariton des Elia Fabbian zu hören, der Pallas herrischem Auftreten den nötigen Nachdruck verlieh, aber auch als durch den Verrat des Sohns gebrochener Vater beeindruckte. Signorello war Leonardo Caimi anvertraut, der dem Typ des vom brutalen Soldatenleben abgestoßenen Jünglings bestens entsprach. Einer angenehm timbrierten Mittellage seines Tenors stand ein forciertes Höhenregister gegenüber, das Caimi aber unter Kontrolle hatte. Mit der Interpretation der Anna Bianca erwies sich Francesca Tiburzi  als die gesanglich beste der drei Protagonisten. Sie kam in ihrem großen Ausbruch im 3. Akt mit glanzvollem Sopran mühelos über das Orchester. Szenisch litt sie unter der Regie, doch davon später. Als Herr von Montelabro beeindruckte Francesco Verna in einer relativ kurzen, aber für einen Bariton unangenehm hoch liegenden Rolle. Die vier verräterischen Hauptleute wurden von Andrea Galli (Il Mancino, Tenor), Murat Can Güvem (Giomo, Tenor), Matteo Loi (Spadaccia, Bariton) und Luca Dall’Amico (Niccolò, Basso) bestens interpretiert. Cristian Saitta (Bass) donnerte den Bischof, Giuseppe Raimondo (Tenor) gab den getreuen Straccaguerra, Alessandro Busi (Bass) den Anführer der Landsknechte, der für Signorellos Hinrichtung stimmt, und schließlich Elena Schirru (Sopran) und Lara Rotili (Mezzo) als zwei verängstigte Nonnen. Der Chor des Hauses unter der Leitung von Donato Sivo sang kraftvoll und ausgewogen (wobei die Herren mehr gefordert waren als die Damen).

Marinuzzi: „Palla de´Mozzi“ in Rom 1932/ Szene/ Foto Reale/Opera di Roma Archivio

Doch nun zur bitteren Pille, der Produktion. Giorgio Barberio Corsetti und Pierrick Sorin setzten auf den Einsatz filmischer Mittel. An sich keine Neuheit, wird doch ein Gutteil heutiger Operninszenierungen um mehr oder weniger um Videoeinspielungen „bereichert“. Hier ging man allerdings ins Extrem: Am Bühnenrand stand jeweils das Modell eines Bühnenbilds, das von einer in der Rampenmitte postierten Kamera zusammen mit den Sängern gefilmt und auf eine Leinwand projiziert wurde. Das mochte manch farblich erfreuliche, an Renaissancemalereien gemahnende Wirkungen ergeben, aber zu welchem Preis? Dieser war hoch, denn um die erwähnten Farbeffekte zu erzielen, musste sich in der Bühnentiefe eine hellblaue Wand befinden und sonst – genau nichts. Vermochten die historisch treuen Kostüme von Francesco Esposito zu gefallen, so war es doch befremdlich, dass sich sämtliche Nonnen in roten Gewändern zeigten, was vermutlich wieder auf Notwendigkeiten der Kamera zurückzuführen ist. Angesichts all dieser Technik gab es praktisch keine Personenführung, im Gegenteil war zum Beispiel die Szene, in der die vier Hauptleute Anna Bianca als ihre Beute belästigen, nur peinlich und hätte laut Libretto sogar komisch sein sollen. (Die Stelle ließ allerdings auch musikalisch mit Wehmut an das Schmugglerquintett im 2. Akt „Carmen“ denken). Der Soldatenchor schüttelte im Gleichklang die Fäuste – hier und an zahlreichen anderen Stellen wurde leider Stadttheaterniveau unterboten. Das Schlimmste war aber, dass ein Mime hinzugezogen worden war: Julien Lambert wird im Programmheft als „Schauspieler und Akrobat“ ausgewiesen. Wuselte er im 1. Akt noch als irgendwie akzeptabler Mönch herum, so störte er als grotesker „Raubritter“ den 2. entschieden, ganz zu schweigen vom 3., wo er einen lustigen (?) Scharfrichter mimte. Seine peinlichen Auftritte waren häufig während längerer symphonischer Passagen vorgesehen, was bestätigt, dass sich die Regisseure ein auch ohne „action“ aufmerksam lauschendes Publikum gar nicht mehr vorstellen können. Ein Armutszeugnis!

Dank der interessanten Vorschläge von Raritäten, die das Teatro Lirico bei jeder Saisoneröffnung bringt, und der guten bis ausgezeichneten musikalischen Umsetzung jedenfalls eine positive Erfahrung, die vom Publikum eher phlegmatisch aufgenommen wurde.   (7. 1. 20/ Aufführung am 31.1.20 (Premiere und Saisoneröffnung) Eva Pleus (mit Dank an den online-Merker, wo dieser Artikel 2020 erschien.)

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Dazu auch der Dirigent der Aufführung in Catania, Giuseppe Grazioli: Marinuzzi, ein Mitteleuropäer aus Sizilien. Die erste Fassung von Palla de‘ Mozzi stammt aus dem Jahre 1932; die zweite und letzte, die von der Oper von Cagliari zur Eröffnung der Spielzeit aufgeführt wurde, entstand zehn Jahre später. Man kann nicht sagen, dass der renommierte Komponist und Dirigent Gino Marinuzzi im musikalischen Panorama des frühen 20. Jahrhunderts keine Vorbilder zur Verfügung hatte, auf die er sich beziehen konnte.

Giuseppe Grazioli: Der erste Name, der einem beim Hören dieser Musik in den Sinn kommt, ist ohne Zweifel der von Richard Strauss, der Marinuzzi nicht zufällig zutiefst schätzte: Er vertraute ihm beispielsweise die italienische Erstaufführung von Die Frau ohne Schatten an, zu seiner großen Zufriedenheit. Marinuzzis Stil neigt dazu, viele Linien und Themen überlappen zu lassen, während er die absolute Kontrolle über die Harmonie behält. Das ist ein eindeutig Strauss-ähnlicher Zug.

Tatsächlich lässt sich Marinuzzis Musik in gewisser Hinsicht nicht unmittelbar mit dem italienischen Kompositionsstil in Verbindung bringen. Seine Komponierweise ist äußerst detailliert, manchmal sind die Streicher in vierundzwanzig, sogar sechsunddreißig Abschnitte unterteilt. Die Wahl der Instrumente zeugt von großem Einfallsreichtum, dem Wunsch, bei Bedarf ungewöhnliche Klänge erzeugen zu können. Das alles würden wir zum Beispiel von einem Ravel erwarten, nicht von einem italienischen Komponisten. (…)

Marinuzzi: „Palla de´Mozzi“ in Rom 1932/ Szene/ Foto Reale/Opera di Roma Archivio

Zu oft neigen wir dazu, das italienische Schaffen der 1930er Jahre als Dekadenz, ja als Erschöpfung des von großen Komponisten wie Puccini oder Giordano vermittelten Impulses zu interpretieren. Im Gegenteil, das war genau derjenige, sehr konstruktive Moment, als sich einige Musiker umzuschauen begannen und in Europa den Wandel entdeckten, den die verschiedenen Komponisten wie Ravel, Strawinsky, Bartók gebracht hatten. Und sie tauchten in die Neuheit ein. (…)

Diese intellektuelle Neugier, die Marinuzzi sicherlich auch aus seiner Erfahrung auf höchstem Niveau auf dem Podium gewonnen hat, fasziniert mich besonders. In Palla de‘ Mozzi sehen wir den sehr deutlichen, meist gelungenen Versuch, neue Wege zu gehen, besonders was die Harmonik betrifft. (…)
In Marinuzzi ist die Interaktion zwischen Instrumenten und Stimmen kontinuierlich und virtuos. Die Farben des Orchesters werden verwendet, um die wiederkehrenden Themen der Geschichte zu betonen, aber oft auch, um den Gedanken der Figuren eine Form zu geben. (…)
Was Marinuzzi entwickelt hat, ist in der Tat ein viel ausgefeilteres Ausdrucksschema, bei dem die thematische Entwicklung auf drei oder vier Ebenen gleichzeitig durchgeführt wird, um die Handlung und den Gesang der verschiedenen Charaktere auf der Bühne auf kraftvolle Weise zu begleiten. Unter diesen Umständen eine beständige Harmonie aufrechtzuerhalten, ist äußerst schwierig; aber er war ein großartiger Musiker und kam großartig zurecht. (…)

Marinuzzi: „Palla de´Mozzi“/ Einband zur Partitur bei Ricordi zu dem Libretto von Giovacchino Forzano/ Wikipedia

Seine Werke zeichnen sich, wie gesagt, sicherlich durch eine sehr raffinierte Orchestrierung aus. Aber es gibt noch mehr. Marinuzzi versorgt die Interpreten – Instrumentalisten und Sänger – mit einer Reihe von sehr genauen dynamischen und ausdrucksstarken Angaben, fast Untertiteln, die dazu bestimmt sind, präzise musikalische und theatralische Effekte zu erzielen. All das scheint tatsächlich Teil einer aufwendigen Reise zu sein, die ihn als Dirigenten, also nicht nur als Autor, sondern auch als Interpret, einbezieht. (…)
Palla de‘ Mozzi hat an die Interpreten ausgesprochen bemerkenswerte stimmliche Anforderungen. Sie brauchen eine außergewöhnliche Lautstärke, um Ihre Stimme über den vom Orchester gewebten Klangteppich hinauszutreiben, über die dicken Instrumentalmischungen, die uns wieder einmal an Strauss denken lassen. (…)

Interessant ist, wenn man von Melodie spricht, das ausgeklügelte Zusammenspiel von Abhängigkeiten, das zwischen Stimmen und Instrumenten stattfindet. Wenn aus dem Graben ein wichtiges orchestrales Cantabile erklingt, bleiben die Sänger scheinbar unbeachtet im Hintergrund. Im Gegensatz dazu hält sich das Orchester, wenn die Stimmen im Vordergrund stehen, an einfache, fast elementare Figurationen. Wir sprechen natürlich von einem theatralischen Mechanismus, der sehr kenntnisreich behandelt wird. (…)

Aber auch der Gesangssatz erfuhr im Laufe der Jahre einige Veränderungen, die sicherlich mit den Interpreten zusammenhingen, die dem Autor bei verschiedenen Gelegenheiten zur Verfügung standen. Marinuzzi änderte an manchen Stellen sogar die Takteinteilung, als wollte der Dirigent den Komponisten sozusagen korrigieren. (…)
Marinuzzi verachtete keineswegs die Werke von Puccini, mit dem er eine erfolgreiche berufliche Beziehung hatte. Die Tonschöpfer, die seine Neugier weckten, waren jedoch andere. Zum Beispiel Enescu oder Martinů, die damals als rückständig, weil nicht avantgardistisch galten und deren Modernität erst nach ihrem Tod erkannt werden sollte. Und dann Strawinsky, dessen Lehre sich in der großen Sorgfalt zeigt, die dem rhythmischen Element gewidmet wird. (…)
Wir sollten erwähnen, dass Palla de‘ Mozzi zu seiner Zeit großen, sogar unerwarteten Erfolg hatte. Es wurde viele Male und an wichtigen Orten aufgeführt. Marinuzzi hatte das Verdienst, sich selbst in der Angst vor Neuerungen das Ziel zu setzen, seine Sprache zugänglich zu machen und dem Publikum absoluten Respekt zu erweisen. Was für jene Jahre nicht so selbstverständlich war. (Auszüge aus dem Gespräch des Dirigenten mit Stefano Valanzuolo in der Beilage zur CD bzw. aus dem Programmheft der Aufführung in Catania 2019, mit freundlicher Genehmigung des Teatro Lirico di Cagliari; Übersetzung der englischen Version von Daniela Pilarz durch Daniel Hauser/ Abbildung oben: Edward Burne-Jones: Love amomg the ruins/ Wikipedia)

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Birgit Nordin

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Birgit Nordin  (* 22. Februar 1934 in Sangis; † 7. April 2022) studierte nach der Schule in Haparanda von 1956 bis 1958 an der Königlichen Musikhochschule Stockholm bei Britta von Vegesack, später bei Lina Pagliughi in Italien. Von 1958 bis 1986 war sie an der Königlichen Oper in Stockholm engagiert. 1973 wurde sie zur schwedischen Hofsängerin ernannt. Einem breiteren Publikum wurde sie 1975 in Ingmar Bergmans Verfilmung der Zauberflöte als „Königin der Nacht“ bekannt. Sie war mit dem Bassbariton Jerker Arvidson (1939–2007) verheiratet

Birgit Nordin wurde in Sangis in Norrbotten geboren und kam nach Stockholm, als sie als Studentin an der Royal Academy of Music aufgenommen wurde. Nach Abschluss ihres Studiums engagierte sie sich direkt an der Royal Opera, wo sie ein treues Mitglied des festen Ensembles wurde.

Sie debütierte als Oscar in Verdis Maskenball unter der Regie von Göran Gentele. International bekannt wurde sie 1974 als Königin der Nacht in Ingmar Bergmans Verfilmung von Mozarts Oper „Die Zauberflöte“. Weitere bemerkenswerte Rollen waren Adina in „Der Liebestrank“, Jenny in „Die Stadt des Mahoganys Untergang“ und als Auru in Per Nörgårds Oper „Gilgamesch“.

Sie trat in mehreren Fernsehproduktionen auf, darunter in Alban Bergs Oper Lulu. Nordin war auch ein gefragter Solist in mehreren der renommiertesten Opern- und Konzertsäle Europas.

»Birgit Nordin war eine sehr beliebte und geschätzte Kollegin und Vorbild für uns neu eingestellte Solisten. Ihr technisch brillanter Koloratursopran und ihr Bühnenengagement machten Birgit zu einer starken Bühnenpersönlichkeit«, sagt Birgitta Svendén, CEO der Royal Opera.

 

An Dokumenten gibt es eine Aufnahme mit Geistlichen Werken von Monteverdi bei DGA, das Album Orphei Drängar bei Caprice, Musik von Lars Erik Larsson bei BIS, The Jewish Song – Moses Pergament dto.sowie das Video der Zauberflöte.  (Foto Birgit Nordin 1974 bei der Premiere als Königin der Nacht in Ingmar Bergmanns Film/ Discogs)

Noch ein Tenor-Recital

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Vier Monate nach der Aufnahme mit Benjamin Bernheim verpflichtete Warner den aus dem polynesischen Inselstaat Samoa  stammenden Tenor Pene Pati für ein Recital in Bordeaux, womit sich ein neuer Name in der internationalen Tenor-Elite etablieren soll (01902963348631). Sein Stil ähnelt dem von Bernheim, ist spezialisiert vor allem auf den Belcanto und das französische Repertoire. Den Sänger begleitet das Orchestre National Bordeaux Aquitaine  unter Leitung von Emmanuel Villaume – eine gute Voraussetzung für die französischen Werke.

Mit der dreiteiligen Szene des Duca aus Verdis Rigoletto beginnt die Auswahl. Das ist kein günstiger Einstieg, denn schon dem Rezitativ „Ella mi fu rapita“ fehlt es an viriler Energie und auftrumpfender Autorität. Die Arie „Parmi veder le lagrime“ mit weinerlichem Klang zeigt dann auch, dass Pati kein Ausnahmetimbre besitzt und damit nicht die Voraussetzung für eine Welt-Stimme. Die Cabaletta „Possente amor!“, bei welcher der Choeur de l’Opéra National de Bordeaux zum Einsatz kommt (wie auch später bei Rossini und Donizetti), wirkt bemüht und leidet an einem gekrähten hohen Schlusston. Der Sänger lässt noch die populäre Arie aus dem letzten Akt, „La donna è mobile“ folgen, ohne damit den Eindruck verbessern zu können. Später gibt es noch eine weitere Verdi-Arie, die des Arrigo, „La pia materna mano“, aus dem Frühwerk La battaglia di Legnano. Sie gelingt besser, erklingt in wehmütiger Melancholie und großzügiger Phrasierung.

Von einem weiteren Großmeister der italienischen Oper, Gaetano Donizetti, finden sich Ausschnitte aus zwei Kompositionen. Nemorinos Arie „Una furtiva lagrima“ aus L’Elisir d’amore ist ein Hit, den alle berühmten Vertreter der Stimmgattung interpretiert haben. Entsprechend hoch liegt die Messlatte. Für Pati ist sie derzeit noch unerreichbar, auch wenn er sich um dolcezza und träumerischen Ausdruck bemüht. Aus Roberto Devereux gibt es eine dreiteilige Szene des Titelhelden, beginnend mit dem Rezitativ „Ed ancor la tremenda porta“, dem die Arie „Come uno spirto angelico“ folgt. Sehr atmosphärisch leitet das Orchester die Szene ein und Pati nimmt diese Stimmung im eindrücklich gestalteten Rezitativ auf, überzeugt auch in der Arie mit schmerzlicher Tongebung. Die Cabaletta „Bagnato il sen di lagrime“ gelingt gleichfalls mit exakter Ausführung der kleinen Noten und einem souveränen hohen Schlusston. Insgesamt zählt dieser Block zu den gelungenen Titeln der Auswahl.

15 der 25 Titel der Anthologie widmen sich dem Universum der französischen Oper. Da ist vor allem Rossini zu nennen mit seinen für Paris komponierten Werken, von denen der Guillaume Tell einen  Gipfel darstellt. Das große Solo des Arnold mit dem Rezitativ „Ne m’abandonne point“ und der Arie „Asile héréditaire“ wird gekrönt von der bravourösen Cabaletta „Amis, amis“, die dem Interpreten eine ganze Serie von hohen C’s abverlangt. Patis Tenor mit seinem buffonesken Beiklang lässt hier grandeur vermissen, wirkt in einigen Passagen in der exponierten Lage sogar gequält. Effektvoll allerdings ist das unwirklich lang gehaltene hohe C am Schluss. Aus Moïse et Pharaon ist sogar ein Duett zu hören, wo sich zu Patis Aménophis der Bassbariton Mirco Palazzi als Pharaon gesellt. Der Tenor trumpft mit seinen Spitzentönen auf, aber dass dieser Titel dennoch wenig Wirkung macht, liegt vor allen am dumpfen Klang des Partners.

Der zweite Gigant ist Giacomo Meyerbeer, aus dessen Grand opéra Les Huguenots eine Szene des Raoul („Ah! quel spectacle enchanteur/Plus blanche que la blanche hermine“) mit verträumtem Klang erklingt, im hoch notierten Schlussteil allerdings forciert wirkt. Die Meyerbeer-Auswahl wird ergänzt durch die Arie des Danilowitz, „Quel trouble affreux“, aus der opéra comique L’Étoile du Nord, in der dem Interpreten eine schöne Steigerung vom verhaltenen Beginn bis zum träumerischen Schluss gelingt.

Bereichert wird das Programm durch einige romantische Werke von Charles Gounod, Jules Massenet und Benjamin Godard. Für jeden lyrischen Tenor mit Affinität zum französischen Idiom ist die Arie des männlichen Titelhelden aus Roméo et Juliette, „Ah! lève-toi, soleil!“, gleichermaßen Prüfstein wie Kultstück. Sie folgt hier dem Verdi/Rigoletto-Block und lässt ein ungleich günstigeres Bild erstehen. Die Stimme fühlt sich in diesem Repertoire deutlich wohler, klingt weich und schwärmerisch. Weniger bekannt ist die zweite Oper Gounods, Polyeucte, aus der Pati die Arie des Titelhelden, „Source délicieuse“, singt. Deren introvertierten, schmerzlichen Ausdruck trifft er gut, denn die Stimme klingt hier umflort und verschattet. Eine Trumpfkarte für lyrische Tenöre ist die Traumerzählung des Des Grieux („Instant charmant/En fermant les yeux“) aus Massenets Manon. Es war Patis erste französische Partie und sie liegt ihm wie der Roméo optimal. Mit einer Rarität, der Arie des Jocelyn („Cachés dans cet asile/Oh! Ne t’éveille pas encore“) aus der gleichnamigen Oper von Godard, endet die Auswahl. Da hört man noch einmal zärtlich-weiche, in der Höhe schwebende Töne, welche Pene Patis Trümpfe sind und auf die er sich beim Aufbau seiner Karriere konzentrieren sollte. Bernd Hoppe

Musik und Vergangenheit in Wien um 1900

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Schwierige, aber gewinnbringende Kost: Liegt es an einer Ahnung vom baldigen Untergang des Vielvölkerstaats Habsburgerreich und seiner Monarchie, dass um das Jahr 1900 herum ein heftiger Kampf um die Einschätzung der kulturellen Vergangenheit und deren Bedeutung für Gegenwart und Zukunft stattfand? Michael Meyer hat unter dem Titel Moderne als Geschichtsvergewisserung- Musik und Vergangenheit in Wien um 1900 verfasst, dass sich hoch anspruchsvoll und tief wissenschaftlich mit umfangreichem kritischem Apparat des Themas annimmt und dazu längst vergessene, aber auch noch heute beliebte Kunstwerke einer intensiven und ausführlichen Betrachtung unterzieht. Das hat natürlich auch zur Folge, dass an den Leser einige Ansprüche gestellt werden, und der nicht Fachkundige sollte zuerst die Anmerkungen unberücksichtigt lassen, wenn er den Faden nicht verlieren will.

Die Einleitung beruft sich auf Robert Musil und die Meinungen seiner Romanhelden über Kultur als gleichzeitigen Reichtum und gleichzeitige Last, auf das zur damaligen Zeit herrschende Gefühl von Kultur, an der Wien so überreich war und ist, zugleich von Reichtum und Last, an die Furcht vor Identitätsverlust angesichts vieler Neuerungen, nicht zuletzt in der Stadtarchitektur. Eindrucksvoll wird das Schwanken zwischen dem Bemühen um Geschichtsvergewisserung und Traditionsbruch geschildert, ein Überblick über bisher zum Thema erschienene Literatur gegeben.

Im Kapitel über sein Vorgehen berichtet der Verfasser zunächst nachvollziehbar über die von ihm verschmähten Methoden, bekennt sich zur Freude des Lesers zur klassisch historisch-hermeneutischen Betrachtungsweise, die er in den drei folgenden Kapiteln Urbanität und Fortschritt, Geschichte und Erneuerung und Distanz und Auflösung anwendet.

Im Mittelpunkt seiner Betrachtungen steht nicht nur die Musik, sondern auch die Gebäude, in denen sie erklingt, werden berücksichtigt, also das Konzertgebäude des Musikvereins  und das Konzerthaus. Außerdem finden die großen Ausstellungen und Gedenktage die ihnen gebührende Beachtung, so die Jubiläumsfeiern für Schubert (1897) und Haydn (1909) und die große Internationale Ausstellung für Musik- und Theaterwesen. In den Gebäuden, das eine im „griechischen Renaissance-Stil“, das andere im Empire-Stil errichtet, sah man durchaus „klassische Musik fürs Auge“.  Arbeitersinfoniekonzerte werden als Versuch einer neuen Klasse gesehen, neben Adel und Bourgeoisie Teilhabe an der Kultur zu gewinnen, Der Rosenkavalier entpuppt sich  gleichzeitig als Verklärung und als Quelle der Erneuerung und zugleich als Ironisierung. Die zweite, die Wiener Fassung der Ariadne auf Naxos, greift ebenfalls indirekt in die Auseinandersetzung um die Rolle der Kultur mit ein.

Für den willigen, aber nicht bereits auf das Thema spezialisierten Leser ist es nützlich, die vielen Hinweise auf bereits erschienene Sekundärliteratur außer Acht zu lassen und dem enger auf das Sujet bezogenen Roten Faden durch das Buch zu verfolgen, allerdings nicht ohne die aufschlussreichen Abschnitte über  die Deuter des Geschehens aus der Zeit selbst wie Eduard Hanslick, Robert Hirschfeld oder Guido Adler zu vernachlässigen. In diesem Zusammenhang ist es auch sehr interessant zu erfahren, dass die deutschen Arbeiterführer Lassalle und Karl (!) Liebknecht eine idealistische Kunstauffassung vertraten.  

Schon beinahe belustigend sind die erbitterten Kämpfe um die Deutungshoheit über den Wiener Walzer als Identitätsstifter und Zankapfel zugleich, das Phänomen, dass dieser zum Beispiel im zur Zeit Maria Theresias spielenden Rosenkavalier eine bedeutende Rolle spielt, obwohl er damals noch gar nicht existierte. Der Verfasser betrachtet auch die Rezeptionsgeschichte des Ballett-Divertissements „Wiener Walzer“, das als „Produkt des Aufblühens der modernen Geschichtskultur“ angesehen wurde, während mit der Haydn-Ehrung die Erinnerung an die Schlacht bei Aspern verbunden wurde, den ersten Sieg Österreichs über Napoleon.    

Hochinteressant ist die Zweiteilung der Meinungen über die Stellung der sogenannten „Wiener Moderne“, die einerseits als ein Wiederaufgreifen musikalischer Gesetze aus der Renaissancemusik gesehen wird, sich über ein Urteil wie das von Hanslick hinwegsetzend, für den Musik erst mit Händel und Bach interessant zu werden schien. Das ist nach Meyer jedoch nicht der einzige Grabenkampf nicht nur in der Wiener Gesellschaft, sondern genauso gespalten ist man auch in der Einschätzung der Wissenschaft und ihrer Erkenntnisse, die von den einen als purer Fortschritt, von den anderen als Verlust an Poesie oder gar Profanierung des Heiligen angesehen wird. In diesem Zusammenhang wird dann auch die Legitimierung der „Moderne“ in dem „Rückbezug auf ältere Musik“ gesehen. Mit unendlich vielen Beispielen weiß Meyer seine Thesen zu untermauern, den Leser bereichernd, aber manchmal auch überfordernd, der schmunzelnd feststellt, dass auch damals schon Der Merker ein Wörtchen bei der Auseinandersetzung um klassische Musik mitzureden hatte.

Im Mittelpunkt des Kapitels III steht dann die Operette Alt-Wien, die gleichermaßen Nostalgie und Spott auslöste, und der Leser erfährt schmunzelnd von der alten Fürstin Metternich, die im Walzer die machtvolle Waffe gegen die sich ausbreitende Tangoseligkeit sah.

Stefan Zweigs Zehn Wege zum Deutschen Ruhm und andere Beispiele zeigen, mit wie viel Esprit und feinem Florett diese Kämpfe ausgefochten wurden, nicht nur literarisch, sondern auch musikalisch mit einer Verhohnepiepelung der Kaiserhymne, was mit vielen Notenbeispielen nachgewiesen wird. Als Leser weiß man nicht, ob man die Österreicher dafür beneiden oder bemitleiden soll, dass sie kurz vor dem Zusammenbruch all der Kaiser-Vielvölker-Kultur-Herrlichkeit mit so großem Engagement den Kampf um die Deutungshoheit über den musikalischen Geschmack führen konnten, aber eigentlich ging es ja um wesentlich mehr, wie das Buch auch eindrucksvoll zu vermitteln weiß.   Ein umfangreicher Anhang beinhaltet Primär- und Sekundärquellen, Danksagung und Personenregister (245 Seiten, Bärenreiter Verlag 2021). Ingrid Wanja

Ah Paris!

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Benjamin Bernheims Debütalbum von 2019 lässt die Deutsche Grammophon nun eine neue CD mit dem Tenor folgen, die im April des vergangenen Jahres in Bologna aufgenommen wurde (4861964). Sie ist von besonderem Interesse, denn mit ihrem Motto Boulevard des Italiens widmet sie sich jenen Werken, welche populäre italienische Komponisten für berühmte Opernhäuser in Paris – die Grand Opéra, die Opéra-Comique, das Théâtre des Italiens, das Théâtre de la Renaissance – geschrieben haben. Dass der Palazzetto Bru Zane bei diesem Projekt mitwirkte, unterstreicht die stilistische Kompetenz der Veröffentlichung. Dafür verwundert die Verpflichtung des Orchestra del Teatro Comunale di Bologna, denn ein französischer Klangkörper hätte das Klangbild mit Sicherheit noch idiomatischer werden lassen. Aber immerhin steht mit Frédéric Chaslin wenigstens ein Franzose am Pult des Orchesters. Wichtigstes Argument für die Bedeutsamkeit der Platte ist natürlich, dass der Gesangssolist selbst Franzose ist. Zweifellos besitzt Bernheim eine der schönsten Tenorstimmen unserer Zeit und ist zudem stilistisch im lyrischen französischen Repertoire derzeit konkurrenzlos. Davon zeugt auch die neue Platte, welche mit Pinkertons Arie „Adieu, séjour fleuri“ aus Madame Butterfly beginnt. Die von Paul Ferrier übersetzte und von Puccini überwachte Fassung kam am 28. Dezember 1906 zur Premiere. Für Bernheim ist es ein effektvoller Einstieg mit emphatischer Stimmgebung. Mit Tosca steht auch ein Werk dieses Komponisten am Schluss der Auswahl. Wieder stammte die Übersetzung von Ferrier und wieder war die Opéra-Comique der Ort der Erstaufführung (13. Juni 1898). Zu hören ist Cavaradossis Arie aus dem 1. Akt „Ô de beautés égales, die in ihrem schwärmerischen Nachdruck die Platte hinreißend abschließt.

Die Ausschnitte von Gaetano Donizetti stammen aus Opern, die explizit für Paris entstanden und dort 1840 bzw. 1843 uraufgeführt wurden. Aus La Fille du régiment hat Bernheim die Romance des Tonio, „Pour me rapprocher de Marie“, ausgewählt. Hier kann er gleichermaßen leidenschaftliches Gefühl wie delikate Nuancen hören lassen. Aus La Favorite ist die Cavatine des Fernand, „Ange si pur“,  zu hören, in der es vor allem auf schwärmerischen Ausdruck ankommt. Neben diesen zwei träumerischen Titeln ist das Air des Titelhelden aus Dom Sébastien („Seul sur la terre“) bei aller schwelgerischen Emphase auch ein Bravourstück, das dem Sänger nicht weniger als drei hohe C’s im forte und ein Des dolce abverlangt. Bernheim kann hier vor allem seine perfekt funktionierende voix mixte demonstrieren.

Auch Giuseppe Verdi schuf Werke für die Opéra. Das erste war eine Umarbeitung seiner frühen Komposition I Lombardi, die nun den Titel Jérusalem trug. Das Air des Gaston, „Je veux encor entendre ta voix“, wird am Schluss von einem hohen C gekrönt, das Bernheim mit strahlender Stimme absolviert. Don Carlos, uraufgeführt 1867, war der Höhepunkt im französischen Opernschaffen des Komponisten und gleichzeitig auch im Genre der Grand opéra. Zu hören sind die wehmütige Cavatine des Titelhelden, „Je l’ai vu“, in der Bernheim feine Kopftöne hören lässt, und das berühmte Duo mit Rodrigue, „Dieux, tu semas dans nos âmes“, bei dem der Bariton Florian Sempey mitwirkt und durch seine markige Stimme und idiomatische Interpretation viel zur Wirkung des Titels beiträgt. Zwölf Jahre zuvor kam Verdis Grand opéra Les Vêpres siciliennes heraus. Die Cavatine des Tenors aus dem 4. Akt, „Ô jour de peine et de souffrance“, bekam ab 1863 eine neue Gestalt in Form von „Ô toi que j’ai chérie“, für die sich Bernheim entschieden hat. Deren Melancholie trifft er sehr eindrücklich und meistert auch die trancehafte Steigerung imponierend. Mit der Scène des Giorgio, „Amica! Vous restez à l’écart/Pourquoi garder ce silence obstiné“, aus Pietro Mascagnis Amica, entstanden auf einen original französischen Text von Paul de Choudens und uraufgeführt 1905 an der Opéra de Monte-Carlo, hat Bernheim sogar noch eine veritable Rarität ins Programm aufgenommen. In ihrem veristischen Stil stellt sie für den Sänger einen Ausflug in ungewohnte Gefilde dar, verlangt sie doch eine verschwenderische Fülle des Tones und strömenden Fluss der Stimme. Hier steuert auch das Orchester überzeugende Momente bei.

Schließlich finden sich auf der CD noch zwei Komponisten, die Ende des 18. Jahrhunderts die Vorherrschaft im Pariser Opernleben hatten. Gaspare Spontini sorgte mit La Vestale (Uraufführung: 1807) für den Wechsel vom klassizistischen zum romantischen Stil. Bernheim hat daraus das Air des Licinius, „Julia va mourir!“ ausgewählt, das ihm in seiner dramatischen Dimension heroischen Ausdruck abverlangt. Spontinis Konkurrent war Luigi Cherubini, aus dessen selten zu hörendem Werk Ali-Baba, ou les Quarante Voleurs der Prologue und die Romance des Nadir erklingen. Die Partie wurde von der Tenorlegende Adolphe Nourrit kreiert, womit sich ihr extremer Anspruch an die Gesangskunst des Interpreten erklärt. Mehrfach ist das hohe C gefordert und Bernheim brilliert hier in imponierender Manier. Bernd Hoppe

Genuss durch Wissen

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Nicht einmal in der Sala dei Violini und im Museo Stradivariano von Cremona zusammengenommen kann man so viele aus der Hand des Geigenbaumeisters Antonio Stradivari stammende Geigen erleben wie auf der Bluray, die unter dem Titel Janine Jansen, Falling for Stradivari bei Arthaus erschienen ist. Die einzigartige Initiative der J.& A. Beare Firma schaffte etwas eigentlich Undenkbares: für die Erstellung eines Katalogs der noch existierenden Geigen des Cremoneser Meisters zwölf seiner in alle Welt zerstreuten berühmtesten Violinen nach London zu bringen, wo sie der holländischen Geigerin Janine Jansen, die selbst die Shumsky als Leihgabe eines Mäzens spielt, für ein Konzert zur Verfügung gestellt wurden. Dieses ohne Publikum in der Cadogan Hall in London mit Antonio Pappano am Klavier aufgenommene Konzert fand an mehreren Tagen (Das lassen unterschiedliche Kleidung und Frisur vermuten.) statt, und man sollt es sich nicht ansehen und anhören, ehe man nicht den von Gerald Fox zu verantwortenden Film über die Planung und Durchführung des Mammutunternehmens gesehen hat. Danach wird man ein anderer Konzertgänger geworden sein, der nicht nur auf das Was des zu spielenden Musikstücks und auf das Wie seiner Aufführung achtet, sondern auch auf das Wer des Instruments, das der Solist des Violinkonzerts zum Klingen bringt. Nicht nur die inzwischen weltberühmte Geigerin, sondern auch Musikwissenschaftler oder Geigenbauer stehen für ihre Überzeugung gerade, dass jede dieser Meistergeigen, die sämtlich einen Namen haben, den ihres vorübergehenden Besitzers oder des Künstlers, der sie spielte,  eine Seele besitzen, die zu entdecken Aufgabe des Solisten ist. So kann der Zuschauer fasziniert den Kampf um die Entdeckung dieser Seele verfolgen, der die Solistin auch schon mal zur Verzweiflung und die Techniker zu allerlei Manipulationen bringen kann, ehe sich Geigerin und Instrument miteinander in schöner Eintracht befinden, die Geige ihre Seele offenbart. Faszinierend ist es auch mitzuerleben, wie aus einem Katalog zur Verfügung gestellter Musikstücke für jede Geige das für sie geeignetste gesucht und gefunden wird. Nachvollziehbar ist, dass auf der Vieuxtemps eben dieser gespielt wird, auf der Kreisler Liebesleid. Eingeblendet werden, falls vorhanden, Aufnahmen von Vorbesitzern beim Spielen ihres Instruments wie Nathan Milstein mit der Milstein oder Ida Haendel mit dem nach ihr benannten Instrument. Es ist für den Betrachter faszinierend, in den Schaffensprozess mit einbezogen zu werden, und er bangt nachträglich noch mit, wenn er erfährt, dass das Unternehmen durch die Corona-Erkrankung von Jansen unterbrochen wurde und beinahe scheiterte, weil man die Geigen nun länger, als es vorgesehen war, in London behalten und sich mit den Besitzern einigen musste. Insofern war für das Zustandekommen der Aufnahme die Pandemie auch ein Glücksfall, als die Instrumente wenigstens nicht anderweitig gebraucht wurden.

Mit dem zunehmenden Wissen um die Stradivaris wächst auch der Genuss am Hören dieser wunderbaren Instrumente, selbst dem um geschichtliche Zusammenhänge wie der Wanderung der Geigen erst durch Europa, je nach Bedeutung des jeweiligen Gastlandes, inzwischen nach Asien, wo sie in manch einem Tresor schlummern, was nicht unbedingt verdammenswert ist, denn auch Strads ( so die Bezeichnung unter Kennern) werden durch Benutzung gefährdet.

Die Blu-ray verhilft dem Betrachter nicht nur zu viel Wissen, sondern gewährt ihm auch einen Einblick in die künstlerische Arbeit zweier herausragender Musiker, lässt ihn nicht nur das Ergebnis ihres Schaffens bewundern, sondern in gleicher Weise den Ernst, den Fleiß (!), die Begeisterung für die Sache, mit der sie bis zur Erschöpfung zu Werke gehen. Das alles bleibt als Hintergrundwissen beim nächsten Konzertbesuch des Betrachters und macht ihn kompetenter, aufnahmebereiter und verständnisvoller, bereichert ihn so immer wieder aufs Neue.

Und noch eine ganz persönliche Bemerkung der Rezensentin zum Schluss: Mein verstorbener Mann spielte von Kindesbeinen an bis kurz vor seinem Tod Geige, allerdings nur eine Meistergeige aus Mittenwald. Beim Ansehen der BLuray habe ich bedauert, dass er den Genuss nicht mit mir teilen konnte- es hätte ihm viel bedeutet (Arthaus 109453). Ingrid Wanja          

 

Bruckners Jugendsünde

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Anton Bruckner (1824 – 1896) wollte zeit seines Lebens eine dramatische Oper schreiben. Stücke wie Helgoland (1873) oder Der Germanenzug (1836) sind beredte Zeugnisse für diese Sehnsucht, Offenbach und Beethoven gleich zu tun. Die 1848 (was für ein Jahr!) begonnene tragische Oper Linzertörtchen geht zurück auf eine Lektüre von A. G. Beisensteins Dichtung gleichen Namens, deren Autor ein bekannter niederösterreichischer Schriftsteller und Verherrlicher der alpinen Landschaft zu Beginn des 19. Jahrhunderts war.

Der junge Anton Bruckner/Sammlung Ernie Bruckner, Nevada

Der junge Anton Bruckner/Sammlung Ernie Bruckner, Nevada

Bruckner erkannte, erstmals 1846 mit dem Roman vertraut geworden, die potenziellen dramatischen Möglichkeiten und bat seinen engen Freund und Lehrer Simon Schechter um Hilfe, mit dessen Kooperation er das Libretto erstellte, dessen Schwächen nicht zu leugnen sind. Autobiographische (wenn auch peinliche und deshalb stets verdrängte) Erlebnisse haben zweifellos Einzug in die Vorlage gefunden, wurde doch Ähnliches aus Bruckners Kindheit selbst erst vor kurzem bekannt (vergl. Berichte der Brucknerforschung 111, Linz 2006). Das unerwartete Sujet bezieht deutlich Antithese zu der leichtlebigen Wiener Operette, der Bruckner stets abhold war und deren Frivolität er erheblich missbilligte. Statt „Saus´ und Braus´“ wollte er die Abseiten der Wiener Großstadt und deren Verrohung zeigen. Diese sozialkritischen Tendenzen jener Jahre schlagen sich auch in seinen verschiedenen Vertonungen aus der Zeit, so in seinem Vokalwerk Um Mitternacht von 1844 (a capella Männerchor) nieder, das durchaus als Vorstufe auch in musikalischer Sicht zu Linzertörtchen gewertet werden kann.

In eben dieser Oper ist bereits deutlich Bruckners frühe Auseinandersetzung mit Wagners Musiksprache zu erkennen, die auf eine von ihm besuchte Vorstellung des Fliegenden Holländer in Linz zurückging. Deutliche Leitmotivik etwa findet sich in der Verwendung des Cello-Solo für Wuff, auch im Gebrauch des Englischhorn für die idyllisierte Bergwelt des 3. Aktes (1. Teil). Männlich-martialische Themen etwa werden für Harald und Franz verwendet, gebrochene und quasi der Manneskraft beraubte für den alten Buchenau. Aber auch die weit ausschwingende, beinahe „endlose“ Melodie (etwa im Sinne des späten Wagnerschen Tristan) findet für die Schilderung der persönlichen Misere Mitzis Verwendung. Die versöhnlichere D-Dur-Tonart schließlich – so typisch für spätere Bruckner-Symphonik – begegnet uns in dem, trotz des von seiner Tragik überschatteten positiven Schluss eines „neuen Anfangs“.

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mitzi 2Linzertörtchen wurde vom Komponisten nicht zu Ende geschrieben – man mag über die Motive spekulieren: Waren es die für damalige Zeit anrüchigen Szenen, war es das von ihm nur konzipierte Finale, war es vielleicht auch die Verwendung eines Hundes in einer Oper?. Sein Freund Gustav Mahler übernahm, wie bereits im Falle von Webers Drei Pintos, die endgültige Orchestrierung (und fügte zweifellos einige eigene Wendungen mit ein – eine endgültige Überprüfung des originären Brucknerschen Anteils steht immer noch aus; vergl. dazu auch den Aufsatz von Irmtraud Sennemeyer, Bruckner – Mahler: eine intime Männerfreundschaft in: Festschrift zu Anton Bruckners 100. Geburtstag, Linz, 1924). Mahler dirigierte auch die einzige Aufführung, 1896 im Wiener Grabentheater zum Andenken an seinen Freund – eine Benefizvorstellung für die in Armut lebende Witwe des Komponisten. Danach fiel das Werk in Vergessenheit, begünstigt durch den Brand des Theaters und die daraus resultierende Vernichtung des originalen Notenmaterials im Büro des Wiener Musikverlages Rosenthal und Erben im selben Gebäude.

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Blick auf das Wiener Grabentheater zur Zeit der konzertanten Premiere//Sammlung Ernie Bruckner, Nevada

Blick auf das Wiener Grabentheater zur Zeit der konzertanten Premiere//Sammlung Ernie Bruckner, Nevada

Dabei ist vieles aus dieser Oper durchaus erinnerungswürdig, etwa das schicksalhafte Adagio (auf Motive, die später in Helgoland wieder auftauchen) im letzten Bild, wenn Wuff das Kind retten will. In jüngster Zeit ist eine Zensurkopie der Partitur, wenn auch mit voraussehbar erheblichen Strichen, aus den Archiven der Wiener Polizeipräfektur ans Tageslicht gekommen. Eine Neufassung wurde vom ehemaligen DDR-Verlag Schwäbischer, Leipzig vorbereitet, aber verworfen aus ideologischen Gründen (Margot Honegger sprach sich dagegen aus). Der chilenische Verlag Gomes, Carriba & Wagner hingegen versucht gerade die Rechte für eine Rekonstruktion zu erwerben – der bekannt-kontroverse  lateinamerikanische Regisseur Manuel de Osta plant in Rio de Janeiro eine erste szenische Fassung.

mitzi 1Die Linzer Klangwolke hatte Interesse angemeldet, aber wie das ZDF auch dieses wieder eingestellt – das Sujet, so hörte  man, schade dem Andenken des doch als sehr seriös bekannten Komponisten, zumal auch die Erben und Bruckners Hauptverlag, die Universal Edition, sich dagegen aussprachen. Es bleibt als Alternative nur der Blick über den Atlantik, wo das Caramoor-Festival wohl doch in zwei Jahren an die Realisierung einer kritischen Ausgabe gehen wird, Katja Czellnik ist als mögliche Regisseurin für diese Frauenoper im Gespräch

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Zum Inhalt auch einige musikdramaturgische  Anmerkungen: Prolog – Im Schloss Gräsenberg (Karpaten, K. u. K.) kommt Gräfin Edeltraud (Koloratursopran) gerade dazu, als ihr Mann, Graf Joachim (Tenor), ihren Liebhaber erwürgt, mit dem er, der Voyeur,  sie in der Nacht zuvor beobachtet hat (Melodram). Ihrer ansichtig, flieht er trotz ihrer verzweifelten Rufe in die Berge. Edleltraut beschließt, ihm zu folgen, auch wenn das Kind unter ihrem Herzen vom Studienfreund Gernoth ist, dem intimen Freund des Erwürgten, Harald. Vorhang.

Noch einmal Traude Hubelocz-Greifshuber und Adolf Alois Steckeck, die Sänger der Uraufführung, in Damraus Oper "Draußen im Wiener Wald"/Foto Steckek Erben

Noch einmal Traudel Hubelocz-Greifshuber und Adolf Alois Steckeck, die Sänger der Uraufführung, in Damraus Oper „Draußen im Wiener Wald“/Foto Steckek Erben

Akt 1: In einer Wiener Spritzbäckerei stellt sich eine junge, völlig erschöpfte und heruntergekommene Frau als Aushilfe in der Verkaufsstube vor, sie nennt sich Mitzi. Der Bäckergeselle, Franz (Tenor), wird ihrer ansichtig und verschwindet bleich in der Backstube. Der Inhaber der Bäckerei, Herr Gablonz (Bass), macht Mitzi schöne Augen – auch wenn seine Frau Hedi (Alt) den Braten riecht und sich bereits wappnet, kennt man doch die losen Sitten ihres Mannes und seines Freundeszirkels (heiteres Quartett, allgemeines Ensemble und Schluss).

Auch für Riskanteres war sich Traude Hubelocz-Greifshuber im Dienst der Kunst nicht zu schade - hier mit Erwin Stächer als Angelika in Schmerbachs damals sehr erfolgreicher Operette "Frivole Spiele"/Foto Sammlung Ernie Bruckner, Nevada

Auch für Riskanteres war sich Traudel Hubelocz-Greifshuber im Dienst der Kunst nicht zu schade – hier mit Erwin Stächer als Angelika in Schmerbachs damals sehr erfolgreicher Operette „Frivole Spiele“/Foto Sammlung Ernie Bruckner, Nevada

Akt 2: Mitzi allein in ihrer kalten, spartanischen Kammer (großes Solo). Sie beklagt ihr Los in der Großstadt auf der Suche nach Harald, dem Vater ihres Kindes (Saxophonsolo – dies weit vor Massenets Verwendung des Instruments im Wiener Werther!). Um ihren Lebensunterhalt einigermaßen aufzubessern, weil sie ihr bei einer alten Frau verstecktes Kind ernähren muss,  hat sie sich ein paar leichten Dingern angeschlossen, die sie in Wiens lockere Gesellschaft eingeführt haben. Mitzi ist – als Kind vom Land – sofort ein Erfolg, und weil sie in ihrer Unschuld und in prekären Situationen stets ein paar Linzertörtchen bei sich hat und daran knabbert, um ihre Schüchternheit zu verbergen, heißt sie bald nur „Linzertörtchen“. Dabei hat sie es einem reichen alten Grafen, Fürst Buchenau (Bass), besonders angetan, der seinen Bernadiner Wuff mit einem Körbchen voller Linzertörtchen zu ihr schickt, wenn er Verlangen nach ihr hat. So auch nun: Wuff (Tanzpantomime/Schellen und Schlagzeug) kratzt an der Tür, und Mitzi seufzt: Es ist mal wieder soweit. Sie verhüllt ihr Gesicht mit dem neuen Schleier um und will aus der Tür gehen, da stellt sich ihr ein Mann in den Weg – Harald (Tenor). „Wo ist mein Kind?“ schreit er und greift sie an. Der Bäckergeselle Franz mit der langen Narbe auf der Wange springt hinzu. Die Männer raufen, und Mitzi rennt davon, zum Fürsten, weil sie an ihr Kind und das Geld denkt.

Trude Hubelocz-Greifshuber: Publicity-Foto/Sammlung Ernie Bruckner, Nevada

Traudel Hubelocz-Greifshuber: Amerikanisches Publicity-Foto/Sammlung Ernie Bruckner, Nevada

Akt 3: Auf einer Wiese bei Schönbrunn. Mitzi stillt ihr Kind, da stürzt die alte Ziehmutter (Alt) herzu: Polizei (Bariton, Bass/großes Orchester – auch hier starke Ähnlichkeiten zum Vorspiel des Ring von Wagner später – es bleibt interessant zu untersuchen, wer wen befruchtet hat). Mitzi erbleicht, hat sie doch – wie sie meint – den alten Fürsten Buchenau umgebracht, als sie sich nicht anders zu helfen wusste. Sie wird abgeführt. Szenenwechsel.

Im Salon des Palais Buchenau an der Donau. Fürst Buchenau sitzt mit einem Halsverband und einem gewickelten Fuß (Gicht/Solo mit Oboe) am Fenster. Neben ihm Franz, nun nicht mehr Bäckergeselle, sondern sein Neffe, Graf Joachim von Gaisenberg. Herein wird Mitzi geführt, das Kind auf dem Arm. Sie erkennen sich und fallen sich in die Arme. Als er jedoch das Kind anfassen will, schreit sie: „Er ist nicht von Dir!“ Joachim, rasend vor Wut, packt den kleinen Jungen und schleudert ihn aus dem Fenster in die nahe Donau. Wulff jedoch springt hinter dem Säugling her. Man hört Geheul. „Edeltraut, lass uns einen neuen Anfang machen, im April!. April, ja Joachim!“ Evi Rehgert

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Arbeitskreis Sexualität in der Oper: rechts helma Huppert/ASO

Arbeitskreis Sexualität in der Oper: rechts die Autorin Evi Rehgert/ASO/Sammlung CSO Bogota

Die austro-amerikanische Autorin Evi (Evelyne) Rehgert ist renommierte Feministin mit Schwerpunkt LGBT und Frauen-Literatur (bekannt sind ihre Biographien berühmter  Persönlichkeiten wie Walpurga Leider und Isolde Chamberlain), aber auch über Tagelöhner-Frauen in der österreichischen Wachau, wo sie im dortigen Kloster im Rahmen des Symposiums über Prostitution auf dem Lande im frühen 19. Jahrhundert eine der Entdeckerinnen des verschollen geglaubten Bruckner-Palimpzests war, das unter abenteuerlichen Umständen dorthin gelangt ist – vergl. den Bericht im Wachauer Morgen, Oktober 2011.

Weiters ist Evi Rehgert bekannt für ihre Kurse und Untersuchungen zu Geschlechtskrankheiten infolge zu hoher Zuckerwerte bei lesbischen Sängerinnen des K.u.K-Kaiserreichs, hat auf diesem Feld promoviert und eine Professur an der Universität Bogotà inne. (Die bisherigen Beträge in unserer Serie „Die vergessene Oper“ finden Sie hier)

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Dem Andenken meines unvergessenen Freundes Jörg Graepel gewidmet!/G. H.