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Der römische Senator Cecilio in Lucio Silla ist eine von Mozarts berühmten Kastratenpartien. Bei der Uraufführung des Dramma per musica 1772 im Teatro Regio Ducale von Mailand hatte sie der gefeierte Venanzio Rauzzini gesungen. Wegen ihres extremen Stimmumfanges ist sie von besonders hohem Anspruch und wurde und wird daher fast immer nur von Mezzosopranen interpretiert. In der ERATO-Neuaufnahme gibt es den Glücksfall, dass der renommierte Countertenor Franco Fagioli in der Lage ist, die hohen Anforderungen der Rolle zu bewältigen. Die Einspielung entstand im Juni 2021 in Boulogne-Billancourt im Rahmen einer europäischen Aufführungsserie und wurde nun von ERATO auf zwei CDs veröffentlicht (0190296377341). Nach der Version unter Nikolaus Harnoncourt ist es erst die zweite in historischer Aufführungspraxis. Am Pult des Insula orchestra steht Laurence Equilbey, die das Werk des jungen Komponisten mit gebotener Frische und in farbiger Vielfalt auffächert. In der dreiteiligen Ouverture gelingt ihr die Balance zwischen graziösem Duktus und dramatischem Aplomb. Die Musiknummern begleitet sie umsichtig und stets die Belange der Sänger beachtend.

Fagioli als Cecilio ist das Ereignis der Aufnahme. Phrasierung und Technik sind makellos, sein unverwechselbares Timbre und die expressive Formung der Rezitative machen ihn zu einer starken Persönlichkeit. Stupend ist die Agilität in den horrend schwierigen Soli, beginnend mit dem Auftritt „Il tenero momento“. Hier gilt es, enorme Unterschiede zwischen baritonaler Tiefe und sopraniger Höhe zu überwinden, zudem virtuoses Zierwerk zu meistern. Die Arie zu Beginn des 2. Aktes, „Quest’improvviso tremito“, ist von Beginn an eine Herausforderung an dramatisches Gestaltungsvermögen und vehement herausgeschleuderte Töne als Zeugnisse von Raserei. „Pupille amate“ im 3. Akt als inniges Liebesbekenntnis lässt die Schönheit und Sinnlichkeit der Stimme zur Wirkung kommen. In diesen Nummern von unterschiedlichem Zuschnitt behauptet sich Fagioli eindrucksvoll als nach wie vor führender Interpret in diesem Genre.

Profilieren kann sich auch Alessandro Liberatore als Titelheld, der von Mozart etwas stiefmütterlich bedacht wurde und nur zwei Arien zu singen hat. In den meisten Einspielungen fällt die Interpretation dieser Figur etwas blass aus. Hier aber gefällt der Sänger mit seinem markanten, männlich timbrierten Tenor, der herrscherliche Autorität verströmt. Gleich in der Auftrittsarie, „Il desio di vendetta“, wird das in der Vehemenz der Stimmführung spürbar. Auch „D’ogni pietà“ im 2. Akt imponiert durch den erregten Duktus. Und er führt autoritär das pulsierende Terzett mit Giunia und Cecilo am Ende des 2. Aktes an.

Die drei Sopranpartien des Werkes dominiert Olga Pudova als Cecilios Braut Giunia, die dramatisches Potential erfordert. Die erste Arie, „Dalla sponda tenebrosa“, gerät in der Tongebung etwas larmoyant, im Schlussteil aber furios auffahrend. Ihr fällt das einzige Duett der Oper zu – mit Cecilio beendet sie den 1. Akt mit „D’Eliso in sen m’attendi“ in schönster stimmlicher Harmonie. Im 2. Akt hat sie mit „Ah se il crudel periglio“ ihr Bravourstück, das ihr schier endlose Koloraturgirlanden abverlangt. Hier wächst die Sängerin mit geradezu unwirklicher Virtuosität über sich hinaus. „Fra i pensier“ im letzten Akt ist nicht weniger anspruchsvoll, weil hier eine verschattete, tragische ombra-Stimmung verlangt wird.

Chiara Skerath nimmt die zweite Rolle en travestie wahr – Cecilios Freund Lucio Cinna. Die Stimme ist klar, aber nicht weiß, der Vortrag beherzt, doch immer kultiviert. Mühelos werden die Koloraturläufe absolviert. Mit leuchtenden Tönen und delikaten Verzierungen wartet sie bei „De’ più superti il core“ im letzten Akt auf.

Ilse Eerens komplettiert das Sopran-Trio als Sillas Schwester Celia. Das Timbre ist in seinem melancholischen Schimmer reizvoll getönt, brillant gelingen die aufsteigenden staccato-Skalen. Mit der munteren Cavatina „Strider sento la procella“ eröffnet sie den 3. Akt und kann hier mit feinen Koloraturen und Trillern brillieren. In drei Szenen kann sich Le jeune choeur de Paris (Einstudierung: Richard Wilberforce) mit engagiertem Gesang bewähren. Bernd Hoppe