Bizarre Stratosphären

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Als Paradiesvogel mit spektakulären Roben und Schuhen erscheint Samuel Mariño auf seiner aktuellen CD – nun bei der renommierten Decca (485 29453), nachdem die Debütplatte des Sängers noch bei Orfeo herausgekommen war. Sein extravagantes Outfit ist durchaus berechtigt, denn der Titel des Recitals lautet sopranista – eine seltene Stimmgattung von exotischem Reiz, die im Vergleich zu den weit verbreiteten Countertenören Ausnahmestatus besitzt. In Zusammenarbeit mit seiner Mentorin, der bekannten Sopranistin Barbara Bonney, hat der Solist mehrere Arien ausgewählt, die noch nie von einem männlichen Sopranisten eingespielt wurden. Dazu gehört Cherubinos populäre Arie „Voi che sapete“ aus Mozarts Le nozze di Figaro, welche die Programmfolge eröffnet. Es ist eine träumerische, geradezu zärtliche Interpretation, vom La Cetra Barockorchester Basel delikat begleitet. Der Dirigent Andrea Marcon ist eine bekannte Größe im Barockfach und beweist auch in diesem Repertoire seine Kompetenz. Mozart ist mehrfach vertreten auf der CD – nach eigenen Angaben hat dieser Komponist den Sänger sogar zu seinem Album inspiriert. Der Hirte Aminta in Il re pastore ist eine von den wenigen Kastratenrollen des Salzburger Meisters. Dessen Arien „Aer tranquillo e di sereni“ (1. Akt) und „L’amerò, sarò costante“ (2. Akt) sind in ihrem Charakter sehr verschieden – erstere beherzt und mit munteren Koloraturgirlanden, was dem Sänger Gelegenheit gibt, seine Virtuosität auszustellen und mit Noten in der Extremhöhe zu brillieren, die zweite von innigem Melos und schwärmerischem Ausdruck.

Auch die bekannte Arie des Sesto, „Deh per questo istante solo“, aus La clemenza di Tito wird hier erstmals von einem male soprano interpretiert und mit großer Innigkeit gesungen. Nicht fehlen darf der Sifare – auch dieser eine Kastratenpartie – aus dem Mitridate mit seiner Arie „Lungi date, mio bene“. In diesem Glanzstück Mozartscher Charakterisierungskunst setzt der Interpret einen Höhepunkt seiner Anthologie.

Neben Mozart hat Mariño Musik von Gluck, Cimarosa und Joseph Bologne ausgewählt – von ersterem die sattsam bekannte Arie des Orfeo „Che farò senza Euridice?“, doch hier in einer seltenen Version aus Le feste d’Apollo. Komponiert wurde sie anlässlich einer aristokratischen Hochzeit in Parma und uraufgeführt von dem Kastratensopran Giuseppe Millico. In dieser Fassung hat das Stück keine tragische Dimension, bezieht seinen Reiz eher aus der feinsinnigen Ausformung der musikalischen Linien.

Cimarosas über 80 Opern sind heutzutage nahezu vergessen, nur die Tragödie Gli Orazi e i Curiazi hat überlebt. Daraus singt Mariño die Arie des Curiazio „Resta in pace“ – ein melodisch reizvolles cantabile, welches er sanft ausbreitet. Oreste schrieb der Komponist für die Königin von Neapel. Mit der Arie des Titelhelden „Cara parte del mio core“, einer Weltpremiere, endet die Anthologie mit jener Aufsehen erregenden Bravour, die man mit diesem Sänger in Verbindung bringt. Vorher gab es noch Ausschnitte aus Bolognes L’Amant anonyme, ebenfalls in Weltersteinspielungen. Es ist eine von seinen sechs Opern, welche die Zeit überdauert haben, handelt von der schönen Witwe Léontine, die anonyme Liebesbriefe erhält. Deren Arien „Son amour“ und „Amour devient moi propice“ erklingen nach der lebhaften Ouverture. Beide sind von dramatisch-bravourösem Zuschnitt und stellen das virtuose Vermögen des Interpreten noch einmal ins beste Licht. Bernd Hoppe