Mehr als der „russische Brahms“

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Sergej Tanejew (1856-1915) ist neben Alexander Glasunow die prominenteste Gestalt der russischen Komponistengeneration zwischen seinen Lehrern Peter Tschaikowski und Anton Rubinstein auf der einen Seite und seinen Schülern Sergej Rachmaninow und Alexander Skrjabin auf der anderen. Als Professor und zeitweiliger Direktor des Moskauer Konservatoriums hatte er einen maßgeblichen Einfluss auf letztere, neben anderen Schülern wie Reinhold Glière, Paul Juon und Nikolaj Medtner. Umfassend gebildet, interessierte er sich für Philosophie, Geschichte, Mathematik und Naturwissenschaften und kannte Leo Tolstoj persönlich. Die Revolution von 1905 führte zu Tanejews selbstgewähltem Rückzug vom Konservatorium und zur Wiederaufnahme seiner Tätigkeit als Konzertpianist. Sein Werk umfasst neben vier Sinfonien vor allen Dingen die Operntrilogie Oresteia, die Kantate Johannes von Damaskus sowie einiges an Kammermusik. Nachdem er sich weitgehend von der Komposition zurückgezogen hatte, starb Sergej Tanejew mitten im Ersten Weltkrieg 68-jährig an einer Lungenentzündung, die er sich bei der Beerdigung Skrjabins zugezogen hatte.

Naxos bringt nun auf vier CDs eine Kollektion mit Orchesterwerken (Naxos 8.504060), sämtlich interpretiert von Thomas Sanderling und zwei russischen Klangkörpern, dem Akademischen Sinfonieorchester Nowosibirsk sowie dem Russischen Philharmonischen Orchester. Thomas Sanderling, der Sohn des berühmten Kurt Sanderling (1912-2011), ist genuin eng mit Russland verbunden, wurde 1942 in Nowosibirsk geboren und war dem dortigen Orchester zwischen 2017 und 2022 als Chefdirigent vorgestanden. Die Naxos-Aufnahmen erschienen zuvor bereits einzeln zwischen 2008 und 2010. Die nunmehrige Neuauflage als Box ist sehr zu begrüßen, handelt es sich doch um eine künstlerisch wie klanglich astreine Angelegenheit mit einer ansprechenden Idiomatik.

Die 1898 komponierte und Glasunow gewidmete vierte Sinfonie in c-Moll op. 12 ist fraglos das wichtigste Orchesterwerk Tanejews und ganz allgemein eine der wichtigsten russischen Sinfonien an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Von der Kritik hochgelobt – Rimski-Korsakow sprach gar vom „besten zeitgenössischen Werk“ – unterstrich die Vierte den Ruf Tanejews als genialen Beherrscher des Kontrapunkts. Obschon man ihn den „russischen Brahms“ hieß – was er selbst scharf zurückwies –, gemahnt die dem viersätzigen, etwa 40-minütigen Werk innewohnende Dramatik gleichzeitig auch an Beethoven, ohne ihren russischen Charakter zu verleugnen. Bereits zwei Jahrzehnte zuvor animierte der erste Entwurf zu Tanejews zweite Sinfonie in B-Dur (1875-1878) seinen Kompositionslehrer Tschaikowski zur Aussage, dass dies nicht mehr länger das Werk eines bloßen Studenten sei. Trotz der Ermutigung beließ es Tanejew aber bei einem Fragment, vollendete einzig den Kopf- und Schlusssatz, beließ das Andante bruchstückhaft und das Scherzo gänzlich unvollendet. Erst 1977 ging der sowjetische Musikwissenschaftlicher Wladimir Blok daran, das Andante zu orchestrieren und eine erste Edition des nun dreisätzigen Werkes herauszugeben. Dies ist auch der Grund, wieso die Zweite keine Opuszahl trägt. Machtvoll, heroisch und zuweilen episch mutet sie an und ist wie eine Vorahnung auf die Vierte.

Weniger im Fokus des Interesses stehen die erste Sinfonie in e-Moll von 1874 und die dritte Sinfonie in d-Moll von 1884. Ist im Falle der Ersten der übermächtige Einfluss Tschaikowskis nicht zu leugnen (besonders die sogenannte Kleinrussische dürfte Pate gestanden haben), so bezeugt die Dritte doch einen ausgefeilteren eigenen Personalstil. Tanejews Perfektionismus führte indes dazu, dass weder die Erste noch die Dritte zu seinen Lebzeiten publiziert wurden, womit sie das Schicksal der Zweiten teilen. Die Partitur der Sinfonie Nr. 3 hat Tschaikowski auch kritischer beurteilt und seinem ehemaligen Schüler Ratschläge übermittelt, die sich dieser offenbar durchaus zu Herzen nahm. Die Uraufführung im Jahre 1885 des Anton Arenski gewidmeten Werkes blieb über Jahrzehnte hin die einzige; erst 1947 erschien eine Edition.

Bezeichnend ist es, dass in Sowjetzeiten für Melodia einzig die zweite und die vierte Sinfonie eingespielt wurden, wofür Wladimir Fedossejew (Nr. 2), Gennadi Roshdestwenski (Nr. 4) und Jewgeni Swetlanow (Nr. 4) verantwortlich zeichneten. Im direkten Vergleich mit diesen klassischen Aufnahmen unterliegen die für sich genommen sehr guten Lesarten Sanderlings dann doch um Nuancen, auch wenn er für die Sinfonien Nr. 1 und 3 die erste Empfehlung bleibt.

Tanejews einzige Oper Oresteia (Libretto: A. A. Wenkstern nach Aischylos) entstand zwischen 1887 und 1894 und wurde 1895 im Sankt Petersburger Mariinski-Theater uraufgeführt. Die ursprünglich intendierte Ouvertüre datiert bereits auf 1889 und entwickelte sich rasch zu einem eigenständigen Werk, das unabhängig von der Oper zur Aufführung gelangte. Es handelt sich um das einzige programmatische Orchesterwerk, das der Komponist je schuf, und umfasst beinahe sämtliche wichtigen Themen der Oper. Der Entr’acte Der Tempel des Apollon in Delphi ist wiederum das bekannteste Orchesterstück aus der eigentlichen Oper und steht als Zwischenspiel im dritten Akt derselben. In dieser Oresteia-Musik ist Tanejew Wagner so nahe wie nie. Weitere, womöglich nicht ganz so herausragende aber handwerklich ansprechende Orchesterwerke aus der Feder Tanejews umfassen das Adagio C-Dur (1875), die Ouvertüre d-Moll sowie die Ouvertüre über ein russisches Thema (1882). Sie wurden dankenswerterweise für diese Edition berücksichtigt. Mit der Canzona für Klarinette und Streicher (1883) wählte der Komponist ein im späten 19. Jahrhundert bereits aus der Mode gekommenes Genre. Als Solist fungiert Stanislav Jankovsky. Bei der spät entstandenen Suite de concert (1909) handelt es sich schließlich um ein ausgedehntes, dreiviertelstündiges Konzert für Violine und Orchester in fünf Sätzen, wobei der vierte Satz aus einem Thema und sechs Variationen besteht. Solistisch tritt Ilya Kaler in Erscheinung.

Hinsichtlich Tanejews Vokalmusik steht zuvörderst die berühmt gewordene dreisätzige Kantate Johannes von Damaskus (1884), gewidmet dem letzten der Kirchenväter Johannes dem Damaszener (um 675 bis um 750). Das einleitende, sinfonische geprägte Adagio macht mit 15 Minuten das Gros des Werkes aus, gefolgt von einem sehr knappen, kaum dreiminütigen Mittelsatz, der in das stellenweise monumentale Finale überleitet (8 Minuten). Es brilliert kongenial der Akademische Gnessin-Chor. Mit diesem opus 1 schuf Tanejew seine erste seriöse und zugleich vielbeachtete Komposition. Daneben hat Sanderling unter Beteiligung des Kammerchors der Nowosibirsker Staatsphilharmonie auch die vergleichweise unbekannte Kantate auf Puschkins Exegi monumentum (1880) eingespielt, ein außerordentlich kurzes, nicht einmal fünfminütiges Werk, welches auf zwei Versen des besagten Gedichts von Alexander Puschkin beruht, a capella beginnt und recht archaischen Charakters ist.

Der Klang dieser zwischen 2006 und 2008 im Studio des Westsibirischen Rundfunks in Nowosibirsk sowie im Studio 5 des Russischen Staatlichen Fernsehens und Rundfunks in Moskau entstandenen Produktionen ist glücklicherweise auf demselben hohen Niveau wie die künstlerische Darbietung durch alle Beteiligten. Die Textbeilage fällt labeltypisch gediegen und ausreichend aus und stellt angesichts des günstigen Preises keinen Grund zum Tadel dar. Daniel Hauser