Archiv des Autors: Geerd Heinsen

„Fernand Cortez“ zum 2. & 3.

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Anderorts wären diese Raritäten Anlass für ein Festival der französischen Oper. Zum Beispiel in Paris, wo der Palazzetto Bru Zane im Juni mit Francks Hulda und Saint-Saëns opéra comique Phryné sein neuntes Festival ausrichtet. An der Oper Dortmund ergibt es sich ganz zwanglos, dass an einem Wochenende zwei Opern mit komplizierter Werkgeschichte aufeinanderfolgen: die deutsche Erstaufführung von Ernest Guirauds fünfaktigem Drame lyrique Frédégonde (dazu an anderm Ort mehr) und Spontinis Fernand Cortez (in der sog. „Berliner Fassung“). Zweifellos eine Großtat. Zu verdanken der Phantasie und Initiative des Dortmunder Opernintendanten Heribert Germeshausen, der den kommenden Konwitschny-Ring mit derlei Raritäten schmückt. Dazu soll bald auch La Montagne noire, das 1895 an der Pariser Opéra uraufgeführte Hauptwerk der César Franck-Schülerin Augusta Holmès gehören.

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Friedrich Schinkel: Entwurf zu der Spontini-Oper „Fernand Cortez“, Potsdam 1828;  Kupferstichkabinett, Staatliche Museen zu Berlin /[CC BY-NC-SA] )

Dazu ein Wort zur „Berliner Fassung“ von Klaus Pietschmann: Die Idee zur Komposition der Oper Fernand Cortez verdankt sich einem Kompositionsauftrag, den Kaiser Napoleon I. nach der erfolgreichen Uraufführung von Gaspare Spontinis La Vestale (1807) mit der Intention erteilte, seinen Spanienfeldzug durch ein Propagandastück vorzubereiten. Das Libretto von Victor-Joseph Etienne de Jouy basiert auf verschiedenen historiographischen und dramatischen Vorlagen und hat die Eroberung der Hauptstadt des Aztekenreiches Tenochtitlan durch den spanischen Feldherrn Hernan Cortez zum Gegenstand. Das in Paris verwahrte Autograph lässt erkennen, dass Spontini zunächst eine Urfassung des Librettos vertonte. Kurz vor Probenbeginn wurde jedoch durch den Innenminister eine Umarbeitung des Textes gefordert und unter Mitwirkung von Joseph-Alphonse d’Esménard durchgeführt, die insbesondere die ursprünglich vorgesehene Figur des Montezuma eliminierte.

In dieser ersten Fassung gelangte die Oper am 28. November 1809 zur Uraufführung. Die insgesamt ausgewogene Perspektive dieser Fassung, die die Glorifizierung der Eroberung und den teilnehmenden Blick auf die Situation der Eroberten gleichermaßen beinhaltet, hatte zur Folge, dass die gewünschte Propagandawirkung verfehlt wurde. Gleichwohl sorgte die prominent besetzte, durch spektakuläre Bühneneffekte angereicherte Produktion für gewisses Aufsehen und zog weitere Produktionen an europäischen Bühnen nach sich. Die von Spontini sorgfältig betreute, der Kaiserin gewidmete Drucklegung der Partitur erfolgte bei Imbault vermutlich knapp zwei Jahre nach der Uraufführung. Dass Fernand Cortez bereits in dieser ersten Fassung einen Ausnahmecharakter innerhalb der Opernproduktion der Zeit einnahm, bestätigte erst 2019 die erste moderne Wiederaufführung dieser Fassung in Florenz.

Nach dem Sturz Napoleons nahm Spontini eine grundlegende Umarbeitung der Partitur vor, die am 28. Mai 1817 ihre höchst erfolgreiche Uraufführung erlebte. Neben Umstellungen und Ergänzungen, die etwa den Austausch des ersten und zweiten Aktes betreffen, ist diese zweite Fassung vor allem durch (Wieder-)Einführung der Figur des Aztekenkaisers Montezuma gekennzeichnet, deren Fehlen in der ersten Fassung beanstandet worden war.  In dieser zweiten Fassung, deren Drucklegung bei Erard Ende 1817 oder Anfang 1818 abgeschlossen war, hielt sich die Oper bis 1844 auf dem Spielplan der Opéra und wurde zu einem international vielfach nachgespielten Erfolgsstück. Ihre Berliner Erstaufführung 1818 erfolgte bereits im zeitlichen Zusammenhang mit den Vertragsverhandlungen des preußischen Hofes mit Spontini, die im selben Jahr zu seiner Bestallung als Generalmusikdirektor führten.

Friedrich Schinkel: Entwurf zu der Spontini-Oper „Fernand Cortez“,  Kupferstichkabinett, Staatliche Museen zu Berlin / [CC BY-NC-SA] )

Für die in Dortmund gespielte dritte Fassung nahm Spontini in Berlin eine weitere Umarbeitung vor, die insbesondere die Einschaltung eines „Denouement“, d.h. einer Szenenfolge zur Konfliktlösung, im dritten Akt betraf und 1824 in der Übersetzung von Johann Christoph May zur Erstaufführung gelangte. Diese Fassung wurde anscheinend nur in Darmstadt nachgespielt, allerdings lässt der 1825 erschienene Klavierauszug mit sorgfältig unterlegtem deutschem und französischem Text erkennen, dass Spontini diese Fassung auch für französische Bühnen als die nunmehr gültige ansah – trotzdem kommt es erst jetzt in Dortmund zu einer ersten Produktion. Eine vierte Fassung, die 1832 als solche angekündigt in Berlin und ein Jahr später auch in Dresden aufgeführt wurde, umfasste insbesondere die Einfügung einer Apotheose des Christentums am Schluss.

Fernand Cortez stellt damit diejenige Oper Spontinis dar, deren Bearbeitung ihn am längsten beschäftigte: Mit Unterbrechungen arbeitete er insgesamt 24 Jahre an der Partitur. Insbesondere die dritte und vierte Fassung dokumentieren dabei das Ringen um eine befriedigende Schlusslösung und erscheinen zugleich symptomatisch für die künstlerische Spätphase des Komponisten, die von erlahmender künstlerischer Inspiration und zugleich einem ins Extrem gesteigerten Perfektionismus geprägt war.

Dass in Dortmund erstmals die dritte Fassung in französischer Sprache aufgeführt werden kann, wäre vor einigen Jahren nicht möglich gewesen. Nach bisherigem Kenntnisstand war ihre musikalische Gestalt lediglich durch den von Spontini approbierten Klavierauszug dokumentiert, der 1825 in Leipzig bei Hofmeister erschienen ist. Aufgrund neuer Quellenfunde kann die 3. Fassung inzwischen als umfänglich dokumentiert gelten. So fand sich die als verschollen geltende Berliner Dirigierpartitur in den Beständen der Berliner Staatsbibliothek wieder. Allerdings weist sie erhebliche Bearbeitungsspuren auf, die zu einem Großteil auch die spätere 4. Fassung betreffen. Eine klare Unterscheidung der beiden Fassungen ist aufgrund dieser Quelle nicht immer möglich. Interessant ist in dieser Partitur die Unterlegung des deutschen Textes in lateinischer Current-Schrift – sicherlich handelt es sich bei dabei um ein Entgegenkommen an Spontini, der sich zeit seines Lebens schwer tat, die deutsche Schrift zu lesen.

„Atahualpa“: Schinkels Bühnenbild zu Spontinis „Fernand Cortez“ in berlin/ Wiki

Spontinis eifrigem Bemühen um engen Austausch mit dem europäischen Hochadel ist es zu verdanken, dass sich weitere Quellen zur 3. Fassung in Stockholm und Darmstadt finden ließen – beides Städte, in denen nach 1824 Neuproduktionen des Cortez angesetzt wurden.  Nach Stockholm sandte Spontini eine Teilabschrift, die die neu bearbeiteten Teile des 3. Akts umfasst und vom selben Kopisten stammt wie die Berliner Dirigierpartitur. Etwas irreführend ist die autographe Aufschrift „composé pour le théatre royal de Suède par moi Spontini 1824“: wohl eine Schmeichelei, denn zweifellos war die Überarbeitung primär in Erfüllung seiner Dienstpflichten als preußischer Generalmusikdirektor entstanden. Der Stockholmer Librettodruck von 1826 zeigt allerdings, dass letztlich doch die 2. Fassung in schwedischer Übersetzung gespielt wurde. Folglich weist die aus Berlin übersandte Teilabschrift keine Bearbeitungsspuren auf und dürfte folglich Spontinis ursprüngliche Konzeption der 3. Fassung exakt wiedergeben. Da auch der Klavierauszug abgesehen von wenigen kurzen Kürzungen exakt mit der Stockholmer Abschrift übereinstimmt, bietet sich für den Herausgeber eine ungewöhnlich komfortable Situation.

Tatsächlich gespielt wurde die 3. Fassung 1825 in Darmstadt, allerdings wurden die Aufführungsmaterialien im 2. Weltlkrieg zerstört. Jedoch hat sich im Hessischen Staatsarchiv Darmstadt ein handschriftlicher Entwurf zu dem „Nouveau denouement“ des 3. Akts mit autographen Zusätzen erhalten. Aus dem Begleitschreiben geht hervor, dass es Spontinis Anliegen war, dem Hof die neue Fassung zur Kenntnis zu bringen und sie nachfolgend auch in Frankreich zu verbreiten:

Spontini: „Fernand Cortez“ – der Komponist Gaspare Spontini/ Wikipedia

„In Respektierung der Gewohnheiten des Großherzogs wage ich es nicht, ihm die Musik des neuen Denouements des Cortez direkt zukommen zu lassen, aber ich bitte Sie, Herr Baron, ihm die beigefügten französischen und deutschen Texte zu übermitteln. […] Für Frankreich, wenn man es dort eines Tages übernehmen möchte, werden Jouy oder andere meine Verse leicht korrigieren können, für die ich keinerlei Stolz hege.“

Bereits in den Reaktionen auf die Premiere der zweiten Fassung in Paris war der allzu abrupte, als missglückt empfundene Schluss der Oper kritisiert worden, der in den kuriosen Worten des Cortez gipfelt: «Montézuma, pardonne-moi ma gloire; C’est ta seule amitié que je veux conquérir». Gegenüber König Friedrich Wilhelm III. behauptete der für seine Eitelkeit bekannte Spontini zwar, dass insbesondere das entfallene Schlussballett die Änderung nötig gemacht habe, aber es besteht kein Zweifel, dass ein dramaturgischer Patzer der zweiten Fassung behoben werden sollte, den ein Berliner Rezensent so beschrieb: „Weshalb Amazily, statt sich wie sonst für den gefangenen Bruder ihres Geliebten in die Hände des wüthenden Oberpriesters zu liefern, nun dem Cortez wie eine Brieftaube voranflog, um dem Montézuma zu melden, daß der spanische General im Anmarsch und guten Humors sei – über diesen unbegreiflichen Fehler in der zweiten Gestaltung wissen wir keine Rechenschaft zu geben. Ein so matter Schluss konnte auch der Musik nicht günstig sein.“

Betrachtet man Spontinis Überarbeitung genauer und vergleicht sie mit der 1. Fassung, so zeigt sich, dass er eine für ihn typische modulare Bearbeitungstechnik wählte. In den allermeisten Fällen wird das Dénouement aus existierenden Abschnitten zusammenmontiert, wobei Spontini lediglich die Arie Oberpriesters zu einem Duett mit Amazily erweiterte und einige Übergänge neu komponierte, so dass die maliziöse Bemerkung eines Rezensenten nicht ganz von der Hand zu weisen ist: «In diesem umgearbeiteten Akt des Cortez ist Alles neu, nur die Musik nicht.» Dennoch nicht zu unterschätzen ist der Zugewinn an dramaturgischer Stringenz gegenüber der zweiten Fassung – um den Preis allerdings einer deutlichen Ausdehnung dieses Bildes, das sich damit den Dimensionen der ersten Fassung annäherte, wo sich seine Handlungselemente innerhalb des gesamten dritten Akts entfalten konnten. Um diese Längen zu kompensieren, setzte Spontini auf spektakuläre Bühneneffekte wie insbesondere die Sprengung der Tempelrückwand und den Ausblick auf das brennende Mexiko.

Einem Brief Spontini an den Kronprinzen zur 4. Fassung von 1832 ist eine interessante zusätzliche Erklärung für die neue Schlussgestaltung zu entnehmen: „Den Brand der Stadt Mexiko, den ich in Berlin seinerzeit eingefügt habe, um dem großmütigen preußischen Thronfolger die sublime Heldentat des Brandes von Moskau in Erinnerung zu bringen, habe ich, da er nicht die Zustimmung des Königs fand, im 3. Akt gestrichen.“ Der Brand Moskaus hatte auf die Zeitgenossen großen Eindruck gemacht und war als militärischer Erfolg Preußens propagiert worden, obwohl es sich offenkundig um einen Sabotageakt gehandelt hatte. Im Zuge der politischen Annäherung Friedrich Wilhelms III. an Russland wurde dieser Bezug allerdings problematisch und ist wohl deshalb vom König beanstandet worden.

Der Autor: Klaus Pietschmann/Foto Musikwissenschaft Uni Mainz

Die Oper sollte Spontini noch etliche weitere Jahre beschäftigen und erst mit der 4. Fassung zu einem Abschluss gelangen. Die Arbeit an Fernand Cortez erscheint damit in einer nicht nur chronologischen Nähe zu Agnes von Hohenstaufen, die ebenfalls das Ergebnis eines langwierigen, im Dezember 1826 mit der Auswahl des Librettos einsetzenden und 1837 mit der Uraufführung der dritten Fassung endenden Prozesses war. Symptomatisch erscheint dabei, dass Spontini selbst gerade diese aus mühevollen Kraftakten hervorgegangenen Werke für seine besten hielt: Während er Richard Wagner gegenüber Agnes von Hohenstaufen als sein Meisterwerk bezeichnete, versuchte er 1840 auf gerichtlichem Wege durchzusetzen, dass die Pariser Opéra für die Wiederaufnahme des Fernand Cortez auf den überarbeiteten dritten Akt zurückgreifen und diesen neu in Szene setzen sollte. Aufschlussreich ist der Gerichtsprozess, dessen Umstände zu den spektakulären Theaterskandalen im Paris des 19. Jahrhunderts zählen, auch hinsichtlich Spontinis eigener Beurteilung der beiden Berliner Fassungen. Während nämlich in Berlin und Dresden (sowie später auch in Prag, Mainz, Rostock und New York, wohin das Dresdner Material verliehen wurde) die vierte Fassung ohne erkennbaren Widerspruch des Komponisten weitergespielt wurde, war es in Paris die dritte, deren Einstudierung er noch 1840 durchsetzen wollte. Somit ist in Dortmund zu erleben, was Spontini einst dem Pariser Publikum zugedacht hatte. Klaus Pietschmann

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Und nun Rolf Fath zur Aufführung in Dortmund: Auf Anhieb fasziniert ist man von Fernand Cortez und Spontinis perfekt auskalkulierter Dramaturgie, mit der er Chor und Solisten, Handlung und Zustandsbeschreibung im ersten Akt in einen großen Block fasst: Das Terzett der drei in mexikanischer Gefangenschaft befindlichen Spanier, das durch Sungho Kim als Alvar geadelt wird, die Einwürfe des Rache fordernden Oberpriesters der Mexikaner, die Szenen der zu ihrem Volk zurückgekehrten Amazily, ihr Duett mit dem Bruder Télasco und das Erscheinen Montezumas. Das ist packend, hat Verve und ist großartig strukturiert und wurde von Motonori Kobayashi, trotz seines kurzfristen Einspringens, bezwingend umgesetzt.

Spontinis „Fernand Cortez“ in Dortmund/ Szene/ Foto wie oben Björn Hickmann

Im Gegensatz zur Frédégonde war der von Napoleon beauftragte Fernand Cortez ou L‘ Conquête de Mexique ein ausgesprochener Renner, dessen Erfolg sich nach dem bescheidenen Erfolg der Pariser Uraufführung von 1809 mit jeder Revitalisierung, der Spontini seine Opéra unterzog, steigerte: in einer zweiten Fassung 1819 in Paris, zum dritten Mal 1824 in Berlin vier Jahre nach seinem Amtsantritt als preußischer Generalmusikdirektor sowie in einer vierten und letzten Fassung 1832 abermals in Berlin. Dortmund kündigte Fernand Cortez oder Die Eroberung von Mexiko als „Erstaufführung der 3. Fassung in französischer Sprache“ an, – die Berliner Fassung erklang an der Berliner Hofoper in der deutschen Übersetzung von Johann Christoph May und wurde nun (leider) in Dortmund in Französisch gesungen – was den vor dem Dickicht der Fassungen zurückschreckenden Besucher nicht über Gebühr belasten soll.

Wie bereits im Artikel zur modernen Erstaufführung des Werkes in Florenz 2020 (auf DVD und CD bei Dynamic) ausgiebig dargelegt war Spontini der Stratege der tableaux vivants, großformatiger Festaufzüge, gestützt von einem Klanggepräge, dessen raumgreifende Dramaturgie Einfluss auf andere Komponisten bis hin zu Wagner hatte. In diesem Zusammenhang wird oft der Maometto Rossinis, der den italienischen Fernando Cortez 1820 In Neapel gab, genannt, wie man denn überhaupt hinter der Folie aus spanischen-mexikanischen Lagern und der chorisch-solistisch verzahnten Rhetorik immer wieder Rossinis serias zu hören meint.

Die Oper ist kurz. Gerademal etwas über zwei Stunden. (..) Die eigentliche Hauptfigur ist hier iun Dortmund nicht Cortez, der nur eine große Szene und Arie am Ende des zweiten Aktes hat, die Mirko Roschkowski, der ein Cortez von gemütlicher Ausstrahlung ist, mit der richtigen Stimme und Farbe für diese Partie gibt. Die angesagte Indisposition zwang ihn im dritten Akt zu gesanglichen Ausflüchten. Die eigentliche Hauptfigur ist die mexikanische Prinzessin. Regisseurin Eva-Maria Höchmayr streicht den auch auf dem Zwischenvorhang den Namen Cortez durch, ersetzt ihn zuerst durch Amazily und schließlich durch deren historische Entsprechung Malinche, die Cortez als Übersetzerin und Sprachrohr diente, seine Geliebte und Mutter eines gemeinsamen Sohnes wurde. Malinches bzw. Amazilys Sprachbegabung wird verdeutlicht, indem französische Ausdrücke durch spanische und mexikanische Übersetzungen überschrieben werden. In Ralph Zegers Goldkammer ist Amazily allgegenwärtig, mit weiß gekalktem Gesicht immer eine Außenseiterin, die sich verwandelt, je nachdem ob sie bei den Spaniern oder ihrem eigenen weilt, wo sie, wie Montezuma und Télasco, das prächtige Federdiadem trägt (Kostüme: Miriam Grimm), dabei leidensfähig und bereit, sich für ihr Volk das Herz aus dem Leib zu reißen. Der Französin Melody Louledjian mag für die großen Ensemble die sieghafte Stimme fehlen, doch ihr farbiger Sopran trägt ausgezeichnet, sie versteht es mit perfekter Diktion und gesanglicher Gestik die Figur zu vermitteln und ihrer Arie im zweiten Akt die nötige Dramatik einzuhauchen. Mandla Mndebele singt den friedliebenden Montezuma mit breitem Ebenmaß, Danis Velev ist ein ausgesprochen eleganter Oberpriester, James Lees Télasco bleibt etwas verwaschen. In weiteren Partien traten auf: Moralès/Morgan Moody,  Prisonniers: Jorge Carlo Moreno und Ian Sidden, 1er officier espagnol: Błażej Grek, 2ème officier espagnol: Carl Kaiser, Un marin espagnol: Jaeyoun Kim.

Spontinis „Fernand Cortez“ in Dortmund/ Szene/ Foto Björn Hickmann

Höchmayr zeigt eine entgrenzte Situation, in der die feine Abendgesellschaft ihre Anzüge und Kostüme verliert, sich in Unterwäsche und mit blutigen Händen durch die spanisch-mexikanischen Konfrontationen quält, Cortez als einziger mit historischer Halskrause im Glaskasten sitzt, Kreuze geschleppt werden und Eroberer aller Länder und Epochen auftauchen, wenn die Spanier vom Sieg träumen, was der auch diesem Abend reduzierte Dortmunder Opernchor recht gut vermittelte (08. 05. 2022/ Fotos folgen).  Rolf Fath

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(Beitrag aus dem Programmheft zur Aufführung an der Oper Dortmund im Juni 2022, mit sehr freundlicher Genehmigung des Autors; Klaus Pietschmann ist Professor an der Uni Mainz im Fachbereich Musikwissenschaft: Foto oben: Spontinis „Fernand Cortez“ in Dortmund/ Szene/ Foto Björn Hickmann)

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Andree Esposito

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Kaum eine andere Sängerin im französischen Bereich hat mich so enthusiasmiert wie  Andrée Esposito. Sie hat so etwas in ihrer Stimme mit dem flirrenden Timbre, der energischen Höhe, der Sinnlichkeit im mittleren Bereich, das sie für mich un-austauschbar macht, sofort wieder erkennen lässt, etwas so Hochindividuelles, wie man das selten findet. Sie trifft mich direkt. und ist so immens vielseitig gewesen, dass ihr Repertoire staunen machen. Von der lyrischen Mireille bis zur bezaubernden Manon Massenets  zur entschlossen-erotischen Thais duchmisst sie die Rollen ihres Fachs mit dem ihr eigenen Elan, und es ist diese Entschlossenheit der Gestaltung und Bewältigung, sie sie auszeichnen. Wäre es kitschig zu sagen, ich bin ihr verfallen? Reinakustisch natürlich, weil ich sie nicht auf der Bühne mehr gehört habe. Aber ihre vielen, vielen Dokumente lassen mich immer wieder staunen und schwelgen in dieser Flut reinfranzösischen Klangs, wie es ihn heute nicht mehr gibt. Die ganze Kunst der Esposito mit ihrer unglaublich sicheren, leuchtenden Höhe, ihrer zum Mitschreiben deutlichen Diktion und ihrem unverwechselbaren französischen Timbre par excellence ist in ihren  Partien nachhörbar. Andrée Esposito gehörte zu den wirklich typischen Sänger/innen ihrer Zeit..

Andrée Esposito als Manon/Heinsen/Esposito

Sie ist neben ihren Kolleginnen Renée Doria, Berthe Monmart, Andréa Guiot, Georgette Cammart, Suzanne Sarrocca und vielen anderen eine jener Sängerinnen in Frankreich, die nach dem Krieg das französische  Repertoire  (und nicht nur das) zu einer hohen Qualität geführt haben, eine, die in würdiger Nachfolge der Vorgängerinnen wie Félia Litvinne, Germaine Lubin oder Ninon Vallin eben jenes spezifische Flair, jene unnachahmliche Diktion, jenen Strahl der unverwechselbar französisch geführten Stimme aufbrachte, jene sofortige Wiedererkennbarkeit der individuellen Stimme zeigt, die uns heute so vergessen scheint. Die Esposito ist nicht übermäßig oft  „offiziell“ dokumentiert worden (viele Veröffentlichungen sind Radiomitschnitte, die erst nach ihrer Karriere veröffentlicht wurden). Sie steht damit nicht allein – ihre Kollegen Alain Vanzo, Albert Lance (kein originaler Franzose), Charles Richard (dto.), Julien Haas, die Crespin, die Doria, Michel Dens, Pierre Mollet, Andre Pernet, Guy Chauvet, Janine Collard, Hélène Bouvier aus der älteren Generation, natürlich Robert Massard ebenfalls unvergessen, und viele, viele andere waren von dem Umbruch betroffen, der mit Liebermanns Übernahme der Pariser Oper begann und der die französischen Sänger in die Provinz und ins Radio schickte, während in der Hauptstadt – bis heute – ausländische Sänger in der Originalsprache ein anderes Verständnis von Oper einführten und das Typische verdrängten.

Andrée Esposito, am 7. Februar 1934 in Algier geboren, trat ebendort erstmals bei einem Konzert 1951 auf, ging nach Studien bei Nougera und Panzera nach Nancy (1956 Debut in Erlangers Juif polonais), anschließend an alle großen französischen Bühnen, namentlich Nizza, wo sie sie mit ihrem späteren Mann, den Bass-Bariton Julien Haas, sang. 1959 gab sie ihr glanzvolles Debut als Violetta an der Pariser Oper (Palais Garnier), eine Rolle, mit der sie stets identifiziert wurde und die sie noch in den Neunzehnhundert-Achtzigern als Einspringerin sang. Auch an der Pariser Opéra-Comique hatte sie ihre Erfolge, namentlich mit Bondevilles Madame Bovary. Sie war eine der bedeutendsten dramatischen Koloratursopranistinnen in Frankreich mit einer hervorragenden Eignung zum dramatischen Repertoire, so als Violetta, Manon, Juliette oder Marguerite, aber auch mit weniger gängigen Partien. Zudem  war sie eine bedeutende Liedsängerin, wie einige Dokumente belegen. Für mich hatte sie eine der attraktivsten und französischsten Sopranstimmen! Ein erstes Hören in den Siebzigern ließ mich diese hellen, glitternden, in allen Registern so vortrefflich durchgearbeiteten Sopranstimme verfallen. Viele Momente bleiben von ihr in Erinnerung, etwa das „Enfin“ in der Manon-St.-Sulpice-Szene, wenn Manon ihren Des Grieux endlich „rumgekriegt“ hat, ihr hochdifferenziert gesungenes Air de Bijoux im Faust, ihre vielschichtige angelegte erste Arie in der Thais, aber auch ihre barocken Ausflüge und für mich vor allem die Auftrittsarie der Teresa in Benvenuto Cellini: welcher Glanz, welcher Jubel, welche Persönlichkeit in der Stimme.

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Alain Vanzo und Andrée Esposito/ Filmszene aus „Manon“/OBA

Andrée Esposito ist auf recht vielen Dokumenten erhalten (vor allem bei youtube), auch auf manchen Radiomitschnitten und davon wichtigen. Dies schreibe ich, während im Hintergrund ihre ganz wunderbare Marguerite in Gounods Faust singt, die Bella Voce (des umtriebigen Walter Knoeff) auf einem Mitschnitt des Faust mit Robert Massard und Albert Lance unter Roberto Benzi 1972 aus Amsterdam veröffentlicht hat. Die ganze Kunst der Esposito mit ihrer unglaublich sicheren Höhe, ihrer zum Mitschreiben deutlichen Diktion und ihrem unverwechselbaren, leuchtenden französischen Timbre par excellence ist hier nachhörbar. Diese junge Frau, Marguerite, auf dem Weg zum Wahnsinn, durch Keuschheit, Liebe, Verführung  und Verrat, erzählt uns eine Geschichte, breitet ein Schicksal aus – und meistert die beträchtlichen Tücken der Partie ohne jede Schwierigkeiten mit Glanz.

Ein ehemaliger Philips-Querschnitt zeigt sie ebenfalls in einem Faust, sodann gibt es sie mit Rameau bei DG (Pygmalion, Les Indes Galantes, exc.  Couraud mit Collard 1962), mit dem Chanson perpétuel von Chausson auf einer EMI-CD (Jacquillat), mit Kantaten von Vivaldi (dto.), als Glauce neben einer monströsen Médée der Rita Gorr bei La Voix de son maître (Prêtre)  in einem Querschnitt der Oper, die Philine in einem Mignon-Querschnitt (dto.) mit der intensiven Jane Rhodes, die Inès in einem Africaine-Querschnitt neben Tony Poncet bei Philips sowie Saugets Caprices de Marianne unter Manuel Rosenthal 1959 bei Solstice. Sie singt auch Clérambault-Kantaten (Médée u. a./Blanchard) bei Pathé. Auf dem Gebiet der Operette war sie auch zu Hause, so in den Dragons de Village bei Decca/Accord und eine Chauve Souris, Sangue de Vienne und Kalmáns Comtesse Mariza unter Siebert von 1962 (Éditions Montparnasse) als DVD vom Fernsehen.

Andrée Esposito als Thais/Heinsen/Esposito

Es gibt viele Lieblingsaufnahmen von ihr für mich. Die wirklich grandiose Teresa im Berliozschen Cellini, die wunderbare Marguerite, ihre unübertroffene Thais, die leuchtende Rozenn im Roi d´Ys: ach eigentlich alle. Der französische Rundfunk hat vieles von ihr konserviert (und man dankt der INA, das ist das Institut National Audiovisuel, einmal mehr für die Sorge der Franzosen um ihre nationales Erbe, während ja sonst auf Frankreichs Bühnen davon nicht immer was zu merken ist). Ihr häufiger Partner war der kürzlich bei uns noch einmal vorgestellte Tenor Alain Vanzo, wie die Esposito und Robert Massard eine der Säulen der französischen Gesangs der Sechziger/Siebziger. Der Manon auf dem Philips-Querschnitt (Etcherverry) folgte die Radio-Version von (Standardlänge für Studio/Konzert-Opern im französischen Rundfunk, 120 Minuten oft mit Ansage und Einführung) 100 reine Minuten ebenfalls Massenets Oper von 1968. Mireille 1959 aus derselben Quelle gab es bei Chant du Monde in deren wunderbarer Reihe der französischen Opern und Operetten vom Radio, wo auch Reyers Sigurd erschien. Es gibt auch eine Luisa Miller vom ORTF unter Pierre-Michel Le Conte. Anders als ihre  Kollegin Doria erotisiert sie ihre Thais, eine bei Chant du Monde von 1959 neben ihrem prachtvollen Kollegen Massard und eine spätere nicht veröffentlichte neben ihrem Ehemann Julien Haas. Die Chant du Monde-Ausgabe ist zudem interessant wegen der angekoppelten Arien und Szenen aus ihrem Standard-Repertoire: Faust, Phyrne, Benvenuto Cellini (letzter komplett vom ORTF 1969 bei Gala mit Vanzo sowie live aus Marseille 1969), Pêcheurs de Perles, Louise, Manon (das Duo Saint-Sulpice mit Vanzo, die Gesamteinspielung nur für Sammler), Traviata, Carmen, Gianni Schicchi, Rigoletto meist live aus dem Rundfunk 1958 – 1972. Wie vieles andere nur für Sammler kursieren ein Roi d´Ys von Lalo vom ORTF 1967 neben der tollen Kollegin Berthe Monmart und ihrem Ehemann Julien Haas. Ihre Juliette (Gounod) ist zweimal dokumentiert. Einmal nur als Band-Mitschnitt 1967 vom Rundfunk (ehemals auch MRF) und als gekürzte Gesamtaufnahme in sehr gutem Stereo aus Nizza 1976 bei Gala mit – wieder einmal und beglückend – Alain Vanzo; sowie bei der INA sogar eine Schmannsche Genevieve (!!!) 1977 unter Tony Aubin. Auch eine Webersche Euryanthe unter le Conte von 1965 sowie Bondevilles Madame Bovary unter demselben von 1967. Und sicher gibt’s noch mehr (s. nachstehend)! Was für eine Stimme und was für eine unverwechselbare Künstlerin. Une voix francaise jaimais oubliée!  Geerd Heinsen

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Andrée Esposito als Manon in Avignon/youtube

PS. Der meist zuverlässige Ommer (Andreas Ommer, Verzeichnis aller Operngesamtaufnahmen, DBSO26) listet noch einige andere Aufnahmen der Esposito auf, wobei zwischen Opernhaus-Mitschnitten, Industrie- und Radio-Aufnahmen zu unterschieden ist. So gibt es zwischen 1964 und 1979 allein vier mal Benvenuto Cellini (unter verschiedenen Dirigenten, auch einen aus Genf mit Gedda, dto bei Sammlern, kein guter sound), Dallapiccolas Ulisse unter Prêtre ohne Datum und wie die übrigen leider auch ohne Quelle; Iberts Persée et Andromède von 1973 unter Bigot (Bourg?); ebenso Martinus Julietta unter Charles Bruck ohne Datum (Bourg?), eine Butterfly unter Rappalo von 1969 – alle wahrscheinlich doch vom Radio. 

Dazu auch die Buchempfehlung/ David Grandis:The Voice of France (The Golden Age of the R. T. L. N.) mit einem Vorwort von Roger Pines, 261 Seiten, Abbildungen/Fotos, Index, Tabellen, MJW Fédition Paris ISBN979-10-90590-16-8). G. H.

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Und zum Schluss die Sängerin selbst in einem Interview von 2001: Man muss – nicht nur zum Singen, aber vor allem da – unbedingt Persönlichkeit haben, man muss eine Siegernatur sein, man muss musikalisch und intelligent sein und man muss vor allem ein bedingungsloser Arbeiter sein, unermüdlich und immer an sich arbeiten, wirklich. Wenn diese  Eigenschaften fehlen, dann können Sie die schönste Stimme der Welt haben, und Sie sind nichts. Man muss zudem immer neugierig sein, immer suchen. Wenn man etwas erreicht hat, darf man nie glauben, schon am Ziel zu sein – nichts ist sicher! Und man muss stets zum Besseren wollen, sonst fällt man zurück. Die Stimme selbst ist ein Wunder. Es gibt ja viele Leute, die sich physiologisch usw. damit beschäftigen, die genau sagen können, welcher Muskel wann arbeitet – aber dann fehlt der Funke. Man öffnet den Mund, man bringt einen schönen  Ton  heraus – eine Gottesgabe, keine analytische Angelegenheit.

Andrée Esposito als Leila/“Pecheurs de Perles“/Heinsen/Esposito

Eine Sängerin, eine Künstlerin, muss demütig sein. Verzeihen Sie das Bild, aber man kommt zum Gesang wie zum Kloster, man steht im Dienst des Publikums wie im Priesteramt. Man darf nie eingebildet sein, denn man selber ist ja gar nichts: Die Kunst, die Stimme ist alles. Und sehen Sie: Der Erfolg, der Ruhm ist schnell vorbei. Wenn man auf dem Höhepunkt steht und man überall bekannt ist, ist man eigentlich schon wieder passé. Man erreicht den Gipfel, und alles beginnt zu kippen.

lch habe eigentlich immer gesungen, bereits als Kind. Auf Hochzeiten, bei Kommunionsfeiern hieß es immer: ,,Los, sing etwas!“ Meinen Unterricht begann ich sehr jung schon mit 14 Jahren; Vater wollte nicht, dass ich sang – seine anständige Tochter eine skandalumwitterte Künstlerin! Unvorstellbar! Sowas tat man früher einfach nicht. Aber ich war besessen. lch mogelte mit meinem Alter, um in Algier ins Konservatorium aufgenommen zu werden. Mit 18 gewann ich den 1. Preis, den Großen Preis von Algier, in einem Alter, in dem man normalerweise erst mit der Ausbildung beginnt. Der Wettbewerbspräsident war gleichzeitig der Direktor des Pariser Konservatoriums und half mir, dorthin zu kommen. lch hatte dann das Glück, auf Charles Panzéra zu treffen – ein großer Interpret und  Musiker und ein wunderbarer Mensch, der alle Geheimnisse des Belcanto kannte und sie mir vermittelte , so wie ich sie und mehr darüber hinaus meinen Schülern vermittele .

Es gab auch Dirigenten, die für mich entscheidend waren, jeder hatte seine Quälitäten. Heute ist das anders, man lässt die vielen Talente, die Frankreich besitzt, sich nicht entfalten, man lässt ihnen nicht genug Raum zum Wachsen. In Sachen Kultur verarmt Frankreich. Wir spielen immer seltener und weniger von unserem reichen Repertoire, und wenn, dann mit Leuten, die die Feinheiten unserer Sprache nicht verstehen. Wir sind eine hochgebildete  Kultur-Nation, und es ist sicher richtig, dass die Ausländer zum Singen kommen – ein Austausch ist immer gut. Aber unsere eigene Kultur wird immer geringer zugunsten einer aus tauschbaren, anonymen. Wenn wir nicht den Kopf erheben, sind wir kulturell in Kürze ausgestorben. Wenn wir nur noch auswärtige Gäste spielen lassen, werden wir bald keine musikalische Kultur in Frankreich mehr haben.

Künstler und Sängerin zu sein ist etwas Wunderbares. Es erlaubt, tausend Frauenleben zu gestalten – Violetta, Juliette, Marguerite , Louise. Die Bovary war ,,meine“ Bovary, eine zerrissene, vielschichtige Frau. Aber ich kann nicht sagen, dass ich eine Lieblingsrolle hatte – meine schwärmerische Charakter-Seite erklärt das Vergnügen, alle diese Frauen in einer (meiner!) Person zu sein. Es gab natürlich Partien, die mir mehr lagen als andere, schwierige Rollen, die man sich erobern musste und darum besonders liebte. lch hatte immer eine Schwäche für den Pagen Oscar bei Verdi gehabt, und ich überredete die Direktion des Palais Garnier dazu, ihn mir zu geben, als ich bereits die anderen großen Partien sang, nur so aus Vergnügen an diesem Charakter – einmal dieser freche, komplizierte Bengel auf der Bühne zu sein. Was für ein Spaß.

Andrée Espodito, privat/Heinsen/Esposito

lch liebte diesen Beruf und lebte für ihn. Man darf nicht außerhalb seines eigenen Faches singen, deshalb lehnte ich zum Beispiel die Desdemona ab, was ich heute bedaure, aber ich hatte nicht genügend Stimme dafür gehabt, einfach nicht die richtige Stimme. Manon aber war meine Partie, und ich habe sie oft gesungen, 30 Jahre lang, immer unterwegs damit. lch hatte dann nicht mehr dieses Kristall-Timbre meines Anfangs, sondern mein mir eigenes, was bewirkte, dass man mich mochte oder nicht. Daran schieden sich oft die Geister, an diesem typisch Französischen in meiner Stimme.

Aber am Ende – oder sicher noch davor – war ich mit diesen Halbnuancen meiner Stimmqualität nicht mehr zufrieden. lch wollte nach  so vielen Jahren des Erfolges nicht hören: ,,Sie ist noch gut!“ Dieses ,,noch“ hatte mir wehgetan. lch sagte mir: Die jungen Leute können von meiner Erfahrung profitieren – und so bin ich Lehrerin geworden. Eigentlich war diese Neuorientierung ganz logisch. Gelegentlich will ich noch singen, ganz spontan, aber dann sage ich mir: „Bouf“ („Ach, wozu?“). lch freue mich am Erfolg der Schüler. Und ganz ehrlich, wenn ich noch singen müsste – was für ein Stress! lch möchte immer noch ständig in Form sein müssen, immer mein Leben nach meinem Beruf richten. Nein, nein, ich habe wirklich Lust, meine Koffer auf dem Speicher zu lassen. Ich brauche jetzt nicht mehr die vielen Cremes aufzutragen, um meine Haut zu schonen. Ich war lange und glücklich (mit Julien Haas) verheiratet. Jetzt will ich leben – dank meiner Schüler bleibe ich dem Theater und dem Leben verbunden, und ich gebe das weiter, was ich selber praktiziert habe. Das Wichtigste ist die Diktion, die deutliche Diktion! Der Zuhörer muss verstehen, das ist das mindeste. Zusammengestellt von Jean-Marc Schumann (2001/ Übersetzung Klaus Heinrich; Redaktion G. H.)

Weltpremiere

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Die Stimme Gottes befiehlt dem widerstrebenden Elia „Geh hinab zur Senke des Tals, über den Fluss, in die große Stadt; zum Königsschloss geh, tritt zum Tore hinein und suche, zu wem ich Dich sende“. In seinem einzigen Bühnenwerk, dem 1955 entstandenen Mysterienspiel Elia, setzt der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber das in seiner wichtigsten Schrift „Ich und Du“ aufgestellte dialogische Prinzip fort und lässt Gott zum allgegenwärtigen Gesprächspartner der Menschen werden. Der bislang (fast) nur als Dirigent bekannte, doch zeitlebens auch als Komponist tätige Antal Dorati setzt dieses dialogische Prinzip in seiner bislang weder aufgeführten noch eingespielten Oper Der Künder konsequent um, in dem die metaphysische Stimme Gottes „immer die Person (ist), zu der sie spricht“. Daraus ergeben sich geheimnisvoll suggestive Situationen, die zu einem gliedernden Kennzeichen der dreiaktigen Oper werden. Eher Mysterienspiel oder Oratorium denn ein Bühnenwerk.

Antal Dorati/Wikipedia

Martin Fischer-Dieskau stellt in seinem ausführlichen Essay im Beiheft Bezüge zu Weills Weg der Verheißung, Dessaus Pessach-Oratorium Hagadah und Schönbergs Jacobsleiter und Moses und Aron her, wobei Dorati „auf identifizierbare politisch-zionistische Bezüge“ verzichtet und sich auf das „inhaltliche Zentrum jüdischen Selbstverständnisses, das Gott als den einen und einzigen Gott preist“ konzentriert, oder Mendelsohn-Bartholdys Elias. In Der Künder geht es um den Propheten Elia, der das Volk Israel, das sich dem fremden Gott Baal zugewendet hat, wieder zurückführt zu Elohim, dem Gott Jahwe. Und es geht um den Kampf zwischen dem jüdischen Gott der Bibel und dem Gott Baal, der nach rund 160 Minuten mit der Himmelfahrt des Elia und dem Dank „Der Herr ist mein Hirte“ endet. Weitere Hauptpersonen neben dem Ziegenhirt Elia sind der König Ahab und seine Frau Isebel, der Bauernbursche Elisha und die Bauersfrau Tanit.

Martin Fischer-Dieskau hat das gewaltige Projekt gestemmt und im August 2021 in Krakau als Hommage an seinen Mentor auf die Konzertbühne gehievt (3 CDs Orfeo C220313): ein Akt der Verehrung und Bewunderung. 1978/79 war der damals 25jährige Fischer-Dieskau Doratis Assistent beim Detroit Symphony Orchestra, woraus eine langjährige Freundschaft entstand. Donati machte ihn auch mit seiner 1984 entstandenen Oper Der Künder/ The Chosen bekannt. In Krakau setzte sich Fischer-Dieskau, der sich durchaus bewusst sein dürfte, dass die Oper auf der Bühne keine Chance hat, auf überzeugende Weise für das Werk ein. Er meißelt dessen philosophischen Gehalt in der klaren, textdeutlichen Gesangsdeklamation heraus und hält die vorsichtig atonale Musik mit dem Orchester der Beethoven Akademie Krakau und dem Chor des Posener Teatr Wielki in sanfter Bewegung. Durchaus mit intensiven Steigerungen in den Zwischenspielen, in die Dorati manche Vorgänge verlegt, und mit einer ausgepichten Fähigkeit, in der über Strecken auch kantig spröden Musik subtile Farbigkeit zu erkennen und in orchestralen Ballungen rhythmische Prägnanz zu unterstreichen. Mustergültig auch die Besetzung mit dem liedhaft milde timbrierten Bassbariton Tomasz Konieczny als Elia, Michael Schade als Ahab, Rachel Frenkel als Isebel und dem Halbdutzend weiterer Solisten, die in teils mehren Partien in Erscheinung treten.

Martin Buber/ Wikipedia

Fischer-Dieskau weist in seinem Text zu dieser Welt-Ersteinspielung auch auf das musikalische Umfeld hin, in dem der aus einer ungarisch-jüdischen Musikerfamilie stammende Dorati (1906-88) in Budapest aufwuchs. Zwischen Beharren auf Traditionen und Moderne, „zwischen einer traditionell institutionalisierte, urbanen Kunstauffassung in Budapest… und einer progressiven Hinwendung zur Musik der Landbevölkerung“, so Fischer-Dieskau, beispielhaft vertreten durch seine Lehrer, seinen Onkel Ernst von Dohnányi sowie Kodály und Bartók. Bereits 1924 debütierte Donati als Kapellmeister an der Oper in Budapest, wurde 1924-28 Assistent Fritz Buschs in Dresden, anschließend Erster Kapellmeister in Münster, emigrierte 1933 nach Frankreich, wirkte in Monte-Carlo als Kapellmeister der Ballets Russes und wurde nach 1939 in New York sesshaft. Dallas, Minneapolis, Stockholm, London und Detroit waren seine weiteren Stationen, bei denen sich Donati für die Klassische Moderne, Zeitgenössisches und amerikanische Komponisten einsetzte. Meilensteine der Schallplattengeschichte sind Doratis Gesamteinspielung der Haydn-Sinfonien, aber auch die acht, glänzend besetzten Haydn-Opern und die Tschaikowsky-Ballette.     Rolf Fath

 

Auf dem Sprung nach ganz oben …

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Der in Cluj in Rumänien geborene Sänger Sebastian Catana entwickelt sich zu einem der interessantesten Verdi- und Verismo-Baritone seiner Generation. Nach ersten musikalischen Studien in seiner Heimat zog es ihn in die USA, wo er sich in den Ausbildungsprogrammen der Seattle Opera und der Baltimore Opera perfektionierte und bei zahlreichen amerikanischen und europäischen Wettbewerben mitspielt. Anlässlich seines Scarpia in Kopenhagen sprach Christian Glace mit dem Sänger.

 Sie stammen aus einer Künstlerfamilie. Singen war schon immer eine Familientradition, meine Eltern waren Solisten an der Oper von Cluj in Rumänien. Dort sah ich zum ersten Mal eine Oper, und dank dieser Aufführungen entdeckte ich, dass ich auch singen konnte. So wurde meine Leidenschaft für das Singen geboren, aber nicht meine Berufung, diesen Beruf auszuüben. Dies geschah viel später, nicht vor dem vierundzwanzigsten Lebensjahr. Davor habe ich an der Carnegie Mellon University und der University of Michigan Chemieingenieurwesen studiert und promoviert. Später lernte ich Claudia Pinza, die Tochter des legendären Ezio Pinza, kennen und begann, ihre Kurse an der Duquesne University in Pittsburgh zu besuchen, wo ich mein Hauptfach Gesang studierte. Ich habe auch privat mit meiner Mutter gelernt. Und das war der Zeitpunkt, an dem ich mich für das Singen als meine Lebensberufung entschied. Im Jahr 2001 gab ich mein professionelles Debüt mit Les Huguenots in der Carnegie Hall in New York.

Sebastian Catana/ Foto Yasuko Kageyama

Die Stadt, aus der ich komme, Cluj, hat eine große Musiktradition, und das Opernhaus war das erste in Rumänien: Es feierte 2019 sein hundertjähriges Bestehen. Die Operntradition in Rumänien ist hoch entwickelt, wobei der Schwerpunkt auf der italienischen und französischen Oper liegt. Ich möchte einige wunderbare rumänische Künstler erwähnen, die wichtige Seiten in der Geschichte der Oper in Rumänien geschrieben haben: Hariclea Darclée, die legendäre erste Interpretin der Rolle der Tosca bei der römischen Uraufführung im Jahr 1900 (der wir die Schaffung von „Vissi d’arte“ verdanken und die eine grundlegende Rolle bei der Gründung der rumänischen Nationaloper in Bukarest im Jahr 1921 spielte), der Bariton Petre Stefanescu Goanga, der in den 1920er Jahren eine wunderbare Karriere machte und der, nachdem er auf den Bühnen Frankreichs und Belgiens sehr präsent war, sein Comeback in Cluj gab, wo er große italienische, französische und deutsche Rollen interpretierte. Er war ein gefeierter Interpret des Rigoletto und muss als einer der Väter der rumänischen Operntradition angesehen werden. Neben anderen legendären Stimmen möchte ich zwei historische Baritone erwähnen, Nicolae Herlea und David Ohanesian. Ich hatte das große Glück, Herlea in den 1980er Jahren live zu hören. All diesen außergewöhnlichen Künstlern ist es zu verdanken, dass wunderbare Künstler aus unserem Land hervorgegangen sind und eine bedeutende internationale Karriere gemacht haben: Alexandru Agache, Leontina Vaduva, Angela Gheorghiu, Elena Mosuc oder, in der Vergangenheit, Ileana Cotrubas und Virginia Zeani.

Wie fühlen Sie sich, wenn Sie in die Fußstapfen Ihrer Eltern treten, insbesondere wenn Sie Figuren spielen, die Ihr Vater auf die Bühne gebracht hat? Meine Eltern sind meine ständige Inspiration: Sie sind mein Licht und meine Führer auf meinem Weg gewesen. Wenn ich Rollen wie Rigoletto oder Scarpia singe, muss ich unweigerlich an meinen Vater, Vasile Catana, und seine Interpretationen dieser Figuren denken. Mein Vater und meine Mutter haben mich gelehrt, ein Künstler zu sein, der Musik und dem Autor mit Ernsthaftigkeit, Ehrlichkeit und vor allem großem Respekt zu dienen.

Sebastian Catana als Rigoletto/  Opéra Royal de Wallonie Liège 2022- ©J Berger ORW-Liège

Wie Sie selbst sagten, war Ihr Vater ein bemerkenswerter Scarpia: Was ist Ihre Vision dieser Figur, die Sie in Kopenhagen zu interpretieren gedenken? Baron Scarpia ist eine der interessantesten Figuren des gesamten Baritonrepertoires. Er ist wahrscheinlich eine historisch existierende Figur. Wenn man die Quellen von Sardou studiert, ist Vitellio Scarpia wahrscheinlich die Verkörperung von zwei Personen: Baron Gherardo Curci, genannt „Scarf“, der für seine unreine Moral bekannt ist, und Vincenzo Speziale, der grausame Richter des Palermitanischen Magistrats. Ersterem verdanken wir das Anagramm seines Spitznamens und letzterem die beiden Initialen V und S. Vitellio, der von Sardou gewählte Name, geht wahrscheinlich auf den Namen des römischen Kaisers zurück, der für die Bestrafung der eroberten Bevölkerung bekannt war. Ich erzähle Ihnen das, weil ich gerne den Ursprung der Figuren, die ich spiele, verstehen möchte, damit ich alle ihre Eigenschaften auch stimmlich wiedergeben kann. Scarpias Gesang zeichnet sich durch große deklamatorische Momente aus, in denen er sich mit Gewalt und Autorität ausdrückt, aber es gibt auch viele kantable Phrasen, die mit sanftem Ton gesungen werden müssen. Er ist ein subtiler, perfider Mann, ein Adliger, ein Mann, der mit dem Leben anderer spielt und sie durch Macht und psychologische Folter verführt.

Dieser Scarpia in Kopenhagen folgt auf einen akklamierten  Rigoletto an der Opera Royal de Wallonie: Wie gelingt Ihnen der Übergang vom Verdi-Gesang zu einer Verismo-Rolle? Ich denke, dass es stimmlich keinen großen Unterschied gibt: Scarpia muss wie Rigoletto immer gesungen werden, und man darf nie in vulgäre Effekte verfallen, besonders an den Stellen, an denen Scarpia in Sprache singen muss. Die Orchestrierung des Verismo-Theaters ist sicherlich größer und üppiger, so dass eine Stimme erforderlich ist, die die orchestrale Klangmasse leicht überwinden kann. Die Art zu singen ändert sich also nicht (die Verismo-Komponisten sind letztlich eine Weiterentwicklung von Verdis kreativem Gleichnis), wohl aber der stilistische Ansatz, und auch der theatralische Aspekt darf nicht vergessen werden. Scarpia hat ein starkes theatralisches Gewicht, da er als Figur des Prosa-Theaters geboren wurde, bevor er zum Protagonisten von Puccinis Melodrama wurde.

Sebastian Catana/ Barnabà/ „La Gioconda“ – Teatro Municipale di Piacenza 2018 – ©Roberto Ricci

Heute ist es von grundlegender Bedeutung, ein überzeugender Darsteller zu sein, auch in szenischer Hinsicht… Oper war schon immer Theater: Wie ich schon sagte, reflektiere ich die Handlungen, die meine Figur ausführt, sehr gründlich, und dieser Prozess umfasst auch den schauspielerischen Teil. Was sich heute im Vergleich zu früher geändert hat, ist der Aufbau einer Opernaufführung. Wir haben uns an die Mechanismen des Kinos und der Fernsehserien gewöhnt, und wir wollen, dass die Oper eine ähnliche Erfahrung bietet. Außerdem befinden wir uns in manchen Kontexten in stark symbolischen oder stark körperlichen Darbietungen, so dass wir Schauspieler und manchmal auch Sportler sein müssen. Wenn ich also einen Regisseur finde, der mir seine Entscheidungen erklärt und der auf der Grundlage der Musik die Psychologie meiner Rolle aufbaut, bin ich bereit, daran zu arbeiten und ein Ergebnis zu schaffen, das theatralisch so wahr wie möglich ist.

Wie sieht die Zusammenarbeit mit dem Regisseur dieser Tosca an der Königlichen Dänischen Oper aus? Diese Inszenierung von Regisseur Peter Langdal ist wunderbar. Es handelt sich um eine inhaltlich absolut traditionelle Inszenierung, ohne die manchmal respektlosen Exzesse mancher moderner Produktionen, aber sie ist ebenso beeindruckend. Das imposante Bühnenbild und das suggestive Lichtspiel machen diese Tosca zu einer emotional intensiven Aufführung sowohl für uns auf der Bühne als auch, davon bin ich überzeugt, für das Publikum.

Ich habe hier bereits 2017 Rigoletto gesungen und freue mich nun, mit einer anderen Rolle zurückzukehren, die mir sehr am Herzen liegt und die mich an einige der renommiertesten Theater der Welt geführt hat, wie das Teatro dell’Opera in Rom, die Pariser Oper, das Teatro La Fenice in Venedig, das Teatro Massimo in Palermo (mit diesem Ensemble auch auf Tournee in Tokio, Nagoya und Osaka), das Savonlinna Festival, die Israelische Oper, das Teatro Petruzzelli in Bari und die Hong Kong Opera. Die Bühne der Königlich Dänischen Oper ist wunderschön, der Saal und das ganze Gebäude haben einen einzigartigen architektonischen Charme. Es ist eine Freude, nach Kopenhagen zurückzukehren: Diese Stadt ist unglaublich, überraschend. Ich hoffe sehr, dass das Publikum unsere Tosca genießen wird!

Sebastian Catana/Scarpia Rom© Yasuko Kageyama

Welche Rollen würden Sie gerne in naher Zukunft singen? Ich habe bereits viele meiner Traumrollen übernommen, ich würde gerne noch einmal Jago und Francesco Foscari singen und generell mein gesamtes Repertoire weiter singen. Zwei Rollen, die ich noch nicht übernommen habe und die ich gerne singen würde, sind Carlo Gérard in Andrea Chénier und Michele in Tabarro. Vor kurzem habe ich die Titelrolle in Falstaff beim Berkshire Opera Festival debütiert, und ich freue mich, dass ich sie in naher Zukunft wieder singen werde: Ich glaube, dass diese Rolle einen reifen Darsteller erfordert, der die unendlichen stimmlichen Nuancen von Verdi und die sprachlichen Nuancen von Arrigo Boitos außergewöhnlichem Libretto darstellen kann.

Nach dieser Tosca werde ich am Teatro Colòn in Buenos Aires mit Nabucco auftreten, um endlich (nach der Absage wegen Covid) mein Debüt in diesem außergewöhnlichen Theater zu geben. Danach werde ich für Nabucco und Aida in die Arena di Verona zurückkehren, und dann ist Tel Aviv an der Reihe, wo ich als Giorgio Germont in der Neuinszenierung von La Traviata auftreten werde, die im Januar 2022 wegen der Pandemie abgesagt wurde. Der Herbst wird mit La Gioconda am Teatro Filarmonico in Verona eröffnet, gefolgt von vielen anderen Projekten, die ich kaum erwarten kann, zu enthüllen (Foto oben Sebastian Catana/Scarpia Rom© Yasuko Kageyama / Foto Cataa).

Himmel in der Hölle

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Jahrzehntelang war sie der Inbegriff einer gelungenen Mefistofele-Inszenierung, die in den Achtzigern in Chicago entstandene Produktion von Robert Carsen, die noch 2018 an der MET gezeigt wurde und von der es nicht nur eine DVD in der ersten Besetzung mit Samuel Ramey in der Titelpartie gab, sondern mindestens noch eine weitere mit Ildar Abdrazakov. Bunt, heiter, ironisch, in Teilen wunderbar kitschig war sie anzusehen, nie langweilig und den Zuschauer in einer guten Stimmung zurücklassend. Mittlerweile wurde die Oper auch in Deutschland wieder mehrfach aufgeführt, so in Chemnitz oder Frankfurt und in einer phantastischen Besetzung der beiden Hauptpartien in München mit René Pape und Joseph Calleja in der Regie von Roland Schwab.

Als wolle sie ein Kontrastprogramm zur Carsen-Produktion bilden, in der Gold, Weiß und Bonbonfarben dominierten, die himmlischen Heerscharen mit ihren Blasinstrumenten triumphierend über Teufelslist und Höllenspuk, beginnt man in München nicht mit einem Prolog im Himmel, sondern einem solchen in der Hölle, die für alle gut sichtbar OPEN ist, später SOLD OUT, über die sich Stahlgitter wie ein unvollendeter Zeittunnel wölben und in der sich allerlei Sado-Maso-Volk tummelt und eifrig damit beschäftigt ist, Neuankömmlinge wie Faust ins Verderben zu ziehen. Schwarz ist die dominierende Farbe, Musikinstrumente scheinen demoliert zu sein, die Töne kommen von einer Schelllackplatte, die Mefistofele zum Schluss wütend zerbricht. Hat man von der Walpurgisnacht zu Recht schlimme Szenen erwartet, wird Schwangeren wie Föten übel mitgespielt, so ist auch Arkadien trotz der fürsorglichen Betreuung durch das Personal nicht angenehmer, weil ein Irrenhaus, in dem Faust eine der Wärterinnen für die Schöne Helena hält. Zwar gibt es als Verbeugung vor München eine Wies’n, doch die Feiernden hängen halbtot in den Sitzen des Kettenkarussells. Und ob Faust ein Gefallen damit getan wird, dass er in den Himmel abgeordnet wird, muss man angesichts der Optik auch bezweifeln, klingen die himmlischen Heerscharen auch noch so überzeugend.

Das Plus der DVD ist die Besetzung. René Pape ist ein attraktiver Mefistofele der allerschönsten Stimmfarben, der eleganten Phrasierung  und des engagierten Spiels. Allerdings hört man in ihm  noch mehr einen Méphistophélès als einen Mefistofele. Etwas neben sich und der Figur scheint der Faust von Joseph Calleja zu stehen, verstört vielleicht ob der Zumutungen der Regie, aber zum Glück nicht beeinträchtigt im Ausstellen seiner wunderbar timbrierten Tenorstimme, die er agogikreich in feinsten Schattierungen flexibel und einheitlich in allen Registern einzusetzen weiß. Strahlend klingt „Dai campi“, umwerfend raumfüllend sein „Elena, Elena“ und unangefochten sein Schlussgesang. Nur in „Forma ideale“ sind leichte Schwächen hörbar. Als fade Dame der Gesellschaft tritt Margherita auf, ehe sie von Faust auf dem Brocken vergewaltigt wird. In der Kerkerszene allerdings darf sie dem goetheschen Gretchen nahe sein. Der Sopran von Kristine Opolais leidet unter einem Übermaß an Vibrato, so dass „L’altra notte“ nicht ihren Zauber entfalten kann. Dröge klingt der Wagner von Andrea Borghini, angemessen füllt Karine Babajanyan ihre Rolle als Elena aus, auch wenn „Notte cupa“, wohl auch wegen des szenischen Ambientes, wenig berührt. Marta ist mit Heike Grötzinger eine der Teufelinnen und stützt in der Gartenszene. Neben dem Chor und den männlichen Protagonisten ist das Orchester unter Omer Meir Wellber mit schwelgerischen Klangwogen der beste Anwalt für Boitos von den Opernhäusern zu Unrecht stiefmütterlich behandeltes Werk (C Major 739208). Ingrid Wanja    

Steile Belcanto-Karriere

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Die italienische Mezzosopranistin Raffaella Lupinacci hat sich in den letzten Jahren in einigen der schwierigsten Belcanto-Partien wie Adalgisa in Norma oder Giovanna Seymour in Anna Bolena an bedeutenden internationalen Häusern behaupten können. Von Alberto Zedda für das Rossini Opera Festival in Pesaro entdeckt, stand von Beginn ihrer Karriere der Belcanto im Mittelpunkt. Mit Herbert Schneider sprach die junge Sängerin über interessante zukünftige Pläne in Deutschland und beim Rossini Opera Festival, sprach außerdem unter anderem über ihr anstehendes Debüt in Amsterdam, den ambivalenten Charakter der Giovanna Seymour sowie die Bedeutung des Worts im Belcanto.

Sie sind Italienerin. Ein paar Worte über Ihren Hintergrund? Ich wurde im wunderschönen Acri geboren, einer kleinen Stadt im Hinterland von Kalabrien. Aufgewachsen bin ich ebendort, immer im Kontakt mit der Natur und den in dieser wunderbaren Region teilweise tausend Jahre alten Kunstwerken. In Acri bin ich zur Schule gegangen, und habe dann meine Ausbildung in Cosenza fortgesetzt. Dort habe ich studiert und meinen Abschluss in Sprachen und Literatur gemacht. Parallel habe ich im dortigen Konservatorium auch meine musikalische Ausbildung begonnen und abgeschlossen.

Meine Leidenschaft zum Gesang habe ich eigentlich meinen Eltern und deren Gefühl für Musik zu verdanken. Als ich sechs Jahre alt war, begann ich Klavier zu lernen, hatte aber schon eine deutliche Veranlagung zum Gesang und insbesondere zur Oper. Ich nahm an verschiedenen Gesangswettbewerben für Kinder teil und sang bereits damals auf eine ganz andere Art als alle anderen Kinder. Und ich habe dann einfach mit vielen Stunden des Studiums die Natur meiner Stimme unterstützt und begleitet.

Ich begann erst Klavier zu lernen. Dann, als ich 16 Jahre alt war begann ich ein Studium für Operngesang am Konservatorium meiner Stadt, das ich mit 21 Jahren abschloss. Danach begann meine echte Suche was meine Stimme angeht, immer mit dem Bewusstsein, was ich in meinem Leben tun wollte. Ich habe bei mehreren italienischen Gesangslehrern studiert, aber wirklich entscheidend war meine Begegnung im Jahr 2011 mit Maestro Fernando Opa, der noch immer mein Gesangslehrer ist. Die andere wichtige Begegnung war die mit Maestro Alberto Zedda im Jahr 2012 in Pesaro. Zu diesem Zeitpunkt begann meine Karriere.

Raffaella Lupinacci / © Chiara Mirelli

Zu welchem Repertoire fühlen Sie sich am meisten hingezogen und wie gehen Sie an das Studium einer neuen Rolle heran?Alles, was Belcanto ist, ist Balsam für meine Stimmbänder, für meinen Geist und überhaupt für mich, weil das auch einfach meinen Musikgeschmack trifft. Was das Rollenstudium angeht, so beginne ich immer damit, so viel Literatur wie möglich über die Figuren und Werke zu lesen, die ich interpretieren werde. Anschließend beginne ich, die Musik zu lernen, indem ich sorgfältig auf das eingehe, was der Komponist geschrieben hat. Auf die verschiedenen musikalischen Akzente und auf die Worte. Insbesondere beim Belcanto ist das Wort und seine Nuancen von grundlegender Bedeutung. Das Wort wird im Belcanto von den Komponisten immer besonders hervorgehoben.

Von den Rollen, die ich bereits gesungen habe, habe ich sicherlich eine sehr starke Bindung zu der Figur der Donna Elvira, auch zu Giovanna Seymour und zu Adalgisa. Stimmlich und als Darstellerin liebe ich all diese weiblichen Figuren, die meine bisherige Karriere geprägt haben. Ich hoffe sehr, bald als Charlotte in „Werther“ debütieren zu können. Im Moment bin ich sehr fasziniert vom Belcanto-Repertoire und dem französischen, das mir absolut am Herzen liegt. Auf Partien, die ich wahrscheinlich nie singen werde habe ich ehrlich gesagt nicht einmal große Lust. Die genieße ich einfach, wenn ich mir als Zuhörerin das Stück ansehe.

Carmen, die Mezzosopranpartie par excellence taucht, obwohl Sie sie bereits gesungen haben, nicht sehr oft in Ihrem Kalender auf. Ist das ein Zufall oder eine bewusste Entscheidung? Ich denke beides. Es ist einerseits Zufall, denn immer häufiger bieten mir die Theater Belcanto-Rollen an. Und gleichzeitig auch irgendwie eine Entscheidung meinerseits, denn ich hatte nach meinem Rollendebüt mehrere Angebote für die Carmen, die sich aber oft mit anderen Verpflichtungen überschnitten, denen ich bereits zugesagt hatte. Oder es gab mehrere Angebote, und ich habe mich dann für das andere entschieden. Carmen ist aber sicher eine der faszinierendsten Rollen für Mezzosopran, und ich würde mich natürlich freuen, sie in Zukunft wieder zu singen.

Raffaella Lupinacci / © Chiara Mirelli

Welche Mezzosopranistinnen der Vergangenheit und der Gegenwart schätzen Sie besonders? Es gibt mehrere Sänger, die ich bewundere, aus der Vergangenheit wie aus der Gegenwart. Zwei große italienische Künstler aus der Vergangenheit sind natürlich Lucia Valentini Terrani und Fiorenza Cossotto. Aktuell gibt es viele interessante Mezzosopranistinnen, darunter etwa Elina Garanca und Anita Rachvelishvili.

Demnächst stehen Sie als Giovanna Seymour in Anna Bolena auf der Bühne der Dutch National Opera in Amsterdam: Was sind die stimmlichen und darstellerischen Herausforderungen dieser auf gleicher Weise faszinierenden wie zwiespältigen Figur? Haben Sie die Rolle in der Vergangenheit bereits gesungen? Giovanna Seymours Charakter ist sicherlich eine der größten Herausforderungen, denen sich eine Mezzosopranistin stellen kann. Die Rolle ist nicht leicht, weil die Tessitura tendeziell hoch ist, die Partie aber gleichzeitig eine starke Mittellage erfordert. Die Schwierigkeit und Herausforderung liegt darin, eine gewisse Homogenität der stimmlichen Farben zu wahren und gleichzeitig alle von der Partitur und den menschlichen Eigenschaften der Figur geforderten Schattierungen zu treffen. Im Charakter der Giovanna Seymour treffen oft widersprüchliche Eigenschaften aufeinander, wie zum Beispiel Schuld und Leidenschaft. Ich habe die Giovanna Seymour zum ersten Mal am Opernhaus von Vilnius gesungen – unter der Leitung von Maestro Sesto Quatrini – und ich habe sie erst vor Kurzem wieder am Teatro Carlo Felice in Genua interpretiert.

An die Rolle gehe ich in Holland it großem Enthusiasmus, unbeschreiblicher Freude und tiefem Verantwortungsbewusstsein heran. Ich glaube, mein Debüt an der Dutch National Opera kam zum richtigen Zeitpunkt in meiner Karriere und in meinem Leben im Allgemeinen.

Raffaella Lupinacci / © Chiara Mirelli

Zukünftigen Projekte? In den nächsten Monaten werde ich in neuen Rollen debütieren, Hausdebüts geben und mit Freude an Opernhäuser zurückkehren, an denen ich bereits gesungen habe. In chronologischer Reihenfolge wird meine erste neue Rolle der Romeo in I Capuleti e i Montecchi am Opernhaus von Vilnius sein. Dann ist die Desdemona in Rossinis Otello in Tokio an der Reihe. Ich werde für die Tudor-Trilogie des neuen „Bastarda“-Projekts ans La Monnaie nach Brüssel zurückkehren, wo ich als Giovanna Seymour und dann Sara in Roberto Devereux auf der Bühne stehen werde. Im Sommer 2023 werde ich mit der wunderbaren Rolle des Arsace in Aureliano in Palmira andas Rossini Opera Festival zurückkehren. Danach stehen die Cenerentola an der Staatsoper Hamburg und erneut Romeo in I Capuleti e i Montecchi an der Oper von Liege an (Foto obenRaffaella Lupinacci / © Chiara Mirelli) .

Verstörend

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Was hat nur die SONY zu dieser Aufnahme mit Patricia Petibon bewogen, die unter dem Titel La Traversée erschien und im November/Dezember in Basel bzw. Paris aufgenommen wurde (19439991832)? Und wer hat die Sängerin bei dieser bizarren Musikauswahl beraten? Der Titel suggeriert eine Reise, eine Überfahrt vom Barock über Mozart bis zu Offenbach und sogar Verdi. Doch viele der zu hörenden Titel stehen der Sängerin in ihren vokaltechnischen Möglichkeiten nicht zu Gebote. Da kann das La Cetra Barockorchester Basel unter Andrea Marcon noch so motiviert  und inspirierend musizieren – die Sopranistin ist mit dem gewählten Programm schlicht überfordert. Es beginnt mit Henry Purcells „Strike the Viol“ aus der Ode Come ye Sons of Art. Das Orchester leitet das Stück hinreißend ein, während die Sopranistin mit weinerlichem, später heulendem Ton und albernem Gegacker irritiert. Es folgt die „Passacaglia della via“ von Stefano Landi, die in ihrem Tarantella-Rhythmus Leben und Tod evoziert. Auch hier klingt Petibons Stimme unangenehm greinend. Zwei anspruchsvolle Arien von Georg Friedrich Händel lassen die Interpretin eklatant scheitern. Armidas „Furie terribili“ aus Rinaldo versucht die Sängerin, mit außermusikalischem Beiwerk beizukommen – spricht und schreit, untermalt vom Donnerblech, der Windmaschine und Schüssen, bis ihr Gesang bohrend und jaulend einsetzt. Für Cleopatras „Se pietá“ aus Giulio Cesare fehlt es ihr an noblem Ton, sie klingt kläglich wimmernd und intonationstrüb.

Bei Alcestes populärer Arie „Divinités du Styx“ aus Christoph Willibald Glucks gleichnamiger Oper, von vielen legendären Sängerinnen in maßstäblichen Interpretationen überliefert, vermisst man Substanz in der unteren Lage, Souveränität in der Höhe und vor allem grandeur. Die Szene der Phädra „Cruelle mère“ aus Jean-Philippe Rameaus Hippolyte et Aricie veranschaulicht den Konflikt einer Königin wegen der Liebe zu ihrem Stiefsohn, der einer rivalisierenden Prinzessin versprochen ist. Der Sopran lässt hier einen säuerlichen Beiklang hören, wie er im französischen Barock nicht ungewöhnlich ist, kommt insgesamt mit diesem Titel noch am besten zurecht. Aus Wolfgang Amadeus Mozarts opera seria Idomeneo hat Petibon zwei Arien der Elettra ausgewählt – ein kühnes Wagnis, doch mit überraschendem Ergebnis. „Tutto nel cor vi sento“, vom Orchester aufregend eingeleitet, gelingt mit fiebriger Erregung im Ausdruck und „D’Oreste, d’Aiace“ profitiert vom dramatischen  Aplomb, auch wenn einige geheulte Töne stören.

Die allerseltsamste Wahl scheint die Arie der Hélène, „Ami! Le coeur d’Hélène“ aus Giuseppe Verdis Les Vêpres sicilennes, also der französischen Urfassung dieser Grand opéra. Für dieses Repertoire ist Petibons Stimme gänzlich ungeeignet, ihr Vortrag mit einer gejaulten Kadenz am Schluss gerät zur Miniatur. Mit dem Rondo der Grande-Duchesse de Gérolstein, „Ah que j’aime les militaires“, aus Jacques Offenbachs gleichnamiger opéra-bouffe versucht die Solistin noch einen spöttisch-ironischen Tupfer zu liefern – den flotten Klängen des Orchesters kann sie leider nichts Adäquates entgegensetzen. Eine Komposition von Purcell beendet die Auswahl – „Here the Deities Approve“ aus der Ode Welcome to all the Pleasures. Hier erklingt sie  in einer a cappella-Bearbeitung als recht unspektakulärer Schlusspunkt dieser insgesamt verstörenden Platte. Bernd Hoppe

Ohne falsches Pathos

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„Gurnemanz non finisce mai, stöhnte bereits nach einer halben Stunde Parsifal vor Jahren mein italienischer Freund, und Regisseur  Graham Vick wusste wohl um die Ungeduld italienischer Zuschauer und peppte das spröde Bühnenweihfestspiel für das Teatro Massimo in Palermo 2020 ordentlich auf, ehe er ein Jahr später an Covid starb. Dabei verzichtete er keineswegs auf traditionelle naturalistische Passagen wie die des sterbenden Schwans, fügte aber, ohne die Substanz der Oper zu entstellen, einiges an Handlung hinzu, vorwiegend als Schattenspiel hinter einer Brecht-Leinwand und vorzugsweise Gewalttätiges bis hin zum Meucheln einer Schwangeren, aber auch Sinnenfreudiges oder ganz das Gegenteil davon, wenn Klingsor die Hosen herunterlässt, um einen blutigen Fleck auf Schiesser-Feinripp an der Stelle zu zeigen, an der er kurz entschlossen und ein für alle Mal hatte Schluss mit dem Sündigen machen wollen. Aus den Gralsrittern sind bei Vick Fremdenlegionäre geworden, es könnte aber auch eine auf Abwegen geratene Friedentruppe in Afrika sein, Titurel war einmal Militär, wie die Ordensspange verrät, trägt nun aber Business, Amfortas nur ein Lendentuch plus Dornenkrone, Parsifal und Gurnemanz Räuberzivil und Kundry mal Modell Schwarze Witwe, mal Ökokonformes (Kostüme Mauro Tinti). Die Charaktere aber bleiben unverändert, dem Publikum bleibt ein Schock wie ein Kundry meuchelnder Gurnemanz wie in Berlin erspart, Vick nimmt auf das italienische Publikum Rücksicht, und so war sein schlimmster Fauxpas einst eine 56jährige Mariella Devia mit Minirock als Violetta in der Arena di Verona. Die liebliche Taube, die über den Bühnenhorizont zieht, hätte er sich diesseits der Alpen wohl kaum erlaubt, dafür fällt aber der Gral, ein Henkeltöpfchen unter einem Staubtuch, recht bescheiden aus, und so unbarmherzig die Ritter hinter der Leinwand mit der einheimischen Bevölkerung umgehen, so grausam sind sie durch blutiges Ritzen ihrer Arme sich selbst gegenüber. Das alles findet auf einer absolut kahlen Bühne (Timothy O`Brien) statt. Am Schluss ist der mitteleuropäische Zuschauer erstaunt, eine Idylle mit einem herzigen Parsifal, umgeben von erlösten Kindlein zu erblicken, ist er doch daran gewöhnt, sich happy ends ins Gegenteil verkehren zu sehen, so mit einem Maccolm schlimmer als Macbeth, einem Fidelio-Minister als neuem Unterdrücker, natürlich einem Parsifal als alles andere als Erlöser.

Generalmusikdirektor Omer Meir Wellber wollte nach eigenem Bekunden Parsifal von falschem Pathos befreien, was einen durchsichtigen Klang, recht hurtige Tempi und sängerfreundliche Lautstärken zur Folge hat, irgendwie italienischer klingt, als man es gewöhnt ist.

Vorzüglich ist mit wenigen Ausnahmen das Sängerensemble mit einem in jeder Hinsicht Autorität ausstrahlenden Gurnemanz, dem John Relyea die gebieterische Statur und eine auch vokale Dominanz verleiht, die den Zuschauer bannen kann, sein in allen Lagen hochpräsenter Bassbariton ist weit entfernt von allem Alt-Männer-Grummeln, man möchte ihn einen Heldenbassbariton nennen, so viel Metall offenbart sich in der Stimme. Mit guter Diktion und schön ausgesungenen Phrasen kann sich auch der Amfortas von Tómas Tómasson profilieren, der eindrucksvoll seinen roten Königsmantel wie eine Blutspur hinter sich herzieht. Der Parsifal von Julian Hubbard hat eine sichere Höhe, die er in dieser Partie natürlich kaum zur Geltung bringen kann, in der Mittellage, die manchmal gequetscht klingt, stören hässliche Vokalverfärbungen, es gibt aber durchaus auch Passagen, in denen er  den vokalen Strahlemann hervorkehren kann. Titurel ist Alexei Tanovitski mit vergleichsweise hohl klingendem Bass. Und Kundry? Catherine Hunold ist keine dieser modernen Model-Sägerinnen, die auch optisch verführen könnte. Ihre Mittellage hingegen klingt angenehm weich, rund und warm, ihr „Schlafen“ erdawürdig, die Höhe allerdings ist wenig prägnant, da wird auch mal geschummelt. Selbst bei Blumenmädchen, Rittern, Knappen und der Stimme aus der Höhe hat man kaum einheimische Kräfte eingesetzt, abgesehen wohl von Elisabetta Zizzo, die einem Knappen und einem Blumenmädchen mediterranen Glanz verleiht, während Stephanie Marshall eine trostreiche Stimme aus der Höhe ist. Angesichts der Qualität der Aufführung und des traurigen Endes, das der Regisseur erleiden musste, kann man diesen hoch interessanten Parsifal durchaus als Vermächtnis Graham Vicks ansehen (C Major 759404). Ingrid Wanja              

Aprile Millo

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Wie kann ich meine große Liebe zu Aprile Millo erklären? Vielleicht, weil sie angesichts der vielen belang- und gesichtslosen Zeitgenössischen eben ein Gesicht auf der Stimme hat? Weil sie auf eine bestürzend beglückende Weise ein altes Stimmideal verkörperte, so eine Mischung aus Renata Tebaldi und Zinka Milanov? Weil sie im Spintofach so gut wie keine gewichtige Konkurrenz bis heute hat? Weil sie diese etwas nasale, in der Höhe absolut leuchtende und in ihrer guten Zeit fast unendliche, aber bestens gedeckte Höhe hatte? Diese kraftvolle Mitte, die ihre Opernrollen wie Verdis Griselda ebenso wie seine Aida oder BalloAmelia, die Adriana Lecouvreur oder natürlich Gioconda zu packenden, lebendigen Figuren machte (was fetzt sie sich da mit Dolora Zajic bei der Richard-Tucker-Gala!)? Aber ganz abgesehen von der bombigen Technik ist es ihr unverkennbares italienisches Timbre, dass sie in der Nachfolge der genannten Damen so einmalig macht/e.

Glamorous Aprile Millo/ Foto EMI

Gehört hatte ich sie erstmals im Auto (wenn das kein romantischer Beginn einer Liebesbeziehung ist!), auf der Fahrt zu Italiens Festivals, als eine Übertragung aus Bregenz mit Ernani (Ciannella, Bruson, Steinberg) gesendet wurde und ich meinem Fahrer buchstäblich in den Arm fiel: Das muss ich hören! Wir lauschten (kein anderes Wort ist passender) der Sopranistin, unglaublich! Erfüllt, ur-italienisch, hochindividuell, topsicher. Den Namen konnte ich mir nicht merken. Aber die Stimme bleib mir im Kopf, bis ich die erste (und einzige) Solo-LP von Aprile Millo im Electrola-Laden (dem Mekka der Opern-Fans) auf dem Berliner Ku-Damm sah und anhörte: Sie war´s. Verdi-Arien (zum Teil ohne Cabaletten), nicht ganz in der selben Wirkung für mich. Wie ich dann live feststellte.

Denn Aprile Millo ist ein „Bühnentier“, dessen Magnetismus erst „in action“ auf den Zuschauer/hörer überspringt. Und so sind es die vielen Live-Auftritte, namentlich an der Met unter James Levines schützender Hand und in der Nachfolge der Scotto, bei denen man den berühmten Schauer über den Rücken laufen spürt. Natürlich ist sie auch im nicht-amerikanischen Ausland aufgetreten, so in Paris, Rom, Santiago, Bregenz, Catania und anderswo (s. Wikipedia), aber es sind die Mitschnitte aus der Met, Philadelphia, San Francisco und natürlich auch die Auftritte bei Eve Queler und dem Opera Orchestra von Ney York (vorher Manhattan School of Music mit der Rossinischen Mathilde), die die Millo in ihrer ganzen Wirkung spüren lassen, italienische Oper at ist best, unerreicht. Für mich ist sie Amerikas letzte Spinto-Queen, da mögen Fans der verdienstvollen Frau Radvanovsky murren wie sie wollen.

Aprile Millo: „Ballo“ mit Luciano Pavarotti an der Met/ Foto Met Opera Archives/ Klotz

Aprile Millo (geb. April 14, 1958) hat nicht viel an offiziellen Aufnahmen erhalten. Den Ballo in Maschera mit Pavarotti gibt’s als DVD bei DG, die Verdi-LP/CD wurde erwähnt, die Luisa Miller gibt’s bei Sony, ebenso einen Don Carlo neben Michael Sylvester von der Met, von diesen Haus auch eine Aida optisch bei und akustisch bei Sony/DG. Ich habe sicher weiteres vergessen.

Aber live ist die Millo wie viele (denken wir an die Gencer) bei Sammlern gut vertreten, bei mir auch. Wenn ich meine Festplatte in der Suchfunktion „Millo“ öffne springen mir mehr als 50 Einträge entgegen: besagter Ernani, diverse Luisa Miller 1990 in Rom, an der Met und anderswo, die Forza 1994 in Turin, Mascagnis Zaza bei Silipigni in Newark 1995, Trovatores en masse an der Met 1989 und anderswo, Otellos 2002 in Baltimore etc, viele Don Carlos ´von der Met 1986 bis Bologna dto. Mefistofele an der Met 1999 und ebendort auch Andrea Chenier 1996, natürlich eine Menge Aidas in Caracalla 1992, Tokio 1993 sowie an der Met um 2005 herum. Auch die Liu neben Eva Marton und Linda Kelm ab1990 sowie die Tosca 2006. Und La Gioconda 2006 eben hier. Ich habe sicher einige Auftritte vergessen.

Aprile Millo: „Il Trovatore“ mit Lando Bartolini in Catania/ Foto De Blasi/Millo

Es gibt zudem hörbar lautstark bejubelte Live-Konzerte von ihr, bei vielen grauen Firmen jener Jahre, die in Teilen auch bei youtube sich wiederfinden. Die Millo in wechselnden Haarstilen und Roben, nicht immer so unendlich günstig, manchmal grenzwertig geschmackvoll, immer dicht bei ihrem Publikum, das sie kritiklos und rasend vergöttert. Amerika ist eben so. Die gemischten Programme dieser Abende (einschließlich „Danny Boy“) auch. Aber ihr „La mamma morta“ aus dem Chenier ist ein unerreichter Dauerbrenner an Wirkung, Kunst und Präsentation. Und jedesmal habe ich wieder den Schauer über dem Rücken.

Den spannenden Anteil an der späteren Karriere hatte Eve Queler mit ihren Carnegie Hall Konzerten, nach frühen Zusammenarbeiten, wo die Millo bereits 1984 neben Chris Merritt Rossinis Mathilde gab, später dann Verdis Battaglia di Legnano 1987, die Imogene Bellinis 1989, schließlich so tolle Partien wie Puccinis Minnie, die Wally 1990, Puccinis Villi 2006, und natürlich atemberaubend die Gioconda 2006 sang, die ich anlässlich meines  New Yorker Besuches bei meiner Freundin Eve live erlebte – Gelegenheit zu einem Gespräch mit der faszinierenden Erz-New Yorkerin, aus dem ich nachstehend einige Passagen wiedergebe. Die Lebhaftigkeit, die künstlerische Ernsthaftigkeit und die überspringende Empathie dieser tollen Person finden sich leider nur in Ansätzen im Geschriebenen wieder. Wie sie da in den Probenraum hereinschwebte, Hair-do und Fummel inklusive: Das war ein New Yorker Auftritt!

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Aprile Millo: Aida an der Met/ Met Opera Archives/Klotz

Nun also La Millo original anlässlich ihrer Gioconda im Konzert mit Eve Queler in der New Yorker Carnegie Hall: Sie haben eine – im besten Sinne – „un­modische“, altmodische Stimme, die den Hörer an die Goldenen Zeiten erinnert, an eine Milanov, die Ponselle und ande­re Vorkriegsstimmen. Ist das ein Ergeb­nis Ihrer Ausbildung? Oder ist dieser dunkle Klang etwas ganz Ureigenes von Ihnen selbst? Ich bin selber in einem „Goldenen Zeit­alter“ bei uns zu Hause aufgewachsen. Meine Mutter klang wie die Muzio, la Di­vina Claudia, und war eine fesselnde Schauspielerin. Mein Vater besaß eine der wunderbarsten Tenor-Stimmen in ei­ner Mischung aus Pertile und Gigli. Sie beide waren meine Lehrer, bis ich nach New York zog, wo ich mit Rita Patane arbeitete, einer Schülerin von Maria Carbone. Meine eigene bewusste Wahl war es immer, meine Stimme eben das sein zu lassen, was sie Hause war und keine Farben darüber zu stülpen, die sie nicht hat. Als Kind hörte ich nur die Aufnahmen der Muzio, Ponselle, Milanov, Olivero, Callas und meiner geliebten Tebaldi. Ich finde es hingegen schockie­rend, daß sich nur wenige heutige Sän­ger den Luxus gestatten, diesen großen Sängern der Vergangenheit zuzuhören und sich von ihnen beeinflussen zu las­sen – nur dies ist ein Weg, die wirkliche (!) Tradition am Leben zu erhalten, nicht dieses Nur-Notensingen, das wir heute hören.

Ein paar Worte zum Repertoire – Sie singen ja fast ausschließlich das italieni­sche Fach. Ist Ihre Stimme dafür beson­ders geeignet? Ich halte nichts davon, dass heute jeder alles singt. Meine Stimme ist von Grund auf ein italienisches Instrument in Hin­sicht auf Farbe und Temperament. Ich lie­be auch das deutsche Fach und wurde von Karajan (den ich angebetet habe) wegen der Elsa und Donna Anna/Donna Elvira gefragt. Er sagte, meine Stimme wäre dafür ideal, und der Lohengrin sei die italienischste Oper Wagners – genau dies wollte er in seiner Elsa hören. Wer war ich, dass ich mit ihm darüber argumentierte. Aus manchen Gründen kam es leider nicht dazu. Ich liebe auch das französische Fach und den französischen Ge­sang und habe selber die Elisabeth im Don Carlos im Original ge­sungen – die Rolle ist ganz wunderbar in Hinsicht auf Klang und Diktion. Aber ich bin doch stolz auf meinen Weg im italienischen Repertoire, der mich ganz sicher zur Norma führen wird (wozu es dann leider nicht kam/ G. H.).

Und Ihre Meinung zu den Begriffen „Belcanto“ und „Verismo“ – Gebie­te, in denen Sie ja viel gesungen und Erfahrungen gesammelt ha­ben. Singt sich das unterschiedlich? Worauf muss man als Sängerin achten? Mein Gott, was für eine Frage! Belcanto ist genau das, was das Wort besagt: schöner Gesang. Aber natürlich auch viel mehr, und unter heutigen Standards der allgemeinen Unkenntnis will ich zu­mindest das festschreiben. Der Verismo ist auf den Belcanto drauf- gesetzt und bleibt das auch – die beiden vermischen sich nie. Verdi machte aus Bellinis Genius einen – sagen wir – charismatischen Bel­canto und verbreiterte die Cantilena in bewundernswerter und un­geahnter Weise. Puccini muss gesungen und nie gebrüllt werden und ist zudem nie vulgär, wenngleich einige dunklere und vielleicht hässlichere Töne um der musikalischen Wahrheit willen erlaubt sind. Verismo erzählt eine organische Geschich­te in ebensolchen Rhythmen und einer angemessenen, natürlichen Sprache. Verdi nahm dies bereits mit dem Rigoletto in Angriff und dann natürlich mit seinen Al­terswerken. Aida, Otello oder Falstaff sind zweifel­los grandiose Werke.

Aprile Millo: „Ballo“ an der Met/ Ausschnitt aus der DG_DVD

Die stimmliche Gefahr für den Sänger besteht in der Vulgarisierung seiner Kunst bei der Ausführung durch den Gesang. Emotionen sollten durch das Gefühl eher ausgedrückt werden als durch den Klang, und billige stimmliche Tricks und ein sich vordergründig In-Szene- setzen sollten vermieden werden. Sie dienen nicht der Musik, sondern nur dem Sänger und verschleiern die ei­gentliche, musikalisch ausgedrückte Wahrheit.

Gefühle sind so eine Sache, und als Sänger ist man nicht frei davon, von den Emotionen beherrscht zu wer­den. Da muss man sehr aufpassen. Ich war von dem Text der Margherita im Mefistofele so überwältigt, dass ich lange brauchte, um sie gut singen zu können. Und gera­de jetzt – die Worte der Gioconda: was für ein Elend, welcher Kummer, was für seelische und physische Qualen. Und was für eine Oper!

In technischer Hinsicht ziehe ich flexible, spontane Tem­pi vor – nicht rigide, sondern organisch aus dem Text und den Intentionen des Komponisten heraus. Sehr wenige Dirigenten können das heutzutage. Das verlangt wirkli­ches Verständnis und wenig Ego seitens des Maestro, denn er (oder, wie im Falle von Eve Queler, sie) ist ja dafür da, die Stimme zu begleiten. Eve macht das ganz außergewöhnlich, und deshalb fühlen sich ihre Sänger auch von ihr so beschützt.

Eve Queler: Schlussbeifall nach der „Gioconda“ 2006 mit Marcello Giordani, Aprile Millo, Dolora Zajick/ Foto Queler

Wenn Sie mich nach großen Musikern fragen, die mein Leben beeinflusst haben, fällt mir Elisabeth Schwarzkopf ein, deren Unterstützung und Zuneigung mein Leben geprägt haben. Sie brachte mich nach Salzburg und ar­rangierte mein Vorsingen bei Herbert von Karajan. Und mit ihm zu arbeiten war einfach unglaublich. Ich werde nie vergessen, wie er mich gelobt und weitergebracht hat. Er wollte eine Elsa und eine Arienplatte mit mir auf­nehmen. Seine Augen strahlten eine unglaubliche Kraft aus. Ich fühlte mich bei ihm unendlich wohl, wirklich „zu Hause“. Er schätzte es, dass ich keine Angst vor ihm hat­te, und sagte mir das auch. Ich erwiderte, dass ich nur nervös sei, wenn ich vor Leuten singen müsste, die nichts davon verstünden. Mit so bedeutenden Künstlern wie ihm ist für mich alles sehr unkompliziert.

Eine etwas delikate Frage (und ich möchte kein Salz in irgendwelche Wunden reiben): Warum, glauben Sie, haben Sie keine wirklich ganz große Karriere gemacht, die Sie doch eigentlich verdient hätten? Und warum ei­gentlich nur eine in den USA? Und warum haben wir hier in der Alten Welt so wenig von Ihnen gesehen? Ich will Sie nicht verletzen, aber ich finde, Sie hätten eine Rie­senkarriere machen müssen angesichts vieler heutiger Sänger auf heutigen Bühnen…  Ich blieb in Amerika wie Rosa Ponselle, weil ich ganz „altmodisch“ an die Werte der Produktionen und an den Respekt gegenüber den Kom­ponisten in diesem Land glaube. Ich habe hingegen oft Produktionen abgelehnt, in denen Aida ihr Motorrad am Nil parkt und ähnlicher Unsinn mehr. Das ist nichts für mich, und das ist einer der Gründe, warum ich hiergeblieben bin und das europäische Regie­theater vermieden habe. Und ich habe ja doch auch einige wirklich gute Aufnahmen gemacht, immer mit guten Kollegen. Mit James Levine fand ich das richtige Ambi­ente für unseren Verdi-Zyklus.

Aprile Millo: Millo in Concert/ youtube

Ich liebe jedoch das deutsche Publikum – man behandelt bei Ihnen die Oper, wie man sie wertschätzen sollte, mit totaler Hinga­be und großer Aufmerksamkeit (und in den Aufführungen ist es so still wie in der Kir­che). Ich schätze Christian Thielemann sehr und höre, dass er diese „altmodischen“ Tra­ditionen liebt, eine „altmodische Seele“ hat. Ich würde gerne mit ihm eine Oper machen. In jedem Fall stelle ich weiterhin meine Kunst in den Dienst Gottes und der Musik. Und das Publikum versteht und anerkennt dies. Allein schon die Ankündigung, dass wir die Gioconda machen würden, versetzte die New Yor­ker Musikliebhaber in Raserei – die Car­negie Hall war im Nu ausverkauft, die Leute standen in langen Schlangen nach Restkarten an. Ich war überwältigt. Das ist alles, was ich zum Leben brau­che, nicht dieses ganze Getue um die richtigen Agenturen, Hype und Ego, was nichts mit Musik und dem Dienst am Komponisten zu tun hat. (Dank an Wolfgang Denker für die Archivarbeiten)

Niza de Castro Tank

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Nicht-südamerikanischen Opernliebhabern wird die jünst verstorbene brasilianische Sopranistin Niza de Castro Tank (10. März 1931 – 24. April 2022) vor allem wegen ihrer bemerkensweswerten  Pioniertätigkeit auf dem Gebiet des nationalen Musikheroen Antonio Gomes in Erinnerung bleiben. Ihre Aufnahme des Guarany (neben später erschienenen weiteren Gomes-Opern wie A noito do Castelo) ist eines der allerersten CD-Dokumente, und jahrzehntelang musste sich der Opernfan mit dieser klanglich recht dünnen Aufnahme zufriedengeben.

In ihrer Heimat und auf dem südamerikanischen Kontinent galt Niza de Castro Tank als Superstar im Koloraturfach, ähnlich wie die jüngere und ebenfalls kürzlich verstorbene Adelaide Negri im dramatischen. Beide zeichnete eine gewisse Robustheit der Emission aus, fast eine Bedenkenlosigkeit oder vielleicht eher Furchtlosigkeit angesichts der stimmlichen Mittel, die im Falle von Niza de Castro Tank eher im schmaleren, aber absolut zupackenden Bereich lagen. Der recht blumige Eintrag im brasilianischen Wikipedia, den wir nachstehend in einer Google-Übersetzung zitieren, wird ihr in der Aufzählung vieler Details ganz sicher in ihrem Sinne gerecht. Sie war die bekannteste lyrische Sopranstimme Brasiliens. G. H.

Niza de Castro Tank (10. März 1931 – 24. April 2022) war eine brasilianische lyrische Koloratursopranistin, die von einigen als eine der größten Sopranistinnen Brasiliens angesehen wird und auch der größte Förderer der Arbeit von Antônio Carlos Gomes ist.

Sie wurde am 10. März 1931 in Limeira als Tochter von Arthur Jorge Tank und Nicolina Ferreira de Castro geboren. Sie hatte einen ersten Kontakt mit Opern-Gesang in Limeira, wo ihr Lehrer bemerkte, dass sie seltene Qualitäten als Sängerin hatte.

Sie begann offiziell sein Gesangsstudium in Campinas bei Professor Sylvio Bueno Teixeira. Im Alter von 23 Jahren bekam sie einen Vertrag bei Rádio Gazeta de São Paulo, wo sie  fünf Jahre lang blieb und ihre künstlerische Karriere begann. Von 1957 bis 2017 wirkte sie in zahlreichen Opern in Brasilien und im Ausland mit, darunter Rigoletto, Il Barbiere di Siviglia, Lucia di Lammermoor, La Bohème, O Guarani, Lo Schiavo, La Traviatta, Il Matrimonio Segreto, Lakmé, Don Pasquale, L ‚Elisir d’Amore, La sonnambula, Die Zauberflöte und A noito do Castalo. Sie wirkte als Solistin in Mozarts Requiem in d-Moll und in der Messe in c-Moll mit; in Carmina Burana, von Carl Orff; in Colombo und Odaléa, von Carlos Gomes; in Ravels L’Enfant et les Sortilèges; in Beethovens Christus am Ölberg; in Händels Messias; in Beethovens Neunter Symphonie; in Honeggers König David; in Bachs Messe in h-Moll; und in Schuberts Salve Regina.

Sie nahm an internationalen Tourneen teil und trat in Montevideo, Moskau, Berlin, Neapel, Palermo, Tel Aviv, Jerusalem, Madrid und Caracas auf.

Niza de Castro Tank als Lucia di Lammermoor/ OSA

Sie sang unter der Leitung von Armando Belardi, Arschawir Karapetjan, Benito Juarez, Diogo Pacheco, Carlos Eduardo Prates, Eleazar de Carvalho, Flávio Florence, Frederico Gerling, Gerard Devos, Guido Santorsola, Isaac Karabtchevsky, Luiz Borges, Paoletti, Roberto Schnorrenberg, Rodrigo Müller, Roger Wagner, Simon Blech, Souza Lima, Tullio Colacciopo, Roberto Tibiriçá, Aylton Escobar, Carlos Lima, Eduardo Ostergreem, Ricardo Kanji, Fábio de Oliveira, Osman G. Gioia, Abel Rocha, Henrique Morelembaum, Ernst Mahle.

Sie wirkte bei der ersten vollständigen Weltaufnahme der Oper Il Guarany mit. 1986 nahm sie zwei Alben mit Liedern von Antônio Carlos Gomes und 1996 eine CD mit Weihnachtsliedern auf. Mit dem Orquestra Sinfônica Municipal de Campinas nahm sie 2004 die CD Campinas de todos os Sons und 2005 die Missa São Sebastião auf.

Fünf Jahre in Folge erhielt sie die Roquete Pinto Trophy. Außerdem erhielt sie die Best of the Year Trophy, die Fumagalli Trophy (für fünf Jahre), die Cacique Trophy, die Bandeirantes Trophy, die Carlos Gomes Trophy, die Ordem dos Músicos do Brasil Trophy, den Carlos Gomes Award, den Guarany Trophy, die Medaille der Vereinigung der Theaterkritiker von São Paulo, die Women Who Make History Trophy, die Samuel-Lisman-Medaille, der Verdiensttitel „Scientiarum Persona Magnífica“ und die Medaille für wissenschaftliche Verdienste „Prof. DR. Walter Radames Accorsi“.

Einmal, auf dem Weg zu einer Hochzeit, blieb sie unter einem Baum stehen und dachte nach: „Wie gut es ist, in einer Gruppe zu singen!“ Dieser Gedanke führte zur Entstehung von Madrigal Decason, das sie selbst gründete und dirigierte und gewann Carlos-Gomes-Medaille 2015.

Im Jahr 1972 heiratete Niza Samuel Abraham Lisman Baum, geboren am 6. Juli 1915 in Sachsen, Deutschland. Lismans Familie lebte bis 1924 in Deutschland, bis sie gezwungen war, nach Montevideo, Uruguay, auszuwandern. Dort studierte er Philosophie und war später Herausgeber des kolumbianischen Schriftstellers Gabriel García Marquez (Nobelpreisträger 1982). Baum lebte ungefähr 30 Jahre in Campinas, nachdem er Kulturdirektor des Círculo Militar, Präsident des Lions Clube Guanabara und Kolumnist der Zeitung Diário do Povo war. Baum starb am 23. Juli 2002 und wurde im Cemitério Israelita do Embu in São Paulo beigesetzt.

Im Jahr 2004 erlebte Niza die Veröffentlichung ihrer Biografie „Niza, Trotz der Anderen“ von ihrer ehemaligen Sekretärin Sara Lopes. Im Jahr 2008 veröffentlichte Sie das Buch „Minhas Pobres Canções“, das die Lieder von Carlos Gomes aus musikalischer Sicht und vokale Interpretation bringt, unterstützt durch die Aufnahme auf 2 CDs.

Sie hatte einen Abschluss in Kunsterziehung vom PUCCamp und in Pädagogik vom Institute of Social Sciences of Americana. Sie war Doktor der Kunst an der Unicamp, wo sie auch als Professorin für Gesangstechnik in der Musikabteilung arbeitete. Sie nahm als Gastlehrerin an mehreren Musikfestivals und Spezialkursen in Gesangstechnik und lyrischem Gesang teil.

Sie war Inhaberin und Kulturdirektorin der Campineira Academy of Letters and Arts, ordentliches Mitglied des Clube dos Escritores de Piracicaba und Präsidentin der Campineira Academy of Music.

2021 feierte sie ihren 90. Geburtstag und wurde von Freunden und wichtigen Institutionen wie der Campinas Symphony geehrt. Nach einem langen, der Kunst gewidmeten Leben verstarb sie am Morgen des 24. April 2022 im Alter von 91 Jahren in Campinas. Wikipedia

Auf Originalinstrumenten

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Geschmeidig und unschlüssig“ wollte Claude Debussy seine Musik für seine einzige Oper Pelléas et Mélisande, die „zarten Reibungen der Seele“ und „launenhafte Träumereien“ sollte sie ausdrücken können, „sie muss aus dem Dunkel kommen“ und sie sollte ganz und gar nicht an Richard Wagner erinnern. In einem überaus informationsreichen Booklet, das auch ein Interview mit dem Dirigenten der Aufführung enthält, wird der Hörer profund in das Werk eingeführt, und es wird ihm erklärt, warum die Aufnahme mit Originalinstrumenten aus der Kompositionszeit erfolgte. Überprüfen kann er dann, ob die angestrebten harmonischen Finessen tatsächlich in dieser Besetzung eher zu erreichen sind als mit einer der herkömmlichen Art. Bei den Streichern besteht der größte Unterschied darin, dass Darmsaiten benutzt wurden, so dass das Vibrato wesentlich feiner ausfällt, die Stimmen mehr zur Geltung kommen und generell der Eindruck einer ausgeprägteren Durchsichtigkeit entsteht.

Die Aufnahme entstand 2021 durch die Opéra de Lille, also zu Corona-Zeiten  und demnach in leerem Saal, es spielt das Orchester Les Siècles unter Françoise-Xavier Roth. Mit den ersten Taktes fällt die ungewöhnliche Transparenz des Klangbildes auf, eine große Farbigkeit trotz des Filigranen, die zu einer besonders dichten Atmosphäre insbesondere in den Vor-und Zwischenspielen führen und die die Sängerstimmen tatsächlich besonders präsent erscheinen lassen.

Der Dirigent hält Golaud für „die menschlichste Figur“, und die findet in Alexandre Duhamel einen adäquaten Vertreter mit nicht liebenswürdigem, aber doch zunächst Vertrauen erweckendem Timbre, mit erstklassiger Diktion, im ersten Akt durchaus zärtlichen Zügen, ehe zunehmend Bedrohlichkeit sich vernehmbar macht, immer wieder, so in den Szenen mit Yniold, zu Sanftheit gebändigt. Auch der Tenor Julien Behr lässt seinen Pelléas eine vokale Entwicklung durchmachen, gewinnt nach recht trocken klingendem Beginn zuhörens an vokaler Präsenz und damit an Farbe, erfreut durch empfindsamen Sprechgesang und glänzt im vierten Akt durch eine emphatische Zärtlichkeit in der Stimme. Tiefdunkel und archaisch lässt sich der Arkel von Jean Teitgen vernehmen, während Marie-Ange Todorovitch eine sanfte, recht hell klingende Geneviève ist. Angstflatternd mädchenhaft beginnt Vannina Santoni als Mélisande, facettenreich und voller vokaler Süße und mit einer Liebeserklärung im doppelten „Pelléas“, ehe das letzte „la veritè“ auch noch ein Geheimnis zu bergen scheint. Bewundernswert ist es, wie das Kind Hadrien Joubert die wortreiche Partie des kleinen Yniold meistert. Damien Pass und Mathieu Gourlet vervollständigen das Ensemble als Arzt und Hirte. Pelléas et Mélisande kann sehr lange dauern- diese Aufnahme lässt keinen Gedanken daran aufkommen, ist spannend vom ersten bis zum letzten Ton (harmonia mundi 905352.54). Ingrid Wanja         

Aus der Tropfsteinhöhle

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Dass man einem Werk seine ganz eigene Regie-Handschrift aufdrücken kann, ohne es zu entstellen, stattdessen dem Zuschauer neue Möglichkeiten der Interpretation eröffnet, ohne sie ihm aufzuzwingen, beweist Damiano Michieletto mit seiner Inszenierung von Janáčeks Jenufa an der Staatsoper Berlin zu Corona-Zeiten, so dass nicht exakt auszumachen ist, welche Einfälle der Krisenzeit geschuldet und welche davon unabhängig dem Gehirn des Regisseurs entsprungen sind. So tritt der Chor nicht auf der Bühne auf, sondern ist, ganz in ziviles Schwarz gekleidet, über den gesamten Zuschauerraum hin verstreut und so kein fröhliches Fest anlässlich der Heimkehr Stewas von der Musterung möglich, was aber wiederum dazu passt, dass die Beziehungen zwischen den Personen äußerst unterkühlt sind, sie sich in einem septisch erscheinenden, Kälte ausstrahlenden  Raum, wie aus Eis herausgeschnitten, befinden, von dessen Decke sich allmählich, aber unaufhaltsam ein Eisblock herabsenkt, aus dem es zunehmend tropft, so dass sich auf dem Fußboden ein See bildet, aus dem im letzten Akt das von der Küsterin ertränkte Kind oder zumindest die Decke, in die es gehüllt war, geborgen wird (Bühne Paolo Fantin). Lediglich einige Bänke und ein mit Kerzen bestückter Altar bilden das Bühnenbild auch für den ersten Akt, zeitlos und keinerlei geographische Orientierung, dafür aber einiges an Charakterisierung bietend sind die Kostüme von Carla Teti. Stewa schleppt ein Teil herein, dass wie ein Koffer aussieht, sich dann aber als Eisblock entpuppt, immer wieder kneten die Personen kleinere Ausgaben davon in den Händen, als müssten sie sich an der Eiseskälte, die sie umgibt, abarbeiten. Erst ganz zum Schluss und dann doch unvermittelt fällt gleißendes Licht auf die Bühne, und das Paar Jenufa- Laca schreitet in das Leuchten und damit wohl in eine bessere Zukunft hinein, während die Küsterin unter dem tropfenden Eisklumpen zurückbleibt, der sie in absehbarer Zeit zu erdrücken droht. Es gibt zwar Ungereimtheiten, so die Wiege mit dem Kind auf der Bühne, während Laca die Lüge von dessen Hinscheiden aufgetischt wird, aber insgesamt ist dies doch eine wunderbare Produktion von poetischer Eiseskälte oder voll eiseskalter Poesie, an der sich die farbige, hochdramatische Musik Janaceks unter Simon Rattle geradezu wütend abarbeitet. Im Orchestergraben waren übrigens Eingriffe bei den Holzbläsern der Pandemie geschuldet.

Nicht besser besetzt sein könnte das Terzett der Frauen mit einer so optisch schmalen wie akustisch warm und begütigend klingenden Mezzosopranistin, wie sie Hanna Schwarz ist, die die Buryjovka singt und deren Bühnenpräsenz imponierend ist. Sie wie auch die Küsterin von Evelyn Herlitzius sind auch in der Jenufa-Produktion der Deutschen Oper zu erleben gewesen, und der hochdramatische Sopran kann gleichermaßen herrisch auftrumpfen wie wunderschöne flehende Töne gegenüber den beiden Heiratskandidaten Stewa und Laca produzieren, und der darstellerische Einsatz der Herlitzius zwischen selbstherrlichem Aufbegehren und demütigem Sichfügen  ist, wie von ihren Wagnerrollen bekannt, ein nicht an Intensität zu übertreffender. Optisch wie akustisch von strahlender Blondheit ist die Jenufa von Camilla Nylund, zwar kaum entstellt durch die Narbe, dafür sich aber der Haarpracht mit hektischen Scherenschnitten entledigend und atemberaubend intensiv nicht nur in der Szene, in der sie, dem roten Faden folgend, das tote Kind entdeckt.

Sehr viel schärfer, als man es sonst erlebt, sind die beiden Liebhaber charakterisiert. Ladislav Elgr ist ein brutaler, durch und durch unsympathischer Steva mit scharfem slawischem Tenor, Stuart Skelton ein tapsiger Bär von Laca mit auftrumpfendem Heldentenor. Jan Martinek gibt den bassgewaltigen Altgesell, Evelin Novak eine spritzige Karolka, Adriane Queiroz eine Barena mit italienisch geschulter Stimme und Victoria Randem einen Jano mit kristallklarem Sopran.

Die Aufführung erlebte als Stream ihre Premiere und sollte unbedingt auch vor Publikum zu genießen sein, wobei man gespannt darauf sein kann, was mit dem Chor passiert, wenn das Publikum sich den Saal zurückerobert (C Major 760504). Ingrid Wanja           

Barbara Wunderlich

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Wenn das Adjektiv „heimtückisch“ in Bezug auf eine Krankheit jemals gepasst hat, dann in diesem Fall. Barbara Wunderlich, LowBeats-Mitbegründerin, -Lektorin, -Anzeigenleiterin und aufrecht-gute Seele des Verlags, erlag am 12. April 2022 nach mühevollem und schmerzhaftem Kampf einem lange unerkannten Krebsleiden.

Als Tochter des Ausnahme-Tenors Fritz Wunderlich und als Absolventin der Münchener Musikhochschule hatte sie nicht nur eine beeindruckend klare Stimme und ein feinfühliges Klavierspiel, sondern auch das absolute Gehör. Kurz: Sie hörte ganz anders und besser als wir. Nicht selten begleitete sie unsere Hörtests mit den Worten: „Also ich hätte das jetzt anders bewertet…“

Aber sie ließ uns machen. Nicht allerdings bei den Texten. Als selbstbewusste Lektorin kürzte sie so manchen, unnötig langen Satz und machte aus verschwurbelten Technik-Elaboraten verständliche Alltags-Texte. Alle Arten von Klischees waren ihr zuwider und die übliche Frauenfeindlichkeit, die in Männerzirkeln ja fast unausrottbar ist, warf sie immer sofort mit einer scharfen Rüge an den Autor aus dem Text. Als einzige Frau der Truppe hatte sie es nicht leicht – aber am Ende setzte sich ihre Schlagfertigkeit meist durch.

Barbara war das notwendige Gegengewicht zu der Technik-Verliebtheit der vielen älteren Herren, die sich sonst bei LowBeats tummeln. Oftmals öffnete sie uns die Augen und korrigierte den Kurs. Ohne sie wäre LowBeats nicht das was es heute ist. Auch, weil sie unerbittlich auf die Einhaltung der SEO-Erfordernisse pochte. Dass man unsere Texte bei Google in der Regel recht weit vorn findet, ist in erster Linie ihr Werk.

Vor allem aber war sie als Anzeigen-Verkaufsleiterin der Motor des Ganzen. Nachdem sie etliche Jahre bei Crescendo und Opernwelt der klammen Musik-Industrie Anzeigen – und später den Anstalten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ihre Filme – verkaufte, war sie es, die das gewagte Start-up namens LowBeats auf ein festes, finanzielles Fundament stellte. Sie organisierte das Backoffice und schaffte es mit ihrer freundlich-verbindlichen Art, auch die zögerlichen Anbieter unserer Branche, immer wieder zu einer Buchung zu überreden.

Vor allem aber war sie eine ganz und gar wunderbare Frau. Aufrecht-streitbar, lebensklug und voller Liebe für jene, die sie in ihr Herz geschlossen hatte. Der Autor dieser Zeilen muss es wissen: Er durfte sie mehr als zwei Jahrzehnte auf ihrem viel zu kurzen Weg begleiten. Barbara fehlt. Schon jetzt. Sehr. Holger Biermann (Foto Biermann/ Den Nachruf entnahmen wir der website von LowBeats mit sehr freundlicher Genehmigung und danken unserem Freund Thomas Voigt für die Nachricht vom Tode Barbara Wunderlichs.)

https://www.lowbeats.de/nachruf-auf-barbara-wunderlich/?fbclid=IwAR1JG-JFD0qQ0uBBZaI65h8-32IBIdmL61808GvHdZSGy4vpjc_HJmGrkdI

Langweiliger Genderfluidismus

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„Warum vergessen wir?“, fragt die Erzählerin. Und unternimmt den Versuch, sich an eine Familiengeschichte zu erinnern, „alles begann 1598“. Sie sagt es natürlich auf Englisch, denn die wunderbar artikulierende und mit sanften Bewegungen das Gesagte anmutig umschmeichelnde italienisch-schwedische Sänger-Schauspielerin Anna Clementi ist in Olga Neuwirths Oper Orlando Sprachrohr der Schriftstellerin Virginia Woolf und gleichzeitig Schutzgeist von deren Orlando. Es sei für sie als Schriftstellerin ein Urlaub gewesen, sagte einst Virginia Woolf. Nie habe sie ein Buch schneller verfasst als ihr in einem „einmalig glücklichen Herbst“ entstandenes Hauptwerk Orlando. Ähnlich muss es Olga Neuwirth ergangen sein, als sie 2014 den Auftrag erhielt, der im Dezember 2019 zur ersten Uraufführung einer abendfüllenden Oper einer Komponistin an der Wiener Staatsoper führte. Im ausführlichen und sehr packenden Bericht im Beiheft der DVDs (2 DVDs Unitel 760708) erzählt sie, wie sie Woolfs Orlando bei der jugendlichen Suche nach weiblichen Vorbildern in der Kunst beeinflusste. Somit war der Stoff für die Wiener Oper rasch gefunden. Auch Inhalt, Aufbau, Art und Weise der Umsetzung scheinen sich rasch konkretisiert zu haben; Neuwirths Liebe zur Kalligrafie, „auch die Frage nach der Veränderung der Schreibmaterialien“ sowie der Vorgang des Schreibens werden von Regisseurin Polly Graham in ihrer artigen Bilderschau aufgegriffen. Vor allem wird die „fiktive musikalische Biografie in 19 Bildern“, wie Neuwirth ihr Werk nennt, zu dem sie zusammen mit Catherine Filloux das Libretto nach Woolfs Satire auf Geschlechterrollen geschrieben hat, von David Pountney-Mentee Polly Graham nach Art des britischen Sprechtheaters in praktikable, gefällige Bilder gefasst. Nebelumwaberte Blicke in die Landschaft, Wissenschaftskabinette, Doku-Theater und wohlfeile Appelle. Auf der Bühne überaus schlichtes Schultheater, das auf den Rück- und Seitenleinwänden Unterstützung durch die Videos von Will Duke erfährt. Dazu die eleganten Garderoben von Comme des Garçons, der vor allem in den 1980er und 90er Jahre als Avantgardelabel Kult geworden japanischen Marke, die den jungen Dichter und Edelmann Orlando, auf den Elisabeth I. ein Auge geworfen hat, in gefältelte Bänder, Spitzend und Samt hüllen. Rüschig ist die Inszenierung auch dort, wo ein kräftiger satirischer Zugriff und die Leichtfüßigkeit des Romans gutgetan hätten, etwa bei Orlandos Tee-Empfang für die Dichterkollegen Pope (Christian Miedl), Addison (Carlos Asuna), Dryden (Marcus Pelz) und Duke (Wolfgang Bankl). Mit Ausnahme der ansprechenden Kate Lindsey als Orlando, dem Countertenor Eric Jurenas als Guardian Angel und dem faszinierenden Bassbariton Leigh Melrose als Orlandos Kollege Green und Kriegsfotograf Shelmerdine lassen sich aus dem umfangreichen Ensemble nur schwer einzelne Figuren herauslösen.

Neuwirth hat für ihre „hybride Grand opéra“, die „als eine Fusion aus Musik, Mode, Literatur, Raum und Videos gestaltet sein muss“, alles bekommen. „von klassischen Sängern bis Cabaret-Sängern wie Justin Vivian Bond und singenden Schauspieler/ innen, …..bis zu einem Kinderchor, einem Männer- und einem Frauenchor, die klein besetzt sind, damit sie auch madrigalhaft singen können, einer jazzigen Bühnenband bis zu Geräuschmachern wie in der Stummfilmzeit, klassischer zeitgenössischer Musik und Hörspielartigem … fieldrecording und elektronischen Klängen sowie Samples“. Die Musik ist schillernd, hat etwas chamäleonhaftes wie die Figur des sich im Lauf der von der Renaissance bis ins 20. Jahrhundert erstreckenden Handlung in eine Frau verwandelnden Orlando, der im Erscheinungsjahr von Woolfs Roman seinen seit Jahrhunderten fortgeschriebenen Gedichtband „The Oak Tree“ veröffentlichen kann. Die musikalische Vielfalt und die Vorbilder lassen sich kaum aufführen. Neuwirths Musik ist zweifellos virtuos geschmeidig, umschmeichelt den Hörer oftmals sinnlich – und schmeißt sich mit „O Tannenbaum“ auch ein bisschen ran. Matthias Pintscher bannt die überbordende Klangpracht, steuert das Bühnenorchester der Wiener Staatsoper sicher und souverän durch die rotierenden Tonmassen und die durch die Zeiten gleitende Klangschichten.

Doch die Oper ist mit rund 2 ¾ Stunden reiner Musik etwas lang. Vor allem im zweiten Teil möchte man oftmals schreiend davonlaufen. Weniger wegen der Musik als des zusammengeschusterten Textes. Nach der Schilderung des Kindesmissbrauchs in der Viktorianischen Ära betreiben die Autorinnen mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs und entsprechenden Dokumentarblitzen Wochenschau-Theater, verlassen die im Roman geschilderte Zeit und die Epoche der Woolf, blenden rasch in den Zweiten Weltkrieg und schwenken ebenso rasch zur Generation der 1968er, in die 1980er Jahre mit dem Einzug des Computers und in die aktuelle Gegenwart. Neuwirths Oper und die vor der Flut der Informationen kapitulierende kitschige Inszenierung landen bei einer gut gemeinten Politrevue und Volkshochschuldokumentation, die vom Holocaust bis zur Atombombe, vom Klimawandel bis zur Konsumkritik, einschließlich Gender und Genderfluidismus, alles anschneiden will – und damit langweilt. Dabei hatte Orlando so schön begonnen.  Rolf Fath

Keine Konkurrenz zu Vorhandenen

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Im deutschsprachigen Raum ist es üblich eine der zwei noch existierenden Passionen von Johann Sebastian Bach (1685-1750) am Karfreitag zu hören; einige Kenner werden auch die Passionsvertonungen von Georg Friedrich Händel (1685-1759) und Georg Philipp Telemann (1681-1767) oder sogar das Oratorium „Die Sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze“ von Franz Joseph Haydn (1732-1809) als Musik für die Karwoche nennen.

Bachs Matthäus-Passion BWV 244 ist eines der am häufigsten aufgenommenen Oratorien der westlichen Musik: es gibt schon etwa achtzig Aufnahmen auf dem Markt (Stand: 20171). Die neue Aufnahme von Pygmalion unter der Leitung von Raphaël Pichon ist der Nachfolger von zwei Aufnahmen, die Harmonia Mundi schon veröffentlicht hat, eine ausgezeichnete Aufnahme unter der Leitung von Philippe Herreweghe (1998) und eine weitere von René Jacobs (2013). Bei Warner Classics gibt es die Referenz für historisch informierte Aufnahme von Concentus Musicus Wien und dem Arnold Schoenberg Chor unter der Leitung von Nikolaus Harnoncourt aus dem Jahre 2000 mit Solisten wie Christine Schäfer, Dorothea Röschmann, Bernarda Fink und Matthias Goerne.

Sowie Harnoncourt geht es auch bei Pichon um den Dialog zwischen den zwei Chören und Orchestern, wie Bach es vorgibt. Die Musiker, der Dirigent und die Solisten bieten eine transparente, lebendige und zügige, aber nicht übereilte Interpretation an. Die Aufnahme ist bemerkenswert, weil historische Instrumente verwendet wurden, um eine Klangpalette zu erzeugen, die raffiniert und modern klingt. Ein zentrales Merkmal von Bachs Genie, so Pichon in dem Heft beiliegenden Interview, sei es, die Passion auf eine persönliche Art und Weise zu erzählen, die die Menschlichkeit der Figuren hervorhebt und so das Publikum unmittelbar in das Geschehen einbezieht.

Pichons Tempi, Ausdrucksweise und Gefühl für Dynamik passen logisch zum Thema und emotionalen Inhalt, so dass die Musik und die Erzählung die Zuhörer in die Tragödie einbeziehen und die Spannung in dieser bekannten Geschichte aufrechterhalten, obwohl der Ausgang von Anfang an bekannt ist. Der Höhepunkt dieser Aufnahme ist die Sopranarie „Blute nur, du liebes Herz“, gesungen von Hana Blažíková mit emotional Intensität, Trauer und Herzeleid. Als Muttersprachler artikuliert Julian Prégardien den Evangelisten mit Klarheit und ausreichenden emotional Engagement. Sabine Devieilhe und Lucile Richardot nutzen ihre attraktive Stimmen, um ihre jeweiligen Arien technisch einwandfrei darzubieten und gleichzeitig Gefühle der Sympathie zu vermitteln.

Tim Mead hat eine gewöhnungsbedürftige Altstimme, die für mich eine meiner Lieblingsarien „Können Tränen meiner Wangen“ ruiniert. Diese Arie kann den emotionalen Tiefpunkt dieses Oratoriums vermitteln, wenn sie von den richtigen Sängern mit Leidenschaft gesungen wird. Einige Beispiele hierfür sind Christa Ludwig unter der Leitung von Otto Klemperer, Julia Hamari unter der Leitung von Karl Richter und Elisabeth von Magnus in der o.g. Harnoncourt Aufnahme.

Die Mitwerkenden haben eine gute Leistung erbracht, und teilweise anderen historisch informierten Tonaufnahmen entweder sehr nahe gekommen (wie z.B. die zwei Einspielungen, die John Eliot Gardiner vorgelegt hat) oder sie gar übertroffen (wie z.B. die zehn Jahre alte Aufnahme von René Jacobs). Pichon wäre sehr empfehlenswert, wenn es nicht so viele Alternativen gäbe; die Konkurrenz ist einfach zu groß. Wenn ich diese Aufführung auf der Bühne erlebt hätte, dann wäre ich zufrieden, aber eine Aufnahme ist für wiederholtes Hören gemeint. Um bei einem solchen unglaublichen Wettbewerb ganz vorne zu stehen, müssen alle Solisten absolut erstklassig sein.

Das 112-seitige Beiheft enthält das vollständige Libretto mit englischen und französischen Übersetzungen, einen Gespräch über die große Passion sowie Schwarzweiß-Fotos der Musiker. Die Titelliste bietet nur den Stimmtypus für jede Arie. Im Gegensatz beinhaltete das Textheft bei der o.g. Harnoncourt Aufnahme eine Titelliste, die nennt welche der Solisten (z.B. Sopran 1 oder Sopran 2) singt, sowie einen wissenschaftlichen Aufsatz von  Wolfgang Sandberger. Wer das Oratorium nicht auswendig kennt und sich auf die Informationen stützt, die mit der Pichon Aufnahme geliefert werden, muss eine Kopie der Partitur besitzen, um zu wissen wer welche Arie singt.

Wie viele Aufnahme von dem gleichen Werk, egal wie großartig es ist, sind notwendig? Diese rhetorische Frage stellt sich weil Plattenfirmen weiterhin eine kleine Auswahl von Repertoire immer wieder produzieren mit einer daraus resultierender Flut redundanter Aufnahmen, die nur selten etwas über das Werk enthüllen, das nicht bereits bekannt war. Selbstverständlich wenn neu entdeckte Primärquelle von bisher ungehörter Musik verfügbar wären, wäre eine Aufnahme (wie z.B. die 2008 veröffentlichte Ausgabe der 1742 Fassung gespielt von die Dunedin Consort unter der Leitung von John Butt) begehrenswert. Denselben Inhalt immer wieder aufzunehmen ohne neue Erkenntnise ist nicht nur überflüssig sondern auch langweilig und verschwenderisch.

Ich frage mich, warum Pichon selten gespieltes Repertoire, wie z.B. einen großen Teil von Telemanns Vermächtnis oder Werke von Christoph Graupner (1683-1760) und Jan Dismas Zelenka (1679-1745) nicht aufgenommen hat; er hätte uns damit ermöglicht, Musik, die wertvoll aber schwierig zu finden ist, zu entdecken. Pichon und sein Ensemble verfügen über ein großes Potenzial, die Vielfalt des Repertoires zu erweitern. Wir können nur hoffen, dass sie diese Gelegenheit bei ihrer nächsten Aufnahme wahrnehmen werden (Johann Sebastian Bach: Matthäus-Passion mit Julian Prégardien, Stéphane Degout, Sabine Devieilhe, Lucile Richardot, Christian Immler, Pygmalion, Raphaël Pichon; harmonia mundi musique 3 CDs HMM 902691.93). Daniel Floyd