Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Peter Maus

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Wenn es eine Konstante in meinem Berliner Opernleben gab war es der Tenor Peter Maus. Ich hatte – vor allem rückblickend – das Gefühl, er war jeden Abend auf der Bühne. Er gehörte zum Inventar sozusagen. Und das meine ich nicht abfällig. Auf ihn war Verlass. Kein Tristan ohne seinen Jungen Hirten, keine heitere Oper ohne ihn, seine Rollen war – mochte man glauben – Legion. Partien wie Belmonte, Pedrillo, Ferrando oder Jaquino, Steuermann und Wenzel. Im Repertoire waren auch viele Partien aus Opern des 20. Jahrhunderts. Sein fester, markanter Chararaktertenor brachte ihn bis Bayreuth (auch dort lange Jahre kein Tristan ohne ihn)  und internationale Häuser. Mit ihm ist für mich eine Ära der Deutschen Oper Berlin verbunden, die im Verein mit Maus´ Kollegen McDaniel, Bernard, Kuchta, Zeumer, Fortune, Borris, Stewart und Lear, Wixel, Driscoll, Dooley und vielen anderen Haus-Qualität auf hohem Niveau garantierte. Das war meine musikalische Lehranstalt. Und ich bin jenen  Sängern wie Peter Maus dankbar für eben diese stete Qualität des Singens und Gestaltens. Er ist für mich aus jenen Jahren nicht wegzudenken. Nun starb er am 17. Juni 2022 (geb am 1. Januar 1948) wie die Oper mitteilt.  G. H.

Dazu ein Nachruf seines Berliner Stammhauses: in einem Gespräch, das 2013 aus Anlass seiner letzten Auftritte als Mime im RHEINGOLD entstand, verriet Peter Maus die Devise seines Sängerlebens: „Überschätze dich nicht, dann werden dich andere schätzen“, lautet dieser Satz, und aus ihm sprechen gleichermaßen Bescheidenheit und die Fähigkeit zur kritischen Selbstreflexion. Im Laufe seiner staunenswert langen Karriere ist Peter Maus diesem Satz nicht nur treu geblieben, sondern hat auch erleben dürfen, dass sich dessen zweiter Teil einlöste. Mehr noch: Peter Maus wurde von den Kollegen wie vom Publikum nicht nur geschätzt, er wurde von allen als ein kaum wegzudenkender Teil der Deutschen Oper Berlin empfunden. Warum das so war, zeigt schon ein Blick auf die Vielzahl der Partien, die der Tenor im Laufe von vierzig Jahren an seinem Haus verkörperte. An die 100 Partien in über 70 Bühnenwerken wurden es, seit er am 26. Februar 1974 hier im Alter von 25 Jahren in Verdis IL TROVATORE debütiert hatte.

Mosaiksteinartig setzt sich das Bild der Künstlerpersönlichkeit so aus vielen Facetten zusammen: Große Partien sind darunter wie Belmonte in Mozarts DIE ENTFÜHRUNG AUS DEM SERAIL und Mime im RHEINGOLD, kleinere Rollen, die gleichwohl starke darstellerische und sängerische Präsenz fordern wie der Narr in Mussorgskys BORIS GODUNOW und der Monsieur Triquet in Tschaikowskys EUGEN ONEGIN, aber auch jene Kleinstrollen, die ein Sänger nur glaubwürdig ausfüllen kann, wenn er jede Eitelkeit beiseitelässt.

Vielleicht lag ihm als gebürtigem Bayreuther Wagner besonders am Herzen: Zwanzig Jahre lang, von 1982 bis 2002, sang er regelmäßig bei den Bayreuther Festspielen und noch sein letzter Auftritt an der Deutschen Oper Berlin am 8. Dezember 2019 fand in einer seiner Paraderollen statt, dem Hirten in Wagners TRISTAN UND ISOLDE. Doch charakteristisch für Maus‘ Zugang zum Gesang ist vor allem die Neugier, mit der er auf jede neue Partie zuging und sie sich zu eigen machte – kein Wunder, dass unter seinen Rollen überdurchschnittlich viele Auftritte in Werken zeitgenössischer Komponisten stehen: Maus stand in Werken von Aribert Reimann und Bernd Alois Zimmermann, Wolfgang Rihm, Mauricio Kagel und Hans Werner Henze auf der Bühne und noch eine seiner letzten Partien am Haus war die Uraufführung einer Kinderoper in der Tischlerei.

Der Stadt Berlin ist Peter Maus, dem 2001 der Titel eines Berliner Kammersängers verliehen wurde, nicht nur durch sein jahrzehntelanges Wirken im Ensemble der Deutschen Oper Berlin verbunden: Seine Kombination aus Offenheit, Kollegialität und vorurteilsloser Beurteilungsfähigkeit machten ihn bald zu einem gesuchten Lehrer, seit 1995 auch als Honorarprofessor an der Berliner Universität der Künste.

 Nun ist Peter Maus am 17. Juni nach kurzer, schwerer Krankheit verstorben. Die Deutsche Oper Berlin trauert um einen prägenden Sängerdarsteller und wunderbaren Kollegen. Quelle/ Foto Peter Maus als Mime im Rheingold Foto Bettina Stöß/ DOB

Sofia: das Bayreuth des Ostens

Längst vorbei sind die Zeiten, da man im Sofioter Opernhaus eine Madama Butterfly erlebte, in der die Titelrolle von einer Russin auf Russisch, der Pinkerton von einem Italiener auf Italienisch und der Chor auf Bulgarisch sangen und die Regie den verrückten Einfall hatte, Butterfly ihren Ex-Geliebten in einer Bodenvase suchen zu lassen. Ideologische Verblendung, die alles Metaphysische verdammte, zwang damals im Don Carlo den Infanten zum Selbstmord, und Wagner war in kommunistischer Zeit ein Unbekannter, ebenso Richard Strauss, was alles nicht mehr wahr ist, denn ausgerechnet im fernen Bulgarien kann man nun erstklassige Aufführungen in deutscher Sprache erleben, und ausgerechnet ein Genueser Label macht es dem deutschen Publikum möglich, musikalisch erstklassige Aufführungen in von Ideologie und Demontage freier szenischer Umsetzung zu genießen. 2013 erlebte mit der Götterdämmerung der letzte Tag des Ring-Zyklus seine Premiere, und nun ist die DVD erhältlich, zwar „nur“ in der um einige Instrumente reduzierten Fassung von Gotthold Ephraim Lessing, der nichts mit dem deutschen Dichter zu tun hat, was man aber nicht als Manko erlebt.

Die Bühne von Nikolay Panayotov lebt von kraftvollen, wechselnden Farben und geometrischen Figuren, so dem Halbkreis als Symbol eines zerbrochenen Ringes, von Zylindern, und auch Requisiten wie der Kahn Siegfrieds folgen diesem Einfall. Manchmal wirkt das auch komisch, so wenn die Nornen wie lebende Strickliesel aussehen, aus deren Kopf sich das unendliche Seil entwickelt. Rot steht natürlich für das Feuer, auch das die Götter und Walhall verzehrende, ein blauer Strahl und die Farbe des Rheins stehen für Natur und Hoffnung. Die Kostüme sind überaus üppig, für Gunther so bunt wie das eines Narren, die der Mannen machen diese zu riesigen Totenvögeln, Brünnhilde hat offensichtlich Teile der schimmernden Wehr zu Haarschmuck umgearbeitet. Respektvoll geht die Regie von Plamen Kartaloff mit den Solisten um, sicherlich in dem Bewusstsein, dass sie schier Übermenschliches zu leisten haben. Ein sehr schöner Einfall ist die Versöhnung zwischen Brünnhilde und Gutrune, die sich in einer langen Umarmung kundtut. Sämtliche weiblichen Mitwirkenden sind von außergewöhnlicher Schönheit, so dass die Rheintöchter in Trikots nichts Peinliches an sich haben, eher schon, dass sie unentwegt, und sie tauchen oft auf, auf Trampolins herumhopsen müssen.

Bulgarien ist bekannt als Lad der gesunden, kraftvollen Stimmen, und die kann man in dieser Produktion auch antreffen. Yordanka Derilovas einziges Manko ist, dass man sie  zu einem Ebenbild von Paris Hilton gemacht hat, und leider verharrt sie oft in Model-Posen, als befinde sie sich auf einem Laufsteg. Bewundernswert ist ihre Diktion, der Sopran verfügt über eine tragfähige mezza voce für „welches Unheils List“, ein strahlende Höhe für das „ ewig währende(s) Glück, ein schneidendes „Jammer, Jammer“, die „starke(n) Scheite“ werden agogikreich und ohne Nachlassen der vokalen Kraft bewältigt. Eine großartige Leistung! Siegfried ist mit Kostantin Adreev eher ein schwarzhaariger Latin Lover mit schlimmer Diktion, der zwar bewundernswert unermüdlich, aber doch zu dauerdröhnend ermüdend singt und sich oft in Ballerinoposen gefällt. Gunther ist in dieser Produktion ein Hobby-Astronom und mit Atanas Mladenov der elegantest geführte, angenehmst timbrierte Bariton, den man sich denken kann. Schrill ist die Gutrune von Tsvetana Bandaloska, wenn es laut werden soll, ansonsten kann ihr Sopran durchaus gefallen. Die Waltraute von Tsveta Sarambelieva zeichnet sich durch engagiertes Spiel und durch einen Mezzosopran von schönem Ebenmaß aus. Den deutschen Zuhörer stört es natürlich, wenn ein Hagen so textunsicher ist wie Petar Buchkov, der zudem, abgesehen von einzelnen kraftvollen Phrasen und einem mächtigen „Hoho“, dumpf verhangen klingt, dem bulgarischen Publikum wird es kaum aufgefallen sein. Markant ist Vater Alberich, d.h. Biser Georgiev, der sich oft und gern blicken lässt. Nornen und Rheintöchter beweisen, dass Bulgarien viele äußerst attraktive und stimmschöne junge Sängerinnen hat.  Mit Erich Wächter hat man sich einen erfahrenen Wagner-Dirigenten nach Sofia geholt, der der Garant für eine authentische Betreuung des Orchesters ist. Am Schluss geschieht etwas, was in Deutschland wohl zu einem Kampf zwischen Bravo- und Buhrufern geführt hätte: Ein riesiges Poster mit dem Konterfei Richard Wagners wird im Bühnenhintergrund emporgezogen (Dynamic 37900). Ingrid Wanja          

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Emsig weiter an seinem Ruf als Bayreuth des Ostens arbeitet die Sofia Opera, hat sie doch in den vergangenen Jahren nicht nur den Ring, sondern auch Tristan und Parsifal aufgeführt und belässt es beim deutschen Repertoire nicht bei Wagner, sondern kann sich auch der ersten bulgarischen Elektra rühmen. Vom Ring gab es nach dem neuen Siegfried bisher BLu-rays von Rheingold und Die Walküre, nun auch den Siegfried von 2012, und dieser enttäuscht ebenso wenig wie seine Vorgänger, bietet er doch nicht nur eine Riege vorzüglicher Sänger, sondern auch eine Optik, die den Betrachter weder verstört, noch langweilt, noch empört. Regisseur Plamen Kartaloff begnügt sich damit, ein wundersames Märchen zu erzählen, zu dem ihm Bühnenbildner Nikolay Panayotov ein in kraftvollen Farben schillerndes Bühnenbild, das zudem auf geometrische Formen setzt, entworfen  und ebensolche Kostüme, manchmal zu sehr in Buntheit schwelgend, geschaffen hat. Schiesser-Feinripp hat also, wie der Betrachter erleichtert feststellt, noch nicht den Weg nach Bulgarien gefunden. Ein wenig will natürlich auch diese Regie eine eigene Handschrift zeigen, aber das erschöpft sich zum Glück mit zwei Dienstbolzen für Mime, die dezent im Hintergrund wirken, dem Paar Siegmund und Sieglinde, das als graue Schatten das Treiben des Sprösslings beobachtet (ob von Walhall oder von Helheim aus, bleibt offen) und die Darstellung  von Geburt und Kindheit und Jugend des Wälsungen im Schnelldurchlauf. Viel Phantasie wurde für Fafner und seine Höhle mit wilden Klettergerüsten aufgewandt,  und niemand im Publikum wird übersehen haben, dass ein Lindenblatt die Ganzkörperunverwundbarkeit des Helden verhindert hat und damit das Regieteam bewies, dass es nicht nur den Ring, sondern auch das Nibelungenlied kennt.

Die Sofioter Oper scheint aus einer Fülle gesunder, potenter und nimmermüder Stimmen schöpfen zu können. Der Siegfried von Martin Iliev ist zudem optisch die ideale Besetzung, die Diktion allerdings straft den deutschen Vornamen Lügen, an ihr müsste noch gearbeitet werden, sollte er nationale Grenzen überschreiten wollen. Die Mittellage ist gut ausgebildet, Metall glänzt in allen Lagen, die Schmiedelieder klingen urgesund und kraftvoll, manchmal wünscht man sich mehr Singen und weniger Deklamieren. Ein schöner Sehnsuchtsruf ist „meine Mutter“, ein denkwürdiges Fortissimo „Erwache“, und der Künstler macht nicht „Pause“, wenn die Partnerin singt, sondern reagiert und agiert. Nicht nur mit einer gellenden Lache beweist Kasimir Dinev, dass er ein vorzüglicher Charaktertenor ist, seine Diktion ist tadellos, die Maske beeindruckend und die Verkörperung des Mime rundum gelungen. Etwas zu basslastig  klingt der Wanderer von Martin Tsonev, eher wie ein Hagen oder Hunding, insgesamt zu dröhnend, wenn er mit Erdkugel und wie ein Mikadostab wirkendem Speer agiert. Eine gute Diktion zeichnet den bis auf gelegentliche Vokalverfärbungen vorzüglichen Alberich von Biser Georgiev aus, dunkeldräuend eindrucksvoll. Wunderbar gähnen kann der Fafner von Petar Buchkov, kristallklar klingt der Waldvogel von Lyubov Metodieva, von schönem, dunklem Ebenmaß ist der Alt von Rumyana Petrova, die die Erda etwas matt verschlafen, aber damit situationsgerecht beginnt. Mit hell strahlendem „Heil dir, Sonne“, nie scharf werdend, allerdings ihre Wirkung allein aus der akustischen Leistung beziehend, ist Bayasgalan Dashnyam eine zumindest den Hörer erfreuende Brünnhilde. Pavel Baleff beweist am Dirigentenpult, dass auch das Orchester der bulgarischen Hauptstadt Wagner kann.

Auf die Götterdämmerung kann man gespannt sein, darauf, ob auch an ihr die geschundene mitteleuropäische Wagnerseele sich laben kann (Dynamic 57899). Ingrid Wanja

Da muss erst ein italienisches Label eine Aufführung aus dem tiefsten Südosten Europas aufnehmen, damit man endlich wieder einmal eine Walküre sehen und hören kann, ohne sich ärgern zu müssen. Wobei der Ärger fast immer durch die lächerliche Optik verursacht wird, die jedoch durchaus auch den Hörgenuss beeinträchtigen kann.

Diese Angst braucht man bei der Aufnahme aus dem Sofioter Opernhaus, das in den letzten Jahren zu einer Hochburg des Wagnergesangs und geradezu ein Bayreuth des Süd-Ostens geworden ist, nicht zu haben, denn der Inszenierung aus dem Jahre 2011, die aber noch immer im Repertoire ist, merkt man an, dass das Regieteam mit Respekt und Liebe ans Werk gegangen ist. Dabei muss die Optik nicht einmal gefallen, sondern sollte nur den Eindruck vermitteln, dass man sich seitens des Regieteams Mühe gegeben hat, dem Werk dienlich zu sein und dem Publikum zu einem beglückenden Opernerlebnis verhelfen zu wollen. Bayreuth des Südens bedeutet nicht, dass man auf ein kundiges Publikum und sein Wissen um das Werk bauen kann, und so ist es eine gute Idee, im Hintergrund während der langen Erzählungen von Wotan oder Siegmund  sich das abspielen zu lassen, wovon sie berichten. Regisseur Plamen Kartaloff scheut ansonsten nicht davor zurück, auch lange Strecken des Nichtsgeschehens zu wagen, vertraut auf die Ausstrahlung seiner Solisten und die Wirkung von Gesang und Orchesterklang, intensives, durchaus auch manchmal stummes Spiel. Der stärkste Eindruck geht sowieso von dem aus, was Bühnen- und Kostümbildner Nikolay Panayotov gezaubert hat. Er setzt auf geometrische Formen und wechselnde Farben, Kreise, die zu Halbkreisen zerbrechen, Halbkreise, die sich erheben, so zum Beispiel, mit lodernden Farben gefüllt, den Schutz Brünnhildes bilden. Ein tiefes Blau trägt wesentlich zum Zaubern einer feierlichen Stimmung bei, Pastellfarben tun dies schon weniger, wirken manchmal etwas kitschig, besonders das pinkfarbene Lager für die Walküre. Geometrie heisst auch Technik, und so kommen die Walküren auf Raketen geritten, die sie am Zügel halten, und es stört den Gesamteindruck nicht, dass man sieht, wie fleißige Techniker die Ungetüme bewegen. Abenteuerlich sind viele Kostüme, so Hundings, der sich gewaltiger Geweihe bedient, um seinen Gegner zu bedrängen, Wotans, das ihn mit Schläuchen mit Lebenskraft zu versorgen scheint, die der Walküren, die eher Robotern gleichen als menschenähnlichen Wesen. Gewiefte Cineasten können diesen Stil vielleicht einem Film zuordnen, dass Sieglinde sehr menschlich wirkt, liegt sicherlich auch daran, dass sie im zweiten Akt ein schlichtes Gewand aus Stoff und keinerlei Metall oder Kunststoff (vieles sieht verdächtig nach Plaste aus) trägt.

Bulgarien ist bekannt für große, gesunde Stimmen, was dieser Aufführung zweifellos zugute kommt. Selten hört man so frische, strahlende Walküren wie die dieser Aufführung, und die Namen zeigen, dass alle und auch die Solisten aus dem Land stammen. Mit einem tollen Hojotoho beginnt die Brünnhilde von Irina Zhekova, mit lustvollen Intervallsprüngen, schöner, ernster Todesverkündigung und einem wunderbaren: War es so schmählich, was ich verbrach. Geradezu endlos wird „vertraut“ gehalten, die Stimme scheint nie zu ermüden und auch darstellerisch kann die Sängerin berühren. Mit guter Diktion und einem helleren Sopran überzeugt die Sieglinde von Tsvetana Bandalovska, in Rage geratend manchmal schrill, aber mit einem intensiven Ausbruch im Hehrsten Wunder, das tief berührt. Nicht nur endlos erscheinende Wälse-Rufe, sondern auch ein baritonales Timbre, Ausflüge in die mezza voce und viel Metall hat Martin Iliev für den Siegmund, in der Optik erinnert er an die attraktiveren Wagnertenöre der Fünfziger. Sein Timbre spreizt zu beängstigender Lautstärke Angel Hristov als Hunding. Nur in höchster Erregung schrill wird die Fricka von Rumyana Petrova, die mit einer tadellosen Diktion erfreut- da braucht man keine Untertitel. Problematisch scheint auf den ersten Blick der Wotan von Nikolay Petrov zu sein, optisch ein alter Mann, aber vokal unverwüstlich bis auf einige Schwachstellen beim Lebewohl an Brünnhilde. Ansonsten aber sind seine Diktion, seine bassbaritonale Kraft, sein Wissen um die Partie, das offensichtlich ist, nur zu bewundern. Man merkt, dass er weiß, worum es in dieser Oper geht.

Das Orchester unter Pavel Baleff spielt angenehm schlank, und man wünscht sich manchmal, dass sich die Sänger, die ab und zu stark deklamieren, sich noch mehr vom Legato, das hier zu hören und durchaus wagnerkonform ist, aneignen würden. Aber das ist Meckern auf hohem Niveau. Bereits erschienen ist das Rheingold, Siegfried und Götterdämmerung folgen (Dynamic 37898/ Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.). Ingrid Wanja

Zerschossene Träume

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Wer erinnert sich, während Horrornachrichten aus der Ukraine und mal steigende, mal fallende Zahlen über die Ausbreitung von Omikron über den Bildschirm flackern, noch an die vor weniger als zwei Jahren die Nachrichten beherrschenden Bilder aus Minsk von manipulierten Wahlen, dem Zorn der Bürger und ihre Versuche, aus Weißrussland einen demokratischen Staat zu machen? Der junge weißrussische Dirigent Vitali Alekseenok hat unter dem Titel Die weißen Tage von MinskUnser Traum von einem freien Belarus ein Buch darüber geschrieben, denn obwohl vor allem in Deutschland tätig, hielt es ihn in den Tagen, in denen seine Landsleute auf die Straße gingen und Leben und Freiheit riskierten, nicht in seinem Gastland, und er versuchte vor allem mit seinen Möglichkeiten, der Musik, in das Geschehen einzugreifen. Im Prolog zu seinem 190-Seiten-Buch schildert er zunächst die Proteste, die in Berlin vor der Belorussischen Botschaft in Treptow und am Mauerpark stattfanden  und  setzt sich mit anderen Intellektuellen und Künstlern erfolgreich dafür ein, dass die Opposition in seinem Heimatland den Sacharow-Preis erhält.

Der Leser wird in die Mentalität der Menschen in Weißrussland eingeführt und erfährt zu seinem Erstaunen, dass die Landbevölkerung bis 1974 keine Pässe erhielt, weil man sie in den Kolchosen halten wollte, nimmt davon Kenntnis, dass Akkordeon und Posaune die ersten Musikinstrumente im Leben des Verfassers waren und dass er seine Ausbildung am Minsker Konservatorium erhielt. Ist der Leser so weit gekommen, hat er auch schon mit dem größten Ärgernis des Buches Bekanntschaft schließen müssen, der gendergerechten Sprache, die zu Ungetümen wie folgenden führt: „Da die_der  Dirigent_in die_der einzige offensichtliche Teilnehmer_in an der Veranstaltung war, waren meine Kolleg_innen und ich die einzigen, die große Anerkennung für den Chor bekamen.“  Das zieht sich natürlich durch das ganze Buch hin und kostet den Autor nicht wenige Sympathien und einige Aufmerksamkeit, ist sogar dem Rechtschreibprogramm, wie man anhand der roten Striche sieht, ein Ärgernis.

Trotzdem liest man mit Interesse über Wahlfälschungen bereits im Jahre 2004 und Proteste dagegen, über „Zwangsanstellungen“ für in Weißrussland Ausgebildete, der man nur durch eine Weiterbildung in Russland entgehen konnte und über den „belarussischen Minderheitskomplex“, die Angst vor Identitätsverlust und dem der Muttersprache, die durch das Russische verdrängt wurde.

Neuer Unmut macht sich breit, als Corona von Staats wegen geleugnet wird, die bevorstehenden Wahlen nichts Gutes ahnen lassen, da Gegenkandidaten gegen Lukaschenko zwar zugelassen, aber behindert werden, so massiv, dass mehrfach Frauen die Stelle der verfolgten Ehemänner einnehmen; man erinnert sich an die vielen jungen Weißrussinnen, die Demonstrationszüge anführten.

Kurz vor den Wahlen hält es den jungen Dirigenten nicht mehr in Deutschland, er erlebt ein Weißrussland, in dem Hupen, Klatschen und weiße Armbänder zu Protestzeichen gegen Unterdrückung und beargwöhnter Wahlfälschung geworden sind, das Protestlied „Veränderungen“ zur Hymne des Widerstands wird. Es folgen viele bedrückende und empörende Berichte von Verhaftungen, Folterungen und sogar Morden durch die Staatsgewalt, die natürlich nicht nachprüfbar, aber sehr wahrscheinlich sind, so wie sich dem Autor auch bei einem Besuch des KZs Erhellendes über die Banalität des Bösen ergibt.

Einige wenige Fotos dokumentieren den persönlichen Einsatz von Alekseenok für die Freiheitsbewegung in seinem Heimatland, der Protestplakate anfertigte, vor allem aber als Musiker, als Chor- und Orchesterleiter unter anderem mit „Va pensiero“ seine Solidarität bezeugte und mit dafür sorgte, dass ganz spontan und dezentralisiert immer und überall Konzerte oder Lesungen stattfanden, die bewiesen, dass die Freiheitsbewegung sich noch nicht geschlagen gegeben hatte. Am 16.8. findet noch einmal ein gewaltiger Protestmarsch gegen die Wahlmanipulationen und die Übergriffe des Staates auf friedliche Bürger statt- mittlerweile hört man nichts mehr aus Weißrussland, was Anlass zur Hoffnung gibt. Allerdings dürfte die auffallende Zurückhaltung des Machthabers im Krieg gegen die Ukraine auch auf dessen Einsicht darin zu sehen sein, dass er nicht auf die Unterstützung seines Volkes bauen kann. Bemerkenswert ist die große Bedeutung der Kunst, insbesondere der Musik bei dem Versuch, auf friedlichem Wege Entschlossenheit und Opferbereitschaft zu zeigen, wenn es um Freiheit und Selbstbestimmung geht. Aus diesem Grund und weil der Verfasser ein Musiker mit einer bereits beachtlichen Karriere ist, dürfte auch der Musikfreund an ihm interessiert sein.

Vitali Alekseenok ist Preisträger des MDR Dirigentenwettbewerbs, arbeitete in Weimar, Karlsbad, Jena, Lemberg, ist Gründer und Leiter des ensemble paradigme und Chef des Abaco-Orchesters der Universität München. Am Schluss des Buches befindet sich eine ausführliche chronologisch Übersicht über die Ereignisse der Weißen Tage von Minsk. Das Vorwort zum Buch stammt von Valzhyna Mort, Dichterin und Professorin an der Cornell University (190 Seiten, Fischer Verlag 2021; ISBN 978 3 10 397098 2/ Foto oben Vitali Akekseenok website ). Ingrid Wanja

Echos einer Legende

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Einen außergewöhnlichen Schuber mit 22 CDs und einem üppigen, vielillustrierten Beiheft hat Warner Classics herausgebracht (0190296477157), der gleichermaßen Freunde des Tanzes wie der sinfonischen Musik begeistern dürfte. Die Anthologie mit dem Titel Diaghilev Ballets Russes dokumentiert die Ära jener legendären Balletttruppe, die von 1909 bis 1929 den Tanz in Paris und London revolutionierte und dominierte. Der 1872 nahe Nowgorod geborene Serge Diaghilev formierte ab 1890 in St. Petersburg einen Kreis von Künstlerpersönlichkeiten, darunter Musiker, Sänger, Choreografen, Maler und Startänzer. Sein Ziel war die Reformierung des zaristischen Balletts. 1908 führte er zunächst das St. Petersburger Opernensemble nach Paris (mit der Bass-Legende Feodor  Chaliapin)  – der immense Erfolg ließ ihn ein Jahr später auch das Ballettensemble des Marijnsky-Theaters nach Paris reisen lassen. Der 9. Mai 1909 war die Geburtsstunde der Ballets Russes de Serge Diaghilev, die zwanzig Jahre (bis zu Diaghilevs Tod 1929 in Venedig) triumphale Erfolge errangen und das Tanzgeschehen in den westlichen Metropolen bestimmten.

Noch heute werden die legendären Choreografien der Balletts Russes international aufgeführt, vor allem beim Hamburg Ballett, dessen Intendant John Neumeier eine besondere Affinität zu dieser Truppe und ihrem Star Vaslav Nijinsky hat. Alljährlich werden die traditionellen Ballett-Tage zum Ausklang der Spielzeit mit einer Nijinsky-Gala beendet, in der internationale Startänzer auftreten und für ein rauschendes Fest sorgen.

Gleich die erste CD der Sammlung mit Nikolai Tcherepnins Drame choréographique Le Pavillon d’Armide, welche sich auf das Debüt der Compagnie 1909 im Pariser Théatre du Chatelet bezieht, hat für uns einen Bezug zum Hamburg Ballett, denn dort wurde das verschollene Ballett 2009 als Hommage an das hundertjährige Jubiläum des Ensembles in den Ballettabend Nijinsky-Epilog integriert. Den legendären Pas de trois in der Choreografie von Michel Fokine mit Nijinsky, Tamara Karsawina und Baldina hat Neumeier gemeinsam mit der russischen Tänzerin Alexandra Danilova rekonstruiert und zur virtuosen Glanznummer des Stückes exponiert. Warner hat eine Einspielung von Naxos mit dem Moscow Symphony Orchestra unter Henry Shek übernommen. Am selben Abend des  9. 5. 2009 wurden in Paris noch Les Danses polovtsiennes aus Borodins Oper Prince Igor gezeigt, die hier in einer rasanten Einspielung des Chicago Symphony Orchestra unter Seiji Ozawa erklingen.

Vaslav Nijinsky in „Le spectre de la rose“/ Wikipedia

Die Entwicklung der Compagnie ist gut zu verfolgen, denn die CDs sind in der Reihenfolge der jährlichen Auftritte von Les Ballets Russes geordnet und die Papphüllen mit seltenen und daher kostbaren historischen Fotos geschmückt. Im Booklet gibt es dazu weitere Foto-Dokumente mit Diaghilev und seinen Tänzerstars (Nijinsky, Anna Pavlova, Bronislava Nijinska, Tamara Karsavina) sowie Komponisten wie Stravinsky, Debussy, Milhaud und bildenden Künstlern wie Pablo Picasso, Henri Matisse und Léon Bakst.

In der Saison 1910 folgte – nun bereits in der Opéra de Paris – Nikolai Rimsky-Korsakovs Schéhérazade, in der Nijinsky mit seiner sinnlich  lasziven Aura triumphierte. Hier ist wieder das Chicago Symphony Orchestra unter Seiji Ozawa mit einer rauschhaft schwelgerischen Interpretation zu hören. Mit Adolphe Adams Giselle gab es in diesem Jahr auch das erste Standardwerk des klassisch-romantischen Repertoires, in welchem Nijinsky als Albrecht Maßstäbe setzte. In die  Warner-Sammlung wurde eine recht unbekannte Aufnahme mit dem Philharmonia Orchestra unter Robert Irving aufgenommen, die gleichwohl nicht der romantischen Atmosphäre entbehrt. Dass die Saison 1910 besonders reich war, bezeugen zwei weitere Werke – Robert Schumanns Ballett-Pantomime Carnaval (wieder mit dem Philharmonia Orchestra unter Robert Irving) und das erste von Igor Stravinskys Balletten –  L’Oiseau de feu –, das sich sogleich als ein Hauptwerk erwies. Die Aufnahme des Boston Symphony Orchestra unter Seiji Ozawa ist ein Klassiker im Katalog und behauptet sich auch hier imponierend.

Impressario und Gründer der Ballets russes: Sergej_Diaghilev_(1872-1929)/ Gemälde von Alexander Serov/ Wiki Commons

Ein Jahr später, für die Saison 1911, komponierte Stravinsky seinen burlesken Petrouchka, der einen gänzlich neuen Stil auf der Ballettbühne einbrachte und auch die Pantomime in den Tanz einbezog. Mit der unglücklichen Jahrmarktspuppe, welche Unterdrückung und Ungerechtigkeit symbolisiert, gelangte Nijinsky zu einer einzigartigen und bis heute unerreichten Interpretation der Titelfigur. Bedeutend ist auch die der Musik durch das City of Birmingham Symphony Orchestra unter Simon Rattle. 1911 gastierte die Compagnie erstmals an der Opéra de Monte-Carlo, wo Nijinsky in zwei weiteren Rollen brillierte und Maßstäbe setzte, die bis heute unübertroffen sind. In dem Tableau choréographique Le Spectre de la rose (auf Webers Einladung zum Tanz in der Orchestrierung von Berlioz) tanzte er als Geist der Rose in der Choreographie von Fokine ein überirdisch ätherisches Wesen, wurde zur Inkarnation der romantischen Empfindsamkeit und faszinierte mit androgyner Aura. Dass Warner hier eine feinsinnige Einspielung mit dem Orchestre de la Société des Concerts du Conservatoire unter André Cluytens ausgewählt hat ist nur zu begrüßen. Eine Woche später kam es in Monte-Carlo zur Premiere von Tcherepnins Ballett Narcisse et Ècho, das als Poème mythologique Narcisse gezeigt wurde. Hier wählte Warner eine Aufnahme von Chandos mit dem Residentie Orchestra unter Gennady Rozhdestvensky aus. Von Monte-Carlo reiste die Compagnie nach London, um am Royal Opera House Tchaikovskys Klassiker Schwanensee als Le Lac des cygnes aufzuführen. Bis heute ist dieses Ballett in der Beliebtheit des Publikums unübertroffen und wird immer wieder in neuen choreografischen Deutungen gezeigt. In der Anthologie findet sich die maßstäbliche Einspielung des London Symphony Orchestra unter André Previn.

Mit Debussys Prélude à l’après-midi d’un faune bringt die Saison 1912 mit dem Titel L’Après-midi d’un faune ein Schlüsselwerk der Compagnie, das für Nijinsky einen weiteren Meilenstein seiner Karriere bedeutete. Er stellte sich mit diesem Stück auch als Choreograf vor und entfachte mit seiner erotischen Darstellung den ersten von noch weiteren folgenden Skandalen. Die gewählte Aufnahme mit den Berliner Philharmonikern unter Simon Rattle ist auch deshalb so willkommen, weil der renommierte Flötist Emmanuel Pahud mitwirkt. Nur eine Woche später gab es am selben Ort, dem Théatre du Chatelet, Ravels Komposition Daphnis et Chloé in der Choreographie von Fokine und der Ausstattung von Léon Bakst. Auch hier ist die flirrende Interpretation durch das Orchestre de la Société des Concerts du Conservatoire unter André Cluytens die richtige Wahl.

Poster für die Pariser Premiere der Ballets russes 1909/ Wikipedia

Die Saison 1913 bringt wieder eine Mischung von Standardwerken und Unbekanntem. Zu ersten Kategorie zählt zweifellos Stravinskys dissonante Komposition Le Sacre du printemps, die in Nijinskys Choreographie bei der Premiere am 29. 5. im Pariser Théatre des Champs-Élysées zu einem der denkwürdigsten Skandale eskalierte. Dankenswerterweise wurde die legendäre Aufnahme mit dem Philharmonia Orchestra unter Igor Markevitch in die Anthologie aufgenommen. Debussys Poème dansé Jeux hatte nur zwei Wochen früher am selben Ort seine Uraufführung in Nijinskys Choreographie erlebt und mit dem reizenden Tennisspiel die Gemüter weit weniger erregt. Die Aufnahme mit dem Orchestre de la Société des Concerts du Conservatoire unter André Cluytens ist in ihrem Esprit genau die richtige Wahl. Eine absolute Rarität ist Florent Schmitts Ballet en deux parts La Tragédie de Salomé, heute fast vergessen, doch hier immerhin in einer Einspielung mit dem Orchestre National de l’O.R.T.F. unter Jean Martinon vertreten.

Von links nach rechts:  Igor Stravinsky, Natalia Gontcharova, Sergei Diaghilev, und Léon Bakst Courtesy, Jerome Robbins Dance Division, The New York Public Library for the Performing Arts

1914 gab es in der Opéra de Paris zwei Werke, die heute nur noch selten gezeigt werden. Strauss’ La Légende de Joseph (Josephslegende, hier in einer exemplarischen Aufnahme mit der Staatskapelle Dresden unter Rudolf Kempe vertreten) choreographierte Fokine, in moderner Zeit erweckte es John Neumeier an der Wiener Staatsoper und in Hamburg zu neuem Leben. Stravinskys Opéra Le Rossignol, gleichfalls von Fokine umgesetzt, erregte besondere Aufmerksamkeit durch die Ausstattung der russischen Künstlerin Natalia Gontcharova, die in der Avantgarde-Szene eine führende Rolle einnahm. Warner hat die neueste Einspielung unter James Conlon mit dem Orchestre de l’Opéra National de Paris und einer prominenten Sängerbesetzung (Natalie Dessay, Violeta Urmana, Laurent Naouri, Marie McLaughlin u.a.) ausgewählt.

1915 pausierte die Compagnie und 1916 trat sie nicht in Paris auf – dafür im Teatro Eugenia Victoria in San Sebastian mit Las Meninas, einer Choreografie von Léonide Massine auf Gabriel Faurés Pavane in f-Moll, die vom Orchestre de chambre de Lausanne unter Armin Jordan gespielt wird. Danach reiste die Truppe nach New York, um Strauss’ Sinfonische Dichtung Till Eulenspiegel zu zeigen. Es ist die letzte Choreografie von Nijinsky, die nie außerhalb der Vereinigten Staaten zu sehen war. Zu hören ist die launische Aufnahme mit dem Philharmonia Orchestra unter Lorin Maazel.

Les Ballets russes: Mikhail Fokin und Vera Fokina in „Scheherazade“/ Glass plate negative/Musik- och Teaterbiblioteket Stockholm/ Wikipedia 

Nach einem Zwischenstopp im Teatro Costanzi in Rom im April 1917 kehrte die Compagnie im Mai dieses Jahres nach Paris zurück, um im Théatre du Chatelet die Sinfonischen Dichtungen „Kikimora“ und „Baba-Yaga“ von Anatoly Liadov in einem Programm mit dem Titel Contes russes zu zeigen. Die heute vergessenen Kompositionen erklingen in einer Einspielung mit dem Bergen Philharmonic Orchestra unter Dmitrij Kitajenko. Ungleich bedeutender war die eine Woche später aufgeführte Parade auf Musik von Eric Satie. Das satirische Ballett wurde von Massine choreografiert und von Picasso ausgestattet. Eine idiomatische Aufnahme mit dem Orchestre du Capitole de Toulouse unter Michel Plasson bringt den ganzen Witz und Esprit der Musik zur Geltung.

Nach einer Pause 1917 gab es 1918 im Londoner Alhambra Theatre zwei von Massine choreografierte Stücke  – Ottorino Respighis La Boutique fantasque (hier zu hören mit dem Philharmonia Orchestra unter Alceo Galliera) und Le Tricorne auf Manuel de Fallas El sombrero de tres picos. Ausgewählt wurde die unerreichte Standardaufnahme des Werkes mit der Sopranistin Victoria de los Angeles und dem Philharmonia Orchestra unter Rafael Frühbeck de Burgos.

1920 kehrte die Truppe nach Paris zurück und zeigte in der Opéra zwei Choreographien von Massine:  Stravinskys Le Chant du rossignol und Pulcinella. Berühmte Interpreten sind hier zu hören – das Orchestre National de France unter Pierre Boulez und die Academy of Saint Martin in the Fields unter Neville Marriner. Spektakulär verlief die Saison 1921 im Londoner Alhambra Theatre, denn dort wurde eines der Wunderwerke der klassischen Ballettliteratur aufgeführt – The Sleeping Princess auf Tchaikovskys Dornröschen. Die Choreografie von Marius Petipa zählt bis heute zu den kunstvollsten und schwierigsten überhaupt, regt immer wieder Choreografen zu Neudeutungen an. Vor allem die Figur der Fee Carabosse steht im Blickpunkt des Interesses – nicht selten wird sie en travestie von einem männlichen Tänzer interpretiert. Eben kam beim Berliner Staatsballett die bekannte Deutung von Marcia Haydée aus Stuttgart heraus, in der gleichfalls ein Tänzer auftrat und für Furore sorgte. Warner hat die Einspielung mit dem London Symphony Orchestra unter André Previn ausgewählt, die in ihrer Eleganz und Delikatesse unvermindert besticht.

Les-Ballets-russes-Programmheft in der Gestaltung von Leon Bakst/ Wikipedia

1922/23 gab es in Paris zwei Stravinsky-Raritäten in den Choreografien von Bronislava Nijinska, der Schwester Vaslavs – das Ballet burlesque Le Renard und die Scènes choréographiques Les Noces. Beide dirigiert in der Anthologie Charles Dutoit. Gänzlich von unbekannten Werken war die Saison 1924 bestimmt. Sie brachte Francis Poulencs Ballet Les Biches, das Tableau choréografique La Nuit des sorcières auf Mussorgskys Nacht auf dem kahlen Berge, das Ballet Les Facheux auf Musik von Georges Auric und das Ballet Le Train Bleu mit der Musik von Darius Milhaud. Hier finden sich Einspielungen unter Mariss Jansons mit dem Oslo Philharmonic Orchestra und Igor Markevitch mit dem Orchestre National de l´Opéra de Monte-Carlo.

1926 und 1927 gab es in Paris wiederum Novitäten, die heute vergessen sind: Jack in the box auf Musik von Erik Satie und La Chatte nach dem Ballet von Henri Sauguet. Hier trat mit George Balanchine als Choreograf eine von Diaghilevs späten Entdeckungen auf den Plan, die bis zum Ende der Ballets Russes eine zentrale Rolle in deren künstlerischen Ausrichtung einnehmen sollte. Auch in den beiden Produktionen des Jahres 1928 in London und Paris war Balanchine für die Choreografie verantwortlich. The Gods go A’Begging ist eine Ballettsuite von Händel, die Thomas Beecham arrangierte. Sie erklingt hier in seiner Einspielung mit dem Royal Philharmonic Orchestra. Dass zweite Stück ist ungleich bedeutender – Stravinskys Ballet Apollon musagète, hier von den Berliner Philharmonikern unter Simon Rattle zu hören. 1929 gab es dann Diaghilevs letztes Projekt für die Ballets Russes – Prokofievs Le Fils prodigue – das wiederum Balanchine choreografierte, trotz einer ernsten Auseinandersetzung mit dem Komponisten, was dem genialen Wirken der Ballets Russes ein getrübtes Finale verlieh. Diaghilev starb nur wenige Monate nach dieser denkwürdigen Premiere und bleibt bis heute eine singuläre Figur in der Welt des Tanzes.

CD 22 bietet einen Bonus, der an Feodor Chaliapins legendäre Interpretation des Boris Godunov erinnert. Außerdem finden sich historische Einspielungen von Stravinskys Le Sacre du printemps mit dem Grand Orchestre Symphonique unter Pierre Monteux und Erik Saties Parade mit dem Philharmonia Orchestra unter Igor Markevitch (Abb. oben/ Leon Bakst für die Ballets russes/ Ausschnitt/ Wikipedia). Bernd Hoppe

Russische Romanzen

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Seit ihrer Salome bei den Salzburger Festspielen ist die litauische Sopranistin Asmik Grigorian ein Star auf den internationalen Opernbühnen. Das Label ALPHA CLASSICS hat eine längerfristige Zusammenarbeit mit der Künstlerin geplant, die mehrere Aufnahmeprojekte umfassen soll. Deren erstes widmet sich überraschend nicht der Oper, sondern bringt ein Recital mit 19 Romanzen von Sergei Rachmaninov, entstanden im April 2021 in Paris (ALPHA 796). Der Titel der Anthologie Dissonance wurde der gleichnamigen Komposition op. 34 Nr. 13 entnommen, welche das Programm eröffnet. Der russisch-litauische Pianist Lukas Geniusas begleitet die Sängerin am Flügel – eine Zusammenarbeit von absoluter Harmonie, die den Titel der Platte Lügen straft.

Die Stimme der Grigorian ist von starker Intensität, im Klang zuweilen gar bohrend, was das Hören nicht leicht macht. Man muss sich auf dieses Organ einstellen, sich ihm öffnen. Man kann diese Platte nicht nebenbei hören – sie verlangt absolute Konzentration und Hingabe.

„Dissonace“ leitet das Klavier energisch ein, dann erhebt sich der Sopran mit klagenden, sich grell steigernden Tönen, denn das Lied handelt von Abschiedsschmerz. Das folgende („Du bist wie eine Blume“) als Verherrlichung kindlicher Schönheit ist dazu ein starker Kontrast, auch durch den sanften, innigen Klang der Stimme. „Ich warte auf dich“ ist Ausdruck von Sehnsucht, „Trauere nicht um mich“ der Trost eines gestorbenen Menschen für den überlebenden. Hier färbt Grigorian ihre Stimme dunkel ein und verleiht ihr den Ausdruck von Entrücktheit. In „Dämmerung“ klingt sie fast mädchenhaft zart, in „Sie antworteten“ leidenschaftlich. Noch expressiver und sich in exponierte Höhen aufschwingend ist „Glaube mir nicht, mein Freund“. Zu den bekanntesten Kompositionen Rachmaninovs zählt „Singe nicht, meine Schöne“ auf einen Text von Puschkin mit ihrer melancholischen Stimmung, welche die Sängerin sehr schön einfängt. In der Popularität wird sie nur noch von den rauschenden „Frühlingsfluten“ übertroffen, die viele Sänger gern als Zugabe in ihren Liederabenden offerieren. Das Lied verlangt Aufschwünge in großer Steigerung, denen die Solistin hinsichtlich der Stimmschönheit Tribut zollen muss.

Danach gibt es in „Der Traum“ wieder zarte Nuancen und in „Welch Glück!“ gefühlsmäßigen Überschwang, bei dem die Spitzennoten  forciert werden und in schmerzender Intensität erklingen. Bei „In der Stille der Heiligen Nacht“ kann die Sopranistin die Töne dann wieder schweben lassen und im letzten Lied der Sammlung, „Lasst uns ruhen!“, einen Schlusspunkt von prophetischer Ruhe setzen (03. 06. 22). Bernd Hoppe

Vokales: Von Bruch bis Schönberg

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Unter dem Titel Auf jenen Höh’n haben sich der Bass-Bariton Hanno Müller-Brachmann und der Pianist Hendrik Heilmann bei MDG mit Gustav Mahlers Kindertotenliedern, den Jedermann-Monologen von Frank Martin und den Vier ernsten Gesängen von Johannes Brahms wahrlich schwere Kost vorgenommen. Denn die drei zyklisch angelegten Gesänge kreisen alle um das Thema Tod. Die Mahler-Lieder nach Gedichten von Friedrich Rückert leben vom Kontrast der tiefen Trauer zur tröstlichen Hoffnung auf ein Leben in der Ewigkeit, an der Rückert und Mahler unerschütterlich festhielten (Sie ruh’n als wie in der Mutter Haus,…von Gottes Hand bedecket.). Der erfahrene Liedsänger führt seine dunkel timbrierte Stimme technisch gekonnt abgerundet durch alle Lagen. Die genannten Kontraste zwischen dramatischem Aufbegehren und lyrischer Ergebung könnten allerdings von stärkerer emotionaler Ausdruckskraft sein. Dies mag zum Teil auch daran liegen, dass es dem versierten Pianisten natürlich nur unvollkommen gelingen kann, den reichen Mahlerschen Orchestersatz in all seinem Farbenreichtum zu ersetzen. Dies gilt in gewisser Weise auch für die Hofmannsthals Jedermann entnommenen Monologe, bei denen man die gewaltigen Klangballungen des Orchesters im Klaviersatz doch vermisst. Müller-Brachmann verfügt jedoch über ausgezeichnete Diktion; so erfahren die zwischen Deklamation und Gesang schwankenden Monologe von trotzigem Widerstand, bei dem mit dem Reichtum geprotzt wird, bis zur sich endlich zufrieden gebenden Ruhe in den beiden abschließenden Gebeten insgesamt eine sehr überzeugende Wiedergabe. In der Interpretation der Vier ernsten Gesänge erweist sich durch Intonationsreinheit und perfektes Legato abermals die auageprägte Gesangskunst des Bassbaritons. So gelingt mit seinem partnerschaftlich mitgestaltenden Pianisten eine tiefgehende Ausdeutung der bedeutenden Brahms-Lieder (MDG 908 2231-6).

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Der 1908/09 entstandene Liedzyklus Das Buch der hängenden Gärten von Arnold Schoenbergnach Gedichten von Stefan George ist alles andere als leicht aufzunehmen und stellt als Schoenbergs erstes Werk in freier Atonalität sehr hohe Anforderungen an Stimme und  Interpretation. Deshalb ist es mehr als mutig, dass die Hongkong-Chinesinnen Jasmine Law (Sopran) und Nancy Loo (Klavier) das selten zu hörende, sperrige Werk im September 2018 in London aufgenommen haben, das BRILLIANT CLASSICS (96503) jetzt herausgebracht hat. Die Aufnahme, die zusätzlich die vier Lieder op.2 sowie je ein Lied aus op.12 und op.14 enthält, leidet darunter, dass man die deutschen Texte nicht versteht, wenn man nicht im Beiheft mitliest. Da werden Konsonanten geradezu verschluckt, und Vokale, vor allem bei den Endsilben, folgen nicht dem natürlichen Sprachduktus. Allerdings gibt sich die junge Sängerin alle Mühe, die komplizierten atonalen Tonfolgen inhaltlich zu gestalten und den Text auszudeuten; trotz manchen allzu braven Heruntersingens der Noten werden meist die jeweiligen Stimmungen deutlich. Weiter ist positiv zu vermerken, dass sie ihren Sopran sauber durch alle Lagen zu führen weiß und auch die schwierigsten Intervallsprünge sicher beherrscht. Dabei ist ihr die ausgezeichnete Pianistin eine zuverlässige Partnerin.

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Etwas mühsam sind verschiedene romantische Werke unter dem Titel Rheingold zusammengefasst, gespielt vom niederländischen Streichorchester Ciconia Consort The Hague String Orchestra unter der Leitung seines Gründers Dick van Gasteren, der im Beiheft die Bezüge der Stücke zum Rhein herzustellen versucht. Da erklingt die Serenade für Streicher von Carl Reinecke (1824-1910), bei dem sich mit Die Ritter vom Rhein immerhin eins seiner 6 Lieder op.27 auf ein Gedicht von Emanuel von Geibel ein Bezug zum Rhein fand; weitere Hinweise sind nicht ersichtlich, auch nicht in seiner gefälligen Serenade. Dass Richard Wagners Ring des Nibelungen mit dem Rhein zu tun hat, kann man nicht bestreiten; aber die Wesendonck-Lieder haben bekanntlich einen Bezug zu Tristan und Isolde und nicht zum Rhein. Sei’s drum, die niederländische Mezzosopranistin Karin Strobos singt die schwelgerischen Lieder mit fließendem Legato und lässt ihre charaktervolle Stimme in den passenden Passagen schön aufblühen; die Streicher begleiten dezent in einer Fassung von  Gerhard Heydt. Bei dem in Köln geborenen und zeitweise in Bonn und Köln lebenden Max Bruch gibt es neben den biografischen Bezügen nur mit seiner Oper Die Loreley einen deutlichen Hinweis auf den Rhein. Sein letztes, posthum erschienenes Werk ist das dreisätzige Streichoktett B-Dur, das vom Ciconia Consort mit vorwärtsdrängender Dramatik gespielt wird, ohne die besinnlichen Momente im Adagio zu vernachlässigen. Schließlich enthält die CD Friedrich Silchers Loreley nach Heinrich Heines bekanntem Gedicht, das die Mezzosopranistin mit einer vom Orchester-Leiter arrangierten Streicher-Begleitung in schlichter Manier zum Klingen bringt  (BRILLIANT CLASSICS 96426).  Gerhard Eckels

Winternächte am Arno

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Was haben Umberto Giordanos Andrea Chénier und seine Fedora, was seine Siberia nicht hat? Die opernübliche Dreickskonstellation Sopran-Tenor-Bariton gibt es auch in Siberia, dem „Improvviso“ Chéniers ist Wassilis „Orride steppe“ durchaus ebenbürtig, der „Mamma morta“ Maddalenas ebenso Stephanas „Infinito dolore!“ , Glébys „La conobbi quand‘ era fanciulla“ kann es getrost mit „Nemico  della patria“ aufnehmen, und Librettist Illica war eigentlich der  Garant für einen Erfolg. Selbst die Ansiedlung zumindest des ersten Aktes von Fedora nach Russland hatte den zumindest vorübergehenden Triumph  des Werkes nicht verhindern können, so dass man sich des Gedankens nicht erwehren kann, es sei die Tatsache, dass Enrico Caruso Chénier ebenso wie Loris aus der Taufe hob, der Grund für den rauschenden Erfolg der beiden ersten Opern Giordanos war.

Allerdings zeigte sich auch Siberia mit Rosina Storchio und Giovanni Zenatello hoch besetzt  bei der Uraufführung 1903 an der Mailänder Scala. 1905 erlebte eine zweite Version ihre Uraufführung in Paris (Lina Cavalieri und Lucien Muratore), 1927 kehrte die Oper in einer dritten Fassung an die Scala zurück. 1931/ 1933/ 1937/ 1938/ 1943 – 43 hielt die Römische Oper Siberia mit verschiedenen Produktionen im Programm. 1947 gab es eine Produktion an der Scala. 1974 dann eine Aufführung durch die RAI Turin (mit Luisa Maragliano; der kluge Celetti gibt allerdings Mailand als Aufführungsort an). 1999 wurde das Werk in Wexford gespielt (Elena Zelenskaia). 2003 erfreute Siberia die Zuschauer im immer experimentierfreudigen Martina Franca (die temperamentvolle Francesca Scaini, ebenfalls bei Dynamic/CD 444/1-2 zu erleben).  Bereits 2017 sang Sonya Yoncheva die Stephana in Montpellier2015  konnte man Siberia am Conservatorio di Milano und 2018 im Teatro Regio di Torino erleben.

Mitten in der Corona-Pandemie entstand die nun auf DVD und CD vorliegende Aufführung vom Maggio Musicale Fiorentino , die in der Regie von Roberto Andò der nicht ganz neuen Idee folgt, das Stück als Theater auf dem Theater oder vielmehr als Herstellung eines Films mit dem Sujet Siberia zu zeigen. So rücken immer wieder Kameraleute, Scriptgirls, Regisseur den Darstellern auf die Haut, ist der Hintergrund mit Video-Szenen aus dem Lagerleben in Sibirien bedeckt, wobei nicht klar wird, ob Zar oder Stalin, dessen Bild als das des im dritten Akt besungenen Erlösers erscheint, der Diktator ist, im ersten Akt Uniformen aus der Zarenzeit, im zweiten und dritten aus der Sowjetzeit getragen werden. Die Kostüme von Nanà Checchi sind natürlich nur für den ersten Akt aussagekräftig und verweisen in die modisch uninteressanten Fünfziger, später trägt man zeitlose Lagerklamotten. Ganz zum Schluss taucht das Logo von Cinecittà auf, und heftige Wolkenformationen unterstreichen gern die Dramatik der Handlung (Bühne und Licht Gianni Carluccio).

Dass Giordano das Russische an seinem Sujet ernst nahm, zeigt sich einmal in der Verwendung russischen Liedguts, so des „Ey uchnem“  der Wolgaschlepper, russischer Instrumente wie der Balalaika, und es wird auch in der weiblichen Hauptfigur, der Stephana, sichtbar, die als Fremdartige mit sündigem Lebenswandel an Gestalten wie die Sonja in Schuld und Sühne, die Gruschenka in Die Brüder Karamasow oder die Katjuscha in Auferstehung erinnert. Ihnen wohnt inne, was Giordani von seinem Librettisten forderte: passione, colore e calore. Die lässt auch Gianandrea Noseda mit dem Orchester des Maggio Fiorentino nicht vermissen, so wie der Chor trotz Maskentragens in der Einstudierung von Lorenzo Frantini die Klagen der nach Sibirien Verbannten wie die Beschwörung der Auferstehung effektvoll zu Gehör bringt.

Vorzüglich ist die Besetzung, allen voran  Sonya Yoncheva als Stephana (erprobt 2017 in Montpellier) mit sanftem, lyrischem Auftrittslied und gleich darauf folgendem hymnischem „Sei giovane! Soldato!“ einer wunderschön timbrierten, ideal fokussierten Sopranstimme, sicherer Höhe im Liebesduett des zweiten Akts  und einer so souverän wie berührend gestalteten Schlussszene. Die Wandlung von der Luxusmätresse zur freiwillig alle Strapazen der Verbannung auf sich nehmenden, wahrhaft Liebenden vermittelt die Sängerin höchst überzeugend.  Ihr Partner ist der junge georgische Tenor Giorgi Sturua, dessen noch lyrische Stimme zu großen Hoffnungen berechtigt, ein sehr schönes Timbre ihr Eigen nennt und in der Höhe noch ausbaufähig erscheint. Ein Routinier im besten Sinn und souverän seine Aufgaben meisternd ist George Petean als der fiese Zuhälter Gléby, den er facettenreich im Spiel und prachtvoll im Gesang darstellt. Es gibt eine Vielzahl kleiner Rollen, darunter die der Haushälterin Nikona, von Caterina Piva mit scharfem Mezzo verkörpert, den Diener Ivan, dem Antonio Garés einen frischen, herben Tenor verleiht, den Prinzen Alexis, Giorgio Misseri mit ausdrucksstarkem Charaktertenor, eine Fanciulla mit dem frischen Sopran von Caterina Meldolesi, während im Lager als Aufseher wie Verbannte viele sonore tiefere Stimmen zu goutieren sind.

Eine „klassische“, traditionelle Inszenierung wäre dem Werk sicherlich dienlicher gewesen, um ihm die wünschenswerte Eroberung weiterer Bühnen zu ermöglichen, auf jeden Fall ist es das Verdienst des Genueser  Labels Dynamic, ein größeres Publikum mit einer durchaus repertoirefähigen Oper bekannt gemacht zu haben (Dynamic 37928, dazu auch der Audio-Soundtrack auf Dynamic CDS7928.02 mit Booklet und Libretto/ weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.). Ingrid Wanja  

Ein neuer Counter-Stern

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In der Neuinszenierung von Glucks Orfeo ed Euridice an der Berliner Komischen Oper in dieser Saison war der italienische Countertenor Carlo Vistoli als männlicher Titelheld die Sensation der Besetzung. Nun veröffentlicht das französische Label la música ein Recital mit dem Sänger, das La Lucrezia betitelt ist und Kantaten von Händel, Porpora und Vivaldi vorstellt (LMU 029). Es wurde im Herbst 2021 in der Scuola di Alto Perfezionamento Musicale de Saluzzo aufgenommen. Die Titel gebende, zehnteilige Kantate La Lucrezia von Händel eröffnet das Programm. Das erste Rezitativ, „O numi eterni“, gestaltet der Sänger mit wehklagendem Ton, die folgende Arie, „Già superbo del mio affanno“, mit schmerzlichem Ausdruck. Von erregtem Duktus mit hektischen Koloraturen ist „Il suol che preme“ geprägt, schon hier kann der Interpret sein virtuoses Vermögen zeigen. Davon zeugt auch das kurze Furioso „Questi la disperata anima mia“, das dem Sänger rasende Koloraturen abverlangt. Die folgende getragene Arie „Alla salma infedel“ ist dazu ein starker und wirkungsvoller Kontrast, wie auch das schwebend verklärte Arioso „Già nel seno“, während das anschließende Furioso „Ma se qui non m’è dato“ die Kantate effektvoll beendet.

Zwei weitere Kantaten von Händel sind dagegen weniger bekannt und werden hier sogar als Weltersteinspielungen präsentiert. Ninfe e pastori besteht aus je drei Rezitativen und Arien, die alle in bewegtem Modus komponiert sind und vom Sänger eine flexible Stimmführung fordern. Deh, lasciate e vita e volo ist von den drei Kompositionen die kürzeste mit einem Rezitativ und zwei Arien. Deren erste, welche der Komposition den Titel gab, ist ein getragenes, inniges Stück, das der Sänger mit bewegendem Ausdruck vorträgt. Auch „Lascia la dolce brama“ ist von kontemplativen Charakter und lässt dem Interpreten Raum für noble Gesangslinien.

Das Programm ergänzen je eine Kantate von Porpora (Oh, se fosse il mio core) und Vivaldi (Pianti, sospiri, e dimandar mercede). Beide bestehen aus zwei Rezitativen und zwei Arien. Bei Porpora betört der Sänger in der Arie „Se lusinga il labbro“ mit zärtlichen, schmeichelnden Tönen, in „Sento pietade“ imponiert er mit bravourösen Koloraturgirlanden. In der Komposition Vivaldis am Schluss der Anthologie sorgt er dann mit deren letzter Arie, „Cor ingrato“, für den Höhepunkt der Platte, entfacht ein Feuerwerk an Virtuosität mit halsbrecherischen Koloraturläufen.

Den Sänger begleitet das Trio Le Stagioni (Paolo Zanzu, der auch die Leitung hat, am Cembalo, Marco Frezzato am Cello und Simone Vallerotonda an der Theorbe) mit kammermusikalischer Delikatesse. Bernd Hoppe

Victor von Halem

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Mit großer Betroffenheit hörte ich vom Tode des Sängers Victor von Halem. Er war mir ein lieber und langjähriger Freund, schon während seiner Zeit an der DOB und auch danach. Und wir trafen uns zu mehr oder weniger philosophischen Gesprächen über das Leben und das Sein bei Imbiss und Kaffee. Ich hatte ihm in seiner persönlich schweren Zeit versucht zu helfen, hatte unendlich viele Gespräche auch am Telefon mit ihm geführt und ihn als einen hochsensiblen, empfindsamen Menschen kennengelernt, als einen Feingeist und Epikuräer. Während seiner Zeit in Italien blieben wir verbunden. Immer wieder klingelte das Telefon, wenn sich eine neue Wendung in seinem turbulenten Leben ergab. Victor war mir dicht, ein Geistesverwandter und ein Verständnisvoller seinerseits, den nichts schreckte und der unendlich offen in seiner Akzeptanz und Anhänglichkeit  war. Was für ein wunderbarer Mann. Danke, dass ich ihn kennen und eine begrenzte Lebens-Strecke lang begleiten durfte! G. H.

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Die Deutsche Oper Berlin trauert um Victor von Halem (1940 – 22). Er kam 1965 auf eine Empfehlung Herbert von Karajans an die Deutsche Oper Berlin und sollte in den 30 Jahren seines Festengagements eine der prägenden Sängerpersönlichkeit unseres Hauses werden. Der in Berlin geborene und in Italien, Portugal und später in Stuttgart und München aufgewachsene von Halem hatte zu diesem Zeitpunkt gerade sein Studium an der Münchner Musikhochschule beendet, um sich dann im Festengagement an der Deutschen Oper Berlin nach und nach alle großen Partien seines Faches zu erarbeiten. Hierzu zählten Sarastro und Rocco ebenso wie die großen Verdi- und Wagner-Partien. So war er als Ramfis in Aida und König Philipp in Don Carlo ebenso zu erleben wie als Gurnemanz, Hagen, König Marke, Landgraf Heinrich oder auch als Saint-Bris in Meyerbeers Les Huguenots.

Neben seinem Festengagement in Berlin gastierte von Halem an den großen Häusern in München, Hamburg, Mailand, Rom, Paris sowie in Tokyo und Osaka, aber auch an der benachbarten Staatsoper Unter den Linden. Er war regelmäßig unter Herbert von Karajan Gast bei den Salzburger Festspielen sowie eng verbunden mit dem Festival in Spoleto. Dort verband ihn eine enge Arbeitsbeziehung mit dessen Leiter Giancarlo Menotti, der seinetwegen Wagners Meistersinger inszenierte und von Halem damit sein Bühnendebüt als Hans Sachs ermöglichte.

Neben seinen Fachpartien als seriöser Bass hatte von Halem jedoch auch eine Liebe zu leichteren Genres wie dem Musical, der Operette und dem Chanson. Als junger Mensch habe er den Wunsch gehabt, Clown zu werden, und die Liebe zum Entertainment schlug sich später in Rollen wie der des Kaiphas in Jesus Christ Superstar oder auch des Schweinezüchters Zsupan in Johann Strauß’ Der Zigeunerbaron, beides am Theater des Westens, oder auch mit seinem Auftritt in seinem „Midnight-Medley“ im Haus an der Bismarckstraße nieder. Und noch 2016 war er im Renaissance-Theater in der Rolle eines gealterten Sängers in Ronald Harwoods Theaterstück „Quartett“ zu erleben.

Victor von Halems Wirken ist auf einer Vielzahl von Einspielungen dokumentiert, darunter etwa solche von Parsifal und Tosca, Hector Berlioz’ La Damantion de Faust, Franz Schrekers Der ferne Klang oder auch Alexander von Zemlinskys Der Traumgörge, aber eben auch das Album „Humor im Lied“ mit Werken von Bach bis Peter Cornelius. Victor von Halem verließ 1995 das Ensemble der Deutschen Oper Berlin, um danach regelmäßig als Gast zurückzukehren. Im Jahr 2016 verlieh ihm der Berliner Senat auf Vorschlag der Deutschen Oper Berlin den Ehrentitel des „Berliner Kammersängers“.

Victor von Halem verstarb am 28. Mai 2022 in seinem 82. Lebensjahr nach langer Krankheit. Die Deutsche Oper Berlin wird ihm ein ehrendes Andenken bewahren (Foto Discogs). Quelle Deutsche Oper Berlin

Eher was zum Hören

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Das Schlimmste blieb dem Premierenbesucher von Wagners Parsifal zu Ostern 2015 zumindest im weit von der Bühne entfernten Ersten Rang des Berliner Schillertheaters erspart: der Anblick der Wunde in Amfortas‘ Brust, aus der die Gralsritter den belebenden Trank abzapften. Ein wahres Wunder der Maskenbildnerkunst enthüllt sich dem entsetzten Betrachter der neuen BelAir-DVD mit dem blutenden Fleisch in grässlichem Naturalismus, dem auch in sonstiger Hinsicht Regisseur und Bühnenbildner Dmitri Tcherniakov  frönt, der den ersten Akt des Bühnenweihfestspiels in einer herunter gekommenen Halle vielleicht einer nicht mehr für den Gottesdienst verwendeten Kirche spielen lässt, in der sich Mitglieder einer Sekte oder auch Strafgefangene wie in Aus einem Totenhaus zu allerlei grässlichen Riten zusammenfinden. Die typischen russischen Pelzmützen verweisen ebenfalls auf Sibirien, die Lehrstunde, die Gurnemanz für die Knappen über die Geschichte des Ordens abhält, verwendet Bilder von der Uraufführung des Werks in Bayreuth. So vermeidet die Regie geschickt Längen, weiß den Zuschauer zu bannen, folgt den Bühnenanweisungen Wagners keineswegs, erzeugt aber die Stimmung des „heiligen“ Ersten Akts, nach dem man mittlerweile durchaus auch klatscht, auf eine sehr faszinierende Weise. Leider fällt der zweite Akt, was die Dichte der Atmosphäre betrifft, dagegen hoffnungslos ab, spielt in der gleichen Szenerie, nur dass nun alles kaltweiß oder hellviolett beleuchtet ist und damit äußerst steril wirkt, die Blumenmädchen in kindlichen Blütenkleidchen und teilweise noch mit Puppen spielend eher keusch wirken und das Aufpeppen der Handlung mit einem stummen Spiel von Klein-Parsifal, Mama Herzeleide und Teenager-Kundry die Sterilität der Szene nicht wettmachen kann. Ganz schlimm wird es dann im dritten Akt, in dem Kundry und Amfortas, der zuvor Titurel aus dem Sarg gezerrt hatte, in wilder Leidenschaft übereinander herfallen, so dass sich Gurnemanz nicht anders zu helfen weiß, als die Dame hinterrücks zu erstechen, will man die fromme Stimmung des Schlusses noch retten, die sich aber als eine, so lassen es die dumm-verzückt sich gebenden Gralsritter vermuten, durch und durch trügerische entlarvt hat.

Die Distanzierung der Regie von der Grundidee des Parsifal zeigt sich auch in der Inhaltsangabe, die der Regisseur selbst verfasst hat und deren letzter Satz lautet: „Parsifal gibt Amfortas den verlorenen Speer zurück“.  Also nix Taube, erneuertes Königtum, Erlösung Kundrys.

Zu Beginn geht die Kamera auch im Orchestergraben spazieren, und so kann man nicht nur den wunderbar dunklen Klang der Staatskapelle unter Daniel Barenboim genießen, sondern auch die einzelnen Orchestergruppen beobachten, das Übergehen vom sehr getragenen Beginn über ein bruchloses Anschwellen des Klangs, die Entwicklung zum immer Dringlicheren, Drängenderen nachvollziehen. Ganz ausgezeichnet ist auch die Sängerbesetzung mit René Pape als Gurnemanz auf dem Höhepunkt seines Könnens mit einem durch und durch homogenen, tiefdunklen Bass, all seiner Erfahrung  mit Wagnerpartien und einer Diktion, die noch von der  Schulung in der alten Staatsoper weiß. Den jungen Spund Parsifal verkörpert Andreas Schager so glaubwürdig, wie nur ein ausgewachsener Opernsänger einen Teenager verkörpern kann, und dazu hat er einen Tenor, der auch in der für die Partie so wichtigen Mittellage tenoral und damit jugendlich klingt. Vokal ein Alberich und darstellerisch ein Mime ist Tómas Tómasson als Klingsor. Wolfgang Koch lässt in der „Waldes-Morgenpracht“ seinen Bariton strömen, die „Schmerzensnacht“ sich ewig lang erstrecken und das „Erbarmen“  zu Herzen gehen. Einen durch und durch würdigen Titurel gibt Matthias Hölle. Anja Kampe ist eine Sopran-Kundry lyrischen Zuschnitts, deren schöne Stimme nie schrill klingt, die von schönem Ebenmaß ist und die nur im „und lachte“ angemessen schauerlich dunkel wird.

Alles in allem eine Aufführung, die faszinierend beginnt, allmählich an Spannung verliert und schließlich sich im inszenatorischen Irrsinn verrennt-und das alles bei purem Hörvergnügen (BelAir BAC128). Ingrid Wanja 

Chorlieder

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Unter dem Titel Schubertiade hat der Chor des Bayerischen Rundfunks unter der Leitung von Howard Arman Lieder und kleine Chorsätze des Meisters veröffentlicht, die – wie es damals üblich war – als Art Vorkonzert in größeren Bürgerhäusern erstmals mit Klavierbegleitung vorgetragen wurden; dabei waren die Chorstimmen oftmals nur solistisch besetzt. Mit Justus Zeyen am Klavier stand für die Aufnahme ein Schubert-Kenner zur Verfügung, der ein sicheres Gespür für Gestaltung hat und somit alle Solisten und Chor engagiert unterstützte.

Wie gut der Rundfunkchor einstudiert und homogen geformt ist, zeigt sich besonders in den reinen Frauen- und Männerchören: Sehnsucht (D 656)  sowie Drei Lieder der Herren (D 825) sind gut artikuliert, klangvoll und interpretatorisch gelungen; gute Beispiele sind der durchgehaltene Glockenschlag in Wehmut sowie sichere crescendi und decrescendi in Ewige Liebe. Ein Schmankerl ist der sich auf den Wellen wiegende Gondelfahrer (D 809), Der Frauenchor profiliert sich besonders mit dem 23. Psalm. Gott ist mein Hirt (D 706) auf eine interessante Nachdichtung von Moses Mendelssohn. Selten hört man Frauenchöre derart differenziert und intonationsrein singen! Das gilt gleichermaßen für Gott in der Natur (D757).

Merit Ostermann präsentiert das bekannte Ständchen für Alt-Solo, Männerchor und Klavier (D 920) mit gut durchgebildetem, intensiven Mezzo, den man sich in der Tiefe noch etwas klangvoller gewünscht hätte. Als Pendant stellt der Tenor Andrew Lepri Meyer das seltener zu hörende Nachthelle vor (ebenfalls mit Männerchor und Klavier D 892), im Laufe dessen er zu immer strahlenderen Tönen findet. Mirjams Siegesgesang, ein Auftragswerk für liturgischen Gebrauch für Sopran-Solo, Chor und Klavier (D 942), geht  über das Schubertiade-Format eigentlich hinaus und ist für den Konzertsaal bestimmt. Aber um es interessierten Hörern einmal vorzustellen, passt es sehr gut zu diesem Programm: Christina Landshamer hat den Solo-Part einer Vorsängerin nach israelitischem Vorbild übernommen; mit freien Spitzentönen und angenehmem Klang gestaltet sie die Erzählung des israelitischen Volkes mit allen Facetten von tiefer Trauer bis zum Siegesjubel. Justus Zeyen zieht hier nochmal alle Register seines Könnens auf dem Klavier von Säuseln, Wehen und Murmeln bis zum Dröhnen. Für die Aufnahme spielt er einen Érard-Flügel aus den 1870er Jahren, der klanglich den Klavieren zur Schubertzeit am nächsten kommen soll (BR-Klassik 900529). Marion Eckels

Heilige Kalesche

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Sir Gerald Hugh Tyrwhitt-Wilson, späterer Lord Berners, wurde in Apley Park, Bridgnorth geboren, in Eton erzogen, wo er erste künstlerische Anregungen erhielt, und studierte in Dresden und England Musik, blieb aber kompositorisch weitgehend Autodidakt, obwohl er durchaus von u.a. Igor Strawinsky ermutigt wurde. Dieser hielt vor allem Berners Ballette wie The Triumph of Neptune und The Wedding Bouquet für ebenso gut wie die französischen Werke dieser Art von Diaghilew. Der kürzlich bei NAXOS (8.660510) erschienene Opern-Einakter Le Carrosse du Saint-Sacrement wurde 1924 schlecht aufgenommen. Dabei hatte Berners die gleichnamige Komödie von Prosper Mérimée als Vorlage gewählt, aber seine Musik schien dem Publikum damals zu ernst für eine Komödie. Danach hat sich Berners nie mehr mit dem Genre auseinandergesetzt; lediglich eine ca. 9-minütige Zusammenfassung reiner Orchesterteile der Kurzoper hat er unter dem Titel Caprice Péruvien erstellt, die als Einstieg einer Aufführung vorangestellt werden kann.

Zum Inhalt: Mérimées Stück spielt in Lima/Peru. In acht Szenen wird der Vizekönig – durch Gicht nicht mehr so recht bewegungsfähig – gezeigt, der sich mit den unterschiedlichsten „Regierungsproblemen“ sowie den Ränken und schmeichlerischen Auftritten einer „Freundin“ (Camilla La Perichole) herumschlagen muss. Hat diese ihn nun mit dem Matador betrogen oder doch nicht? Ein Bediensteter (Balthazar) und sein Sekretär Martinez tragen ihm alle Neuigkeiten zu. Wichtig ist vor allem eine neue Karosse, die er erwartet und die ihn eigentlich zur Messe in die Kathedrale fahren soll. Camilla schmeichelt sie ihm aber ab und nutzt sie allein, um dort vorzufahren. Wie der Vizekönig durch ein Fernglas beobachtet, verursacht sie einen kleinen Unfall vor der Kirche; aber verärgert ist er vor allem, weil sie auf dem Weg in der Karosse ebenso hofiert wird, wie er sonst. Nach dem Gottesdienst erscheint der Bischof persönlich mit La Perichole beim Vizekanzler und berichtet, dass sie nach einer „Erleuchtung“ die Karosse der Kirche gestiftet habe, um Kranken und Sterbenden die letzten Sakramente zu bringen. Das bewirkt ein weiteres Wunder, die Heilung des Vizekönigs von der Gicht.

Lord Berners/ Wikipedia

In der Aufnahme von 1983 in Schottland leitet Nicholas Cleobury versiert das BBC Scottish Symphony Orchestra, das die geschickte Instrumentierung des Komponisten sicher herausarbeitet. Die acht Szenen sind durchkomponiert und folgen nahtlos aufeinander. Bis auf den irischen Sänger Thomas Lawlor sind alle Solisten Engländer, so dass die Texte bestens zu verstehen sind. Die Intonation und Artikulation ist durchweg zu loben, wie auch die Differenzierungen in der jeweiligen Gestaltung. Leider ist nirgendwo im Beiheft oder der Verpackung der CD zu erkennen, welcher Sänger welche Rolle singt, so dass auf einzelne Bewertungen verzichtet werden muss; lediglich der Vizekönig mit raumgreifendem Bass-Bariton, den er aber bei seiner Kontrahentin gut zurückzunehmen weiß, ist vermutlich Ian Caddy zuzuordnen. Die übrigen Tenöre Alexander Oliver und John Winfield sowie der Bass-Bariton Thomas Lawlor und der Bariton Anthony Smith ergänzen das Ensemble rollengerecht. Die einzige Frauenrolle, Camille La Périchole, wird von der Mezzosopranistin Cynthia Buchan ausdrucksstark interpretiert. Mit großem Stimmumfang weiß sie zu schmeicheln, aber auch mit genügendem Aplomb ihre Wünsche und Pläne gegenüber dem Vizekönig durchzusetzen – wahrlich ein köstlicher Spaß!

Die vorangestellte Caprice Péruvien, aufgenommen 1995 in Irland, wird von der RTÈ Sinfoniettaunter der sicheren Leitung vonDavid Lloyd-Jones mit genügendem Schwung geboten und bereitet sehr gut auf den folgenden Einakter vor. Marion Eckels

Aus Londoner Archiven

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Wer meint, er habe die Lust an der Oper verloren, sein Begeisterungsvermögen sei im Verlauf der Jahre abgestumpft, er habe einfach schon zu viel gesehen und gehört, als dass er noch wirklich von einer Opernaufführung berührt werden könne, der sehe und höre sich die DVD von Don Carlo aus Covent Garden aus dem Jahre 1985 an, und er wird feststellen, dass er sich begeistern, sich freuen, berührt und bewegt werden kann-es muss nur die richtige Aufführung und es müssen die richtigen Künstler sein.

Einen langen Weg hat die Produktion von Luchino Visconti zurückgelegt, die 1958 mit  Carlo Maria Giulini am Pult und mit Vickers, Brouwenstjn und Christoff ihre Premiere erlebte. Unzählige Male , so 1979, 1983 5-aktig in französischer Sprache (Allen, Efstatieva, Budai, Lloyd/ Haitink), dann 1985 zwar auch in  fünf Akten, aber in italienischer Sprache  fast durchgehend bis 2002, als sie  sich mit Bernd Haitink verabschiedete (der allerdings1988 wieder die französische Übernahme der Brüsseler Equipe mit Roberto Alagna und Thomas Hampson dirigierte), fand sie in Wiederaufnahmen immer wieder ein begeistertes Publikum. Von der Aufführung 1983 ist mir ein französischer Tenor in Erinnerung, der nicht nur vokal enttäuschte, sondern der nicht einmal mit dem Feuermachen im Bois de Fontainebleau zurechtkam, eine leidenschaftliche Livia Budai als Eboli und sehr viel edler aussehende Hunde im Gefolge Filippos als auf der DVD aus dem Jahre 1985. Prachtvolle Kostüme mögen an einen Hollywood-Schinken erinnern, aber die Produktion ist mehr als das, denn eine raffinierte Personenregie beweist, dass die prächtige Ausstattung nicht Selbstzweck war, sondern nur ein Element in einem in jeder Hinsicht vollkommenen Ganzen. Bemängelt werden könnte höchstens die Unentschlossenheit zwischen fünfaktiger und vieraktiger, zwischen französischer und italienischer Fassung, der Verzicht auf Perlenballett, Duett Elisabeth-Eboli und Duett Carlos-Philipp.  

Auch die Besetzung auf der DVD von 1985 kann sich sehen und hören lassen. Ein interessanter Carlo ist Luis Lima, der die Partie als die eines Zerrissenen, zutiefst Verstörten  sieht, wozu er sich ungefähr zur Zeit der Aufführung auch in einem Interview im Orpheus äußerte. Ein stets flackernder Blick, die Körperhaltung eines ganz und gar Verunsicherten, den schließlich Carlo Quinto nur mit Gewalt in sein Grabmal ziehen kann, kennzeichnen seine Rollenauffassung. Tadellos ist seine vokale Leistung, der dunkel timbrierte, geschmeidige Tenor ist in allen Lagen gleich präsent und kennt keine Registerbrüche. Zu ihm passt optimal der edel timbrierte Bariton von Giorgio Zancanaro, der auch darstellerisch seine Rolle ideal ausfüllt, der generös zu phrasieren und seiner Stimme Nachdruck zu verschaffen weiß. Hätte es neben den drei Tenören auch drei Baritone gegeben, dann wäre er nach Piero Cappuccilli und Renato Bruson sicherlich der Dritte gewesen, hätte ihm höchstens Leo Nucci den Platz streitig machen können. Über viele Jahrzehnte hinweg war Robert Lloyd der Bass vom Dienst in Covent Garden. Da er ein begnadeter Schauspieler war, verweilt die Kamera das gesamte „Ella giammai m’amò“ auf seinem Gesicht, sein Mienenspiel ist außergewöhnlich ausdrucksvoll, seine Stimme machtvoll und wie aus einem Guss. Der Gran Inquisitore von Joseph Rouleau ist ihm ein ebenbürtiger Partner, ehern die Stimme und von Angst machender Starrheit das Spiel. Etwas aufgewertet wird in der fünfaktigen Fassung die Rolle des Lerma wie die des Tebaldo. Als Page weiß sich Patricia Parker optisch wie akustisch zu profilieren, von sanfter Tröstlichkeit ist der Sopran von Lola Biagioni für die Stimme vom Himmel. Eine hochsolide Leistung erbringt Bruna Baglioni als Eboli, nicht mehr und nicht weniger und doch nicht den Wunsch danach vertreibend, in diesem illustren Kreis den Mezzosopran zu hören, in dessen Schatten sie stets stand. Eigenartig berührt die Elisabetta von Ileana Cotrubas, eine hochverdiente Sängerin und doch in diesem Kreis der anerkannten Verdi-Sänger allzu zart, allzu hell, allzu ätherisch  erscheinend, was zwar einem „Francia“ guttut, einem „sorgete“, dem Abschied von der Aremburg, nicht aber der Auseinandersetzung mit dem König oder der großen Arie am Schluss. Bernd Haintink ist nicht gerade der Garant für Italianità, aber er führt in gemessenen Tempi und mit Gespür für die Bedürfnisse der Sänger durch die Vorstellung, in der der Chor, auch von der Regie extrem gefordert , vokal Beachtliches leistet (Opus Arte 1340D). Ingrid Wanja       

Rachel Gettler

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Die Sopranistin Rachel Gettler starb am 27. 05.22 nach kurzer Krankheit mit 74 Jahren in Augsburg. Sie hatte sich als Jugendlich-dramatischer und Spinto-Sopran mit ihrer enormen Vielseitigkeit einen internationalen Namen gemacht. Geboren in Paris, aufgewachsen in Melbourne, Australien, absolvierte Rachel Gettler das Gesangsstudium an der Guildhall School of Music in London und am Royal Northern College of Music in Manchester. Nach sehr erfolgreicher Tätigkeit als Mezzosopran mit über 40 Hauptpartien vom lyrischen bis zum dramatischen Repertoire in Amerika, England, Schottland, Wales, Deutschland, Italien, Holland, Polen, Dänemark, Schweden und Australien, machte sie 1987 den Fachwechsel zum Jugendlich-Dramatischen Sopran. Ihre Bandbreite reichte von der Tosca, über Massenets Charlotte bis zu Purcells Dido, Tatjana, Eboli, Senta, Sieglinde, Elsa und Elisabeth und Ariadne. Auch die Berlioz-Didon oder Glucks Iphigenie gehörten zu ihrem Repertoire. OTA

Teresa Berganza

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Die sanfte Viper. Erst 24 Jahre war sie alt, als sie im Sommer 1957 beim Festival in Aix—en-Provence als Dorabella in „Cosi fan tutte“ zum ersten Mal auf der Bühne stand, inmitten eines international arrivierten Ensembles und unter der musikalischen Leitung des großen Mozart-Dirigenten Hans Rosbaud. Und sie bewährte sich königlich, die am 16. März 1933 in Madrid geborene (das oft zu lesende Geburtsdatum 1935 ist wohl falsch) und ebenda bei Lola Rodriguez de Aragón ausgebildete Maria Teresa Berganza Vargas. Eine völlige Anfängerin war sie bei diesem Debüt allerdings nicht mehr. Schon als Teenagerin hatte sie in Aufnahmen von Zarzuelas mitgewirkt, erstmalig 1951 in „Agua azucarillos y agardiente“ von Federico Chueca.  Es gab Konzertauftritte schon während der Studienzeit und unmittelbar vor dem offiziellen Start in Aix hat sie bei der RAI Milano zwei komplette Opern aufgenommen: Massenets „Don Quichotte“ in einer italienischen Version mit Boris Christoff und „L’Italiana in Algeri“ unter Nino Sanzogno.

Beide Produktionen sind noch heute als CD erhältlich. Der Rossini war zugleich Soundtrack für einen Fernsehfilm von Mario Lanfranchi, der auf Video zugänglich ist und die junge Künstlerin schon in großer Form zeigt. Die Stimme ist in allen Lagen gleichmäßig durchgebildet, mit satter Altlage und sicheren Höhen, und schon hier trifft zu, was Ivan Nagel viele Jahre später über ihre Cenerentola schrieb: „Perlenschnüre fallen aus ihrem Mund, so oft sie ihn aufmacht“. Neben den stimmlichen Vorzügen beweist sie aber an der Seite von so alten Hasen wie Sesto Bruscantini und Mario Petri auch beachtliches schauspielerisches Talent. Ihre Isabella sprüht vor Charme, ist in unaufgesetzter Weise kapriziös und kokett.

Dass es nach diesem Start mit der Karriere gleich in raschen Schritten weiterging, ist also gar nicht so erstaunlich. Im Januar 1958 gab sie ihren Einstand an der Mailänder Piccola Scala als Page Isolier in Rossinis „Conte Ory“, im Herbst desselben Jahres trat sie in Dallas an der Seite von Maria Callas in „Medea“ auf, die Gefallen an ihrer Stimme fand und sie als Adalgisa für ihre Norma gewinnen wollte (wovor sie aber zurückschreckte). Den Klagegesang der Neris gestaltet Berganza mit warmem Ton und ergreifender Anteilnahme, ohne in die Gefahr von Larmoyanz zu verfallen. Der nächste Meilenstein in der jungen Karriere war ihr Debüt an der Londoner Covent Garden Opera, wo sie unter Carlo Maria Giulinis Leitung die Rosina im „Barbier von Sevilla“ sang. Ob sie da die Aufnahme der Callas schon kannte oder ob es ihr eigener Kunstverstand war – jedenfalls setzte sie schon hier in die kleine Silbe „ma“ die ganze Dialektik der Rolle, einerseits „docile“ und „obediente“ zu sein, aber zur Viper zu werden, wenn man ihre Freiheit einschränken will.

Diese Rolle war über zwei Jahrzehnte ihr Markenzeichen, ebenso wie Cherubino, den sie konzertant erst in London, ebenfalls unter Giulini, und szenisch dann in Aix-en-Provence (unter Michael Gielen) sang. Obwohl weiblich in Stimme und Ausstrahlung, entfaltete sie in dieser Hosenrolle (sogar in schwangerem Zustand!) besonderen Reiz. In London wurden die Firma Decca und Richard Bonynge auf sie aufmerksam, der sie als Partnerin von Joan Sutherland für die Rolle des Ruggiero in „Alcina“ verpflichtete. An der Scala folgten auf den Rossini Produktionen von „Cosi fan tutte“, Cestis „Orontea“ und Purcells „Dido und Aeneas“. In Aix gab sie neben den Mozart-Partien ein eindringliches Porträt der Ottavia in Monteverdis „Poppea“ (1961), das glücklicherweise komplett auf Video erhalten ist.

Aix, Mailand und London waren also die Startpunkte für die rasch einsetzende Weltkarriere, die sie bald an die großen Opernhäuser von Wien, Buenos Aires, San Francisco, Chicago und an die New Yorker Met führte.  Neben dem runden Dutzend Opernrollen, auf die sie sich dabei klug beschränkte, erkundete sie in ihren zahlreichen Liederabenden, die von Anfang an einen wesentlichen Teil ihres Terminkalenders ausmachten, ein schier unerschöpfliches Repertoire, das nicht nur die spanischen Komponisten vom Mittelalter bis zur Gegenwart und italienische Lieder und Konzertarien vor allem aus der Barockzeit umfaßte, sondern schon relativ früh auch deutsche (Schubert, Schumann, Brahms, Wolf), französische (Fauré, Ravel, Hahn) und russische Lieder (Mussorgsky) einschloß.

Einen Höhepunkt in Berganzas an Höhepunkten nicht armen Opernkarriere stellt ohne Zweifel der Rossini-Zyklus von Claudio Abbado und Jean-Pierre Ponnelle an der Mailänder Scala (1969-73) dar, der auch auf anderen Bühnen und bei Festivals nachgespielt wurde. „Barbier“ und „Cenerentola“ erschienen zeitnah auch als Studio-Aufnahmen bei Deutsche Grammophon, vom „Barbier“ gibt es daneben auch einen Unitel-Film. Die „Italiana“ wurde leider erst Jahre später (1987) nachgereicht, nun mit Agnes Baltsa in der Titelrolle, da die Berganza über dieses Fach hinaus gewachsen war.

Mit Bizets „Carmen“, die sie 1977 in Edinburgh erstmals sang, begann ein neuer Abschnitt in der Karriere, aber auch im Leben von Teresa Berganza. Für sie, das hat sie immer wieder betont, ist Carmen der Inbegriff einer selbstbestimmten Frau, auch in sexueller Hinsicht, und kein Opfer, während sie in Charlotte in Massenets „Werther“ – eine weitere Glanzrolle ihrer Reifezeit – ein Opfer ihres gesellschaftlichen Umfelds sah. In einem sehr offenherzigen Gespräch mit Bruce Duffie in Chicago (Dezember 1984) bekennt sie, dass Carmen dazu beigetragen habe, sich von ihrem Mann, dem Pianisten Felix Lavilla, mit dem sie 20 Jahre verheiratet war und drei Kinder hatte (darunter die Sopranistin Cecilia Lavilla Berganza), zu „befreien“ und sich einem neuen Partner zuzuwenden, der kein Problem damit hatte, sich als „Mr. Berganza“ vorzustellen.

Die Edinburgher „Carmen“-Produktion war insofern eine kleine Sensation, als sowohl der Dirigent Claudio Abbado als auch seine Protagonistin mit vielen Aufführungs-Klischees aufräumten. Und die Aufnahme bei der Kritik war zunächst durchaus kontrovers. Abbados analytisch-kühle Auslegung der Partitur, in der die Klangsinnlichkeit nur eine untergeordnete Rolle spielte, und der auf äußerliche Effekte verzichtende, entspannte, fast chansonartige Gesang der Berganza erschien manchen Freunden dieser Oper gewöhnungsbedürftig. Sie entwickelte die Rolle ganz aus dem Geist der Musik heraus, die näher bei Mozart liegt als bei Mascagni. In den folgenden Jahren wuchs sie mehr und mehr in diese Partie hinein und gewann ihr zusätzliche sinnliche und dramatische Nuancen ab. An der Deutschen Oper Berlin ließ sie beispielsweise in einer Aufführung mit Franco Bonisolli (1985), die auch als privater Mitschnitt vorliegt, auch mal „die Post abgehen“.

Hört man ihre nach der Edinburgher „Carmen“ entstandenen Aufnahmen, so gewinnt man den Eindruck, dass sie nun einen betont emanzipierten, man könnte fast sagen, feministischen Blick auf die von ihr dargestellten Frauenfiguren wirft. Das spürt man schon bei ihrer sehr reifen und wissenden Zerlina in Joseph Loseys ambitionierter, aber etwas kunstgewerblicher „Don Giovanni“-Verfilmung (1978), aber auch in manchen Liedprogrammen (etwa bei Haydns Kantate „Arianna a Naxos“). Der partielle Verlust an ebenmäßiger Klangschönheit (vor allem bei den Übergängen in die Sopranlage) wird durch einen Zugewinn an Ausdruckskraft kompensiert. In den 90er Jahren zog sich Berganza dann schrittweise von der Opernbühne zurück und konzentrierte sich fast ganz auf ihre vielseitigen Liederabende. Einer davon in der Deutschen Oper Berlin ist mir in lebendiger Erinnerung geblieben, weil sie durch ihren mühelosen Vortrag den Eindruck vermittelte, als sei Singen das Leichteste von der Welt.

Die Karriere der Konzertsängerin reichte bis ins neue Jahrtausend, wo dann die pädagogische Tätigkeit einen Schwerpunkt ihrer Arbeit bildete. Ein paar sehr launige Auftritte aus dem Jahr 2008 habe ich im Netz gefunden, einen davon aus Lima, wo sie Pericholes Schwipslied mit hemmungsloser Komik zum Besten gibt und mit ihrem jahrzehntelangen Bühnenpartner, dem da schon 81jährigen Luigi Alva, sich jugendlich aufgekratzt im Zarzuela-Duo „La Rosa y El Clavel“ vereinigt. Wenige Wochen später war sie in Moskau mit Jelena Obrasztzowa in Moskau im Katzenduett zu erleben. Einen sehr nachhaltigen Eindruck hat sie auf mich im Sommer darauf bei einem Meisterkurs in Helsinki hinterlassen. Das Bühnentemperament der jetzt 76jährigen Sängerin und ihre Fähigkeit, Rossinis Koloraturketten noch immer sicher und maßstäblich vorzuführen, hatten eine suggestive Wirkung auf die zunächst blaß wirkenden Schülerinnen, die ihre Vorgaben aber quasi in Minutenschnelle umsetzen konnten. Hinreißend komisch war es, wie sie einer von ihnen die Arie der Dorabella „smanie implacabili“ gleichsam zuspielte, indem sie in stummer Aktion die Despina mimte.

Nun ist sie am 13. Mai in der Nähe von Madrid im Alter von 89 Jahren gestorben. Die Fachwelt ist sich einig, dass sie eine der ganz großen Sängerinnen des vergangenen Jahrhunderts war. Aber was hat ihre Besonderheit ausgemacht? War sie die „dezente Primadonna“, wie es in einem Nachruf des BR heißt? Provozierte sie durch Überlegenheit, wie Jan Brachmann in der FAZ meint? War sie eine Virtuosin der leisen und der Zwischentöne, wie es andernorts zu lesen ist? Oder war sie ein „Bühnentier“, wie Manuel Brug in der „Welt“ behauptet? Die Antwort lautet: sie war dies alles in einer Person. Sie vereinte scheinbar unvereinbare Gegensätze in sich, wie Rosina war sie „docile“ und „vipera“ zugleich.

Und wie bei allen dahin gegangenen Künstlern wird man sich fragen: Was wird von ihr bleiben? Sehr viel, ist die eindeutige Antwort, und das meiste wird die Zeit überdauern. Alle Phasen ihrer Karriere sind beinahe lückenlos dokumentiert. Entsprechend unüberschaubar ist ihre Diskographie, jedenfalls, wenn man alle erhaltenen Live-Mitschnitte mitrechnet. Fast die Hälfte, das ist vielleicht überraschend, machen die Aufnahmen spanischer Zarzuelas aus, die (überwiegend) beim spanischen Label Alhambra veröffentlicht, aber bei uns kaum bekannt wurden, und wo der Bariton Manuel Ausensi, Pilar Lorengar, später auch Alfredo Kraus und Placido Domingo ihre Partner sind. Hier finden wir schon viele Spuren, die auf ihre spätere Carmen und Perichole hinweisen. In ihrer ersten Blüte wurde sie bei Decca mit Gesamtaufnahmen und Recitals festgehalten, als etablierter Star war sie dann bei Deutsche Grammophon aktiv, in ihrer Reifezeit erschienen einige Dinge bei EMI, aber auch bei kleineren Firmen. Das Schweizer Label claves etwa hat ein paar interessante Lied-Programme mit ihr produziert. Und vieles, was nicht auf dem Markt ist, findet sich auf ihrer eigenen Seite bei youtube, darunter die erwähnte Berliner „Carmen“.

Im bereits zitierten Interview mit Bruce Duffie bekennt sie, dass sie ein sehr gespaltenes Verhältnis zu Studio-Aufnahmen habe, ein Mikro vor der Nase hemme ihre künstlerische Spontaneität. Allerdings habe sie immer darüber gewacht, dass ihre Leistungen keinen technischen Manipulationen unterworfen wurden, wie das so oft der Fall ist. Sie sei deshalb zufrieden mit ihren Studio-Aufnahmen, aber sie ziehe Live-Auftritte vor, insbesondere Recitals, wo mehr Licht im Raum und deshalb Augenkontakt mit dem Publikum möglich sei, selbst in einem großen Haus mit 3000 Plätzen. Zuschauer seien unberechenbar wie Liebhaber. Wenn sie bemerke, dass einer unter 3000 ihrem Vortrag keine Aufmerksamkeit schenke, dann nehme sie ihn ins Visier und bearbeite ihn, bis er aufwache. Das gelte natürlich auch für Frauen, aber meistens seien es die Männer, die pennen. Ekkehard Pluta  (Foto DG)