Vokales von Stradella über Gomes bis Eisler

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.Zu den Jubilaren des Jahres 2022 gehört Ralph Vaughan Williams (1872-1958), der neben bedeutenden sinfonischen Werken und Kammermusik viel für den Bereich des Liedes getan hat. Besonders bekannt ist er durch die Sammlung von Folksongs geworden, ohne auf selbstständige Kompositionen zu verzichten. hyperion hat jetzt drei in den Jahren 1903 bis 1915 komponierte Liedzyklen herausgebracht, die der Tenor Nicky Spence und der Pianist Julius Drake eingespielt haben. Den Anfang machen Four Hymns für Tenor, Viola und Klavier nach frei übersetzten Gedichten aus früheren Zeiten. Zunächst fällt hier die aparte Begleitung auf, weil dem Klavier die Viola, gespielt von dem präsenten Bratscher Timothy Ridout, hinzugefügt ist. Der schottische Tenor gefällt mit schönem Legato in den lyrischen Passagen, aber auch in den spätromantischen hymnischen Aufschwüngen. Im Liederzyklus The House of Life nach Liebesgedichten des britischen Dichters und Malers Dante Gabriel Rossetti kommt die Kunst des Sängers zum Tragen, die vielen Lyrismen intensiv interpretieren zu können; dabei hilft ihm in partnerschaftlichem Mitwirken der besonders im Liedgesang versierte Pianist. Neben drei English Folk Songs aus verschiedenen Sammlungen des Komponisten enthält die empfehlenswerte CD mit dem Zyklus On Wenlock Edge für Tenor, Klavier und Streichquartett ein Hauptwerk aus dem Liedschaffen von Vaughan Williams. Der Zyklus besteht aus sechs Gedichten der 63 Gedichte umfassenden Sammlung A Shropshire Lad des englischen Gelehrten und Dichters Alfred Edward Housman (1859-1936). Alle Gedichte sind durch starken Pessimismus und die ständige Beschäftigung mit dem Tod geprägt. Dem Tenor gelingt es eindrucksvoll, die melancholischen, manchmal schon geradezu depressiven Stimmungen, aber auch die verzweifelten Ausbrüche wiederzugeben, wobei das junge Piatti Quartet gemeinsam mit dem Pianisten der Singstimme passende Klangteppiche unterlegt und so zur eindringlichen Interpretation beiträgt (hyperion CDA68378/ 19. 06. 22)).

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Hierzulande so gut wie unbekannt ist der russische Komponist Nikolay Myaskovsky (1881-1950); Wikipedia macht einen da schlauer: In der Nähe von Warschau geboren, wo sein Vater als Militäringenieur stationiert war, sollte er zunächst nach dessen Willen trotz seines offenkundigen musikalischen Talents eine Militärlaufbahn einschlagen. Nach der militärischen Ausbildung bis 1902 in Nischni Nowgorod und St. Petersburg war er in Moskau als Offizier tätig. Zuvor hatte er bei seiner Tante, einer Sängerin, ersten Musikunterricht erhalten, den er ab 1906 nach Rückkehr nach St. Petersburg am dortigen Konservatorium u.a. bei Rimski-Korsakow fortsetzte. Nach Abschluss der Studien im Jahre 1911 schrieb Myaskovsky Artikel für eine Musikzeitschrift und gab Privatstunden. Jetzt lernte er Sergej Prokofjew kennen, mit dem er in lebenslanger Freundschaft verbunden war. 1907 reichte er seinen Abschied aus der Armee ein und wurde im folgenden Jahr Reservist. Im 1. Weltkrieg wurde er schwer verletzt; nach der Oktoberrevolution trat er in die Rote Armee ein und reichte erst 1921 seinen Abschied ein. Nach dem Krieg beteiligte sich Myaskovsky aktiv an der Neugestaltung des Moskauer Musiklebens, wo er 1921 Professor für Komposition am Konservatorium wurde – eine Position, die er bis zu seinem Tod 1950 inne hatte. Myaskovsky gehörte 1948 zu den im Beschluss des Zentralkomitees der KPdSU als „Formalisten“ kritisierten Komponisten, wurde allerdings bald darauf rehabilitiert. Nachdem in seinen Werken zunächst Spätromantisches wie etwa von Tschaikowski und Rachmaninow spürbar war, er später auch „Westliches“ wie von Ravel aufnahm, änderte sich sein Stil etwa ab 1932 grundlegend. Jetzt  ging er deutlich auf die Forderungen des „Sozialistischen Realismus“ ein und orientierte sich bis zu einem gewissen Grade an der russischen Nationalromantik des 19. Jahrhunderts. In den 1940er-Jahren wurde seine Tonsprache wieder dunkler und melancholischer; insgesamt ist sein Spätstil recht traditionell, indem die Harmonik nicht so scharf ist wie in der mittleren Periode und die Tonalität wieder bekräftigt wird. Myaskovsky hatte eine große Vorliebe für Sinfonien und Streichquartette; sein Werkverzeichnis enthält aber auch Klavierstücke, andere Kammermusik und einiges Vokales.

Zwei Liedzyklen, das 1946 entstandene Notebook of Lyrics op. 72 und die Romanzen op. 40 von 1935/36, sind jetzt erstmals erschienen (TOCCATA CLASSICS TOCC 0355). Das Notebook of Lyrics enthält Vertonungen von vier Gedichten von Mira Mendelson, der zweiten Frau von Sergej Prokofjew, und von zwei von ihr übersetzten Gedichten von Robert Burns. Die ersten vier Lieder sind kompositorisch meist schlicht gehalten; diese interpretiert die russische Sängerin Tatiana Barsukova mit angenehm timbriertem Sopran, den sie sicher durch alle Lagen zu führen weiß. Die beiden Burns-Vertonungen sind dramatisch zugespitzt, was der Sopranistin jedoch keine Probleme bereitet.  Bei beiden Zyklen trägt die Dozentin an der Moskauer Gnessin-Musikakademie Olga Soloviaeva am Klavier zu den jeweils überzeugenden Interpretationen entscheidend bei. Elizaveta Pakhomova gestaltet die Romanzen op. 40, zwölf Lieder nach Gedichten von Mikhail Lermontov (1814-1841), neben Puschkin einem der bedeutendsten russischen Dichter der Romantik. Der unterschiedliche Stimmungsgehalt der Romanzen, die von einem ruhig dahinfließenden Wiegenlied über fröhliches Volkslied-Ähnliches bis zu verzweifelter Trauer reichen, gibt der Sängerin mit ihrem auffallend schlanken Sopran gute Gelegenheit, ihr schon ausgeprägtes Gestaltungsvermögen eindrucksvoll einzusetzen. Beide Liedzyklen werden durch die 1946/47 entstandene zweisätzige Violinsonate op.70 ergänzt, die von der aus der Ukraine stammenden, seit längerer Zeit in den USA tätigen Geigerin Marina Dichenko gemeinsam wieder mit der ausgezeichneten Pianistin aus Moskau ausgedeutet wird.

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Der Österreichische Rundfunk hat 1994 im Wiener Konzerthaus und 1999 im Musikverein Wien Live-Konzerte mit Werken von Hanns Eisler aufgenommen, die CAPRICCIO jetzt herausgebracht hat. Der 2CD-Set enthält auf der CD 1 Lieder, Songs und Couplets aus allen Schaffensperioden von Hanns Eisler, der von 1898 bis 1962 lebte (Die Überschrift der Track-Liste im sonst sehr instruktiven Beiheft enthält falsche Lebensdaten!). Auf der CD 2 sind einige der in den 1930er-Jahren fast durchgehend aus Filmmusiken zusammengestellte Orchestersuiten enthalten, sowie Eislers Bühnenmusik zu Die letzte Nacht, dem Epilog zu dem monumentalen Werk von Karl Kraus Die letzten Tage der Menschheit. Unter der souveränen, fachkundigen Leitung des Komponisten, Dirigenten und Chansonniers HK Gruber musizieren die vorzüglichen Wiener Ensembles die reihe (Orchestersuiten) und Klangforum Wien (Die letzte Nacht). Bei den  Bühnenmusiken wird beeindruckend deutlich, dass es Eisler nicht nur um Illustrierung des Geschehens auf der Leinwand ging, sondern dass seine Musik eine aktive, herausfordernde Rolle einnahm. Am 15. Januar 1930 fand „nachts um 12 Uhr“ im Berliner Theater am Schiffbauerdamm die Uraufführung von Die letzte Nacht statt. Im  flammenden Plädoyer gegen den Krieg steht der beklemmende, erschütternde Text von Karl Kraus im Zentrum, der von Wolfram Berger prägnant und ungemein differenzierend gesprochen wird. Die musikalischen Elemente sind in einer Art Melodram knapp gehalten; hier sind neben dem Klavier (Adolf Henning) je zwei Klarinetten und Trompeten, Posaune und Schlagzeug aus dem Ensemble die reihe im Einsatz.

Die Kompositionen auf der CD 1 „für Gesang und Kammerorchester“ oder „Klavier“, wie es bei Eisler offiziell heißt, sind Vertonungen von Texten von u.a. Kurt Tucholsky, David Weber und natürlich auch Bertolt Brecht. Die Auswahl stammt von dem vielseitigen  HK Gruber, der markant stimmungsgerecht singt und spricht; dabei ist wieder eindrucksvoll, wie perfekt  die Begleitung durch Marino Formenti (Klavier) und das Ensemble Klangform Wien dazu passt. Bertold Brecht ist außerdem vertreten mit Schweyk im zweiten Weltkrieg und Die Rundköpfe und die Spitzköpfe; Couplets aus der der entsprechenden Bühnenmusik interpretiert HK Gruber auf seine unnachahmliche Art, die auch bei Höllenangst und Eulenspiegel nach Johann Nepomuk Nestroy und den zwölftönigen Parodien Palmström von Christian Morgenstern durch textliche Treffsicherheit imponiert (CAPRICCIO C5434/Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.).   Gerhard Eckels

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Erst kürzlich ist bei WARNER CLASSICS (0190295037079) eine CD mit Tenor-Arien des italienischen Barock erschienen; sie trägt den Titel Tormento d’amore und wird von Ian Bostridge mit der Begleitung der Cappella Neapolitana unter Antonio Florio gesungen. Der ausführliche Artikel dazu (in vier Sprachen) von Dinko Fabris über die Entwicklung der italienischen Oper im Barock ist sehr interessant und informativ. Bostridge hat 10 Arien aus den ca. 100 Jahren ausgewählt und vorgestellt, von denen hier zwei ihre Welt-Premiere auf CD erleben: Alessandro Stradellas kurze, fast tänzerische Arie Soffrirà, spererà aus Il Corispero und Cristofaro Caresanas schwungvolle, mit geläufigen Koloraturen ausgestattete Arie Tien ferma Fortuna aus Le avventure di una fede.  Der bekannte Liedsänger beweist auch mit diesen Arien seine sängerischen Fähigkeiten: Da gibt es lautmalerisch gestaltete Legato-Arien wie Antonio Cestis Berenice, ove sei? aus Il Tito oder Francesco Provenzales fein akzentuiertes Deh rendetemi ombre care aus La Stellidaura vendicanteLeonardo Vincis pulsierende Koloratur-Arie Se il mio paterno amore aus Siroe, re di Persia oder das Koloratur-Feuerwerk Nuove straggi, e spaventi aus Nicola Fagos Il faraone somerso bis zur souverän dargebotenen Szene Gelido in ogni vena aus Antonio Vivaldis Il farnace. Als Schmankerl zum Schluss bietet Bostridge in bester italienischer Manier ein Traditional Neapolitain mit dem Titel Lu cardillo. Antonio Florio präsentiert die begleitende Cappella Neapolitana auf hohem technischem und interpretatorischem Niveau, das in den reinen Orchesterstücken von Antonio Sartorio, Antonio Cesti, Giovanni Legrenzi, Franceso Provenzale und Nicola Fago besonders zum Tragen kommt.    Marion Eckels