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Wer erinnert sich, während Horrornachrichten aus der Ukraine und mal steigende, mal fallende Zahlen über die Ausbreitung von Omikron über den Bildschirm flackern, noch an die vor weniger als zwei Jahren die Nachrichten beherrschenden Bilder aus Minsk von manipulierten Wahlen, dem Zorn der Bürger und ihre Versuche, aus Weißrussland einen demokratischen Staat zu machen? Der junge weißrussische Dirigent Vitali Alekseenok hat unter dem Titel Die weißen Tage von Minsk – Unser Traum von einem freien Belarus ein Buch darüber geschrieben, denn obwohl vor allem in Deutschland tätig, hielt es ihn in den Tagen, in denen seine Landsleute auf die Straße gingen und Leben und Freiheit riskierten, nicht in seinem Gastland, und er versuchte vor allem mit seinen Möglichkeiten, der Musik, in das Geschehen einzugreifen. Im Prolog zu seinem 190-Seiten-Buch schildert er zunächst die Proteste, die in Berlin vor der Belorussischen Botschaft in Treptow und am Mauerpark stattfanden und setzt sich mit anderen Intellektuellen und Künstlern erfolgreich dafür ein, dass die Opposition in seinem Heimatland den Sacharow-Preis erhält.
Der Leser wird in die Mentalität der Menschen in Weißrussland eingeführt und erfährt zu seinem Erstaunen, dass die Landbevölkerung bis 1974 keine Pässe erhielt, weil man sie in den Kolchosen halten wollte, nimmt davon Kenntnis, dass Akkordeon und Posaune die ersten Musikinstrumente im Leben des Verfassers waren und dass er seine Ausbildung am Minsker Konservatorium erhielt. Ist der Leser so weit gekommen, hat er auch schon mit dem größten Ärgernis des Buches Bekanntschaft schließen müssen, der gendergerechten Sprache, die zu Ungetümen wie folgenden führt: „Da die_der Dirigent_in die_der einzige offensichtliche Teilnehmer_in an der Veranstaltung war, waren meine Kolleg_innen und ich die einzigen, die große Anerkennung für den Chor bekamen.“ Das zieht sich natürlich durch das ganze Buch hin und kostet den Autor nicht wenige Sympathien und einige Aufmerksamkeit, ist sogar dem Rechtschreibprogramm, wie man anhand der roten Striche sieht, ein Ärgernis.
Trotzdem liest man mit Interesse über Wahlfälschungen bereits im Jahre 2004 und Proteste dagegen, über „Zwangsanstellungen“ für in Weißrussland Ausgebildete, der man nur durch eine Weiterbildung in Russland entgehen konnte und über den „belarussischen Minderheitskomplex“, die Angst vor Identitätsverlust und dem der Muttersprache, die durch das Russische verdrängt wurde.
Neuer Unmut macht sich breit, als Corona von Staats wegen geleugnet wird, die bevorstehenden Wahlen nichts Gutes ahnen lassen, da Gegenkandidaten gegen Lukaschenko zwar zugelassen, aber behindert werden, so massiv, dass mehrfach Frauen die Stelle der verfolgten Ehemänner einnehmen; man erinnert sich an die vielen jungen Weißrussinnen, die Demonstrationszüge anführten.
Kurz vor den Wahlen hält es den jungen Dirigenten nicht mehr in Deutschland, er erlebt ein Weißrussland, in dem Hupen, Klatschen und weiße Armbänder zu Protestzeichen gegen Unterdrückung und beargwöhnter Wahlfälschung geworden sind, das Protestlied „Veränderungen“ zur Hymne des Widerstands wird. Es folgen viele bedrückende und empörende Berichte von Verhaftungen, Folterungen und sogar Morden durch die Staatsgewalt, die natürlich nicht nachprüfbar, aber sehr wahrscheinlich sind, so wie sich dem Autor auch bei einem Besuch des KZs Erhellendes über die Banalität des Bösen ergibt.
Einige wenige Fotos dokumentieren den persönlichen Einsatz von Alekseenok für die Freiheitsbewegung in seinem Heimatland, der Protestplakate anfertigte, vor allem aber als Musiker, als Chor- und Orchesterleiter unter anderem mit „Va pensiero“ seine Solidarität bezeugte und mit dafür sorgte, dass ganz spontan und dezentralisiert immer und überall Konzerte oder Lesungen stattfanden, die bewiesen, dass die Freiheitsbewegung sich noch nicht geschlagen gegeben hatte. Am 16.8. findet noch einmal ein gewaltiger Protestmarsch gegen die Wahlmanipulationen und die Übergriffe des Staates auf friedliche Bürger statt- mittlerweile hört man nichts mehr aus Weißrussland, was Anlass zur Hoffnung gibt. Allerdings dürfte die auffallende Zurückhaltung des Machthabers im Krieg gegen die Ukraine auch auf dessen Einsicht darin zu sehen sein, dass er nicht auf die Unterstützung seines Volkes bauen kann. Bemerkenswert ist die große Bedeutung der Kunst, insbesondere der Musik bei dem Versuch, auf friedlichem Wege Entschlossenheit und Opferbereitschaft zu zeigen, wenn es um Freiheit und Selbstbestimmung geht. Aus diesem Grund und weil der Verfasser ein Musiker mit einer bereits beachtlichen Karriere ist, dürfte auch der Musikfreund an ihm interessiert sein.
Vitali Alekseenok ist Preisträger des MDR Dirigentenwettbewerbs, arbeitete in Weimar, Karlsbad, Jena, Lemberg, ist Gründer und Leiter des ensemble paradigme und Chef des Abaco-Orchesters der Universität München. Am Schluss des Buches befindet sich eine ausführliche chronologisch Übersicht über die Ereignisse der Weißen Tage von Minsk. Das Vorwort zum Buch stammt von Valzhyna Mort, Dichterin und Professorin an der Cornell University (190 Seiten, Fischer Verlag 2021; ISBN 978 3 10 397098 2/ Foto oben Vitali Akekseenok website ). Ingrid Wanja