Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Der Deutschen Oper Berlin verbunden

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Hulkar Sabirova (die Hélène in den neuen Vêpres siciliennes im März/April 2022) ist der Deutschen Oper Berlin  seit dem Beginn ihrer Karriere verbunden. Die aus Usbekistan stammende deutsche Sopranistin startete dort ihre Laufbahn als Stipendiatin und war anschließend für drei Jahre Ensemblemitglied des Hauses. Schnell wurde sie dort in Rollen wie der Königin der Nacht in der Zauberflöte, bald auch in der Titelpartie von Lucia di Lammermoor und im Sopranpart in szenischen Aufführungen des Verdi-Requiem bekannt. Zuletzt feierte sie große Erfolge etwa als Rosalinde in der Fledermaus und Madama Cortese im  Viaggio a Reims feiern. Auch abseits der Deutschen Oper macht die dramatische Koloratursopranistin eine beachtliche Karriere, etwa an Opernhäusern und Festivals wie dem Teatro Real in Madrid, der Staatsoper Hamburg, der Semperoper Dresden, der Arena di Verona und dem Savonlinna Opera Festival. Ab dem 20. März 2022 ist die Sängerin in der Neuinszenierung von Verdis Oper Les vêpres siciliennes an der Deutschen Oper Berlin zu erleben und gibt mit der Hélène ein wichtiges Rollendebüt. Mit Helmut Brinkmann hat die Sopranistin über diese Rolle an der Deutschen Oper, ihren Werdegang und ihr Stimmfach als Dramatischer Koloratursopran gesprochen.

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Auf Ihrer Webseite werden Sie als dramatischer Koloratursopran bezeichnet. Wie definieren Sie dieses Stimmfach und was sind die stimmlichen Anforderungen an eine dramatische Koloratursopranistin? Ein Dramatischer Koloratursopran ist eine „lange“ Stimme, mit großer Beweglichkeit und guter Höhe, aber auch mit Durchschlagskraft in der Mittellage und einer eher warmen Stimmfarbe.

Auch die Hélène in den Vêpres siciliennes kann als dramatische Koloraturpartie bezeichnet werden. Nach mehreren Stunden Musik und zwei Arien hat die Sängerin dieser Rolle im letzten Akt die wohl schwierigste Arie und das berühmteste Stück der Oper zu singen, den Bolero. Was sind die Anforderungen dieser Rolle und wie würden Sie den Charakter der Hélène beschreiben?  Hélène ist eine sehr lange Partie, die große Ausdauer verlangt und die Fähigkeit, sowohl dramatisch, als auch zart zu singen. Und Koloraturen sind auch dabei. Also, eine super vielfältige und herausfordernde Partie. Sie ist eine Frau, die zwischen Liebe und Krieg hin und her pendelt. Also eine sehr hin- und hergerissene Frau. Daher finde ich die Rolle darstellerisch sehr interessant, da in ihr so viele unterschiedliche Emotionen und Gefühle vorhanden sind.

Sie verbindet eine langjährige Zusammenarbeit mit der Deutschen Oper und Sie haben Ihre Karriere eigentlich von dort aus gestartet. Wie würden Sie Ihre Verbindung zu diesem Haus beschreiben? Ich hatte großes Glück meine ersten Schritte als Sängerin gleich an der Deutschen Oper zu machen. Ich liebe dieses Haus, seit 12 Jahren arbeite ich regelmäßig hier, habe viele Freunde und liebe Kollegen. Daher bin ich glücklich darüber, eine wunderschöne und herausfordernde Partie wie Hélène hier singen zu dürfen, sozusagen zu Hause. Das macht besonders viel Freude.

Wenn man sich Ihren Werdegang anschaut fällt auf, dass Sie Ihr Repertoire sehr organisch entwickeln. Die Rollenentwicklung könnte man eigentlich als exemplarisch für einen dramatischen Koloratursopran bezeichnen: Erst die Königin der Nacht und Konstanze, dann nach und nach schwerere Partien. Vor ein paar Jahren haben Sie wohl die Partie für dramatischen Koloratursopran schlechthin gesungen, Norma. Wie geht man eine solche Rolle an, die ja von so vielen großen Sopranistinnen der letzten Jahrhunderte interpretiert wurde.  Norma ist eine Art „Qualitätsprüfung“ für jede Sängerin, die sich da rantraut. Ich hatte großen Spaß diese Partie zu singen, aber noch mehr freue ich mich auf die nächsten Norma-Produktionen, da diese Partie mit der Zeit reift und ich denke, dass ich sie jetzt anders gestalten würde als vor ein paar Jahren. Norma ist musikalisch und emotional eine sehr vielfältige und inspirierende Partie.

Um bei Verdi zu bleiben: Folgen nach der Hélène in den Vêpres siciliennes weitere dramatische Koloraturpartien aus seiner Feder? Die Leonora im Trovatore haben Sie ja bereits gesungen, aber es gibt noch so viele Sopranpartien des frühen Verdi, die Ihnen wunderbar liegen dürften. Ich denke da etwa an die Hélène aus Jérusalem, die Giovanna d’Arco oder Amalia in I masnadieri. Traumpartien aus Werken, die leider sehr selten aufgeführt werden. Aber wer weiß, ich lasse mich überraschen. Falls ein Hause darüber nachdenkt, ich bin bereit! (sie lacht)

Wenn wir über dramatische Koloraturpartien Verdis sprechen, dürfen die schwereren Rollen natürlich nicht fehlen. Wird irgendwann auch einmal eine Odabella/Attila, eine Abigaille/Nabucco oder eine Lady Macbeth kommen? Ich finde diese Opern sollte man singen, wenn man das wirklich gut singen kann. Ich würde mich sehr freuen, wenn meine Stimme sich dahin entwickeln könnte und ich auch diese Partien eines Tages singen werde!

Um bei Verdi zu bleiben freue ich mich auf die Neuinszenierung von Verdis Requiem szenisch in der Schweiz, was ich auch hier an der Deutschen Oper gemacht habe. Regelmäßig singe ich auch die Rosalinde in der Fledermaus, demnächst unter anderem an drei großen Opernhäusern in Deutschland sowie in Österreich. Ein Stück, in dem ich erfreulicherweise am Ende nicht sterbe.

Sie wurden in Usbekistan geboren und sind dort aufgewachsen. Wie war Ihr Werdegang genau und wie sind Sie zur Musik und zum Gesang gekommen? Ich habe als Kind schon immer gern gesungen und Musik gehört. Meine Mutter hat das gefördert und mich für die Staatliche Musikschule für musikalisch begabte Kinder angemeldet, wo ich nach Aufnahmeprüfungen angenommen wurde.

Es war mir klar, dass ich Gesang studieren möchte. Auf eigene Initiative habe ich über die deutsche Botschaft in Usbekistan die Adressen von den Musikhochschulen in Deutschland bekommen. Ich habe Demo-Aufnahmen dort hingeschickt und wurde so zur Aufnahmeprüfung nach Mannheim eingeladen.

Ich habe in Taschkent einen Deutschkurs am Goetheinstitut besucht, was mir eine gute Basis gegeben hat. Als ich nach Deutschland kam, feilte ich an meinen Sprachkenntnissen, indem ich ausschließlich deutsch gesprochen und gelesen habe. Ich lerne sehr gerne Fremdsprachen, da mir das jedes Mal eine neue Welt öffnet.

Sind Sie oft in Ihrer Heimat und haben Sie noch Familie dort? Wie würden Sie die Lebensverhältnisse der Menschen dort beschreiben? Meine Mutter lebt in Usbekistan. Ich war leider seit mehreren Jahren nicht mehr dort. Die Lebensverhältnisse sind ganz anders als die in Westeuropa. Aber ich hoffe, dass dieses Land, das eine so reiche Kultur und Geschichte hat auch eines Tages eine höhere Lebensqualität haben wird. Das wünsche ich mir von ganzem Herzen! (alle Fotos Bettina Stöß)

Und noch einer …

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Ein omnipräsenter Don Giovanni, drei der Nymphomanie nicht allzu ferne Damen, eine wie eine Graphik aussehende drehbare Halbruine in Grautönen sind von der Premiere im Jahre 2014 noch vorhanden, ebenfalls die Donna Anna von Malin Byström, während ansonsten auf der Aufnahme aus dem Jahre 2019 die schöne Nackte durch schemenhafte weibliche Wesen, die sich über die Szene schleichen, und das gesamte Restensemble ersetzt wurden. Kasper Holten hielt offensichtlich nicht viel von weiblicher Sittsamkeit in seiner Londoner CG-Inszenierung von Mozarts Don Giovanni, denn die behutsam fürsorglichen Don Ottavio und Masetto finden bei ihren Damen weit weniger Anklang als der sittenlose Don, und diese machen sich eines Verbrechens, dessen sonst eher Männer bezichtigt werden, nämlich unermüdlichen Grapschens durch die Bank und von Anfang bis Ende schuldig.

Sehr vielmehr Bühnen- und auch vokale Präsenz als sein Vorgänger hat Erwin Schrott in der Titelpartie, damit allerdings ist nicht unbedingt lupenreiner, eleganter Mozartgesang verbunden, so wie auch der Leporello von Roberto Tagliavini, längst ein basso profondo, sehr dunkel und sehr gewichtig klingt und das nicht nur im genüsslich zelebrierten  „maestosa“. Schrotts Stimme klingt süffiger, kostet mit hörbarer Wonne aus, was auszukosten ist, scheut auch vor Deftigkeit nicht zurück, genau so wenig wie in der Darstellung, wenn zu „lasciar le donne“ Brechreiz realistisch dargestellt wird. Beim Don Ottavio von Daniel Behle konkurrieren miteinander verordnete darstellerische Blässe mit letztendlich doch triumphierender vokaler Sensibilität, viel Zärtlichkeit in der agogikreich geführten Tenorstimme, einer wunderbar stilsicher im Piano gesungenen zweiten Strophe von „Il mio tesoro“, die den entsprechend herzlichen Beifall des Publikums provoziert. Auch der Masetto von Leon Košavić weiß stimmlich zu gefallen, selbst wenn seine sanften Zärtlichkeiten der aufgekratzten Zerlina nicht zu genügen scheinen. Genügend akustisches Gewicht gibt Petros Magoulas dem Commendatore, an den nicht eine Statue, sondern nur eine Büste, die zudem von Don Giovanni zertrümmert wird, erinnern darf.

Malin Byström, die in der Premierenserie noch eine recht zartstimmige Donna Anna gab, hat nun an corpo und Farbe des Soprans gewonnen, bei ihr entsteht manchmal der Eindruck, dass der Zwang, ein verlogenes Aas spielen und zugleich eine zarte, verletzte Seele singen zu müssen, beide Ambitionen behindert. Davon abgesehen, ist ihre Leistung eine hoch anzuerkennende. Weniger präsent und ausgeglichen klingt die Donna Elvira von Myrto Papatanasiu, deren Sopran recht spröde ist, deren Intervallsprünge scharf klingen und die von „dolce maestà“ wenig spüren lässt. Einen angenehmen lyrischen Sopran setzt Louise Alder für die Zerlina ein, auf die der arme Masetto stets ein wachsames Auge haben sollte. Aber auch Don Ottavio wird mit Donna Anna kaum eine stetig liebende Ehefrau gewinnen können. Zur aus dieser Einsicht erwachsenden Tristesse trägt auch die eindrucksvolle, aber gespensterhausgleiche Szene von Es Devlin bei, während die opulenten Kostüme von Anja Vang Kragh einen attraktiven Kontrast dazu bieten. Hartmut Haenchen ist am Dirigentenpult der kompetente Anwalt Mozarts und den Sängern hilfreich zur Seite stehend. Mal sehen, ob es in Bälde noch weitere Aufnahmen dieser Produktion gibt, deren Aufführungen nicht nur auf London beschränkt waren (Opus Arte 1344D). Ingrid Wanja 

Zwiespältig

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Donnerwetter o meglio colpo di tuono denkt man und: „Erscheinen denn jetzt die CDs schon, ehe das Konzert, das sie wiedergeben, überhaupt stattgefunden hat?“  Genau die  futuristische Robe der Designerin Paloma Picasso ist auf dem Cover der CD mit dem Titel The Three Queens zu sehen, die Sondra Radvanovsky bei der halbszenischen Aufführung der Schlussszenen von Donizettis Anna Bolena, Maria Stuarda und Roberto Devereux Ende Februar im Teatro San Carlo in Neapel trug. Die CD jedoch wurde weit früher in Chicago aufgenommen, allerdings ebenfalls mit Riccardo Frizza am Dirigentenpult und Kräften des Hauses in den kleineren Partien. Eine CD aus Neapel hätte wohl eher den Titel Le tre Regine getragen, die amerikanische Sopranistin ist eher als Verdi-, denn als Donizettisängerin bekannt geworden, hat sich in den letzten Jahren mit Brocken wie Turandot, Tosca und Odabella herumgeschlagen, was nicht gerade für den Belcanto prädestiniert. Auch stimmt bedenklich, dass die drei überaus anspruchsvollen Schlussszenen ganz unterschiedliche Anforderungen an einen Sopran stellen, wenn er kurz nacheinander Gemütslagen wie die üble Situation verklärenden Wahnsinn, fromme Abgeklärtheit und das Eingeständnis des Scheiterns in vorgerücktem Alter darstellen soll, bei aller Verpflichtung gegenüber dem Schöngesang der Stimme unterschiedliche Farben abverlangen muss.

Den Schlussgesängen ist jeweils die entsprechende Sinfonia vorangestellt, was zur Schonung der Stimme, zur Schaffung längerer Erholungszeiten verständlich, künstlerisch allerdings weniger gerechtfertigt ist, da diese die Stimmung der Szenen kaum widerspiegeln, eher unverbindlich klingen. Allerdings sorgt der Dirigent mit dem Orchester der Lyric Opera of Chicago für das notwendige Brio.

Für die Maria Stuarda hat der Sopran helle, recht scharfe Töne, fällt häufig durch ein leichtes Flackern auf, lässt wenig engelsgleiche dolcezza einer Caballé oder Devia vernehmen, klingt  eher leidgeprüft als verklärt, entschädigt allerdings ab und zu durch schöne Bögen wie auf „tutto col sangue cancellerà“.  Die Höhe wird durchgehend erreicht, klingt allerdings manchmal recht dünn wie auf „conforto d’amor“, man vermisst Geschmeidigkeit und chiaro-scuro. Die beiden Bässe klingen hart (Cecil) oder dumpf (Talbot), Gefährtin Anna hell und scharf, und nur der Leicester von Mario Rojas lässt Tenore-di-Grazia-Qualitäten erkennen.

Weit mehr gefallen als die Maria kann die Kontrahentin Elisabetta in Roberto Devereux, als die Sondra Radvanovsky zu Beginn der zweiten Szene schöne Trauertöne mit reichen Schattierungen zur Verfügung stehen, ein seltsamer Schluchzer vor „vivi“ allerdings etwas befremdet, und morbidezza manchmal mit verwaschen klingenden Tönen verwechselt wird. In den Presto-Teilen führt das bis zur Unverständlichkeit.  Unangestrengt klingen die Intervallsprünge, doch ab „Quel sangue“ wird die Höhe dünn, scheint die innere Spannung zu fehlen, was vielleicht damit zusammen hängt, dass die Sängerin an der Zielgeraden ihres Gesangsmarathons angelangt ist.

In Anna Bolena hat zunächst der Damenchor das Wort und schlägt sich agogikreich mehr als gut. Mit Lauren Decker wurde auch ein vollmundiger Smeton gewonnen, Mario Rojas bewährt sich als Percy. Die Diva lässt erkennen, dass sie um die Bedürfnisse des Belcanto weiß, überzeugt auch mit schönen Decrescendi wie auf „al dolce guidami“, lässt den Hörer aber auch verstört über ein schneidendes „infiorito l’altar“  zurück, wenn das Orchester weit milder gestimmt ist als die Solistin. Immer wieder wechseln feine Klanggirlanden ab mit verwaschen Klingendem wie „Cielo, a miei lunghi spasimi“.  Als ideal erweist  sich weder die Zusammenstellung des Programms noch das Wechseln der Sängerin zwischen Hochdramatischem und Belcanto (Pentatone PTC 5186 970). Ingrid Wanja

 

Hans-Dieter Roser

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Es sagt sich in vielen Fällen so dahin, von „tiefer Betroffenheit“ im Falle eines Ablebens zu sprechen, aber die Nachricht vom Todes des wunderbaren und stets liebenswürdigen Wieners Hans-Dieter Roser am 6. März 2022 trieb mir die Tränen in die Augen, verehrte ich ihn doch seit seiner Berliner Zeit an der hiesigen Staatsoper, der er als Betriebsdirektor von 1991 bis 1998 vorstand und wo er mit Hans-Georg Quander als Intendanten dem Haus damals zu ungemeiner und nicht wieder erreichter Blüte verhalf. Wir Berliner erinnern uns wehmütig an die hinreißenden Produktionen Alter Musik mit René Jacobs und an die Vielfalt des Spielplans.

Auch in der Folgezeit blieben wir ihm verbunden; und er schenkte uns ebenso witzige wie profunde Beiträge (so die köstlichen Artikel zu den „Weinberl und Zibeben“ und „Das Erotische in der Wiener Operette“), war stets erreichbar und stets gütig mit uns, kompetent beratend und liebevoll. Ach was für ein Verlust. Er war mir ein Vorbild, das Ideal eines gebildeten, hochbelesenen Mitteleuropäers, wie es wenige nur gibt. Danke Hans-Dieter Roser! G. H.

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Hans-Dieter Roser (* 6. Jänner 1941 in Allentsgschwendt im Waldviertel; † 6. März 2022 in Wien) wer  österreichischer Historiker, Germanist, Musik- und Theaterwissenschaftler, Dramaturg sowie Disponent mit den Forschungsschwerpunkten Oper, Operette und Musical. Roser absolvierte zunächst das Piaristengymnasium Krems (Matura 1959) und danach neben seinem Studium der wissenschaftlichen Fächer an den Universitäten Wien und Bern auch eine Schauspielerausbildung. Ab 1962 folgten Engagements am Theater als Schauspieler und als Regieassistent (u. a. Stadttheater Bern). Von 1965 bis 1967 war Roser Dramaturg und Schauspieler an der Landesbühne Schleswig-Holstein in Rendsburg, 1967 bis 1972 Leiter des Künstlerischen Betriebsbüros am Theater an der Wien (Direktion Rolf Kutschera). In dieser Zeit war er auch Mitarbeiter bei den Wiener Festwochen unter Ulrich Baumgartner im Betriebsbüro und als Regisseur. Anschließend war Roser bis 1975 Musikdramaturg am Staatstheater Kassel (Intendanz Peter Löffler). Für die Jahre 1976 bis 1982 wechselte er in das Direktionsbüro des Burgtheaters (Direktion Achim Benning). Von 1982 bis 1986 war er neben Karl Dönch der Vizedirektor der Volksoper Wien und von 1986 bis 1991 der Künstlerische Betriebsdirektor an der Staatsoper Wien (Direktion Claus Helmut Drese/Claudio Abbado). In den Jahren 1991 bis 1998 wechselte er in gleicher Funktion an die Berliner Staatsoper Unter den Linden (Intendanz Georg Quander/Daniel Barenboim). Danach war Roser hauptsächlich musikpublizistisch aktiv. (Wikipedia)

Gewaltiges Panorama

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Von A-Z. von Joachim Alberlin, der eine wichtige Rolle in der Kirchenmusik der Refor­mation spielte (seine „Bibel oder Heilige Schrift gsangweyss“), die1616 in Zürich gedruckt wurde) bis zu Alberich Zwyssig (dem Klostermusiker und -komponisten), der den „Schweizerpsalm“ komponierte, aus dem die Schweizer Nationalhymne hervorging, reicht das lang erwartete Lexikon über „Musik in Zürich“.

„Zürich war und ist eine Musikstadt“, dieses Bekenntnis von Inga Mai Groote und Laurenz Lütteken steht am Anfang dieses verdienstvollen Buches. Es ist Ergebnis diverser Forschungs-Aktivitäten und wurde verfasst von zahlreichen Mitarbeitern des Musikwissenschaftlichen Instituts der Universität Zürich.

Das Buch ist ein Stadtführer, dessen lexikalischer Teil mit Porträts von 253 Personen, 14 Orten und 21 Institutionen (Klöster, Theater, Konzerthäuser, Archive und Bibliotheken) aufwartet.“ Der Fokus der Artikel, insbesondere bei bekannteren Persönlichkeiten, liegt auf dem Wirken und Leben in der Limmatstadt,“ betonen die Herausgeber.

Zürich war und ist natürlich nicht nur Wirkungsort schweizerischer Persönlichkeiten des Musiklebens wie Hans Conrad Bodmer, Robert Blum, Max Fehr, Rudolph Ganz, Noko Kaufmann, Rolf Liebermann, Paul Sacher oder Hans Rosbaud (um nur einige zu nennen), sondern von solchen aus ganz Europa.

Es versteht sich von selbst, dass die städtische Geschichte mit ihren kulturell markanten Orten und Personen – mit ihrem weit über die Region ausstrahlenden Profil besonders berücksichtigt wird. Es versteht sich von selbst, dass die städtische Geschichte mit ihren kulturell markanten Orten und Personen mit ihrem weit über die Region ausstrahlenden Profil besonders berücksichtigt wird.  Vor allen das Opernhaus, dessen Geschichte ausführlich behandelt wird, ein­schließlich der Dirigenten und ihrer Verdienste – nicht zuletzt Ralf Weikerts).

Aber dieses Porträt der Musikstadt am Zürichsee umfasst auch weniger bekannte oder in einem Zürcher Musikgeschichtsführer nicht erwartete Persönlichkeiten wie den umstrittenen Stardirigenten (des Dritten Reiches) Wilhelm Furtwängler, der kurz von Ende des Zweiten Weltkriegs in die Schweiz floh. Viele seiner Dirigier- und Studienpartituren aus dem Nachlass liegen heute in der Zentralbibliothek Zürich. Auch über den aus Nazi-Deutschland geflohenen jüdischen Dirigenten Otto Klemperer, dem Zürich „als erste Station auf dem Weg ins Exil“ diente, und dessen Familie sich nach dem Zweiten Weltkrieg in Zürich niederließ, ist interessantes zu lesen. Er liegt auf dem Friedhof Oberer Friesenberg begraben. Auch der in den USA erfolgreiche jüdische Dirigent Erich Leinsdorf, der Deutschland verlassen hatte und viele Konzerte in Zürich dirigierte, hat Zürich ab 1978 zu seiner Wahlheimat erkoren, so liest man.

Einen besonderen Stellenwert hatte Richard Wagner in der Geschichte der Stadt an der Limmat. Zwei lange Lebensabschnitte verbrachte er in der Schweiz. Allein neun Jahre im Zürcher Exil (von 1849 bis 1858), danach lebte er mit einjähriger Unterbrechung in Venedig, sechs Jahre abwechselnd in Luzern, bei Zürich und in Genf. Und dann, ab 1866, noch einmal sechs Jahre in Tribschen am Vierwaldstädter See. Ein Großteil seiner Werke entstand in der Schweiz und in Paris.

Nach seiner Flucht aus Dresden erreichte der Revolutionär Richard Wagner Zürich zu kurzem Aufenthalt am 28. Mai 1849. Nach seiner Rückkehr aus Paris am 6. Juli 1849 wohnte er mit Gattin Minna Wagner nacheinander bei Alexander Müller am Rennweg 55, in den hinteren Escher-Häusern am Zeltweg 182 (17. September 1849), im Haus „Zum Abendstern“ in der Gemeinde Enge, Sterngasse (13.April 1850), in den vorderen Escher-Häusern Zeit-Weg 11 (15. September 1851), Zeltweg 13, 2. Stock (15. April 1853) und schließlich auf dem Gabler bei seinem bedeutendsten Mäzen, dem reichen Kaufmann Otto Wesendonck Mit Gattin, der ihm in einem eigenen kleinen Haus im Park der Villa Asyl gewährte, das er am 17. August 1858 verließ, um nach einem amourösen Eklat, den seine Frau Minna angezettelt hatte,  nach Venedig zu reisen. In Zürich entstanden der Dramen-Entwurf Wieland der Schmied, die gesamte Ring-Dichtung und die Musik bis zum II. Akt Siegfried.

Zum Waldweben im »Siegfried« inspirierte Wagner das Sihltal bei Zürich. Im Walliser Vispertal und am Fuße des Matterhorns las Wagner Homers „Odyssee“, die – wie auch die antike Tragödiendichtung – die Dramaturgie seines »Rings« in der Tiefe mehr geprägt hat, als die Edda oder die Völsunga Saga. Der große Kenner der griechischen Sprache und Literatur, Wolfgang Schadewaldt, hat das als Erster erkannt und dargestellt. Zu den szenischen »Ring«-Phantasien wurde Wagner aber auch im Appenzeller Ländchen und am Hohen Säntis, am Julier-Pass, auf dem Rosegg-Gletscher und auf dem Rütli inspiriert.

Den vollendeten »Ring des Nibelungen«, den Friedrich Nietzsche (in seinen »Unzeitgemäßen Betrachtungen«) eine „Welt als Hörspiel“ nannte, diesen »Ring« hätte Richard Wagner übrigens ebenso gern an den Ufern des Mississippi uraufgeführt wie an denen des Rheins, oder des Zürichsees, wie er aus Zürich an seinen Freund Ernst Benedict Kietz in Paris schrieb.

Auch die Dichtung von Tristan und Isolde und die Musik zum I. Akt entstand inspiriert von seiner „Muse“ Mathilde Wesendonck, die Wesendonck-Lieder, die Kunstschriften, ferner die Aufsätze „Das Judentum in der Musik“, „Das Kunstwerk der Zukunft“ und Nebenschriften wie „Ein Theater in Zürich“ und „Über Franz Liszts symphonische Dichtungen“. Wagner veranstaltete vom 16. bis 19.Februar 1853 Vorlesungen seines „Rings“ im Hotel Baur au Lac und am 18., 20. und 22. Mai 1853 drei gefeierte Sonderkonzerte mit eigenen Werken. Er dirigierte vielbeachtete Opern und zog zeitweise die Stadt Zürich als Festspielort in Erwägung. Fast wäre Zürich Festspielstadt geworden. Was für eine Alternative zu Bayreuth! Unterbrochen wurde der Zürich-Aufenthalt von zahlreichen Gebirgswanderungen, von Reisen nach Bordeaux, Paris, Gent, Albisbrunn, zum Vierwaldstädter See und zum Lago Maggiore, nach Italien (August/September 1853) und zu Londoner Konzerten (1855).

Seine wichtigsten Zürcher Freunde In Zürich waren Jakob Sulzer, Franz Hagenbuch, Wilhelm Baumgartner, Alexander Müller, Bernhard Spyri, Gottfried Keller, Ignaz Heim; unter den Emigranten waren es Georg Herwegh, Gottfried Semper, Friedrich Theodor Vischer und Hermann Müller. 1852 lernte er Otto und Mathilde Wesendonck kennen. Ebenfalls 1852 lernte er, auf dem Gut Mariafeld, in Meilen bei Zürich, die aus Norddeutschland emigrierten Frangois und Eliza Wille kennen, die Wagner ebenfalls finanziell unterstützten. Von ihr stammt die beste Charakterisierung Wagners als „einer Taschenbuchausgabe von Mann und eines Folianten an Eitelkeit“. Zu Wagner-Besuchen hielten sich in Zürich u.a. auf: Karl Ritter, Theodor Uhlig, Franz Liszt, Carl Tausig, last but not least Cosima (die Liszt-Tochter und spätere Wagnergattin) und Hans von Bülow, ihr erster Mann, den sie Wagner zuliebe verlassen sollte.

Über all diese Stationen, die erwähnten Personen und Ort (Adressen) erfährt man Detailliertes in dem Buch „Musik in Zürich“ ein Buch nicht nur schweizerischer Musiker und Musikinstitutionen, sondern zu einem Gutteil auch auswärtiger Exilanten und Übersiedler, was natürlich mit dem unabhängigen politischen Status der Schweiz zu tun ha – und mit monetären Fragen. Aber das ist ein anderes Thema.

Natürlich fehlt auch Thoms Mann nicht, der nach seinem Exil in den USA ab 1952 in Zürich ansässig wurde. Auch das Thomas Mann-Archiv mit seiner bedeutenden Sammlung ist in Zürich, das dem (Wagner-) Schriftsteller Manches zu verdanken hat. Auch die wegen Ihrer Nazivergangenheit nicht unumstrittene Sopranistin Elisabeth Schwarzkopf hatte sich mit ihrem Ehemann, dem Schallplattenproduzenten Walter Legge am Zürichsee (Zumikon) niedergelassen und dort zahlreiche künstlerische und pädagogische Aktivitäten entfaltet. Ihre letzte Ruhestätte fand sei im Familiengrab in Zumikon. Die engen Beziehungen des (ebenfalls wegen seiner ambivalent opportunistischen Rolle in Nazideutschland umstrittenen) Dirigenten und Komponisten Richard Strauss zu Zürich werden genauestens dargestellt. Nicht vergessen werden Igor Strawinskys Züricher Verbindungen und die zu seinen Schweizer Mäzenen. Zu schweigen von den vielen Zürcher Komponisten und Dirigenten. Aber auch der in Berlin geborenen Nikolaus Harnoncourt, dessen Zürcher Monteverdi – und Mozatrtzyklus Aufsehen erregten, wird gewürdigt.

Ein gewaltiges Panorama wird entfaltet. Doch das mit reichlich und zum Teil raren Bildmaterial ausgestattete Buch ist mehr als nur ein Zürcher Musiker-Lexikon, es ist auch ein veritabler Stadtführer mit hervorragenden Karten, Adressenverzeichnissen, detaillierten Spaziergangs-Vorschlägen zu erwähnten Adressen von Musikschaffenden oder -institutionen im gesamten Stadtgebiet von Zürich. Ein Zeitleiste vom 13. Jahrhundert (als die wichtigsten Klöster als Orte täglicher Musikausübung in Zürich gegründet wurden) bis ins Jahr 2021 (als der Umbau der Tonhalle abgeschlossen wurde) und ein gutes Literatur­verzeichnis runden diese nützliche uns informative Buch ab. Eine Lücke ist geschlossen (Musik in Zürich
Menschen, Orte, Institutionen; Hrsg. Von Bernhard Hangartner, David Reißfelder; Chronos Verlag ISBN 9 783 034016414). Dieter David Scholz

Wer hat die Hosen an?

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2019 hatte Erato eine CD mit der ungarischen Sopranistin Emöke Baráth veröffentlicht (Voglio cantar), die sich dem Werk der italienischen  Komponistin Barbara Strozzi widmete. Nun legt die Firma ein Album mit der Sängerin nach, das im Juli 2021 in Paris aufgenommen wurde und mit Opernarien von Händel eher einen traditionellen Weg beschreitet, sich allerdings durch eine originelle Programmkonzeption auszeichnet  (0190296370625). Der Titel dualità bezieht sich auf das Vermögen einer Sängerin, Rollen beider Geschlechter gleichermaßen kompetent zu interpretieren, wie es beispielsweise die berühmte Margherita Durastante vermochte. Händel engagierte sie 1720 für die Eröffnung der Londoner Operngesellschaft und vertraute ihr den Titelhelden in Radamisto an. In der Arie „Ombra cara“ im 2. Akt richtet dieser sich an den Geist seiner vermeintlich verstorbenen Gattin und schwört Rache an deren Peinigern. Emöke Baráth kann hier die Schönheit ihrer Stimme im schlichten Gesangsfluss der Arie als auch dramatisches Gespür demonstrieren. Später widmet sich die Sängerin noch Radamistos Gleichnisarie aus dem 3. Akt („Qual nave smarrita tra sirti“), welche ein Schiff auf hoher See beschreibt, das ohne Leuchtfeuer verloren scheint. In dieser getragenen Komposition von großer melodischer Schönheit tupft Baráth feinste Töne. Ein Jahr später übernahm Durastante in dieser Oper die Zenobia, Radamistos Gattin, was ihre professionelle Wandlungsfähigkeit bewies. In der Saison 1733/34 kehrte sie mit einem männlichen Part nochmals nach London zurück, dem Tauride in Arianna in Creta. Dessen „Qual leon“ aus dem 2. Akt ist wiederum eine Gleichnisarie, in der sich der Held mit einem Löwen vergleicht. In dieser Nummer, welche die CD eröffnet, bemüht sich Baráth um einen martialischen, heroischen Tonfall, klingt hier auch dunkler als erinnert. Unterstützt wird sie vom Ensemble Artaserse unter Leitung des renommierten Countertenors Philippe Jaroussky, das bei dieser Arie mit lebhaftem Hörnerschall eine Jagdatmosphäre assoziiert. Der Klangkörper begleitet die Sängerin je nach Titel mit Schwung oder Innigkeit.

Als sich Händel in den späten 1730er Jahren in London verstärkt dem Oratorium zuwandte, stand ihm die englische Sängerin Miss Edwards zur Verfügung,  der er den Achille in der Deidamia  anvertraute. In dessen Arie „Ai Greci questa spada“ vermag Baráth dem jungmännlichen Helden vokale Kontur zu geben und mit emphatischer Artikulation auch die kämpferische Situation zu umreißen. Einige exponierte Töne geraten dabei etwas forciert und grell.

Rein auf Männerrollen spezialisiert war Margherita Chimenti, die 1736 bis 38 in London sang und dort beispielsweise mit dem Adolfo in Faramondo besetzt war. Dessen lebhafte Arie „Se ria procella sorge nell’onde“ stellt keine übergroßen Anforderungen an die Interpretin, was auf  das bescheidene gesangliche Vermögen der Uraufführungssängerin schließen lässt, doch Baráth nutzt den Titel für ein heiteres Intermezzo in ihrer Programmfolge.

Andere Sängerinnen, wie die legendäre Francesca Cuzzoni, widmeten sich ausschließlich den Heldinnen in Händels Opern. Im Giulio Cesare in Egitto feierte sie als Cleopatra Triumphe. Baráth kann in zwei gegensätzlichen Arien der ägyptischen Königin ihre Vielseitigkeit zeigen: „Se pietà di me non senti“ zeigt die Regentin erschöpft und leidend, „Da tempeste il legno infranro“ dagegen triumphierend im Koloraturjubel.

Auf Zauberinnen spezialisiert war Elisabetta Pilotti-Schiavonetti. In Amadigi di Gaula sang sie die Melissa, deren Arie „Ah! spietato!“ zwischen spektakulärer Gesangskunst und Gefühlsextremen pendelt. Baráth überzeugt hier gleichermaßen mit gefühlsstarkem Vortrag wie virtuoser Beherrschung des Zierwerks. Die Titelrolle in Alcina stellt eine besondere Herausforderung an die Interpretationskunst einer Sängerin dar. Sie wurde von der großen Anna Maria Strada del Pò verkörpert, die mehr Titelrollen von Händel interpretierte als irgendeine andere Sängerin. In „Ombre pallide“ beschwört die Zauberin die Geister der Unterwelt, was Baráth bis in die Extreme ausreizt. Bereits das Rezitativ „Ah! Ruggiero crudel“ ist erfüllt von enormer Intensität und Spannung, die Arie dann von erregt verwirrtem Zustand und hastigem Redefluss, der sich in schier endlosen Koloraturläufen ausdrückt.

Del Pò sang auch die Partenope, deren heitere Arie „Qual farfalletta gira“  vom Orchester lieblich umspielt und von Baráth mit sanftem Ton zauberhaft modelliert wird. Und sie war die Adelaide in Lotario, mit deren virtuoser Arie „Scherza in mar la navicella“ die Programmfolge endet. Baráth kann hier noch einmal technische Bravour und vokalen Glanz vereinen. Das Cover zeigt sie in einer Fotomontage mit einem weiblichen und einem männlichen Porträt, was die Programmkonzeption der CD auch optisch unterstreicht. Bernd Hoppe

Kleine Entdeckungen

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Dinu Lipatti: Als Pianist ist er eine Legende. Als Komponisten muss man ihn erst kennen lernen. Für den Rumänen Dinu Lipatti waren indes beide Tätigkeiten von gleichrangiger Bedeutung und er hat gegenüber seiner Lehrerin Nadia Boulanger immer wieder betont, wie sehr es ihn schmerze, wegen seiner vielen Konzertauftritte nicht genügend Zeit fürs Komponieren zu haben. Gerade die Zeit war es aber, gegen die er ankämpfen musste, denn er war schon in jungen Jahren schwer krank und ist 1950 mit gerade einmal 33 Jahren an der seltenen Hodgkinschen Krankheit, einem bösartigen Tumor des Lymphsystems, gestorben.

Seine diskographische Hinterlassenschaft als Pianist ist trotz der kurzen Spanne seiner aktiven Jahre sehr respektabel – jeder Klavierfreund wird zumindest seine Aufnahme von Schumanns a-moll-Konzert unter Herbert von Karajan kennen -, dass er aber zahlreiche Orchester-, Klavier- und Kammermusikwerke, daneben auch zwei Liedzyklen komponiert hat, wusste zumindest ich bisher nicht. Und die letztgenannten Lieder, umgeben von Werken seiner Landsleute George Enescu und Violeta Dinescu, wurden jetzt beim Label dreyer gaido in einer exemplarischen Einspielung mit dem Tenor Markus Schäfer und dem Pianisten Mihai Ungureanu veröffentlicht.

Die Cinq Chansons, im Kriegsjahr 1941 in Rumänien entstanden, basieren auf Texten von Paul Verlaine, der schon zahlreiche Komponisten zuvor zu Vertonungen angeregt hat. Lipattis Adaptionen stehen in der – überwiegend impressionistischen – Tradition der Vorgänger, zeigen aber auch in der gelegentlich dramatischen Zuspitzung einen eigenen Charakter und lassen erkennen, dass sich der Komponist tief in die poetischen Vorlagen eingegraben hat. Es gibt dringliche Textwiederholungen, gesummte und deklamierte Passagen, Flüstern und Schreie brechen aus der Kantilene hervor, und das Klavier gibt dem Gesang, etwa in der Sérénade, einen geradezu stürmischen Widerpart. Der Sänger spricht überspitzt von „Klavierkompositionen mit zugefügtem Sologesang“, aber er meistert diese Herausforderung souverän mit tiefem Verständnis auch der textlichen Feinheiten. Und Mihai Ungureanu ist sein ebenso brillanter wie einfühlsamer Partner.

In den Quatre Mélodies von 1945 kann er sich wieder mehr aufs Begleiten zurückziehen und auch die Gesangslinie ist mehr auf Einfachheit ausgerichtet. Die Gedichte von Arthur Rimbaud, Paul Éluard und Paul Valéry sind aber nicht weniger anspruchsvoll als diejenigen Verlaines und teilweise sehr verrätselt. Sie entziehen sich einer stimmigen deutschen Übersetzung, können allenfalls nachgedichtet werden. Trotzdem wäre ein Abdruck der deutschen Texte notwendig gewesen, um die Lieder zu verstehen. Ich habe sie mir mühsam aus dem Internet zusammengesucht. Auch hier wird das Eindringen des Hörers in die Musik durch Markus Schäfers imaginativen und suggestiven Vortrag erleichtert.

Den Kompositionen Lipattis sind die Sept Chansons de Clément Marot op. 15 seines Patenonkels George Enescu vorangestellt, der auch sein erster Lehrer war, schon den 4jährigen auf der Geige unterrichtet hat. Marot war ein Dichter des frühen 16. Jahrhunderts und als Sekretär für Margarete von Navarra tätig. Die Gedichte sind Anne d’Alençon, einer Nichte von Margaretes erstem Gatten, gewidmet und handeln – was sonst? – von möglicherweise unerwiderter Liebe. Enescu hält den 1908 in Paris uraufgeführten Zyklus in einem an alte Lautenlieder gemahnenden höfisch-eleganten Tonfall, den Schäfer und Ungureanu überzeugend aufnehmen.

Den Abschluß des Albums bildet eine Komposition Violeta Dinescus, als Hommage an Lipatti zu dessen 100. Geburtstag geschrieben, andererseits von Enescus Carillon nocturne (1916) inspiriert: Mein Auge ist zu allen sieben Sphären zurückgekehrt. Die sechs vertonten Textzeilen stammen aus dem 3. Teil (Paradies) von Dantes Divina Commedia und werden von Dinescu nach mathematischen Strukturen bis zur Unkenntlichkeit dekonstruiert. Den Sinn dieser Auflösung habe ich beim Hören nicht verstanden, der Booklet-Kommentator Jörg Jewanski meint jedoch: „Die Obertöne, die sie (Dinescu) an Lipattis Klavierspiel und an Enescus nächtlichen Glocken faszinieren und die immer wie zartes entrücktes und wie aus der Ferne also quasi aus dem Himmel herüber wehendes Glockenspiel klingen, schaffen eine Beziehung zu den Klängen des himmlischen Paradieses aus der Göttlichen Komödie“. Markus Schäfer zeigt sich auch auf diesem Terrain sängerisch virtuos (Dreyer gaido CD 21132). Ekkehard Pluta

Warten bis Seite 205 …

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Vermessen klingt der Untertitel zu Eleonore Bünings Rihm-Biographie, wenn man mit DIE Biographie assoziiert, dass es vor und nach dieser keine andere gab und geben wird. Stark untertrieben allerdings ist der Begriff Biographie, denn Lebensdaten- und –ereignisse machen nur einen Bruchteil des Buches aus, hauptsächlich geht es um die Werke, denen eine so umfassende wie tiefschürfende Analyse zu Teil wird. Im Klappentext wird die Verfasserin als Old-School-Kritikerin bezeichnet, und nach der Lektüre des Buches kann man das nur als Lob begreifen, weniger die Aussage, ebenfalls auf dem Klappentext, allerdings dem vorderen, wenn von Rihm gesagt wird, er habe, obwohl noch lebendig, bereits mehr komponiert als Mozart, kein besonders überzeugendes Lob, wenn man bedenkt, in welch zartem Alter der Salzburger verstorben ist. Der Rihm-Nichtkenner muss immerhin bis zur Seite 205 und damit dem gleichnamigen Kapitel warten, ehe sich ihm der Buchtitel Über die Linie erschließt.

Im Vorwort weist die Autorin auf ihr freundschaftliches Vertrauensverhältnis zum Komponisten hin, den sie als einen Sonderfall unter den zeitgenössischen Musikern ansieht, da er ein Einzelgänger, old fashioned, weil mit Stift, Papier und Klavier arbeitend, sei, vom Publikum gemocht werde und seine Musik erkläre. Die Sprache der Verfasserin zeichnet sich durch Knappheit und Anschaulichkeit aus, detaillierter wird es stets, wenn es um die Musik geht, da kann sie sich auch einmal zu Wortschöpfungen wie „pausendurchweht“ versteigen oder zu mit einem „mit vier (Wald)-Hörnen gesegnet“.

Im Wesentlichen geht Büning chronologisch vor, allerdings, um in größeren Zusammenhängen darzustellen, auch ab und zu thematisch, so wenn gegen Ende lange Passagen ausschließlich den Liedkompositionen gewidmet sind. Der Leser verdankt ihr die Auflösung manches Rätsels, das die Namensgebung für viele Musikstücke für den Leser darstellt. Sie ist nicht nur Analytikerin und Kritikerin, sondern gibt auch reichlich die Meinungen von Kollegen ihres Metiers wieder. Auch das trägt dazu bei, dass man sehr viel mehr über das Werk Rihms als über ihn selbst erfährt, wenigstens direkt, indirekt natürlich umso mehr. Man kann mit gutem Grund vermuten, dass ihm das mehr als recht ist, schien er doch in seinem bisherigen Leben eher gegen als mit dem Strom zu schwimmen wie ein Zitat wie „Vorderste Avantgarde war nie Berufsziel“ wissen macht.

Der „Koloss aus Karlsruhe“ ist nicht nur Komponist, sondern auch Schriftsteller und Lehrender , entzieht sich jeder Kategorisierung außer der, die man mit „das Variable als Konstante“ umschreiben kann. Opern ( von  Faust und Yorick bis zu Proserpina) schreibt er zunächst auf Texte von Nietzsche, Heiner Müller, Artaud und andere, dann eigene, und kehrt nur noch einmal mit Proserpina mit dem Goethetext zur Literaturoper zurück. Oft denkt er an bestimmte Interpreten, wenn er komponiert, so an Anne-Sophie Mutter, Renate Behle, Gabriele Schnaut,  Mojca Erdmann, Richard Salter, Christian Gerhaher, Christoph Prégardien. Für die hohe Frauenstimme scheint der Komponist ein besonderes Faible zu haben.

Weder der gar nicht so selten sich äußernde Argwohn gegenüber dem Vielkomponierer wie dem Erfolgreichen beirren den Komponisten, die von der Verfasserin geäußerte, von Optimismus strotzende Aussage:“Noch wird er nicht weltweit gespielt, wie Wagner und Verdi“ allerdings dürfte, was das Noch betrifft, so heftig anzuzweifeln sein wie die Korrektheit des Kommas vor „wie“.

Der Leser wird mit Begriffen wie „inklusives Komponieren“ vertraut gemacht, erfährt viel darüber, wie sich Komponist (Rihm) und bildender Künstler (Kappa) gegenseitig beeinflussen können, dass sich eine Nike Wagner dazu verstieg, ihn den „Goethe der Neuen Musik“ zu nennen, dass man Freunde sein kann, auch wenn man komponierend Welten voneinander entfernt ist (Rihm-Lachenmann).

Interessant sind auch die Ausführungen zu den Kompositionen, die in irgendeiner Verbindung zu berühmten Komponisten wie Schubert oder Brahms haben, so zum Deutschen Requiem. Auch absurd Erscheinendes wie die Vertonung der Gedichte eines Kinderschänders oder einer Adlermörderin wird nicht gemieden, sondern verständlich gemacht. Mit dem Ausblick auf Kommendes schließt der erste Teil des Buches.

Es folgt ein aus mehreren Teilen zusammengesetztes Interview zu wichtigen Fragen, auf die der Komponist nüchterne, vielleicht auch ernüchternde Antworten gibt, sich eher als Gärtner denn als Architekten sehen will. Anmerkungen, Diskographie und Personen- und Werkregister beschließen den Band, der wohl beinahe ein Lebenswerk sein könnte, auf jeden Fall von außergewöhnlicher  Sachkenntnis und dazu noch Liebe zum Sujet zeugt (345 Seiten, Benevento Verlag 2022; ISBN 978 3 7109 0147 8). Ingrid Wanja       

Kein lieto fine auf Kreta

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Cmajor/UNITEL bringt eine Aufführung von Mozarts Idomeneo vom Februar 2019 aus der Wiener Staatsoper auf Blu-ray Disc heraus (760304). Der dänische Regisseur Kasper Holten gab mit dieser Produktion, einer Mischung aus Münchner und Wiener Fassung, sein Debüt im Haus am Ring. Er wollte das Dramma per musica als die traumatische Erinnerung von Menschen, die einen Krieg erlebt haben und nach einem Neuanfang suchen, inszenieren.

Am Pult des Orchesters der Wiener Staatsoper steht Tomás Netopil, der den dramatischen Konflikt des Stückes schon in der Overture mit spannungsgeladenen Akzenten auffächert und auch danach wirkungsvolle Akzente setzt. Holten lässt auf dem Bühnenboden von Mia Stensgaard, der eine Landkarte zeigt, Idomeneo mit seinem kleinen Sohn Idamante in väterlich besorgter Zuneigung erscheinen, umringt von hölzernen Figuren, die Weihnachtsengeln und Spielzeugsoldaten ähneln. Zu Beginn der Handlung hängen Personen gefangen in der Luft, darunter auch Ilia in einem plissierten Gewand, die ihr Rezitativ „Quando avran fine ormai“ in luftiger Höhe singen muss. Auf Geheiß wird sie herunter gelassen, so dass Valentina Nafornitá die erste Arie, “Padre, germani“, auf sicherem Boden absolvieren kann. Sie lässt einen lyrischen Sopran von hoher Kultur, aber auch starkem Engagement hören. In ihrer zweiten Arie, „ Zeffiretti lusinghieri“, demonstriert sie feine Valeurs  und dominiert zudem das Duett mit Idamante im 2. Akt („S’io non moro“), denn Rachel Frenkel besitzt für die Hosenrolle kaum androgynen Klang, tönt recht anonym und in der Tiefe flach. Intensität im Vortrag kann man ihr freilich nicht absprechen, wie es schon die Auftrittsarie „Non ho colpa“ beweist. Auch dem zweiten Solo, „Il padre adorato“, fehlt es nicht an Attacke und Fluss der Koloratur. Das Rondo „Non temer“ singt sie dagegen bemüht, und der sopranige Klang der Stimme wirkt wiederum sehr feminin. Elettra, die dritte weibliche Hauptrolle, wird von Irina Lungu wahrgenommen. In einer grünen, reich ornamentierten Robe (Kostüme: Anja Vang Kragh) wirkt sie matronenhaft, gewinnt ihrer Stimme aber hysterisch flammende Facetten ab und bewältigt auch die anspruchsvollen Koloraturpassagen beachtlich. Mit reicher Lyrik stattet sie die Arie „Idol mio“ aus, während ihr das cavallo di battaglia, die bravouröse Arie „D’Oreste, d’Aiace“, mit dramatischem Aplomb und gestochenen Koloraturkaskaden imponierend gelingt.

Der Chor der Wiener Staatsoper (Einstudierung: Martin Schebesta) singt engagiert, sorgt mit dem Chor „Pietà! Numi, pietà“ vor Idomeneos Auftritt für starke Wirkung. Bernard Richter leiht dem Titelhelden seinen Tenor, dem es vielleicht noch an Reife fehlt für diese Rolle, der aber mit seiner hohen Gesangskultur für sich einnimmt. Den Prüfstein der Partie, die Arie „Fuor del mar“, absolviert er nach einem autoritären Rezitativ („Qual mi conturba i sensi“)  trotz einiger verwischter Koloraturen zuverlässig. Den König begleiten durch Brandwunden und andere Kriegsverletzungen furchtbar entstellte Menschen. In diesen Szenen finden sich die traumatischen Kriegserlebnisse wieder. Im 3. Akt finden die Aktionen vor einer Statue des Idomeneo statt, die am Ende gestürzt wird. Abgesetzt wird auch der König und in den Abgrund verbannt, wo er zusammen mit den Kriegsopfern verbleiben muss – ein starker Kontrast zum jubelnden Schlusschor „Scenda Amor“ und deutliche Abgrenzung zum lieto fine. Das intensive Agieren der Protagonisten verschafft der Aufführung die gebotene Spannung, was das Wiener Publikum am Ende lautstark honoriert. Bernd Hoppe

Rundherum opulent

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Die Stream-Übertragung von Riccardo Zandonais Francesca da Rimini am 14. 3. 2021 aus der Deutschen Oper Berlin bringt NAXOS nun als Blu-ray Disc heraus (NBD0142V). Nach seiner erfolgreichen Inszenierung von Korngolds Das Wunder der Heliane zwei Jahre zuvor hatte sich Christof Loy einer weiteren Rarität gewidmet – der Tragedia Francesa da Rimini, uraufgeführt 1914 in Turin. Das Libretto von Tito Ricordi nach Gabriele d’Annunzio erzählt von Francesca, die aus politischen Gründen mit Gianciotto, dem ältesten Sohn des Malatesta, vermählt werden soll. Da dieser hässlich ist, wird sein schöner Bruder Paolo vorausgeschickt, in den sich Francesca verliebt, ohne das Täuschungsmanöver zu ahnen. Die Situation eskaliert, da auch der einäugige Bruder Malatestino Francesca begehrt. Die Handlung spielt während des Bürgerkrieges in Norditalien Ende des 13. Jahrhunderts zwischen den Guelfen und Ghibellinen.

Der Regisseur verlegte das Geschehen in die Gegenwart, weshalb Klaus Bruns die Herren mit dunklen Business-Anzügen und Aktentaschen, die Hofdamen mit strengen Internatskleidern ausstattete. Francesca trägt ein schwarzes Cocktailkleid und Pumps, später einen eleganten Hosenanzug, ein schwarzes Satinkleid mit Spitze und eine luxuriöse Abendrobe. In der Personenführung gelangen Loy Momente von filmreifer Dichte. Mit geballten Aktionen und geladener Spannung sind die Kampfszenen inszeniert. Nach der Heliane entwarf Johannes Leiacker wiederum die Szene, verkleinerte geschickt das Bühnenportal durch eine Zwischenwand, welche mit einer Blumendekortapete überzogen ist. Im Hintergrund öffnet sich gelegentlich ein Segment und gibt den Blick frei auf eine Veranda mit einer idyllischen Landschaft dahinter, die einem Gemälde von Claude Lorrain nachempfunden ist.

Nach ihrer Heliane ist Sara Jakubiak auch in dieser Titelrolle ein Ereignis. Ihr gleißender, expressiver Sopran verfügt über enormes Potential und stupende Reserven, die ihr flammende Ausbrüche gestatten und die strapaziöse Partie souverän bewältigen lassen. In der großen Szene mit Paolo im 3. Akt („Paolo, date mi pace“) kann sie auch mit feinen Lyrismen aufwarten.

Jonathan Tetelmans Paolo ist ein Mann wie aus dem Bilderbuch, schon bei der ersten Begegnung ist Francesca seiner Schönheit und sinnlichen Ausstrahlung verfallen, reicht ihm eine rote Rose als erstes Liebeszeichen. Zu  seiner Erscheinung korrespondiert der baritonal getönte, virile Tenor mit potenten Spitzentönen. Den trunkenen Rausch des Schlussduettes, welches Loy mit berstender Spannung wie einen Thriller inszeniert, kosten der chilenische Sänger und Sara Jakubiak bis zur Neige aus und sorgen damit für den musikalischen Höhepunkt der Aufführung. Zu Ivan Inverardi als derb polterndem, gefährlich cholerischem Ehemann Giancotto könnte der optische Kontrast nicht größer sein. Dritter im Bunde ist Charles Workman als zwielichtiger Malatestino mit prägnanter, inzwischen zum Charaktertenor gereifter Stimme.

Das Orchester der Deutschen Oper Berlin musiziert unter Carlo Rizzi, der die fiebrig-nervöse Musik, aber auch deren Schillern und Schwelgen effektvoll ausbreitet. Der Chor des Hauses (Einstudierung: Jeremy Bines) wird im Rahmen des Hygiene-Konzeptes der Pandemie aus dem Probenraum eingespielt. Die Aufführung (in Ko-Produktion mit NAXOS und Deutschlandfunk Kultur sowie takt 1) stellt der Deutschen Oper Berlin erneut ein glänzendes Zeugnis aus. Bernd Hoppe

Aufforderung zum Tanz

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Dance with me heißt ein neues Album bei Alpha Classics (780) und wer könnte dieser Einladung widerstehen, wenn sie von Barbara Hannigan kommt? Die kanadische Sopranistin ist bekannt für ihre Repertoire-Vielfalt, die vom Barock über den Belcanto bis zu Bergs Lulu und der zeitgenössischen Musik reicht. So ist es nicht verwunderlich, dass sie während der Pandemie im Mai des vergangenen Jahres in Hilversum auch bei einer CD-Produktion mitwirkte, die sich dem Genre der Unterhaltungsmusik widmet. Ihre Partner sind Lucienne Renaudin Vary an der Trompete, das Berlage Saxophone Quartet und das Ludwig Orchestra. Der Sound ist eine reizvolle Mischung aus Kaffeehaus-Musik und Oldtime Jazz. Die zwölf Titel mit Slow Fox, Tango, Salsa, English Waltz, Rumba, Samba und Wiener Walzer garantieren reichlich Abwechslung und ein großes Hörvergnügen.

Hannigan sorgt mit Glenn Millers „Moonlight Serenade“ für einen stimmungsvollen Einstieg. Man wähnt sich in einer Nachtbar, genießt den sinnlich-verführerischen Klang der Stimme und der begleitenden Instrumente. Der Komponist Bill Elliott hat den Titel arrangiert, neben einigen anderen wie dem Cha-Cha „Quien sera“ von Pablo Beltrán Ruiz mit seinem Latino-Flair oder dem fetzigen Jive „In the Mood“ von Wingy Manone. Die Sopranistin singt als zweiten Beitrag eine Komposition von Kurt Weill und Roger Fernay, „Youkali“, welche Teresa Stratas auf ihrer Weill-CD so unnachahmlich interpretiert hat. Hannigan findet eine eigene Version von mondänem Zuschnitt mit raffinierten vokalen Valeurs. Danach hört man von ihr den One-Step „Fluffy Ruffles“ von George Hamilton Green und Wallace Irwin – eine flotte Nummer, die gute Laune macht, wie die ganze Platte überhaupt ein wunderbarer Stimmungsaufheller ist.

Die Orchestertitel zwischen den Vokalnummern bieten eine große Vielfalt der Farben und Stimmungen – wie die Salsa „Copacabana“ von Barry Manilow mit ihrem rasanten Rhythmus, das „Je veux t’aimer“ von Robert Stolz mit seiner nostalgischen Atmosphäre oder die Rumba „My Shawl“ von Xavier Cugat mit ihrer lockenden Sinnlichkeit. Mit Edward Elgars „Salut d’amour“ bietet das Orchester als Schlusspunkt mit feiner Kultur der Streicher eine lyrische Perle von nostalgischem Sentiment.

Letztes Solo der Sängerin ist das sattsam bekannte „I Could Have Danced All Night“ aus My Fair Lady von Frederick Loewe und Alan Jay Lerner. Davon gibt es unzählige Interpretationen, gegen die sich Barbara Hannigan nicht genügend behaupten kann. Man bedauert dennoch, dass die Sängerin nur mit vier Titeln zu hören ist und die originelle Platte insgesamt mit knapp 47 Minuten reichlich kurz geraten ist (26. 02. 22). Bernd Hoppe

Antonietta Stella

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Die italienische Sopranistin Antonietta Stella starb am 23. Februar (2022) im Alter von 92 Jahren. Mit ihr geht wirklich eine Ära des italienischen Gesangs zu Ende. Wie ihre Kolleginnen Tucci oder Malaspina, Roberti, Mancini gehörte sie, die vor allem durch ihre physische Schönheit punktete, zum festen Bestand der italienischen Oper und hatte im Gegensatz zu den Genannten eine bemerkenswerte internationale Karriere, auch an der Met, wenngleich sie doch, wie die Gencer und viele, im Schatten der Callas und Tebaldi stand. Fans werden mir heftig widersprechen, aber sie war stets in der 2. Riege, so auch bei den Opernaufnahmen der Deutschen Grammophon, die als Konkurrenz zu denen der EMI und Decca aufgebaut wurden. Der etwas enge, steife Sopran der Stella leuchtete in der Höhe, und ihre Amelia im Boccanegra der RAI 1951 (neben Silveri und Bergonzi) gehört zu meinen Lieblingsaufnahmen, eben weil alle dort so jung und (scheinbar) unbekümmert klingen. Antonietta Stella war eine außerordentlich tüchtige Sängerin wie die nachstehende Auflistung bei Kutsch-Riemens zeigt, eine würdige Vertreterin der Italienischen Oper, wie es sie heute nicht mehr gibt (Foto Alchetron). G. H.

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Stella, Antonietta, Sopran, * 15.3.1929 Perugia; sie wurde an der Accademia di Santa Cecilia in Rom ausgebildet. Sie debütierte 1950 in Spoleto als Leonore im »Troubadour«. 1951 hatte sie an der Oper von Rom ihren ersten großen Erfolg als Leonore in »La forza del destino«. 1951 sang sie in Deutschland an den Opernhäusern von Stuttgart, München und Wiesbaden. Es folgten Gastspiele in Florenz, Neapel, Rom, Catania, Parma, Turin, Lissabon und Perugia. 1954 debütierte sie an der Mailänder Scala als Desdemona in Verdis »Othello« und hatte dort bis 1963 in einer Anzahl von Partien ihre Erfolge, u.a. als Tosca, als Traviata und als Elisabetta im »Don Carlos« von Verdi. Die Künstlerin gastierte sehr oft an der Staatsoper von Wien; auch an der Covent Garden Oper London (1955), in Paris, Brüssel und Chicago war sie erfolgreich. 1955 sang sie in der Arena von Verona (wo sie 1953 erstmals aufgetreten war) die Aida und die Leonore in »La forza del destino« auch in den Jahren 1957-58, 1960 und 1964 war sie in Verona in großen Partien anzutreffen. 1956 folgte sie einem Ruf an die Metropolitan Oper von New York (Antrittsrolle: Aida). Bis 1960 hatte sie an diesem Opernhaus große Erfolge; sie sang an der Metropolitan Oper in vier Spielzeiten acht Partien in 54 Vorstellungen, darunter die Leonore im »Troubadour«, die Amelia in Verdis »Ballo in maschera«, die Butterfly, die Tosca, die Traviata und die Elisabetta im »Don Carlos«. 1974 hörte man sie am Teatro San Carlo Neapel in der Uraufführung der Oper »Maria Stuarda« von de Bellis. – In ihrer Sopranstimme verbanden sich dramatische Aussagekraft, musikalische Schönheit und souveräne Beherrschung der Gesangstechnik. Große Verdi-und Puccini-Interpretin.

Aufnahmen auf Cetra (»Simon Boccanegra«), Philips (»Linda di Chamounix« von Donizetti, »La Bohème«, »Tosca«), DGG (»Un Ballo in maschera« von Verdi, »Don Carlos«, »Troubadour«), HMV (»Don Carlos«), Columbia (»La Traviata«, »Andrea Chénier« von Giordano), UORC (»Aida«), Foyer (»La battaglia di Legnano« von Verdi), HRE (»Luisa Miller« von Verdi), Melodram (»La forza del destino«, »Africaine« von Meyerbeer), Memories (»Agnese di Hohenstaufen« von Spontini).

[Nachtrag] Stella, Antonietta; als erste Partie sang sie 1955 an der Londoner Covent Garden Oper die Aida. Sie übernahm auch Partien aus dem Wagner-Repertoire wie die Elisabeth im »Tannhäuser«, die Elsa im »Lohengrin« und die Sieglinde in der »Walküre«.

[Lexikon: Stella, Antonietta. Kutsch/Riemens: Sängerlexikon, S. 23278 (vgl. Sängerlex. Bd. 5, S. 3338; Sängerlex. Bd. 6, S. 611) (c) Verlag K.G. Saur]

Reichtum in der Beschränkung

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Unter strengen (2020) und weniger strengen (2021) Corona-Beschränkungen gab es in Salzburg Konzerte der Wiener Philharmoniker unter Christian Thielemann und unter Mitwirkung von Elīna Garanča, die jeweils einen Liederzyklus beisteuerte. Vervollständigt wurde das Programm in beiden Jahren von einer Bruckner-Sinfonie, 2020 von der Vierten und 2021 von der Siebenten. Eine DVD existiert vom Konzert im Jahre, die Auftritte der Mezzosopranistin liegen nun „Live from Salzburg“ auf einer CD der Deutschen Grammophon vor.

Es ist gar nicht so selten, dass ein CD- oder DVD-Booklet bereits die Kritik zu einer Aufnahme bereitstellt, und so ist es auch in diesem Fall, wo der lettischen  Sängerin bzw. ihrem Vortrag „berückende Dichte“ und „inniger Ausdruck“ bescheinigt werden, wo eher tiefgestapelt wird mit einem „schafft das Orchester die gelungene Basis“ für den Gesang, während es zwischen Werk, Interpretin und Publikum „unmittelbar von Herz zu Herz“ geht.

Dem Hörer können auch andere, nicht verachtenswerte Attribute zu den Darbietungen der Sopranistin einfallen, so die ausgezeichnete Diktion, die vom ersten Wesendonck– bis zum letzten Mahler-Lied beeindruckt, das kostbare Timbre, die feine Agogik wie auf „Engel“ im ersten der Wagner-Lieder, die Fähigkeit, quasi jedes Wort auszudeuten, was manchmal etwas auf Kosten einer einheitlichen Grundstimmung geht. Auch im dramatischeren Stehe still! bleiben die Konturen exakt, im „süßen Vergessen“ kommt die Musik fast zum Stillstand, das Orchester bleibt zurückhaltend, ehe es zum Schluss mehr von der Atmosphäre des Lieds vermittelt als der Gesang zuvor.  In Im Treibhaus fasziniert der zarte Tonabsatz in der Höhe, für die Gesamtstimmung zeigt sich wieder das Orchester verantwortlich, trägt die Stimme wunderbar und beide wetteifern um den Preis für absolute Schönheit am Schluss. Ein strahlendes „Glorie“ hat der Mezzosopran für Schmerzen, einen schönen Jubelton für „O wie dank ich“, und in Träume wirkt der Variationsreichtum des Ausdrucks recht kalkuliert, wenig spontan.

Auch in den 5 Liedern Mahlers nach Gedichten von Rückert ist es die Makellosigkeit des Vortrags, die frappiert, aber nicht unbedingt berührt. Duftig und klar lässt sich die Stimme vernehmen, erst die Begleitung lässt wahrnehmen, dass in Ich atmet‘ mehr steckt als eine Idylle. Selten ist die Textverständlichkeit so anfechtbar wie in Liebst du um Schönheit, aber schön der Jubel auf „immerdar“. Unangefochten hält der Mezzosopran dem Forte in Um Mitternacht stand, der Wandel im Schlüsselbegriff wird zwar auch in der Stimme, stärker noch in der Begleitung spürbar. Von Videoaufnahmen weiß man, wie sehr Christian Thielemann auf die Bedürfnisse seiner Gesangssolisten eingeht, hier meint man es zu hören, zu spüren. Huschend, aber nicht verhuscht klingt Blicke mir nicht in die  Lieder, getragen, aber keineswegs spannungslos Ich bin der Welt abhanden gekommen.

Die CD nötigt Bewunderung für die Schönheit der Stimme, für die perfekte Technik ab, vermag aber weniger zu berühren als der Beitrag des Orchesters, der auch im letzten Track den inneren Reichtum in der Beschränkung hörbar macht (DG 486 1929). Ingrid Wanja    

Josephine Veasey

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Zu meinem großen Bedauern hörte ich vom Tod der bedeutenden britischen Mezzosopranistin Josephine Veasey im Alter von 91 am 22. Februar (2022), eine meiner Lieblingsstimmen und eine der wichtigsten britischen Nachkriegssängerinnen. Allein schon ihre Mitwirkung am Berlioz-Projekt von Colin Davis bei Philips und an Covent Garden in den Sechzigern/Siebzigern, wo sie jahrzehntelang in allen wichtigen Rollen ihres Fachs auftrat (so Suzuki neben Sena Jurinacs Butterfly), sichert ihr einen festen Platz in der Geschichte der Aufführungen Berlioz´ (unvergessen auch ihre Béatrice ebendort). Ihre noble Erscheinung, ihr wunderbarer, ausgeglichener Gesang, ihre wirklich bedeutende Gesangstechnik lassen sie für mich unvergesslich sein. Ich hatte das große Glück sie neben wenigen Auftritten in West-Berlin ab 1968 (und in Folge 1972 und 1976) als Didon in London zu erleben, dann in 1980 in Buxton als Königin Gertrude im dortigen Hamlet von Thomas, an der Seite ihrer ebenso beeindruckenden Kollegen Thomas Allen und der bezaubernden Sopranistin Christine Barbaux, ein Abend, der mir bis heute unvergesslich ist. Josephine Veasey war auch eine bedeutende Fricka bei Herbert von Karajan in dessen Salzburger Ring 1967 pp, eine nachhaltige Adalgisa in der Norma von Orange neben Caballé und Vickers (1974, man erinnert sich an das fliegende Gewand der Caballé im spannenden Video). Sie war eine flexible Sängerin und war alternierend Cassandra und Didon von Berlioz eben an Covent Garden. Wie alle Mezzos ihrer Zeit stand sie dort im Schatten von Janet Baker (wie Helen Watts einmal etwas bitter bemerkte), und die letzten Jahre an Covent Garden waren sicher keine leichten. Sie zog sich auf das Unterrichten zurück und machte sich einen Namen als bedeutende Lehrerin, wie mir ihre Kollegin und Schülerin Ann Evans berichtete. In Erinnerung bleibt mir eben diese ausgeglichene, pastos timbrierte, noble Stimme, ein wenig an Yvonne Minton erinnernd und vielleicht das eleganteste, was England an Mezzos hervorgebracht hat. Mich hat sie seit dem ersten Hören durch mein Leben begleitet (Foto Isoldes Liebestod). G. H.

 

Nachstehend ein Auszug aus dem unersetzlichen Kompendium  „Großes Sänmgerlexikon“ von Kutsch-Riermens:  Veasey, Josephine, Mezzosopran, * 10.7.1930 Peckham (Sussex); ihre Stimme wurde durch Audrey Langford in London ausgebildet. Sie kam dann an die Covent Garden Oper London, wo sie zunächst 1948-50 im Chor und kleinere Partien sang. 1950-51 war sie bei der Opera for All tätig. 1954 hatte sie an der Covent Garden Oper einen sensationellen Erfolg als Cherubino in »Figaros Hochzeit«. Sie gehörte seitdem zu den prominentesten Sängerinnen der Covent Garden Oper, an der sie bis 1982 60 Partien in 780 Vorstellungen vortrug; zu ihren Glanzrollen zählten die Carmen, der Octavian im »Rosenkavalier«, die Amneris in »Aida«, die Azucena im »Troubadour«, die Brangäne im »Tristan« und die Alt-und Mezzosopran-Partien im Ring-Zyklus von R. Wagner. Bei den Festspielen von Glyndebourne erschien sie erstmals 1957 als Zulma in Rossinis »Italiana in Algeri«, 1958-59 als Cherubino, 1964 als Clarice in Rossinis »Pietra del Paragone«, 1965 als Octavian im Rosenkavalier, 1969 als Charlotte im »Werther« ebenso erfolgreich trat sie auch beim Edinburgh Festival auf. Bei Gastspielen an der Staatsoper von Wien, an der Oper von Köln und bei den Osterfestspielen von Salzburg (Fricka unter Herbert von Karajan) hatte sie wichtige internationale Erfolge. 1971-72 gastierte sie an der Hamburger Staatsoper, 1971 an der DeutschenOper Berlin. An der Mailänder Scala sang sie Wagner-Partien, an der Grand Opéra Paris die Dido in »Les Troyens« von Berlioz, 1973 die Kundry im »Parsifal«. 1968 kam es zu ihrem Debüt an der Metropolitan Oper New York (Fricka im Nibelungenring unter H. von Karajan). Auch in Nordamerika hatte sie eine bedeutende Karriere, 1975 gastierte sie an der Oper von Dallas als Brangäne. 1976 wirkte sie an der Covent Garden Oper in der Uraufführung von H.W. Henzes »We come to the River« mit. 1982 sang sie als Abschiedspartie an der Covent Garden Oper die Herodias in »Salome«. Sie wurde dann Gesangsmeisterin an der English National Opera London, seit 1983 wirkte sie an der Royal Academy of Music London als Pädagogin. Zu ihren Schülern gehörten Sänger wie Sally Burgess, Phyllis Cannon, Vivian Thierney, Mary Hegaty, Helen Field, Felicity Palmer, Ethna Robinson, Anthony Mee und Peter Sidham. Neben ihrem Wirken auf der Bühne war sie eine geschätzte Konzert- und Oratoriensängerin. 1970 wurde sie zum Commander of the British Empire ernannt.

Schallplatten auf Philips (Dido in »Les Troyens« von Berlioz, »La dammation de Faust« von dem gleichen Meister, »Dido and Aeneas« von Purcell), auf Decca (Agnese in »Beatrice di Tenda« von Bellini, »A Midsummer Night’s Dream« von Benjamin Britten, Geneviève in »Pelléas et Mélisande« von Debussy, »Salome« von Richard Strauss), MRF (»Pénélope« von Fauré, »Hamlet« von A. Thomas) und auf DGG (Alt- Partien im Ring-Zyklus aus Salzburg, Verdi-Requiem).

[Nachtrag] Veasey, Josephine; aus den vielen Partien, die sie an der Covent Garden Oper London übernahm, sind noch die Rosina im »Barbier von Sevilla«, die Marina im »Boris Godunow«, die Magdalene in den »Meistersingern«, die Emilia in Verdis »Othello«, die Cassandre wie die Didon in »Les Troyens« von Berlioz und die Eboli in Verdis »Don Carlos« hervorzuheben. 1980 gastierte sie an der Oper von Boston als Königin im »Hamlet« von A. Thomas, an der San Francisco Opera bereits 1974 als Eboli. – Lit: A. Blyth: Josephine Veasey (in »Opera«, 1969).

[Lexikon: Veasey, Josephine. Kutsch/Riemens: Sängerlexikon, S. 24903 (vgl. Sängerlex. Bd. 5, S. 3578; Sängerlex. Bd. 6, S. 634) (c) Verlag K.G. Saur] Foto: Josephine Veasey als Didon in Les Troyens/ Berlioz/ Foto Philips/Covent Garden

Eugen Engels „Grete Minde“

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Zu den erstaunlichen Entdeckungen der jüngsten Tage gehört die Oper Grete Minde des Amateur-Komponisten Eugen Engel, dessen Lebenslauf nachstehend im Artikel der Dramaturgin des Magdeburger Theaters skizziert wird. Wie aus dem Dunkel der Geschichte tauchte in Amerika die handschriftliche Partitur (eigentlich eher eine Orchester-Skizze) einer Oper auf, die – nun im Februar 2022 auf den Brettern des Magdeburger Theaters zum Klingen gebracht und anschließend im Radio gesendet – sich als anspruchsvolles und üppigst orchestriertes Bühnenwerk darstellt. Der Presse-Rummel um das Leben und Sterben (1943 im KZ Sobibor) des jüdischen Angestellten Engel blockiert eher die Würdigung seiner musikalischen Schöpfung, die staunen macht. Aber der Reflex, dass hier gleich wieder die Klammer der „Entarteten Musik“ greift und dass die dto. bemerkenswerte Zusammenarbeit eines jüdischen Komponisten mit einem „faschistischen“ Librettisten die heutige Wertung in eine ganz bestimmte, politisch korrekte und opportune Richtung schiebt, ist für die Journalistenkollegen ja allzu verführerisch.

Eugen Engel im Berliner Tiergarten, September 1928; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2012/127/80, Schenkung von Janice Lowen Agee/ Theater Magdeburg

Zu viel bleibt ungeklärt. Eugen Engel und der Journalist Hans Bodenstedt dürften um 1914, als Bodenstedt die Vorlage von Theodor Fontane (auch dem wird heute Antisemitismus vorgeworfen) aufgriff, also weit vor Beginn des Hitlerfaschismus Kontakt aufgenommen haben. Die Daten der Entstehung der Komposition von Grete Minde sind unklar, zumal möglicherweise die Oper nicht für eine Veröffentlichung gedacht war und lange in der Schublade lag. Wenngleich sich Engel deswegen an einige wichtige Leute im Berliner Musikleben wandte („im Kontakt“ heißt es, aber das scheint eher eine einseitige Kontaktnahme gewesen zu sein). Und erst spät, ab 1933, sind ablehnende (weil anti-jüdische) Reaktionen erwähnt.

Und erst in den Dreißigern, also weit nach 1914, wandte sich der Librettist Hans Bodenstedt  (* 25. Oktober 1887 in Sudenburg; † 10. Dezember 1958  in Feldafing, Bayern) dem Faschismus zu, machte aber auch eine bemerkenswerte Karriere beim NWDR nach dem Krieg . Er war, wie bei Wikipedia nachzulesen, ein Rundfunkpionier, arbeitete als Programmleiter, Autor und Sprecher und tat viel für die Entwicklung der Rundfunkreportage und des Hörspiels. Bodenstedt verfasste Libretti, bearbeitete Operetten für die Aufführungen im Rundfunk, schrieb Märchentexte und war der Schöpfer der populären Kinderfunk-Figur „Funkheinzelmann“. Zwischen 1939 und 1944 war er Herausgeber von 26 Bänden der Reihe „Die Bücher der Ährenlese“, die im „Verlag Blut und Boden“ in Goslar erschien.  Aus „gesundheitlichen“ Gründen nahm er 1953 Abschied vom Rundfunk und übersiedelte nach Oberbayern, wo er im 71. Lebensjahr verstarb.

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Der Journalist Hans Bodenstadt, Librettist für Engels „Grete Minde“/ Grammophon-Platten

In Sachen Grete Minde brachte der Hobby-Sänger Uwe Jöckel alles ins Rollen, als er von dem Vorhaben zu einen Stolperstein für den Komponisten Eugen Engel in der Berliner Charlottenstrasse  (Mitte) hörte. Wie der Spiegel schreibt, „wurde Jöckel neugierig, beschaffte sich Noten. »Sie erinnerten mich an die Lieder Gustav Mahlers«, erzählt er.“  Er wandte sich über Umwege an Janice Lowen Agee, die Enkelin von Eugen Engel in Amerika. Dass nun Engels Partitur der Magdeburger Dirigentin Anna Skryleva „sozusagen in die Hände gefallen war“, ist, vermehrt das Rätsel, wie ein Kaufmännischer Angestellter des Warenhauses Tietz ohne jede erkennbare Vorbildung eine so beeindruckende Orchestrierung zustande gebracht hat. Er habe „professionelle Hilfe“ gehabt, mutmaßt Ulrike Schröder in ihrem Einführungsartikel. Aber wer? Natürlich gab es zu Engels Zeiten in Berlin viele Musiker/Komponisten für alle mögliche Musiksparten. Aber für einen Amateur am Klavier ist dies doch ein außerordentlich erstaunliches Werk, zumal sein einziges dieses Formats. Woher also stammt die Orchestrierung, wenn nicht sogar auch die musikalische Vielfalt? Da klingt sehr viel Korngold, Strauss, Schreker, Wagner-Regeny hindurch, auch ein Schuss Wagner (Meistersinger-Zitat) und vielleicht auch Russisches (wie bei so vielen amerikanischen Komponisten) …

Wie auch immer – Grete Minde von Eugen Engel, nun endlich am Theater Magdeburg uraufgeführt, ist eine wirklich überraschende Oper, die hoffentlich auch als CD dokumentiert und so einem großen Kreis zugänglich gemacht wird. Eine Radioaufnahme gibt es ja.

Nachstehend folgt eine Besprechung der Aufführung vom 5. März 2022 von Gerhard Eckels sowie  Einführendes aus dem Programmheft , wofür wir sehr danken. G. H.

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Eugen Engel: „Grete Minde“/ Szene Theater Magdeburg/ Foto Andreas Lande

Die Mühen der Bearbeitung des Notenmaterials durch die Magdeburger Generalmusikdirektorin Anna Skryleva und die Musikdramaturgin Ulrike Schröder haben sich wirklich gelohnt, denn dieses spannende, konfliktreiche Werk könnte eine echte Bereicherung des Repertoires werden.

Die Handlung von Fontanes Novelle und der Oper geht zurück auf Ereignisse in nachreformatorischer Zeit kurz vor Ausbruch des Dreißigjährigen Kriegs im altmärkischen Tangermünde, als im September 1617 bei einem gelegtem Brand mehr als die Hälfte der über 600 Wohnhäuser der Stadt und 52 Scheunen zerstört wurden. Davon weicht die Novelle, die Grundlage des Librettos, deutlich ab; das Schicksal der historischen Margarethe Minde war um Einiges grausamer, indem sie nach Folterung einem Justizmord zum Opfer fiel.

Zum Inhalt der Oper: Die lebensfrohe Grete lebte als verwaiste Tochter einer Katholikin in der lutherisch geprägten Kleinstadt Tangermünde bei ihrem älteren Halbbruder Gerdt und dessen bigotter Frau Trud. Liebe gibt es in dieser strengen, harten Welt nicht: Gerdt flüchtet sich in Geld und Arbeit, seine Frau Trud beneidet den „Hexenspross“, dem die Liebe zufliegt, während sie selbst einsam ist. Grete trifft auf Valtin, der ebenfalls ohne Mutter aufgewachsen ist. Beide sind krasse Außenseiter, was letztlich dazu führt, dass sie die Stadt verlassen, um der hartherzigen, beklemmenden Enge ihrer Heimat zu entfliehen; sie schließen sich einer fahrenden Komödianten-Truppe an. Nur wenige glückliche Jahre sind dem Paar vergönnt, als Valtin ohne Hoffnung auf Rettung erkrankt. Verzweifelt verspricht Grete dem Sterbenden, nach Tangermünde zurück zugehen, um auch im Interesse ihres kurz zuvor geborenen Kindes ihr Erbteil zu erkämpfen. Dass ihm der lutherische Pastor Beistand im Sterben und ein Begräbnis verweigert, die Domina der katholischen Nonnen des Klosters Arendsee aber nicht, ist nur ein kleiner Hoffnungsschimmer. In Tangermünde verweigert der mitleidslose Halbbruder Gerth die Aufnahme von Mutter und Kind in die Familie, aber auch die Herausgabe des ihr zustehenden Erbteils. Selbst beim Bürgermeister Peter Guntz kann Grete ihr Recht gegen den hoch geachteten „Ratsherren Gerth Minde“ nicht durchsetzen. Als auch ein Vermittlungsversuch der Schwägerin Trud scheitert, kommt es zu verzweifelter Rache: Grete setzt die Stadt in Brand und kommt mit ihrem Kind in den Flammen um.

Eugen Engel: „Grete Minde“/ Szene Theater Magdeburg/ Foto Andreas Lande

Die Regisseurin Olivia Fuchs, deren Personenführung insgesamt gut gefiel, hat versucht, die drei Zeitebenen (Tangermünde 1617, Fontanes Novelle 1879 und die Biographie des Komponisten) zusammenzubringen, indem sie, wie sie im Programmheft erläutert, die mittelalterliche Geschichte in die 1940-er Jahre verlegt und mit einigen Koffern in der Bühnenmitte den Holocaust angedeutet hat. Dazu wurden auf die grauen Wände des kargen Einheits-Bühnenbildes Schwarz-Weiß-Videos von Brandenburger Landschaften und – zum lautstark angekündigten Erscheinen des Kurfürsten – von Marschkolonnen der Wehrmacht projiziert. Ohne dies im Programmheft gelesen zu haben, ließen sich die Andeutungen zu Eugen Engels Biographie kaum erkennen. Auch passt die Geschichte mit ihren religiösen Gegensätzen und den fahrenden Komödianten nicht ins mittlere 20. Jahrhundert – dies wirkte jeweils allzu krampfhaft und damit letztlich überflüssig. Durchaus sinnfällig ist die Kostümierung, wenn den bunt gekleideten Komödianten und dem Außenseiter-Paar (Grete mit feuerroten Haaren, Valtin in legerem Look) die feindlich gesonnene Bürger-Gesellschaft in einheitlich zeitlosem, strengen Schwarz gegenüber steht,  wobei man über das Outfit der Trud à la Emmy Göring  streiten kann (Ausstattung: Nicola Turner).

Eugen Engels einzige Oper enthält mit lebhaften Chorszenen, zarten Klängen des Liebespaars und dramatischen Steigerungen so ziemlich alles, was zu großer Oper gehört. Im ersten Akt wirken die Chöre mit einem derben Walzer noch reichlich grob geschnitzt. Das verdichtet sich in Arendsee, wenn im zweiten Akt in der turbeligen Wirtshaus-Szene der Wirt (mit prägnantem Bass Frank Heinrich) Lokalkolorit herstellt, indem er in dem dort üblichen Dialekt über die Einwohner der Nachbarorte Magdeburg, Tangermünde, Salzwedel und Stendal herzieht. Noch stärker wird es in der Sterbeszene mit Gretes innigem Wiegenlied, dem von ihr als Engel aus dem Off gesungenen Marienlied aus dem Mysterienspiel der Komödianten zum Sterben von Valtin und dem Segen der Domina. Besonders im Finale wird alles ineinander verschränkt, die Tonmalerei des sich ausbreitenden Feuers, das Entsetzen des Volks und der ernste Spruch von Gretes Vater über die Ausübung von Gerechtigkeit. Die Stärken der im Ganzen eingängigen Musik liegen damit deutlich in den lyrischen, liedhaften Szenen; dagegen ist die Illustrierung der Dramatik nach meinem Geschmack allzu plakativ und aufdringlich, was wohl auch an der starken Instrumentierung liegen mag, mit der die Akteure auf der Bühne so manches Mal ihre Probleme hatten. Hier hätte Anna Skryleva die sehr präsente Magdeburgische Philharmonie etwas dämpfen müssen, wenn auch der spätromantische Farbenreichtum der vielschichtigen Partitur durchaus angemessen zur Geltung kam.

Eugen Engel: „Grete Minde“/ Szene Theater Magdeburg/ Foto Andreas Lande

Besonders eindrucksvoll war das ausgezeichnete Magdeburger Ensemble, das in allen Positionen eindringlich agierte und stimmlich begeisterte. Da ist zunächst Raffaela Lintl in der Titelpartie zu nennen. Mit ihrer Grete konnte man in jeder Gemütslage mitfühlen, von lebenslustiger Leichtigkeit über intensive Liebe bis zu ausrastender Rache. Dabei führte sie ihren volltimbrierten Sopran sicher und intonationsrein durch alle Lagen; sie hatte keine Mühe, sich trotz starker Orchesterfluten Gehör zu verschaffen. Das gelang auch Zoltán Nyári als ihr Geliebter Valtin mit tenoraler Strahlkraft; der ungarische Gast hätte allerdings stimmlich etwas mehr differenzieren müssen, um einige Schärfen seiner durchschlagskräftigen Stimme zu mildern. Die mit gewagten Intervallsprüngen gespickte Partie der Trud Minde war der norwegischen Sopranistin Kristi Anna Isene anvertraut, die mit einem passenden Rollenporträt der Trud ebenso überzeugte wie durch die beeindruckende Beherrschung der hohen stimmlichen Anforderungen. Die drei Komödianten waren mit markantem Bariton Johannes Wollrab als Puppenspieler, mit flexiblem Tenor Benjamin Lee als munterer Hanswurst und mit feinem Sopran Na´ama Shulman als Zenobia. Da der Sänger des Halbbruders Gerdt erkrankt war, retteten der Regieassistent Florian Honigmann (szenisch) und Johannes Wollrab (Gesang) die Vorstellung. Der warme Mezzosopran von Karina Repova passte gut zur sympathischen Domina; in kleineren Rollen bewährten sich Jadwiga Postrożna mit charaktervollem Mezzo als Valtins Stiefmutter, Paul Sketris mit gepflegtem Bass als lutherischer Pfarrer und mit wie gewohnt sonorem Bass Johannes Stermann als hartherziger Bürgermeister Peter Guntz. Wie inzwischen in Magdeburg gewohnt, erfreute der beweglich geführte Chor in der Einstudierung von Martin Wagner durch ausgewogene Klangpracht. Das Publikum bedankte sich bei den Mitwirkenden mit starkem, lang anhaltendem Applaus. Gerhard Eckels

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Eugen Engel: „Grete Minde“/ Szene Theater Magdeburg/ Foto Andreas Lande

Ulrike Schröder: Eugen Engel – Spurensuche. Der Musiktheaterspielplan verläuft an den meisten Opernhäusern in ruhigem Fahrwasser: Gern verlässt man sich auf beliebte Werke aus einem gut erforschten Repertoire, deren künstlerische Qualität unumstritten ist. Und tatsächlich liegt ein besonderer Reiz darin, sich bekannten und guten Stücken immer wieder aus neuer Perspektive zu nähern. Die Kehrseite dieser Medaille besteht im Versiegen von Neugier und im Festhalten an überkommenen Gewissheiten. So gilt bei vielen: Wer es bis heute nicht ins Licht der Öffentlichkeit geschafft hat, der oder die ist einfach nicht gut genug. Diese Selbstzufriedenheit sollte häufiger gestört werden und dabei kann das Stolpern über neue oder bisher unbekannte Werke helfen. Und plötzlich tauchen neue interessante Fragen auf, z. B. nach den Gründen, die zum Vergessen geführt haben.

Ein solcher »musikalischer Stolperstein« ist die Oper »Grete Minde« von Eugen Engel. Bei den mittlerweile europaweit verlegten Stolpersteinen in Erinnerung an während der Nazizeit aus Deutschland vertriebene und ermordete Juden, Sinti und Roma, Behinderte und aus anderen Gründen Verfolgte besteht ein zentraler Aspekt darin, den Opfern ihre Geschichte und ihr Gesicht zurückzugeben. Deshalb steht auch am Beginn der Beschäftigung mit diesem musikalischen Stolperstein die Frage: Wer war Eugen Engel?

Eugen Engel wurde am 19. September 1875 in Widminnen (Ostpreußen, heute Wydminy in der Ermländisch-Masurischen Woiwodschaft Polens) als Sohn des jüdischen Kaufmanns und Grundbesitzers Samuel Engel (1830-1928) und seiner jüdischen Frau Berta, geb. Salinger (1835-1911) geboren. Er hatte 12 Geschwister (8 Schwestern und 4 Brüder), die zwischen 1857 und 1883 geboren wurden.

Widminnen war in dieser Zeit ein »Marktflecken und Kirchdorf« mit knapp 100 Wohngebäuden. Die gut 1000 Bewohnerinnen waren ganz überwiegend evangelisch, die Statistik zählte im Jahr 1872 »2 Katholiken, 4 sonstige Christen und 42 Juden«.

Eugen Engel: „Grete Minde“/ Szene Theater Magdeburg/ Foto Andreas Lande

Teile der großen Familie Engel zogen im August 1892 nach Berlin, hielten aber enge Verbindungen in die Heimat. Eugen Engel wurde wie sein Vater Kaufmann und handelte mit Damenmäntelstoffen bzw. Damenkonfektionsstoffen. Sein Geschäft ist zuerst 1906 im Berliner Adressbuch nachweisbar. Solcherart wirtschaftlich auf eigenen Füßen stehend, heiratete er am 18. Juni 1907 – mit fast 32 Jahren – im ostpreußischen Heilsberg die 1883 geborene Lea Jacoby, eine jüngere Schwester seiner Schwägerin Ella. Am 19. Juli 1910 wurde die Tochter Eva geboren und die Familie zog in die Charlottenstraße im heutigen Bezirk Mitte, wo Engel nun auch seine Geschäftsräume hatte.

Lea Engel starb im Alter von nur 46 Jahren am 22. Juli 1929 in der Berliner Charité. Sie wurde auf dem Jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee begraben. Für Eugen Engel war dies ein großer Verlust. Gegenüber dem Grabstein ließ er eine Bank aufstellen, auf der seine Tochter und er oft saßen. Der Grabstein trägt als Inschrift eine Gedichtzeile von Adelbert von Chamisso: »Nun hast du uns den ersten Schmerz getan, der aber traf«.

Obwohl Eugen Engel zeit seines Lebens als Kaufmann arbeitete, war seine Leidenschaft die Musik: als Zuhörer, Komponist und Musikerfreund. Mit seiner Tochter besuchte er Musikgeschäfte, um sich mit ihr dort Schallplattenaufnahmen anzuhören. Wann der junge Geschäftsmann begonnen hatte, sich der Musik zuzuwenden und zu komponieren, ist nicht bekannt. Auch wenn Engel 1938 in einem Brief von sich sagte: »Klavierspieler bin ich nicht«, muss er eine beeindruckende musikalische Persönlichkeit gewesen sein. Seine Nichte Erna, die selbst am Stern’schen Konservatorium in Berlin Klavier studiert hatte, erinnerte sich voller Ehrfurcht an ihn. Offensichtlich war er kompositorischer Autodidakt und hatte Anfang des Jahrhunderts privaten Unterricht genommen, u. a. bei Otto Ehlers, der als Dirigent und Korrepetitor beim Königlichen Ballett engagiert war. Um das Jahr 1905 sind Aufführungen kleinerer Orchesterwerke durch den Dirigenten Carl Zimmer und durch ein »Kaufmännisches Dilettantenorchester« belegt.

Nach 1914 scheint sich Engels kompositorische Tätigkeit ganz auf die Oper »Grete Minde« konzentriert zu haben. Wann und wie genau er mit dem Librettisten Hans Bodenstedt in Kontakt kam, ist ungewiss. Bodenstedt, 1887 in Magdeburg geboren, begann als Journalist im »Harzer Kurier« und war ab 1905 Redakteur verschiedener Zeitungen in Berlin, später München und Hamburg. 1914 verfasste er das »Grete Minde«-Libretto, 1923 entstand das Libretto für Leon Jessels Operette »Der keusche Benjamin«. Danach wendete sich Bodenstedt dem Rundfunk zu, schrieb jedoch unter Pseudonym weiter einige Libretti. Nach 1933 avancierte er zum Verlagspolitischen Direktor der NS-Verlage »Blut und Boden«, »Zucht und Sitte« und »Ährenlese«, ab 1948 fand er eine Anstellung beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk in Hamburg.

Eugen Engel: „Grete Minde“/ Szene Theater Magdeburg/ Foto Andreas Lande

Die Arbeit an seiner Oper beschäftigte Engel bis 1933, wobei er im Nachhinein bemerkte, wie sehr sich sein musikalischer Stil im Verlauf der Kompositionszeit geändert hatte. An den Dirigenten Bruno Walter schrieb er 1936: »Die ersten Szenen – ihre Komposition liegt etwas länger zurück – werden in manchem an mir nicht mehr ganz gedeckt [?], doch glaube ich, daß vieles andere, namentlich die Szenen am Sterbebett im 2. Akt u. der dritte Akt, textlich u. musikalisch ihre Wirkung nicht verfehlen dürften.« Dieser Brief dokumentiert die letzte Phase im musikalischen Leben von Eugen Engel: Mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten 1933 war an öffentliche Aufführungen des Juden Engel nicht mehr zu denken. Die letzten Jahre vor seiner Emigration in die Niederlande 1939 verbrachte er damit, seine guten Kontakte im Berliner Musikleben dafür zu nutzen, eine Aufführung von »Grete Minde« im Ausland zu erreichen. Neben dem Austausch mit Bruno Walter ist unter anderem Korrespondenz mit dem Dirigenten Leo Blech und dem Pianisten Edwin Fischer erhalten.

Eugen Engel liebte Berlin und war ein stolzer Deutscher. Er musste sich jedoch eingestehen, dass die „dynamische Kulturnation“, um die er sich so sehr bemüht hatte, nicht länger existierte. Seine Tochter Eva, zu der er eine enge Beziehung hatte, war bereits 1935 nach Amsterdam emigriert, wo sie ihren Freund aus Kindheitstagen, Max Herbert Löwenberger, heiratete. Am 21. Januar 1939 zog auch Engel nach Amsterdam. Er lebte bei Eva und ihrer Familie in demselben Mietshaus.

Stolperstein für Eugen Engel in der Berliner Charlottenstraße 75 in Mitte/ Foto Theater Magdeburg

Nach der Besetzung der Niederlande durch die deutsche Wehrmacht ließ sich Engel im Juli 1940 beim Amerikanischen Konsulat in Rotterdam registrieren und kam auf die Warteliste. Sicher ist, dass er versuchte nach Kuba zu emigrieren. Am 12. November 1941 bekam er die Nachricht aus der Kubanischen Botschaft in Berlin, dass er eine Einreiseerlaubnis bekommen hatte. Tragischer Weise scheiterten alle seine Bemühungen auszuwandern in letzter Minute, während Eva mit ihrer Familie im Februar 1941 die Ausreise in die USA gelungen war.

Im März 1943 wurde Engel ins Durchgangslager Westerbork de-portiert. Das letzte Lebenszeichen an seine Tochter Eva über das Rote Kreuz lautete: »Meine lieben Kinder, ich bin gesund und munter und denke ganz viel an Euch. Innige Grüße, Euer Vater Eugen Engel«. Am 23. März 1943 kam er in einem Massentransport zusammen mit 1.250 Gefangenen ins Vernichtungslager Sobibor, wo er drei Tage später, am 26. März 1943, im Alter von 67 Jahren ermordet wurde, höchstwahrscheinlich in der Gaskammer. Von seinen Geschwistern wurden fünf in Theresienstadt, eine Schwester in Treblinka und mindestens drei weitere im Rahmen der Shoah ermordet.

Das ist das furchtbare Ende einer Geschichte, schrecklich bekannt und immer wieder aufs Neue ungeheuerlich – und in diesem Falle auch ein Anfang: Eva Löwenberger, die ihren Namen in den USA in Löwen anglisierte, war es gelungen, einen Koffer mit Kompositionen ihres Vaters mit nach Amerika zu nehmen. Doch erst nach ihrem Tod 2006 fassten ihre Kinder Claude L. Löwen und Janice Ann

Eugen Engel: „Grete Minde“/ Szene Theater Magdeburg/ Foto Andreas Lande

Agee den Mut, sich diesem Koffer und den darin enthaltenen Erinnerungen zu nähern. Neben Dokumenten, Briefen und Manuskripten kleinerer Kompositionen fanden sie eine großformatige Partitur und einen Klavierauszug – die Noten der Oper »Grete Minde«. Dass diese Noten zurück nach Deutschland gelangten, hängt wiederum mit Stolpersteinen zusammen: Janice Agee initiierte die Verlegung zweier solcher Steine am letzten deutschen Wohnort ihres Großvaters und ihrer Mutter in der Berliner Charlottenstraße. Über die lokale Stolperstein-Initiative kam Magdeburgs Generalmusikdirektorin Anna Skryleva in Kontakt mit der Oper und konnte den Klavierauszug durchsehen: Sie war begeistert und überzeugte Generalintendantin Karen Stone von dem Werk. So kommt »Grete Minde« am 13. Februar 2022 endlich zu ihrer verdienten Uraufführung – fast 90 Jahre nach ihrer Fertigstellung und fast 80 Jahre nach dem Tod ihres Schöpfers.

Und auch die Stolpersteine liegen mittlerweile an ihrem Platz: Am 19. Oktober 2019 wurden sie in Anwesenheit der Familie an der Stelle verlegt, wo Engels – im Krieg zerstörtes – Wohnhaus in der Charlottenstraße 74/75 gestanden hat. Damit ist Engel in vertrauter Gesellschaft: An seine Schwester Therese Wronkow erinnert seit 2009 ein Stolperstein in Berlin-Wilmersdorf, an seinen Bruder Nathan Engel, der sich Walter nannte, seit 2014 einer in Lübeck.  Ulrike Schröder (Mit freundlicher Genehmigung des Theaters Magdeburg/Ulrike Schröder)

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Zur musikalischen Wirkung der Oper bei der Welturaufführung in Magdeburg bemerkt Anja Schmidt in der ZEIT ONLINE: (…) „die Musik (ist) von einer erstaunlichen Qualität“. Ungewöhnlich sei, dass Engel die von ihm verwendeten innermusikalischen Zitate zum Teil schriftlich als solche in der Partitur markiert habe –  „Meistersinger-Zitat“ etwa schreibe er einmal, mit einem Sternchen versehen, Mitte des ersten Aktes. Die Autorin hat in ihrer feinsinnigen Betrachtung für ZEIT ONLINE das Werk analysiert und sein Wesen mit allen Besonderheiten genau erfasst. Klanglich habe der Komponist offenbar eine sehr konkrete Vorstellung von dem gehabt, was er da notierte. Differenzierte Spielanweisungen („etwas majestätisch“) und Feinheiten wie etwa Vorgaben über die Härte der Schlägel in den Pauken „würden ein kluges Ohr und viel Aufführungs- und Orchestererfahrung verraten“. Schmidt glaubt sich beinahe an die Herangehensweise eines Dirigenten erinnert, „der sich weniger für die Komposition als für die Interpretation zuständig“ fühle. „So arbeitet auch Anna Skryleva Ende Januar mit ihrem Magdeburger Orchester besonders an den Nuancen im farbenreichen Sound der Grete Minde“, heißt es in dem Beitrag weiter. Engels Musik sei – das höre man deutlich – unter dem Eindruck der musikalisch und kulturell blühenden 1920er-Jahre in Berlin entstanden. Sie gebe sich harmonisch vielschichtig, erinnere „mit ihren teilweise vom Jazz inspirierten Melodien und Phrasierungen an die Leichtigkeit der Varietés oder mit Streicherschmelz und assoziativen Holzbläserklängen an die Ära des Stummfilms“. Dazwischen sättige Engel seinen zumeist konsonanten Klang mit viel Blech, lüfte den harmonischen Raum aber auch immer wieder mit solistischen Durchgängen und durchschimmernden kleinen Motiven in den filigraneren Stimmen.

Die Chefdirigentin am Theater Magdeburg, Anna Skryleva, orchestrierte die Oper „Grete Minde“ von Eugen Engel/ Foto Andreas Lande

Aus dem überaus informativen ZEIT ONLINE-Beitrag ist weiter zu erfahren, dass das Theater Magdeburg aus der Partitur, die der Dirigentin Anna Skryleva „sozusagen in die Hände gefallen war“, zusammen mit einem Notenschreibbüro die Orchesterstimmen erstellt habe. „Es wurde jede einzelne Stimme heraus- und abgeschrieben, und ich habe alles Korrektur gelesen“, wird Skryleva zitiert. Dafür habe sie anderthalb Jahre gebraucht. Bei vielen Stimmen (etwa bei der der Harfe) sei folgendes deutlich geworden: „Obwohl über Engels Ausbildung so gut wie nichts bekannt ist und er seinen Lebensunterhalt als einfacher Geschäftsmann verdiente (im Berliner Kaufhaus Hermann Tietz, dem Vorläufer von Hertie), notierte Engel in seiner Partitur nichts, was für die entsprechenden Instrumente ungünstig wäre oder gar nicht spielbar.“ Er habe sich mit Sicherheit professionellen Rat geholt, ist Anna Skryleva überzeugt. „Eine solche Oper am Klavier zu komponieren und zu orchestrieren – dafür müsste man schon Mozart sein.“

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.Eine Rezension der auch als DVD erschienenen Oper von Engel findet sich hier. Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge dieser Serie hier.