Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Gestalterisches Potenzial

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Die australische Sopranistin Emma Moore (am DMT Weimar engagiert) und ihre Klavierpartnerin Klara Hornig nennen ihre gemeinsame Produktion für das decurio-Label Volupté, was so viel wie Lust, Wollust und Wonne bedeutet. Man darf bei diesem außergewöhnlichen Lieder-Programm darüber diskutieren, ob der delikate Tonatz aus der Feder von Claude Debussy, Clemens Krauss und Viktor Ullmann diesem Etikett mehr entspricht oder eben die Sprachkunst von Charles Baudelaire, Rainer-Maria Rilke und Ricarda Huch.

Claude Debussy hat sich in seinen zwischen 1887 und 1889 komponierten Liedern von jenen rauschhaften Fantasien inspirieren lassen, welche Charles Baudelaire in seinen „Fleurs de Mal“ niederschrieb. Diesen Momentaufnahmen der Ausschweifung stellte Claude Debussy eine Musik zur Seite stellte, welche mit ihren dominierenden Wagner-Einflüssen bis hin zur vielfach dominierenden Tristan-Harmonik eine Sonderstellung in Debussys Werk einnimmt. Ebenso hatten es Emma Moore und Klara Hornig auf die Lieder von Clemens Krauss (1893-1954) abgesehen, welche bisher einen Exotenstatus im Repertoire beanspruchten. Aber gerade deswegen stand dieser heute eher unbekannte Zeitgenosse von Richard Strauss auf der Wunschliste des Duos, der sich hier der metaphernreichen Sehnsuchtspoesie der „Acht Gesänge“ nach Gedichten von Rainer Maria Rilke angenommem hat.

Viktor Ullmanns (1898-1944) Bekanntheitsgrad definiert sich vor allem durch seine Oper „Der Kaiser von Atlantis“ – und noch mehr durch seine Lebensschicksal: Von den Nazis ins KZ Theresienstadt deportiert, etablierte er in Gefangenschaft ein Konzertleben, das zum Symbol für die Kraft von Musik unter feindlichen Bedingungen wurde. Völlig unpolitische, hochromantische Liebeslyrik präsentiert sein fünfteiliger Zyklus nach Gedichten von Ricarda Huch, der Jahre vor Ullmanns Deportation entstand. Es geht vor allem um die vielen kleinen, zarten Zeichen, mit welchen die Realität verzaubert wird. Verglichen mit den aufbrausenden Debussy-Liedern am Anfang und den spätromantischen Ausschweifungen bei Clemens Krauss überwiegt in diesem dritten Programmpunkt dieser Aufnahme eine schlankere Diktion. Aber in jedem Fall entfaltet der Gesang von Emma Moore bei diesen drei Repertoire-Entdeckungen viel flexibles gestalterisches Potenzial. Das will etwas heißen bei der breiten Ausdruckspalette dieses Repertoires mit ihrem immensen Tonumfang in vielen Passagen. Wohlgemerkt: Emma Moores vielseitig herausgeforderte vokale Bravour lässt die gemeinsame Augenhöhe mit ihrer Klavierpartnerin Klara Hornig nie außer acht. Letztere macht ihrem Ruf als ausgemachte Spezialistin für Liedbegleitung Ehre, wenn sie mit ihrem weitsichtig vorausdenkenden Spiel immer dort ist, wo sie gebraucht wird – was wiederum Emma Moore das „Eintauchen“ erleichtert. (Emma Moore und Klara Hornig mit Liedern von Debussy, Ullmann, Krauss; decurio 2022). Stefan Pieper

Gino Marinuzzis „Palla de‘ Mozzi“

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Ein bemerkenswerter Fund ließ mich auf den Komponisten Gino Marinuzzi aufmerksam werden, den man ja eigentlich nur als Dirigenten vieler alter Rundfunkaufnahmen der Cetra-Vorgängerin EIAR kennt. Bei meinem ungemein verdienstvollen Sammlerfreund und Opernspezialisten Einhart Luther fand sich in seiner immensen Sammlung von Tondokumenten ein verheißungsvoller Audio-DAT-Clip von rund 10 Minuten, ein kurzer Mitschnitt aus der deutschen Erstaufführung von Marinuzzis Oper Palla de´ Mozzi am Deutschen Opernhaus Berlin vom 2. Juni 1940 unter Leitung eben des Komponisten. Es handelt sich – in bester Klangqualität – um einen Ausschnitt aus dem Prolog im Kloster, wo zwei Nonnen einen Soldaten (Signorello) pflegen. Niemand Geringere als Elisabeth Schwarzkopf ist hier neben dem bemerkenswerten Tenor Henk Noort und der Mezzosopranistin Bertha Sietzler sowie – ebenfalls erste Garde – Gotthelf Pistor als Titelheld zu hören (Szene Signorello-Nonnen A1; Finale 1, Finale 2 in deutscher Übersetzung). Ein wirklich „kostbares“ Dokument aus der Zeit der nicht nur kulturellen Kollaboration der Achsenmächte Italien-Deutschland. Ein Mehr an Musik fand sich nicht in Luthers Sammlung, und auch weitere Nachforschungen verliefen im Sande. In Italien selbst gab es in den Siebzigern eine Rundfunkaufnahme der gesamten Oper, die aber nie wieder aufgetaucht ist, wenngleich bei zwei Sammlern gebunkert, die sie nicht herausrücken wollen. Sehr frustrierend.

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Gino Marinuzzi und sein Kollege Franco Alfano/ ipernity.com

Umso begrüßenswerter und überraschender ist nun die Dynamic-Einspielung aus einer Aufführungs-Serie im mutigen Theater von Cagliari, das Kenner ja eh für seine interessanten Spielpläne schätzen (vd. Gomes et al bei Dynamic). 2020 gab es nun dort Palla de´Mozzi, unter Coronabedingungen leider nicht als optischen Stream. Aber der Musikfreund ist dankbar für den akustischen Mitschnitt, der nun als CD mit exzellentem Booklet vorliegt (aus dem wir nachstehend Auszüge des Artikels von zitieren, ebenso auch Anmerkungen des Dirigenten der Aufführung in Catania, Giuseppe Grazioli). Unter Grazioli am Pult des Orchesters und des Chores des Teatro Lirico di Cagliari singen EliaFabbian/ Palla, Leonardo Caimi/Signorello sowie Francesco Verna, Francesca Tiburzi (in der Schwarzkopf-Rolle der Anna Bianca), Cristian Saitta und viele mehr. Eine Besprechung unserer Freundin und Kollegin Eva Pleus macht den Anfang (Dank an den online-Merker!), dann folgen Auszüge aus dem Booklet zur Aufnahme bzw. aus dem Programmheft der Aufführung in Catania 2020 (2 CD Dynamic CDS7925.03 mit Libretto). G. H.

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Eva Pleus zur Aufführung: Gino Marinuzzi (1882-1945) war neben dem fast gleichaltrigen Antonio Guarnieri, dem um 15 Jahre älteren Arturo Toscanini und dem um 10 Jahre jüngeren Victor De Sabata einer der bedeutendsten italienischen Dirigenten. Mit letzterem teilte er den Anspruch auf die Komposition eigener Werke. Trotz einiger der Nachwelt auf seinerzeit erfolgreichen Einspielungen erhaltenen Kompositionen blieb Marinuzzi den Kennern aber in erster Linie als Dirigent im Gedächtnis, dessen umfangreiches Repertoire von Monteverdi bis zu seinen Zeitgenossen ging, und der sich als internationaler Künstler besonders um die Interpretation von Wagner und Strauss verdient gemacht hat. Letzterer bewunderte Marinuzzis dirigentische Fähigkeiten sehr und vertraute ihm auch die italienische Erstaufführung der „Frau ohne Schatten“ an.

Marinuzzi: „Palla de´Mozzi“ in Catania 2020/ Szene/ Foto Priamo Tulu

Das Komponieren blieb aber eine Leidenschaft des Dirigenten, die neben seinen symphonischen Arbeiten auch drei Opern entstehen ließen. Nach „Barberina“ (1903) und „Jacquerie“ (1918) entstand in zehnjähriger Arbeit „Palla de‘ Mozzi“, 1932 an der Scala unter dem Autor in glanzvoller Besetzung uraufgeführt. Es folgten Palermo, Genua, Rom, Neapel, Turin, Triest, Bologna und 1942 nochmals Rom in einer leicht überarbeiteten Fassung. Auffallend ist, dass es trotz des behaupteten Erfolgs überall nicht mehr als 3-4 Aufführungen gab. Im Ausland wurde die Oper nur in Buenos Aires und Berlin nachgespielt, wobei es in Berlin 1940 den absolut größten Widerhall seitens Kritik und Publikum mit 12 (!) Vorstellungen gab.

Worum geht es in dieser Oper, deren Textbuch von Giovacchino Forzano stammt, der bekanntlich der Librettist von Puccinis „Suor Angelica“ und „Gianni Schicchi“ war, aber u.a. auch für Mascagni arbeitete? Mittelalterliche Sujets wie etwa Zandonais „Francesca da Rimini“ waren en vogue, und so erfand Forzano einen Söldnerführer, der unter dem Condottiere Giovanni de‘ Medici gedient hatte.

Marinuzzi: „Palla de´Mozzi“/ Bühnenbild-Entwurf von Antonio Valente zur Uraufführung/ Ricordi Archivio Storico

Zum Inhalt: Der aus einem Nebenzweig der Medici stammende Giovanni war der Begründer der sogenannten Bande nereeiner von ihm zusammengestellten und um Landsknechte bereicherten Truppe, die sich je nach Bezahlung für die Republik Siena, den Papst und andere Auftraggeber schlug. Die Handlung beginnt nach Giovannis Tod, als der – erfundene – Palla mit seinen Söldnern die Festung Montelabro seit bereits 40 Tagen erfolglos belagert. Er begehrt am Ostersamstag vom Bischof, dass seine Fahnen geweiht werden, denn seit der Exkommunikation durch den Papst sei ihm das Kriegsglück nicht mehr hold gewesen. Nach der Weigerung des Bischofs segnet er die Fahnen selbst. Pallas Sohn Signorello ist aus anderem Holz geschnitzt und leidet unter der Brutalität des Soldatenlebens. Das ist der Inhalt des 1. Akts. Im 2. hat Palla Montelabro tatsächlich eingenommen, reitet nach Siena, um Bericht zu erstatten, und vertraut seinem Sohn die Bewachung des gefangenen Schlossherrn an. Dessen Tochter Anna Bianca gelingt es, vier von Pallas Hauptleuten zu bestechen, damit der Vater fliehen kann. Sie wäre deren Beute gewesen und bittet sich aus, Signorello verführen zu dürfen, damit dieser nichts von der Flucht mitbekommt. Signorello hat aber alles gehört, widersteht den Verführungskünsten der jungen Frau, lässt aber die Flucht ihres Vaters zu, wohl wissend, dass auf diesen Verrat die Todesstrafe steht. Angesichts der Opferbereitschaft der beiden gegenüber den jeweiligen Vätern erkennen sie ihre Seelenverwandtschaft, die zur gegenseitigen Liebe führt. Im 3. Akt kehrt Palla zurück und erfährt mit Grauen, dass sein Sohn ein Verräter ist. Nach einem öffentlichen Urteil soll dieser hingerichtet werden, aber Anna Bianca beschwört den Augenblick der Vergebung und Auferstehung, da inzwischen Ostersonntag ist. Sie vermag auch die Soldateska zu überzeugen, aber Palla, der inzwischen auch vom Verrat seiner Hauptleute erfahren hat, kann nicht ohne Ehre leben und tötet sich. Signorello übernimmt sein Schwert, das er aber im Kampf für ein zu vereinigendes Italien einsetzen wird.

Marinuzzi: „Palla de´Mozzi“ in Catania 2020/ Szene/ Foto Priamo Tulu

Die Musik: Marinuzzis Musik ist voller raffinierter Farben und verlangt ein umfangreiches Orchester. Es kommt immer wieder zu umfangreichen rein orchestralen Stellen, die sehr viel Atmosphäre verströmen. Die Behandlung der Gesangslinie ist in erster Linie deklamatorisch mit manchen schwierig zu singenden Höhenexplosionen, die an einen Verismo erinnern, den Marinuzzi eigentlich überwinden wollte, was in der an Ravel und Debussy, aber auch vor allem Richard Strauss erinnernden Orchesterhandlung deutlich wird. Fanfaren und Marschmusik beherrschen die militärischen Moment, während man sich für die lyrischen Momente, vor allem im großen Duett Signorello-Anna Bianca des 2. Akts eine dramaturgisch straffere Hand wünschen würde.

Die Aufführung: Giuseppe Grazioli, der merklich an Marinuzzi glaubt (er hat auch dessen Sinfonia in la und Suite siciliana eingespielt), leitete das Orchestra del Teatro Lirico mit sicherer Hand durch das komplizierte klangliche Gewebe und war bei aller (oft nötigen) Lautstärke den Sängern ein sorgsamer Begleiter, der sie nie zudeckte. In der Titelrolle war der kraftvolle Bariton des Elia Fabbian zu hören, der Pallas herrischem Auftreten den nötigen Nachdruck verlieh, aber auch als durch den Verrat des Sohns gebrochener Vater beeindruckte. Signorello war Leonardo Caimi anvertraut, der dem Typ des vom brutalen Soldatenleben abgestoßenen Jünglings bestens entsprach. Einer angenehm timbrierten Mittellage seines Tenors stand ein forciertes Höhenregister gegenüber, das Caimi aber unter Kontrolle hatte. Mit der Interpretation der Anna Bianca erwies sich Francesca Tiburzi  als die gesanglich beste der drei Protagonisten. Sie kam in ihrem großen Ausbruch im 3. Akt mit glanzvollem Sopran mühelos über das Orchester. Szenisch litt sie unter der Regie, doch davon später. Als Herr von Montelabro beeindruckte Francesco Verna in einer relativ kurzen, aber für einen Bariton unangenehm hoch liegenden Rolle. Die vier verräterischen Hauptleute wurden von Andrea Galli (Il Mancino, Tenor), Murat Can Güvem (Giomo, Tenor), Matteo Loi (Spadaccia, Bariton) und Luca Dall’Amico (Niccolò, Basso) bestens interpretiert. Cristian Saitta (Bass) donnerte den Bischof, Giuseppe Raimondo (Tenor) gab den getreuen Straccaguerra, Alessandro Busi (Bass) den Anführer der Landsknechte, der für Signorellos Hinrichtung stimmt, und schließlich Elena Schirru (Sopran) und Lara Rotili (Mezzo) als zwei verängstigte Nonnen. Der Chor des Hauses unter der Leitung von Donato Sivo sang kraftvoll und ausgewogen (wobei die Herren mehr gefordert waren als die Damen).

Marinuzzi: „Palla de´Mozzi“ in Rom 1932/ Szene/ Foto Reale/Opera di Roma Archivio

Doch nun zur bitteren Pille, der Produktion. Giorgio Barberio Corsetti und Pierrick Sorin setzten auf den Einsatz filmischer Mittel. An sich keine Neuheit, wird doch ein Gutteil heutiger Operninszenierungen um mehr oder weniger um Videoeinspielungen „bereichert“. Hier ging man allerdings ins Extrem: Am Bühnenrand stand jeweils das Modell eines Bühnenbilds, das von einer in der Rampenmitte postierten Kamera zusammen mit den Sängern gefilmt und auf eine Leinwand projiziert wurde. Das mochte manch farblich erfreuliche, an Renaissancemalereien gemahnende Wirkungen ergeben, aber zu welchem Preis? Dieser war hoch, denn um die erwähnten Farbeffekte zu erzielen, musste sich in der Bühnentiefe eine hellblaue Wand befinden und sonst – genau nichts. Vermochten die historisch treuen Kostüme von Francesco Esposito zu gefallen, so war es doch befremdlich, dass sich sämtliche Nonnen in roten Gewändern zeigten, was vermutlich wieder auf Notwendigkeiten der Kamera zurückzuführen ist. Angesichts all dieser Technik gab es praktisch keine Personenführung, im Gegenteil war zum Beispiel die Szene, in der die vier Hauptleute Anna Bianca als ihre Beute belästigen, nur peinlich und hätte laut Libretto sogar komisch sein sollen. (Die Stelle ließ allerdings auch musikalisch mit Wehmut an das Schmugglerquintett im 2. Akt „Carmen“ denken). Der Soldatenchor schüttelte im Gleichklang die Fäuste – hier und an zahlreichen anderen Stellen wurde leider Stadttheaterniveau unterboten. Das Schlimmste war aber, dass ein Mime hinzugezogen worden war: Julien Lambert wird im Programmheft als „Schauspieler und Akrobat“ ausgewiesen. Wuselte er im 1. Akt noch als irgendwie akzeptabler Mönch herum, so störte er als grotesker „Raubritter“ den 2. entschieden, ganz zu schweigen vom 3., wo er einen lustigen (?) Scharfrichter mimte. Seine peinlichen Auftritte waren häufig während längerer symphonischer Passagen vorgesehen, was bestätigt, dass sich die Regisseure ein auch ohne „action“ aufmerksam lauschendes Publikum gar nicht mehr vorstellen können. Ein Armutszeugnis!

Dank der interessanten Vorschläge von Raritäten, die das Teatro Lirico bei jeder Saisoneröffnung bringt, und der guten bis ausgezeichneten musikalischen Umsetzung jedenfalls eine positive Erfahrung, die vom Publikum eher phlegmatisch aufgenommen wurde.   (7. 1. 20/ Aufführung am 31.1.20 (Premiere und Saisoneröffnung) Eva Pleus (mit Dank an den online-Merker, wo dieser Artikel 2020 erschien.)

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Dazu auch der Dirigent der Aufführung in Catania, Giuseppe Grazioli: Marinuzzi, ein Mitteleuropäer aus Sizilien. Die erste Fassung von Palla de‘ Mozzi stammt aus dem Jahre 1932; die zweite und letzte, die von der Oper von Cagliari zur Eröffnung der Spielzeit aufgeführt wurde, entstand zehn Jahre später. Man kann nicht sagen, dass der renommierte Komponist und Dirigent Gino Marinuzzi im musikalischen Panorama des frühen 20. Jahrhunderts keine Vorbilder zur Verfügung hatte, auf die er sich beziehen konnte.

Giuseppe Grazioli: Der erste Name, der einem beim Hören dieser Musik in den Sinn kommt, ist ohne Zweifel der von Richard Strauss, der Marinuzzi nicht zufällig zutiefst schätzte: Er vertraute ihm beispielsweise die italienische Erstaufführung von Die Frau ohne Schatten an, zu seiner großen Zufriedenheit. Marinuzzis Stil neigt dazu, viele Linien und Themen überlappen zu lassen, während er die absolute Kontrolle über die Harmonie behält. Das ist ein eindeutig Strauss-ähnlicher Zug.

Tatsächlich lässt sich Marinuzzis Musik in gewisser Hinsicht nicht unmittelbar mit dem italienischen Kompositionsstil in Verbindung bringen. Seine Komponierweise ist äußerst detailliert, manchmal sind die Streicher in vierundzwanzig, sogar sechsunddreißig Abschnitte unterteilt. Die Wahl der Instrumente zeugt von großem Einfallsreichtum, dem Wunsch, bei Bedarf ungewöhnliche Klänge erzeugen zu können. Das alles würden wir zum Beispiel von einem Ravel erwarten, nicht von einem italienischen Komponisten. (…)

Marinuzzi: „Palla de´Mozzi“ in Rom 1932/ Szene/ Foto Reale/Opera di Roma Archivio

Zu oft neigen wir dazu, das italienische Schaffen der 1930er Jahre als Dekadenz, ja als Erschöpfung des von großen Komponisten wie Puccini oder Giordano vermittelten Impulses zu interpretieren. Im Gegenteil, das war genau derjenige, sehr konstruktive Moment, als sich einige Musiker umzuschauen begannen und in Europa den Wandel entdeckten, den die verschiedenen Komponisten wie Ravel, Strawinsky, Bartók gebracht hatten. Und sie tauchten in die Neuheit ein. (…)

Diese intellektuelle Neugier, die Marinuzzi sicherlich auch aus seiner Erfahrung auf höchstem Niveau auf dem Podium gewonnen hat, fasziniert mich besonders. In Palla de‘ Mozzi sehen wir den sehr deutlichen, meist gelungenen Versuch, neue Wege zu gehen, besonders was die Harmonik betrifft. (…)
In Marinuzzi ist die Interaktion zwischen Instrumenten und Stimmen kontinuierlich und virtuos. Die Farben des Orchesters werden verwendet, um die wiederkehrenden Themen der Geschichte zu betonen, aber oft auch, um den Gedanken der Figuren eine Form zu geben. (…)
Was Marinuzzi entwickelt hat, ist in der Tat ein viel ausgefeilteres Ausdrucksschema, bei dem die thematische Entwicklung auf drei oder vier Ebenen gleichzeitig durchgeführt wird, um die Handlung und den Gesang der verschiedenen Charaktere auf der Bühne auf kraftvolle Weise zu begleiten. Unter diesen Umständen eine beständige Harmonie aufrechtzuerhalten, ist äußerst schwierig; aber er war ein großartiger Musiker und kam großartig zurecht. (…)

Marinuzzi: „Palla de´Mozzi“/ Einband zur Partitur bei Ricordi zu dem Libretto von Giovacchino Forzano/ Wikipedia

Seine Werke zeichnen sich, wie gesagt, sicherlich durch eine sehr raffinierte Orchestrierung aus. Aber es gibt noch mehr. Marinuzzi versorgt die Interpreten – Instrumentalisten und Sänger – mit einer Reihe von sehr genauen dynamischen und ausdrucksstarken Angaben, fast Untertiteln, die dazu bestimmt sind, präzise musikalische und theatralische Effekte zu erzielen. All das scheint tatsächlich Teil einer aufwendigen Reise zu sein, die ihn als Dirigenten, also nicht nur als Autor, sondern auch als Interpret, einbezieht. (…)
Palla de‘ Mozzi hat an die Interpreten ausgesprochen bemerkenswerte stimmliche Anforderungen. Sie brauchen eine außergewöhnliche Lautstärke, um Ihre Stimme über den vom Orchester gewebten Klangteppich hinauszutreiben, über die dicken Instrumentalmischungen, die uns wieder einmal an Strauss denken lassen. (…)

Interessant ist, wenn man von Melodie spricht, das ausgeklügelte Zusammenspiel von Abhängigkeiten, das zwischen Stimmen und Instrumenten stattfindet. Wenn aus dem Graben ein wichtiges orchestrales Cantabile erklingt, bleiben die Sänger scheinbar unbeachtet im Hintergrund. Im Gegensatz dazu hält sich das Orchester, wenn die Stimmen im Vordergrund stehen, an einfache, fast elementare Figurationen. Wir sprechen natürlich von einem theatralischen Mechanismus, der sehr kenntnisreich behandelt wird. (…)

Aber auch der Gesangssatz erfuhr im Laufe der Jahre einige Veränderungen, die sicherlich mit den Interpreten zusammenhingen, die dem Autor bei verschiedenen Gelegenheiten zur Verfügung standen. Marinuzzi änderte an manchen Stellen sogar die Takteinteilung, als wollte der Dirigent den Komponisten sozusagen korrigieren. (…)
Marinuzzi verachtete keineswegs die Werke von Puccini, mit dem er eine erfolgreiche berufliche Beziehung hatte. Die Tonschöpfer, die seine Neugier weckten, waren jedoch andere. Zum Beispiel Enescu oder Martinů, die damals als rückständig, weil nicht avantgardistisch galten und deren Modernität erst nach ihrem Tod erkannt werden sollte. Und dann Strawinsky, dessen Lehre sich in der großen Sorgfalt zeigt, die dem rhythmischen Element gewidmet wird. (…)
Wir sollten erwähnen, dass Palla de‘ Mozzi zu seiner Zeit großen, sogar unerwarteten Erfolg hatte. Es wurde viele Male und an wichtigen Orten aufgeführt. Marinuzzi hatte das Verdienst, sich selbst in der Angst vor Neuerungen das Ziel zu setzen, seine Sprache zugänglich zu machen und dem Publikum absoluten Respekt zu erweisen. Was für jene Jahre nicht so selbstverständlich war. (Auszüge aus dem Gespräch des Dirigenten mit Stefano Valanzuolo in der Beilage zur CD bzw. aus dem Programmheft der Aufführung in Catania 2019, mit freundlicher Genehmigung des Teatro Lirico di Cagliari; Übersetzung der englischen Version von Daniela Pilarz durch Daniel Hauser/ Abbildung oben: Edward Burne-Jones: Love amomg the ruins/ Wikipedia)

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Birgit Nordin

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Birgit Nordin  (* 22. Februar 1934 in Sangis; † 7. April 2022) studierte nach der Schule in Haparanda von 1956 bis 1958 an der Königlichen Musikhochschule Stockholm bei Britta von Vegesack, später bei Lina Pagliughi in Italien. Von 1958 bis 1986 war sie an der Königlichen Oper in Stockholm engagiert. 1973 wurde sie zur schwedischen Hofsängerin ernannt. Einem breiteren Publikum wurde sie 1975 in Ingmar Bergmans Verfilmung der Zauberflöte als „Königin der Nacht“ bekannt. Sie war mit dem Bassbariton Jerker Arvidson (1939–2007) verheiratet

Birgit Nordin wurde in Sangis in Norrbotten geboren und kam nach Stockholm, als sie als Studentin an der Royal Academy of Music aufgenommen wurde. Nach Abschluss ihres Studiums engagierte sie sich direkt an der Royal Opera, wo sie ein treues Mitglied des festen Ensembles wurde.

Sie debütierte als Oscar in Verdis Maskenball unter der Regie von Göran Gentele. International bekannt wurde sie 1974 als Königin der Nacht in Ingmar Bergmans Verfilmung von Mozarts Oper „Die Zauberflöte“. Weitere bemerkenswerte Rollen waren Adina in „Der Liebestrank“, Jenny in „Die Stadt des Mahoganys Untergang“ und als Auru in Per Nörgårds Oper „Gilgamesch“.

Sie trat in mehreren Fernsehproduktionen auf, darunter in Alban Bergs Oper Lulu. Nordin war auch ein gefragter Solist in mehreren der renommiertesten Opern- und Konzertsäle Europas.

»Birgit Nordin war eine sehr beliebte und geschätzte Kollegin und Vorbild für uns neu eingestellte Solisten. Ihr technisch brillanter Koloratursopran und ihr Bühnenengagement machten Birgit zu einer starken Bühnenpersönlichkeit«, sagt Birgitta Svendén, CEO der Royal Opera.

 

An Dokumenten gibt es eine Aufnahme mit Geistlichen Werken von Monteverdi bei DGA, das Album Orphei Drängar bei Caprice, Musik von Lars Erik Larsson bei BIS, The Jewish Song – Moses Pergament dto.sowie das Video der Zauberflöte.  (Foto Birgit Nordin 1974 bei der Premiere als Königin der Nacht in Ingmar Bergmanns Film/ Discogs)

Noch ein Tenor-Recital

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Vier Monate nach der Aufnahme mit Benjamin Bernheim verpflichtete Warner den aus dem polynesischen Inselstaat Samoa  stammenden Tenor Pene Pati für ein Recital in Bordeaux, womit sich ein neuer Name in der internationalen Tenor-Elite etablieren soll (01902963348631). Sein Stil ähnelt dem von Bernheim, ist spezialisiert vor allem auf den Belcanto und das französische Repertoire. Den Sänger begleitet das Orchestre National Bordeaux Aquitaine  unter Leitung von Emmanuel Villaume – eine gute Voraussetzung für die französischen Werke.

Mit der dreiteiligen Szene des Duca aus Verdis Rigoletto beginnt die Auswahl. Das ist kein günstiger Einstieg, denn schon dem Rezitativ „Ella mi fu rapita“ fehlt es an viriler Energie und auftrumpfender Autorität. Die Arie „Parmi veder le lagrime“ mit weinerlichem Klang zeigt dann auch, dass Pati kein Ausnahmetimbre besitzt und damit nicht die Voraussetzung für eine Welt-Stimme. Die Cabaletta „Possente amor!“, bei welcher der Choeur de l’Opéra National de Bordeaux zum Einsatz kommt (wie auch später bei Rossini und Donizetti), wirkt bemüht und leidet an einem gekrähten hohen Schlusston. Der Sänger lässt noch die populäre Arie aus dem letzten Akt, „La donna è mobile“ folgen, ohne damit den Eindruck verbessern zu können. Später gibt es noch eine weitere Verdi-Arie, die des Arrigo, „La pia materna mano“, aus dem Frühwerk La battaglia di Legnano. Sie gelingt besser, erklingt in wehmütiger Melancholie und großzügiger Phrasierung.

Von einem weiteren Großmeister der italienischen Oper, Gaetano Donizetti, finden sich Ausschnitte aus zwei Kompositionen. Nemorinos Arie „Una furtiva lagrima“ aus L’Elisir d’amore ist ein Hit, den alle berühmten Vertreter der Stimmgattung interpretiert haben. Entsprechend hoch liegt die Messlatte. Für Pati ist sie derzeit noch unerreichbar, auch wenn er sich um dolcezza und träumerischen Ausdruck bemüht. Aus Roberto Devereux gibt es eine dreiteilige Szene des Titelhelden, beginnend mit dem Rezitativ „Ed ancor la tremenda porta“, dem die Arie „Come uno spirto angelico“ folgt. Sehr atmosphärisch leitet das Orchester die Szene ein und Pati nimmt diese Stimmung im eindrücklich gestalteten Rezitativ auf, überzeugt auch in der Arie mit schmerzlicher Tongebung. Die Cabaletta „Bagnato il sen di lagrime“ gelingt gleichfalls mit exakter Ausführung der kleinen Noten und einem souveränen hohen Schlusston. Insgesamt zählt dieser Block zu den gelungenen Titeln der Auswahl.

15 der 25 Titel der Anthologie widmen sich dem Universum der französischen Oper. Da ist vor allem Rossini zu nennen mit seinen für Paris komponierten Werken, von denen der Guillaume Tell einen  Gipfel darstellt. Das große Solo des Arnold mit dem Rezitativ „Ne m’abandonne point“ und der Arie „Asile héréditaire“ wird gekrönt von der bravourösen Cabaletta „Amis, amis“, die dem Interpreten eine ganze Serie von hohen C’s abverlangt. Patis Tenor mit seinem buffonesken Beiklang lässt hier grandeur vermissen, wirkt in einigen Passagen in der exponierten Lage sogar gequält. Effektvoll allerdings ist das unwirklich lang gehaltene hohe C am Schluss. Aus Moïse et Pharaon ist sogar ein Duett zu hören, wo sich zu Patis Aménophis der Bassbariton Mirco Palazzi als Pharaon gesellt. Der Tenor trumpft mit seinen Spitzentönen auf, aber dass dieser Titel dennoch wenig Wirkung macht, liegt vor allen am dumpfen Klang des Partners.

Der zweite Gigant ist Giacomo Meyerbeer, aus dessen Grand opéra Les Huguenots eine Szene des Raoul („Ah! quel spectacle enchanteur/Plus blanche que la blanche hermine“) mit verträumtem Klang erklingt, im hoch notierten Schlussteil allerdings forciert wirkt. Die Meyerbeer-Auswahl wird ergänzt durch die Arie des Danilowitz, „Quel trouble affreux“, aus der opéra comique L’Étoile du Nord, in der dem Interpreten eine schöne Steigerung vom verhaltenen Beginn bis zum träumerischen Schluss gelingt.

Bereichert wird das Programm durch einige romantische Werke von Charles Gounod, Jules Massenet und Benjamin Godard. Für jeden lyrischen Tenor mit Affinität zum französischen Idiom ist die Arie des männlichen Titelhelden aus Roméo et Juliette, „Ah! lève-toi, soleil!“, gleichermaßen Prüfstein wie Kultstück. Sie folgt hier dem Verdi/Rigoletto-Block und lässt ein ungleich günstigeres Bild erstehen. Die Stimme fühlt sich in diesem Repertoire deutlich wohler, klingt weich und schwärmerisch. Weniger bekannt ist die zweite Oper Gounods, Polyeucte, aus der Pati die Arie des Titelhelden, „Source délicieuse“, singt. Deren introvertierten, schmerzlichen Ausdruck trifft er gut, denn die Stimme klingt hier umflort und verschattet. Eine Trumpfkarte für lyrische Tenöre ist die Traumerzählung des Des Grieux („Instant charmant/En fermant les yeux“) aus Massenets Manon. Es war Patis erste französische Partie und sie liegt ihm wie der Roméo optimal. Mit einer Rarität, der Arie des Jocelyn („Cachés dans cet asile/Oh! Ne t’éveille pas encore“) aus der gleichnamigen Oper von Godard, endet die Auswahl. Da hört man noch einmal zärtlich-weiche, in der Höhe schwebende Töne, welche Pene Patis Trümpfe sind und auf die er sich beim Aufbau seiner Karriere konzentrieren sollte. Bernd Hoppe

Musik und Vergangenheit in Wien um 1900

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Schwierige, aber gewinnbringende Kost: Liegt es an einer Ahnung vom baldigen Untergang des Vielvölkerstaats Habsburgerreich und seiner Monarchie, dass um das Jahr 1900 herum ein heftiger Kampf um die Einschätzung der kulturellen Vergangenheit und deren Bedeutung für Gegenwart und Zukunft stattfand? Michael Meyer hat unter dem Titel Moderne als Geschichtsvergewisserung- Musik und Vergangenheit in Wien um 1900 verfasst, dass sich hoch anspruchsvoll und tief wissenschaftlich mit umfangreichem kritischem Apparat des Themas annimmt und dazu längst vergessene, aber auch noch heute beliebte Kunstwerke einer intensiven und ausführlichen Betrachtung unterzieht. Das hat natürlich auch zur Folge, dass an den Leser einige Ansprüche gestellt werden, und der nicht Fachkundige sollte zuerst die Anmerkungen unberücksichtigt lassen, wenn er den Faden nicht verlieren will.

Die Einleitung beruft sich auf Robert Musil und die Meinungen seiner Romanhelden über Kultur als gleichzeitigen Reichtum und gleichzeitige Last, auf das zur damaligen Zeit herrschende Gefühl von Kultur, an der Wien so überreich war und ist, zugleich von Reichtum und Last, an die Furcht vor Identitätsverlust angesichts vieler Neuerungen, nicht zuletzt in der Stadtarchitektur. Eindrucksvoll wird das Schwanken zwischen dem Bemühen um Geschichtsvergewisserung und Traditionsbruch geschildert, ein Überblick über bisher zum Thema erschienene Literatur gegeben.

Im Kapitel über sein Vorgehen berichtet der Verfasser zunächst nachvollziehbar über die von ihm verschmähten Methoden, bekennt sich zur Freude des Lesers zur klassisch historisch-hermeneutischen Betrachtungsweise, die er in den drei folgenden Kapiteln Urbanität und Fortschritt, Geschichte und Erneuerung und Distanz und Auflösung anwendet.

Im Mittelpunkt seiner Betrachtungen steht nicht nur die Musik, sondern auch die Gebäude, in denen sie erklingt, werden berücksichtigt, also das Konzertgebäude des Musikvereins  und das Konzerthaus. Außerdem finden die großen Ausstellungen und Gedenktage die ihnen gebührende Beachtung, so die Jubiläumsfeiern für Schubert (1897) und Haydn (1909) und die große Internationale Ausstellung für Musik- und Theaterwesen. In den Gebäuden, das eine im „griechischen Renaissance-Stil“, das andere im Empire-Stil errichtet, sah man durchaus „klassische Musik fürs Auge“.  Arbeitersinfoniekonzerte werden als Versuch einer neuen Klasse gesehen, neben Adel und Bourgeoisie Teilhabe an der Kultur zu gewinnen, Der Rosenkavalier entpuppt sich  gleichzeitig als Verklärung und als Quelle der Erneuerung und zugleich als Ironisierung. Die zweite, die Wiener Fassung der Ariadne auf Naxos, greift ebenfalls indirekt in die Auseinandersetzung um die Rolle der Kultur mit ein.

Für den willigen, aber nicht bereits auf das Thema spezialisierten Leser ist es nützlich, die vielen Hinweise auf bereits erschienene Sekundärliteratur außer Acht zu lassen und dem enger auf das Sujet bezogenen Roten Faden durch das Buch zu verfolgen, allerdings nicht ohne die aufschlussreichen Abschnitte über  die Deuter des Geschehens aus der Zeit selbst wie Eduard Hanslick, Robert Hirschfeld oder Guido Adler zu vernachlässigen. In diesem Zusammenhang ist es auch sehr interessant zu erfahren, dass die deutschen Arbeiterführer Lassalle und Karl (!) Liebknecht eine idealistische Kunstauffassung vertraten.  

Schon beinahe belustigend sind die erbitterten Kämpfe um die Deutungshoheit über den Wiener Walzer als Identitätsstifter und Zankapfel zugleich, das Phänomen, dass dieser zum Beispiel im zur Zeit Maria Theresias spielenden Rosenkavalier eine bedeutende Rolle spielt, obwohl er damals noch gar nicht existierte. Der Verfasser betrachtet auch die Rezeptionsgeschichte des Ballett-Divertissements „Wiener Walzer“, das als „Produkt des Aufblühens der modernen Geschichtskultur“ angesehen wurde, während mit der Haydn-Ehrung die Erinnerung an die Schlacht bei Aspern verbunden wurde, den ersten Sieg Österreichs über Napoleon.    

Hochinteressant ist die Zweiteilung der Meinungen über die Stellung der sogenannten „Wiener Moderne“, die einerseits als ein Wiederaufgreifen musikalischer Gesetze aus der Renaissancemusik gesehen wird, sich über ein Urteil wie das von Hanslick hinwegsetzend, für den Musik erst mit Händel und Bach interessant zu werden schien. Das ist nach Meyer jedoch nicht der einzige Grabenkampf nicht nur in der Wiener Gesellschaft, sondern genauso gespalten ist man auch in der Einschätzung der Wissenschaft und ihrer Erkenntnisse, die von den einen als purer Fortschritt, von den anderen als Verlust an Poesie oder gar Profanierung des Heiligen angesehen wird. In diesem Zusammenhang wird dann auch die Legitimierung der „Moderne“ in dem „Rückbezug auf ältere Musik“ gesehen. Mit unendlich vielen Beispielen weiß Meyer seine Thesen zu untermauern, den Leser bereichernd, aber manchmal auch überfordernd, der schmunzelnd feststellt, dass auch damals schon Der Merker ein Wörtchen bei der Auseinandersetzung um klassische Musik mitzureden hatte.

Im Mittelpunkt des Kapitels III steht dann die Operette Alt-Wien, die gleichermaßen Nostalgie und Spott auslöste, und der Leser erfährt schmunzelnd von der alten Fürstin Metternich, die im Walzer die machtvolle Waffe gegen die sich ausbreitende Tangoseligkeit sah.

Stefan Zweigs Zehn Wege zum Deutschen Ruhm und andere Beispiele zeigen, mit wie viel Esprit und feinem Florett diese Kämpfe ausgefochten wurden, nicht nur literarisch, sondern auch musikalisch mit einer Verhohnepiepelung der Kaiserhymne, was mit vielen Notenbeispielen nachgewiesen wird. Als Leser weiß man nicht, ob man die Österreicher dafür beneiden oder bemitleiden soll, dass sie kurz vor dem Zusammenbruch all der Kaiser-Vielvölker-Kultur-Herrlichkeit mit so großem Engagement den Kampf um die Deutungshoheit über den musikalischen Geschmack führen konnten, aber eigentlich ging es ja um wesentlich mehr, wie das Buch auch eindrucksvoll zu vermitteln weiß.   Ein umfangreicher Anhang beinhaltet Primär- und Sekundärquellen, Danksagung und Personenregister (245 Seiten, Bärenreiter Verlag 2021). Ingrid Wanja

Ah Paris!

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Benjamin Bernheims Debütalbum von 2019 lässt die Deutsche Grammophon nun eine neue CD mit dem Tenor folgen, die im April des vergangenen Jahres in Bologna aufgenommen wurde (4861964). Sie ist von besonderem Interesse, denn mit ihrem Motto Boulevard des Italiens widmet sie sich jenen Werken, welche populäre italienische Komponisten für berühmte Opernhäuser in Paris – die Grand Opéra, die Opéra-Comique, das Théâtre des Italiens, das Théâtre de la Renaissance – geschrieben haben. Dass der Palazzetto Bru Zane bei diesem Projekt mitwirkte, unterstreicht die stilistische Kompetenz der Veröffentlichung. Dafür verwundert die Verpflichtung des Orchestra del Teatro Comunale di Bologna, denn ein französischer Klangkörper hätte das Klangbild mit Sicherheit noch idiomatischer werden lassen. Aber immerhin steht mit Frédéric Chaslin wenigstens ein Franzose am Pult des Orchesters. Wichtigstes Argument für die Bedeutsamkeit der Platte ist natürlich, dass der Gesangssolist selbst Franzose ist. Zweifellos besitzt Bernheim eine der schönsten Tenorstimmen unserer Zeit und ist zudem stilistisch im lyrischen französischen Repertoire derzeit konkurrenzlos. Davon zeugt auch die neue Platte, welche mit Pinkertons Arie „Adieu, séjour fleuri“ aus Madame Butterfly beginnt. Die von Paul Ferrier übersetzte und von Puccini überwachte Fassung kam am 28. Dezember 1906 zur Premiere. Für Bernheim ist es ein effektvoller Einstieg mit emphatischer Stimmgebung. Mit Tosca steht auch ein Werk dieses Komponisten am Schluss der Auswahl. Wieder stammte die Übersetzung von Ferrier und wieder war die Opéra-Comique der Ort der Erstaufführung (13. Juni 1898). Zu hören ist Cavaradossis Arie aus dem 1. Akt „Ô de beautés égales, die in ihrem schwärmerischen Nachdruck die Platte hinreißend abschließt.

Die Ausschnitte von Gaetano Donizetti stammen aus Opern, die explizit für Paris entstanden und dort 1840 bzw. 1843 uraufgeführt wurden. Aus La Fille du régiment hat Bernheim die Romance des Tonio, „Pour me rapprocher de Marie“, ausgewählt. Hier kann er gleichermaßen leidenschaftliches Gefühl wie delikate Nuancen hören lassen. Aus La Favorite ist die Cavatine des Fernand, „Ange si pur“,  zu hören, in der es vor allem auf schwärmerischen Ausdruck ankommt. Neben diesen zwei träumerischen Titeln ist das Air des Titelhelden aus Dom Sébastien („Seul sur la terre“) bei aller schwelgerischen Emphase auch ein Bravourstück, das dem Sänger nicht weniger als drei hohe C’s im forte und ein Des dolce abverlangt. Bernheim kann hier vor allem seine perfekt funktionierende voix mixte demonstrieren.

Auch Giuseppe Verdi schuf Werke für die Opéra. Das erste war eine Umarbeitung seiner frühen Komposition I Lombardi, die nun den Titel Jérusalem trug. Das Air des Gaston, „Je veux encor entendre ta voix“, wird am Schluss von einem hohen C gekrönt, das Bernheim mit strahlender Stimme absolviert. Don Carlos, uraufgeführt 1867, war der Höhepunkt im französischen Opernschaffen des Komponisten und gleichzeitig auch im Genre der Grand opéra. Zu hören sind die wehmütige Cavatine des Titelhelden, „Je l’ai vu“, in der Bernheim feine Kopftöne hören lässt, und das berühmte Duo mit Rodrigue, „Dieux, tu semas dans nos âmes“, bei dem der Bariton Florian Sempey mitwirkt und durch seine markige Stimme und idiomatische Interpretation viel zur Wirkung des Titels beiträgt. Zwölf Jahre zuvor kam Verdis Grand opéra Les Vêpres siciliennes heraus. Die Cavatine des Tenors aus dem 4. Akt, „Ô jour de peine et de souffrance“, bekam ab 1863 eine neue Gestalt in Form von „Ô toi que j’ai chérie“, für die sich Bernheim entschieden hat. Deren Melancholie trifft er sehr eindrücklich und meistert auch die trancehafte Steigerung imponierend. Mit der Scène des Giorgio, „Amica! Vous restez à l’écart/Pourquoi garder ce silence obstiné“, aus Pietro Mascagnis Amica, entstanden auf einen original französischen Text von Paul de Choudens und uraufgeführt 1905 an der Opéra de Monte-Carlo, hat Bernheim sogar noch eine veritable Rarität ins Programm aufgenommen. In ihrem veristischen Stil stellt sie für den Sänger einen Ausflug in ungewohnte Gefilde dar, verlangt sie doch eine verschwenderische Fülle des Tones und strömenden Fluss der Stimme. Hier steuert auch das Orchester überzeugende Momente bei.

Schließlich finden sich auf der CD noch zwei Komponisten, die Ende des 18. Jahrhunderts die Vorherrschaft im Pariser Opernleben hatten. Gaspare Spontini sorgte mit La Vestale (Uraufführung: 1807) für den Wechsel vom klassizistischen zum romantischen Stil. Bernheim hat daraus das Air des Licinius, „Julia va mourir!“ ausgewählt, das ihm in seiner dramatischen Dimension heroischen Ausdruck abverlangt. Spontinis Konkurrent war Luigi Cherubini, aus dessen selten zu hörendem Werk Ali-Baba, ou les Quarante Voleurs der Prologue und die Romance des Nadir erklingen. Die Partie wurde von der Tenorlegende Adolphe Nourrit kreiert, womit sich ihr extremer Anspruch an die Gesangskunst des Interpreten erklärt. Mehrfach ist das hohe C gefordert und Bernheim brilliert hier in imponierender Manier. Bernd Hoppe

Genuss durch Wissen

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Nicht einmal in der Sala dei Violini und im Museo Stradivariano von Cremona zusammengenommen kann man so viele aus der Hand des Geigenbaumeisters Antonio Stradivari stammende Geigen erleben wie auf der Bluray, die unter dem Titel Janine Jansen, Falling for Stradivari bei Arthaus erschienen ist. Die einzigartige Initiative der J.& A. Beare Firma schaffte etwas eigentlich Undenkbares: für die Erstellung eines Katalogs der noch existierenden Geigen des Cremoneser Meisters zwölf seiner in alle Welt zerstreuten berühmtesten Violinen nach London zu bringen, wo sie der holländischen Geigerin Janine Jansen, die selbst die Shumsky als Leihgabe eines Mäzens spielt, für ein Konzert zur Verfügung gestellt wurden. Dieses ohne Publikum in der Cadogan Hall in London mit Antonio Pappano am Klavier aufgenommene Konzert fand an mehreren Tagen (Das lassen unterschiedliche Kleidung und Frisur vermuten.) statt, und man sollt es sich nicht ansehen und anhören, ehe man nicht den von Gerald Fox zu verantwortenden Film über die Planung und Durchführung des Mammutunternehmens gesehen hat. Danach wird man ein anderer Konzertgänger geworden sein, der nicht nur auf das Was des zu spielenden Musikstücks und auf das Wie seiner Aufführung achtet, sondern auch auf das Wer des Instruments, das der Solist des Violinkonzerts zum Klingen bringt. Nicht nur die inzwischen weltberühmte Geigerin, sondern auch Musikwissenschaftler oder Geigenbauer stehen für ihre Überzeugung gerade, dass jede dieser Meistergeigen, die sämtlich einen Namen haben, den ihres vorübergehenden Besitzers oder des Künstlers, der sie spielte,  eine Seele besitzen, die zu entdecken Aufgabe des Solisten ist. So kann der Zuschauer fasziniert den Kampf um die Entdeckung dieser Seele verfolgen, der die Solistin auch schon mal zur Verzweiflung und die Techniker zu allerlei Manipulationen bringen kann, ehe sich Geigerin und Instrument miteinander in schöner Eintracht befinden, die Geige ihre Seele offenbart. Faszinierend ist es auch mitzuerleben, wie aus einem Katalog zur Verfügung gestellter Musikstücke für jede Geige das für sie geeignetste gesucht und gefunden wird. Nachvollziehbar ist, dass auf der Vieuxtemps eben dieser gespielt wird, auf der Kreisler Liebesleid. Eingeblendet werden, falls vorhanden, Aufnahmen von Vorbesitzern beim Spielen ihres Instruments wie Nathan Milstein mit der Milstein oder Ida Haendel mit dem nach ihr benannten Instrument. Es ist für den Betrachter faszinierend, in den Schaffensprozess mit einbezogen zu werden, und er bangt nachträglich noch mit, wenn er erfährt, dass das Unternehmen durch die Corona-Erkrankung von Jansen unterbrochen wurde und beinahe scheiterte, weil man die Geigen nun länger, als es vorgesehen war, in London behalten und sich mit den Besitzern einigen musste. Insofern war für das Zustandekommen der Aufnahme die Pandemie auch ein Glücksfall, als die Instrumente wenigstens nicht anderweitig gebraucht wurden.

Mit dem zunehmenden Wissen um die Stradivaris wächst auch der Genuss am Hören dieser wunderbaren Instrumente, selbst dem um geschichtliche Zusammenhänge wie der Wanderung der Geigen erst durch Europa, je nach Bedeutung des jeweiligen Gastlandes, inzwischen nach Asien, wo sie in manch einem Tresor schlummern, was nicht unbedingt verdammenswert ist, denn auch Strads ( so die Bezeichnung unter Kennern) werden durch Benutzung gefährdet.

Die Blu-ray verhilft dem Betrachter nicht nur zu viel Wissen, sondern gewährt ihm auch einen Einblick in die künstlerische Arbeit zweier herausragender Musiker, lässt ihn nicht nur das Ergebnis ihres Schaffens bewundern, sondern in gleicher Weise den Ernst, den Fleiß (!), die Begeisterung für die Sache, mit der sie bis zur Erschöpfung zu Werke gehen. Das alles bleibt als Hintergrundwissen beim nächsten Konzertbesuch des Betrachters und macht ihn kompetenter, aufnahmebereiter und verständnisvoller, bereichert ihn so immer wieder aufs Neue.

Und noch eine ganz persönliche Bemerkung der Rezensentin zum Schluss: Mein verstorbener Mann spielte von Kindesbeinen an bis kurz vor seinem Tod Geige, allerdings nur eine Meistergeige aus Mittenwald. Beim Ansehen der BLuray habe ich bedauert, dass er den Genuss nicht mit mir teilen konnte- es hätte ihm viel bedeutet (Arthaus 109453). Ingrid Wanja          

 

Bruckners Jugendsünde

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Anton Bruckner (1824 – 1896) wollte zeit seines Lebens eine dramatische Oper schreiben. Stücke wie Helgoland (1873) oder Der Germanenzug (1836) sind beredte Zeugnisse für diese Sehnsucht, Offenbach und Beethoven gleich zu tun. Die 1848 (was für ein Jahr!) begonnene tragische Oper Linzertörtchen geht zurück auf eine Lektüre von A. G. Beisensteins Dichtung gleichen Namens, deren Autor ein bekannter niederösterreichischer Schriftsteller und Verherrlicher der alpinen Landschaft zu Beginn des 19. Jahrhunderts war.

Der junge Anton Bruckner/Sammlung Ernie Bruckner, Nevada

Der junge Anton Bruckner/Sammlung Ernie Bruckner, Nevada

Bruckner erkannte, erstmals 1846 mit dem Roman vertraut geworden, die potenziellen dramatischen Möglichkeiten und bat seinen engen Freund und Lehrer Simon Schechter um Hilfe, mit dessen Kooperation er das Libretto erstellte, dessen Schwächen nicht zu leugnen sind. Autobiographische (wenn auch peinliche und deshalb stets verdrängte) Erlebnisse haben zweifellos Einzug in die Vorlage gefunden, wurde doch Ähnliches aus Bruckners Kindheit selbst erst vor kurzem bekannt (vergl. Berichte der Brucknerforschung 111, Linz 2006). Das unerwartete Sujet bezieht deutlich Antithese zu der leichtlebigen Wiener Operette, der Bruckner stets abhold war und deren Frivolität er erheblich missbilligte. Statt „Saus´ und Braus´“ wollte er die Abseiten der Wiener Großstadt und deren Verrohung zeigen. Diese sozialkritischen Tendenzen jener Jahre schlagen sich auch in seinen verschiedenen Vertonungen aus der Zeit, so in seinem Vokalwerk Um Mitternacht von 1844 (a capella Männerchor) nieder, das durchaus als Vorstufe auch in musikalischer Sicht zu Linzertörtchen gewertet werden kann.

In eben dieser Oper ist bereits deutlich Bruckners frühe Auseinandersetzung mit Wagners Musiksprache zu erkennen, die auf eine von ihm besuchte Vorstellung des Fliegenden Holländer in Linz zurückging. Deutliche Leitmotivik etwa findet sich in der Verwendung des Cello-Solo für Wuff, auch im Gebrauch des Englischhorn für die idyllisierte Bergwelt des 3. Aktes (1. Teil). Männlich-martialische Themen etwa werden für Harald und Franz verwendet, gebrochene und quasi der Manneskraft beraubte für den alten Buchenau. Aber auch die weit ausschwingende, beinahe „endlose“ Melodie (etwa im Sinne des späten Wagnerschen Tristan) findet für die Schilderung der persönlichen Misere Mitzis Verwendung. Die versöhnlichere D-Dur-Tonart schließlich – so typisch für spätere Bruckner-Symphonik – begegnet uns in dem, trotz des von seiner Tragik überschatteten positiven Schluss eines „neuen Anfangs“.

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mitzi 2Linzertörtchen wurde vom Komponisten nicht zu Ende geschrieben – man mag über die Motive spekulieren: Waren es die für damalige Zeit anrüchigen Szenen, war es das von ihm nur konzipierte Finale, war es vielleicht auch die Verwendung eines Hundes in einer Oper?. Sein Freund Gustav Mahler übernahm, wie bereits im Falle von Webers Drei Pintos, die endgültige Orchestrierung (und fügte zweifellos einige eigene Wendungen mit ein – eine endgültige Überprüfung des originären Brucknerschen Anteils steht immer noch aus; vergl. dazu auch den Aufsatz von Irmtraud Sennemeyer, Bruckner – Mahler: eine intime Männerfreundschaft in: Festschrift zu Anton Bruckners 100. Geburtstag, Linz, 1924). Mahler dirigierte auch die einzige Aufführung, 1896 im Wiener Grabentheater zum Andenken an seinen Freund – eine Benefizvorstellung für die in Armut lebende Witwe des Komponisten. Danach fiel das Werk in Vergessenheit, begünstigt durch den Brand des Theaters und die daraus resultierende Vernichtung des originalen Notenmaterials im Büro des Wiener Musikverlages Rosenthal und Erben im selben Gebäude.

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Blick auf das Wiener Grabentheater zur Zeit der konzertanten Premiere//Sammlung Ernie Bruckner, Nevada

Blick auf das Wiener Grabentheater zur Zeit der konzertanten Premiere//Sammlung Ernie Bruckner, Nevada

Dabei ist vieles aus dieser Oper durchaus erinnerungswürdig, etwa das schicksalhafte Adagio (auf Motive, die später in Helgoland wieder auftauchen) im letzten Bild, wenn Wuff das Kind retten will. In jüngster Zeit ist eine Zensurkopie der Partitur, wenn auch mit voraussehbar erheblichen Strichen, aus den Archiven der Wiener Polizeipräfektur ans Tageslicht gekommen. Eine Neufassung wurde vom ehemaligen DDR-Verlag Schwäbischer, Leipzig vorbereitet, aber verworfen aus ideologischen Gründen (Margot Honegger sprach sich dagegen aus). Der chilenische Verlag Gomes, Carriba & Wagner hingegen versucht gerade die Rechte für eine Rekonstruktion zu erwerben – der bekannt-kontroverse  lateinamerikanische Regisseur Manuel de Osta plant in Rio de Janeiro eine erste szenische Fassung.

mitzi 1Die Linzer Klangwolke hatte Interesse angemeldet, aber wie das ZDF auch dieses wieder eingestellt – das Sujet, so hörte  man, schade dem Andenken des doch als sehr seriös bekannten Komponisten, zumal auch die Erben und Bruckners Hauptverlag, die Universal Edition, sich dagegen aussprachen. Es bleibt als Alternative nur der Blick über den Atlantik, wo das Caramoor-Festival wohl doch in zwei Jahren an die Realisierung einer kritischen Ausgabe gehen wird, Katja Czellnik ist als mögliche Regisseurin für diese Frauenoper im Gespräch

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Zum Inhalt auch einige musikdramaturgische  Anmerkungen: Prolog – Im Schloss Gräsenberg (Karpaten, K. u. K.) kommt Gräfin Edeltraud (Koloratursopran) gerade dazu, als ihr Mann, Graf Joachim (Tenor), ihren Liebhaber erwürgt, mit dem er, der Voyeur,  sie in der Nacht zuvor beobachtet hat (Melodram). Ihrer ansichtig, flieht er trotz ihrer verzweifelten Rufe in die Berge. Edleltraut beschließt, ihm zu folgen, auch wenn das Kind unter ihrem Herzen vom Studienfreund Gernoth ist, dem intimen Freund des Erwürgten, Harald. Vorhang.

Noch einmal Traude Hubelocz-Greifshuber und Adolf Alois Steckeck, die Sänger der Uraufführung, in Damraus Oper "Draußen im Wiener Wald"/Foto Steckek Erben

Noch einmal Traudel Hubelocz-Greifshuber und Adolf Alois Steckeck, die Sänger der Uraufführung, in Damraus Oper „Draußen im Wiener Wald“/Foto Steckek Erben

Akt 1: In einer Wiener Spritzbäckerei stellt sich eine junge, völlig erschöpfte und heruntergekommene Frau als Aushilfe in der Verkaufsstube vor, sie nennt sich Mitzi. Der Bäckergeselle, Franz (Tenor), wird ihrer ansichtig und verschwindet bleich in der Backstube. Der Inhaber der Bäckerei, Herr Gablonz (Bass), macht Mitzi schöne Augen – auch wenn seine Frau Hedi (Alt) den Braten riecht und sich bereits wappnet, kennt man doch die losen Sitten ihres Mannes und seines Freundeszirkels (heiteres Quartett, allgemeines Ensemble und Schluss).

Auch für Riskanteres war sich Traude Hubelocz-Greifshuber im Dienst der Kunst nicht zu schade - hier mit Erwin Stächer als Angelika in Schmerbachs damals sehr erfolgreicher Operette "Frivole Spiele"/Foto Sammlung Ernie Bruckner, Nevada

Auch für Riskanteres war sich Traudel Hubelocz-Greifshuber im Dienst der Kunst nicht zu schade – hier mit Erwin Stächer als Angelika in Schmerbachs damals sehr erfolgreicher Operette „Frivole Spiele“/Foto Sammlung Ernie Bruckner, Nevada

Akt 2: Mitzi allein in ihrer kalten, spartanischen Kammer (großes Solo). Sie beklagt ihr Los in der Großstadt auf der Suche nach Harald, dem Vater ihres Kindes (Saxophonsolo – dies weit vor Massenets Verwendung des Instruments im Wiener Werther!). Um ihren Lebensunterhalt einigermaßen aufzubessern, weil sie ihr bei einer alten Frau verstecktes Kind ernähren muss,  hat sie sich ein paar leichten Dingern angeschlossen, die sie in Wiens lockere Gesellschaft eingeführt haben. Mitzi ist – als Kind vom Land – sofort ein Erfolg, und weil sie in ihrer Unschuld und in prekären Situationen stets ein paar Linzertörtchen bei sich hat und daran knabbert, um ihre Schüchternheit zu verbergen, heißt sie bald nur „Linzertörtchen“. Dabei hat sie es einem reichen alten Grafen, Fürst Buchenau (Bass), besonders angetan, der seinen Bernadiner Wuff mit einem Körbchen voller Linzertörtchen zu ihr schickt, wenn er Verlangen nach ihr hat. So auch nun: Wuff (Tanzpantomime/Schellen und Schlagzeug) kratzt an der Tür, und Mitzi seufzt: Es ist mal wieder soweit. Sie verhüllt ihr Gesicht mit dem neuen Schleier um und will aus der Tür gehen, da stellt sich ihr ein Mann in den Weg – Harald (Tenor). „Wo ist mein Kind?“ schreit er und greift sie an. Der Bäckergeselle Franz mit der langen Narbe auf der Wange springt hinzu. Die Männer raufen, und Mitzi rennt davon, zum Fürsten, weil sie an ihr Kind und das Geld denkt.

Trude Hubelocz-Greifshuber: Publicity-Foto/Sammlung Ernie Bruckner, Nevada

Traudel Hubelocz-Greifshuber: Amerikanisches Publicity-Foto/Sammlung Ernie Bruckner, Nevada

Akt 3: Auf einer Wiese bei Schönbrunn. Mitzi stillt ihr Kind, da stürzt die alte Ziehmutter (Alt) herzu: Polizei (Bariton, Bass/großes Orchester – auch hier starke Ähnlichkeiten zum Vorspiel des Ring von Wagner später – es bleibt interessant zu untersuchen, wer wen befruchtet hat). Mitzi erbleicht, hat sie doch – wie sie meint – den alten Fürsten Buchenau umgebracht, als sie sich nicht anders zu helfen wusste. Sie wird abgeführt. Szenenwechsel.

Im Salon des Palais Buchenau an der Donau. Fürst Buchenau sitzt mit einem Halsverband und einem gewickelten Fuß (Gicht/Solo mit Oboe) am Fenster. Neben ihm Franz, nun nicht mehr Bäckergeselle, sondern sein Neffe, Graf Joachim von Gaisenberg. Herein wird Mitzi geführt, das Kind auf dem Arm. Sie erkennen sich und fallen sich in die Arme. Als er jedoch das Kind anfassen will, schreit sie: „Er ist nicht von Dir!“ Joachim, rasend vor Wut, packt den kleinen Jungen und schleudert ihn aus dem Fenster in die nahe Donau. Wulff jedoch springt hinter dem Säugling her. Man hört Geheul. „Edeltraut, lass uns einen neuen Anfang machen, im April!. April, ja Joachim!“ Evi Rehgert

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Arbeitskreis Sexualität in der Oper: rechts helma Huppert/ASO

Arbeitskreis Sexualität in der Oper: rechts die Autorin Evi Rehgert/ASO/Sammlung CSO Bogota

Die austro-amerikanische Autorin Evi (Evelyne) Rehgert ist renommierte Feministin mit Schwerpunkt LGBT und Frauen-Literatur (bekannt sind ihre Biographien berühmter  Persönlichkeiten wie Walpurga Leider und Isolde Chamberlain), aber auch über Tagelöhner-Frauen in der österreichischen Wachau, wo sie im dortigen Kloster im Rahmen des Symposiums über Prostitution auf dem Lande im frühen 19. Jahrhundert eine der Entdeckerinnen des verschollen geglaubten Bruckner-Palimpzests war, das unter abenteuerlichen Umständen dorthin gelangt ist – vergl. den Bericht im Wachauer Morgen, Oktober 2011.

Weiters ist Evi Rehgert bekannt für ihre Kurse und Untersuchungen zu Geschlechtskrankheiten infolge zu hoher Zuckerwerte bei lesbischen Sängerinnen des K.u.K-Kaiserreichs, hat auf diesem Feld promoviert und eine Professur an der Universität Bogotà inne. (Die bisherigen Beträge in unserer Serie „Die vergessene Oper“ finden Sie hier)

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Dem Andenken meines unvergessenen Freundes Jörg Graepel gewidmet!/G. H.

Ehrgeizige Meisterschülerin

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Nach eigenem Bekunden ist Helmut Deutsch seit früher Jugend ein großer Verehrer von Franz Liszt und er findet auch dessen Liedschaffen, obwohl es keine herausragende Rolle in seinem Gesamtwerk einnimmt, immer noch unterschätzt. Seinen Freund Jonas Kaufmann konnte er vor einiger Zeit zu einem Recital überreden (Sony Classical  19439892602), das ausschließlich diesen Liedern gewidmet war. Die Popularität des Tenors versprach dabei erhöhte Aufmerksamkeit für das etwas vernachlässigte Repertoire. Nach meinem Eindruck schien darin – bei allen bekannten Qualitäten des Sängers (vorbildliche Diktion, plastischer Vortrag) – der Heldentenor den Lied-Interpreten etwas zu überlagern.

Deshalb ist die Sopran-Alternative, die uns Deutsch nun mit der jungen Sängerin Sarah Traubel anbietet und die fünf Titel des Kaufmann-Recitals enthält, nicht unwillkommen. Sarah Traubel, eine Großnichte der Met-Primadonna Helen Traubel, hat als Opernsängerin vor allem in Partien von Mozart und Strauss von sich reden gemacht, zählt die Königin der Nacht zu ihren Glanzpartien. Auf dem Gebiet des Kunstlieds ist sie noch relativ unerfahren und bekennt in einem kurzen Geleitwort zum Album, dass die Begegnung und Zusammenarbeit mit Helmut Deutsch ihr „Leben verändert“ habe. In der Loreley lässt sie sich von Liszts Klavierpoesie tragen, in den beiden „Schlagern“ Es muß ein Wunderbares sein und O lieb, so lang du lieben kannst! (bekannter in der Klavierversion als Liebestraum Nr. 3) bezaubert sie mit weiblicher Anmut, ohne in die Nähe des Sentimentalen oder Operettenhaften zu geraten.

Auch in den vier Liebesgesängen von Erich Wolfgang Korngold (Drei Lieder op. 22, Vergänglichkeit op. 27/5) entspricht der vokale Ausdruck dem gesungenen Inhalt und dem nachromantischen Stil. Die Eckpfeiler des Programms, Gustav Mahlers Rückert-Lieder und Vier letzte Lieder von Richard Strauss, stellen dagegen eine echte Herausforderung für die Sängerin dar. Denn genau genommen kommen diese Lieder ihrem Stimmfach des lyrischen Koloratursoprans nicht entgegen und sie kann mit ihren eigentlichen Stärken („kristallklare, gestochene Koloraturen“), die Bernd Hoppe auf dieser Seite anlässlich ihres vorangegangenen Albums „Arias for Josepha“ zu rühmen wusste, hier nicht wirklich punkten.

In beiden Fällen handelt es sich um Zyklen, die vom Komponisten nicht als solche geplant waren. Beide haben sich im Konzertsaal vor allem in der Orchesterversion behauptet. Wobei es sich im Falle von Strauss um reine Orchesterlieder handelt. Die nicht vom Komponisten stammenden Klavierfassungen sind nach Deutschs Auffassung nicht gut und teilweise fehlerhaft, so dass er hier eine eigene Revision vorgenommen hat. Das Ergebnis ist gleichwohl irritierend, denn der Verlust an Klangfarben wird nicht durch strukturelle Klarheit ersetzt. Wir erleben eine skelettierte Version, bei der auch die Sängerin (auf deren Wunsch die Lieder ins Programm genommen wurden!) nicht recht zur Wirkung kommt, denn zweifellos sind diese Lieder für eine Ariadne­- und nicht für eine Zerbinetta-Stimme geschrieben.

Mahlers Rückert-Lieder wiederum sind gemeinhin ein Privileg tiefer Stimmlagen (Mezzosopran oder Bariton) und in den Interpretationen von Christa Ludwig und Dietrich Fischer-Dieskau jedem Musikfreund im Ohr. Einer der fünf diesem Zyklus zugeordneten Titel, Um Mitternacht, bleibt hier ausgespart, weil er „viel eher zu einer Männerstimme paßt“ (Deutsch).

Sarah Traubel gelingen in allen Fällen sehr imponierende Annäherungen an Stil und Inhalt der Musik, wobei die Abschiedsstimmung und Todesahnung in Ich bin der Welt abhanden gekommen (wie später auch in Strauss’ Eichendorff-Adaption Im Abendrot) ihrer stimmlichen Ausstrahlung und wohl auch ihrem Künstler-Naturell nicht unbedingt entsprechen.

Im Gespräch mit Thomas Voigt rühmt Helmut Deutsch seinen Schützling in den höchsten Tönen: „Sie hat mit einer Arbeitswut geprobt, wie ich sie seit Hermann Prey nicht mehr erlebt habe.“ Das Ergebnis bei ihren Mahler- und Strauss-Beiträgen vermittelt eine Ahnung davon. Nach meinem Empfinden hört man hier eine ehrgeizige Meisterschülerin, von der noch einiges zu erwarten ist (Aparté AP 288). Ekkehard Pluta

In Bild und Ton

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Antonio Vivaldis Stabat Mater einmal aufnehmen zu können, war ein lang gehegter Wunsch von Jakub Józef Orlinski, der sich mit diesem ikonischen Meisterwerk seit einer Studienzeit beschäftigt. Nun bekam der polnische Countertenor von seiner Stammfirma ERATO die Gelegenheit dazu und mit der auf historischen Instrumenten musizierenden capella cracoviensis unter Leitung von Jan Tomsz Adamus wirken sogar polnische Musikerkollegen mit. Die Aufnahme entstand im Juli 2020 in Krakow und wurde als CD mit kaum 20 Minuten Spieldauer veröffentlicht (0190295060701). Nicht weniger ungewöhnlich ist die beigefügte Bonus-DVD, welche zur Tonaufnahme der sakralen Komposition ein Video von Regisseur Sebastian Panczyk zeigt. Hauptdarsteller ist der Sänger selbst, der in einem Wald ein brutales Massaker an seinen Freunden erlebt und danach den (oder die) Mörder finden will. Stationen sind ein Wirtshaus mit verängstigen Gästen und ein Spaziergang am See, wo sich ein Liebespaar vergnügt und der Sänger einen Apfel isst, bis die Suche in einem historischen Opernhaus endet, wo sich ein Hirsch unter die Musiker auf der Bühne mischt. Ob dieser Film mit seinen Schreckensbildern und Albtraumvisionen eine adäquate Bebilderung von Marias Leidensgeschichte am Kreuz von Jesu darstellt, sei jedem Zuschauer selbst überlassen. Ich empfehle, sich eher der CD zu widmen. Denn diese behauptet sich mit einer bedeutenden Interpretation souverän in der langen Reihe der existierenden Aufnahmen.

Der Counter beeindruckt mit seinem eindringlichen Schmerzenston, der den Hörer mit bohrender Intensität fordert. Die Stimme lässt viele Facetten hören, ist sinnlich und keusch, besitzt eine imposante Fülle und angenehme Wärme. Dunkel und warm tönt auch das Orchester, erreicht dadurch eine innige Verschmelzung mit der Stimme des Sängers. Besonders deutlich wird das in den Abschnitten 5 („Quis non posset contristari“) und 7 („Eia Mater“).

Der erste Interpret des Werkes bei der Uraufführung in Brescia 1712 war mit Sicherheit männlich – ein Altkastrat oder ein Falsettist. Seither haben viele renommierte Countertenöre die sakrale Komposition gesungen und eingespielt.  Jakub Józef Orlinski setzt diese Tradition mit seiner Aufnahme würdig fort. Bernd Hoppe

Ironisches für Frankophile

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Viel für das Ballett und sinfonische Werke wie Kammermusik hat der französische Komponist Albert Roussel geschrieben, auch einige Lieder, aber erst in seinen letzten Lebensjahren wagte er sich an ein Bühnenwerk für Stimmen, von ihm Operetta genannt, in den Jahren 1932/33 entstanden, 1936 in tschechischer Sprache in Olomou uraufgeführt, 1937, in seinem Todesjahr, auch in französischer Sprache an der Opéra-Comique Paris, beide Male als Dreiakter, während auf Wunsch der Witwe in den Sechzigern die einzelnen Teile zu einem Einakter zusammengefügt wurden. Mit dieser Version von Le Testament de la Tante Caroline hat der Hörer es auch mit der Aufnahme durch das Orchestre des Frivolités Parisiennes unter dem Dirigenten Dylan Corlay zu tun. Das Libretto des Werks stammt von Nino (Pseudonym für Michel Veber), einem Freund des Musikers, und die Geschichte basiert auf einer bekannten Novelle Guy de Maupassants, L’Héritage, in der von einer an eine unmoralische Bedingung geknüpften Erbschaft die Rede ist. Bei Roussel erben drei Schwestern gemeinsam ein beträchtliches Vermögen von 40 Millionen Franc, dazu Juwelen und Land, allerdings an eine Bedingung geknüpft: Innerhalb eines Jahres muss eine von ihnen ihrerseits einen Erben vorweisen können, sonst geht die Erbschaft an die Heilsarmee. Das erweist sich als schwierig, denn zwei der Schwestern sind seit geraumer Zeit kinderlos verheiratet, während die dritte eine angesehene Position in einem Kloster einnimmt. Das Jahr ist fast vergangen, Betrugsversuche mit Adoptivkindern werden aufgedeckt, das Erbe ist fast verloren, als sich in letzter Minute herausstellt, dass die Klosterfrau ein uneheliches Kind hatte, das adoptiert wurde und im Haus der Tante als Chauffeur Noël gearbeitet hat.

Der Einakter dauert gut eine Stunde, von der die meiste Zeit für gesprochene Dialoge draufgeht. Wenn gesungen wird, dann meistens im Ensemble, und da es kein Textbuch gibt, ist es für Nichtfranzosen recht schwierig, der Geschichte zu folgen. Das Orchester klingt bereits im Vorspiel vollmundig und süffig, flott und geschmeidig und scheint sich in der ersten Szene über die geheuchelte Trauer über den Tod der Tante lustig zu machen. Ansonsten gibt es viel aufgeregtes Geschnatter, an dem sicherlich Muttersprachler ihre Freude haben können. Solostücke sind nur der Magd Lucine vergönnt, der Marie Perbost einen pikanten, spitzzüngigen Charme verleiht, Béatrice, die schließlich glückliche Mutter, für die Marie Lenormand süße, zarte Mezzotöne hat und

Maītre Corbeau (!), dem Till Fechner eine heisere Sprechstimme und eine autoritäre Singstimme zuordnet. Auch der junge Noel kann sich mit einem hellen, prägnanten Tenor, dem von Fabien Hyon, zu Wort melden. Mit einem Textbuch, vielleicht sogar mit einer englischen Übersetzung, in der Hand könnte man dem sicherlich vergnüglichen Werk noch mehr abgewinnen (Naxos 8.660479). Ingrid Wanja

Und noch ein Rameau

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Konsequent verfolgt das Label Château de Versailles die Fortsetzung der Einspielungen von Werken Jean-Philippe Rameaus und tritt damit in Kokurrenz zu älteren Aufnahmen bei Pierre Verany, Coviello oder Erato (vergriffen) – an Rameau war nie ein Mangel. Jetzt veröffentlicht das  Chateau auf drei CDs die Comédie lyrique Les Paladins von 1760, die im Dezember 2020 im Château de Versailles aufgenommen wurde (CVS054). Die Haupthandlung nach La Fontaine erzählt von der jungen Argie, die den jungen Atis liebt, was dessen Vormund Anselme zu vereiteln sucht. Ein zweites Paar findet sich mit Argies Zofe Nérine und Orcan, dem Diener Anselmes. Die in der Erzählung von La Fontaine erscheinende Fee Manto hat Rameau zu einer Travestie-Rolle verändert und sie einem haute-contre anvertraut, was die Figur skurriler macht.

Die Besetzung vereint erfahrene Interpreten der französischen Barockszene, angeführt von Sandrine Piau als Argie. Mit dem Air „Triste séjour“ fällt ihr das erste Solo des Werkes zu, das sie mit tiefer Empfindung und starker Intensität absolviert. Ihr Geliebter Atis ist der renommierte französische Tenor Mathias Vidal, der mit der Ariette vive et gaie „Accourez, amants“ seinen Auftritt hat, den er lebhaft und auftrumpfend gestaltet, auch mit brillanten Verzierungen aufwartet. Gleich danach folgt mit dem Air „Quand sous l’amoureuse loi“ ein inniges Stück, das er mit zärtlichen Klängen ausstattet. Im Duo „Vous m’aimez“ vereinen sich die Sopranistin und der Tenor zu schönster Harmonie. Bevor der 3. Akt mit ausgedehnten Tanzstücken endet, können beide im Duo „Ah, que j’aimerais“ sich noch ewiger Liebe versichern und tun das mit den denkbar lieblichsten Tönen.

Der französische Bariton Florian Sempey machte sich international einen Namen als Hamlet (auch in Berlin) und Posa – der Orcan in dieser Einspielung beweist auch seine Kompetenz in Sachen Rameau. Sein erstes Air, „Ma voix deviendrait plus sonore“, lässt  einen markanten, energisch zupackenden Bariton hören. Neben ihm gibt die Französin Anne-Catherine Gillet die Nérine. Mit der munteren Ariette vive „L’amant peu sensible et volage“ führt sie sich in schönem Kontrast zu Sandrine Piau ein und demonstriert virtuoses Koloraturvermögen. In ihrem Air „Est-il beau comme le jour“ beweist sie aber auch lyrisches Potential. Mit „Non, non, je ne puis dire“ haben der Bariton und der zweite Sopran auch ein keckes Duo, das beide mit Gusto darbieten.

Nahuel Di Pierro als Anselme und Philippe Talbot als Manto komplettieren die Besetzung. Ersterer trumpft in seinen Airs „Vous méditez, perfide“ und „C’est ce poignard“ mit resonantem Bass energisch auf. Auch zu Beginn des 3. Aktes kann er mit zwei Airs beeindrucken – turbulent „Tu vas tomber“, lieblich „Quels jardins délicieux“. In der Travestie-Rolle des Manto wurde mit Talbot in dieser Einspielung ein lyrischer Tenor besetzt, der in seinem Auftritt, der Ariette gaye „Le printemps des amants“, lieblich-weiche Töne hören lässt.

Am Pult von La Chapelle Harmonique steht Valentin Tournet, der das Ensemble 2017 gegründet hat. Auf historischen Instrumenten spielend, hat es sich besonders auf Werke Rameaus spezialisiert. Die Vertrautheit mit diesem Idiom ist auch in dieser Aufnahme spürbar. Mit der Ouverture très vive, deren Hörnerschall eine Jagdstimmung assoziiert, dem heiteren Menuet und dem ausgelassenen Gai sorgt es für einen munteren Einstieg in die fast dreistündige Komposition. In den Orchesterstücken und Tänzen, wie Entrée de pélerins, Gavotte gaie, Loure, Pantomime, Contredanse, Galop, Ritournelle, Bruit de guerre, von denen es auch einen Anhang gibt, vermag es mit musikantischer Spielfreude und feinsinnigem Gespür für dramatische wie heitere Stimmungen aufzuwarten (23. 02. 22). Bernd Hoppe

Alain Vanzo

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Kaum eine andere Stimme (außer vielleicht George Thill) gilt bei den Tenören so für mich als der Inbegriff der französischen Gesangskunst wie Alain Vanzo, der vor 20 Jahren (am 27. Januar 2002, geboren am 2. April 1928) starb. Seit meinen ersten Opern-Gehversuchen  liebe ich diese hochindividuelle Stimme voller Süße und auch voller gallischer Würze, lyrisch im Grundformat, aber eben auch heldisch wenn verlangt. Sofort wiedererkennbar, makellos in der Diktion und eben: Alain Vanzo. Wie seine Kollegin Andrée Esposito (die 2021 mit 100 Jahren starb und mit der Vanzo oft aufgetreten ist) oder der Bariton Robert Massard verkörpert er für mich das Ideal des französischen Gesangs. Seine wunderbare voix mixte in den hohen Noten bezaubert mich ebenso wie seine elegante Stimmführung, ob nun als Gérald in der Lakmé oder als unübertroffener Des Grieux Massenets. Seine Soloszene im Kloster und die anschließende Verführung durch Manon gehört für mich zu den Höhepunkten französischen Gesangs. Im Duett mit der Esposito hat man l´Opéra francais pur: Kunst und Ausdruck und (immer gezügelte) Emotionen.

Alain Vanzo als Samson/ OBA

Vanzos Repertoire war riesig. So gut wie alle Tenor-Partien im französischen Fach hat er gesungen – bis auf die wirklich heroischen wie Sigurd oder Vervaal vielleicht. Aber sogar einen Samson hat er gewagt und natürlich das ganze Zwischenfach vom sehr lyrischen Postillon Adams bis zu Lalos Mylio oder Meyerbeers Robert le Diable, für den er 1985 nach langer Pause am Haus erstmals wieder und als Einspringer an die Pariser Opéra geholt wurde, mit absolutem Erfolg und in meinen Augen/Ohren wesentlich idomatischer als sein Kollege Rockwell Blake (die eigentliche Besetzung, die nur auf einem düsteren youtube-video zu erleben ist). Es war eigentlich ein Witz, denn davor hatte die bis heute hochnäsige Pariser Oper ihn ebenso wie seine Kollegen Crespin, Gorr, Massard oder Blanc geschniten – Liebermanns Übernahme der Pariser Oper machte das Tor auf für zum Teil lächerliche internationale Besetzungen, während die Einheimischen an den Provinz-Theatern von Lyon oder Marseille auftraten.  Vanzo rettete 1986 die skandalträchtige Pariser Premiere und zeigte, wie man auch im Alter mittels bombensicherer Technik schwierigen Partien beikommt. Dieser Robert le Diable (bei Gala z. B.) ist für mich die ultimative Aufnahme des ohnehin selten dokumentierten Werkes (auch weil mit Michele Lagrange und Samuel Ramey kongeniale Kollegen zu erleben sind). Und nicht vergessen soll man seinen sensationellen Auftritt beim amerikanischen Debüt von Montserrat Caballé als Lucrezia Borgia 1965 in der Carnegie Hall (die problematische Aufführung, deren Titelpartie erst der Sills, dann der Horne und schließlich der Caballé angeboten wurde).

Andere französische Sänger wie der von mir in diesem Fach so sehr geschätzte Roberto Alagna mögen moderner klingen, und gerade Alagna hat in dieser Sparte kaum Konkurrenz. Aber Vanzo ist mir authentischer, mehr der grande tradition verbunden. Mit ihm hört man ein Stück Vor-/Nachkriegskultur eines Thill oder Vezzani, beide die Säulen der Opéra vor dem Krieg. Die groben Tenöre Tony Poncet, Gilbert Py oder Guy Chauvet sind da kein Vergleich für Vanzo.

Es ist bei ihm diese wunderbare Mischung aus äußerst Lyrischen und bei Bedarf Entschlossen, die mich bezaubert. Seine wirklich himmlischen samtenen Noten bei Mireilles Vincent, bei Werther, bei Cellinis Solo („Sur les monts …“) tut sich mir der tenorale Himmel auf, verbreitet der Sänger eine Süße des Tons, die man woanders lange suchen muss. Was ihn nicht abhält, im entscheidenden Moment auch zuzupacken und beim Faust oder auch Don Carlos richtig in die Vollen zu gehen.

Alain Vanzo und Andrée Esposito/ Filmszene aus „Manon“/OBA

Vanzo hat viel, sehr viel eingespielt. Er hatte das Glück, bei kleinen Firmen wie Vega oder Chant du Monde, später Malibran und Musidisc, unendlich viele Arien und méloldies aufzunehmen, eigentlich den ganzen Katalog des französischen Zwischenfach-Tenors. Dazu Vaterländisches mit der Nationalgarde, Gelegenheitsauftritte, Schlager. Unendliches. An Gesamt-Aufnahmen gibt es manches und Maßstäbliches: Lakmé (2 mal), Mireille (3 mal), Don Carlos (in einer aus dem Italienischen rückübersetzten Kurz-Fassung), die Vêpres siciliennes, die Huguenots, Manon, Benvenuto Cellini, Djamileh, Euryanthe, Genoveva, Robert le Diable, André Chenier, Les Contes d´Hoffmann,. Le Ropi d´Ys (mehrfach, mit Andrée Esposito oder Andréa Guiot), Faust, Romeo et Juliette, Werther, La Navarraise (mit der aufregenden Berthe Monmart), Les Pecheurs de Perles (2 mal), Le Pecheur d´étoiles (seine eigene Operette), Richard Coeur de Lion und manche mehr, auch Operetten  (vieles auf youtube) – diese eigentlich „nur“ Radioaufnahmen und mehr oder weniger bei grauen Labels wie Gala etc. veröffentlicht. Italienische Opern sowie Operetten gibt es als Querschnitte bei Vega und den Nachfolgern, aber auch als Radiomitschnitte in Gänze. Ein paar „offizielle“ Aufnahmen sind mit den Pecheurs de Perles (mit Cotrubas bei EMI), Manon (mit Doria) L´Enfance du Christ, der zu späten Lakmé (mit Sutherland) oder Mignon (dto.) bei Decca und CBS erschienen und zeigen Vanzo nicht mehr in Bestform.

Es sind die früheren Radioaufnahmen (viele bei der INA, dem Archiv des französischen Rundfunks) in denen man Alain Vanzo zum Besten erlebt. Physisch wirklich kein Beau sind die Opernfilme mit ihm (Werther, Mireille, Faust, La vie de Bohème, späte Konzerte etc.) für uns heute eher lustig. Da steht ihm für uns Glamourgewohnte seine gewisse südfranzösische Pummeligkeit ihm Wege. Aber die Stimm´… Unvergleichlich. G. H.

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Alain Vanzo und Léna Pastor in „La vie de Bohème“/ Finale/ OBA/ der Film ist immer noch bei Amazon erhältlich

Zur Biography: Alain Vanzo, dessen Vater Mexikaner und dessen Mutter Französin war, sang als Kind in einem Kirchenchor und gründete mit achtzehn Jahren seine eigene Band, La Bastringue, mit der er populäre Lieder in örtlichen Musik- und Tanzlokalen sang. Anschließend studierte er Gesang in Aix-les-Bains und bei Rolande Darcoeur in Paris. Und während seines Musikstudiums spielte er in der Saison 1951/52 als Zweitbesetzung den populären spanischen Tenor Luis Mariano in der Operette Le Chanteur de Mexico am Théâtre du Châtelet in Paris. Sein Durchbruch gelang ihm 1954, als er bei einem Gesangswettbewerb für Tenöre in Cannes den Ersten Preis gewann. Er wurde sofort eingeladen, kleine Rollen in Paris sowohl an der Opéra-Comique als auch an der Opéra zu singen, wo er 1955 an der Uraufführung von Henri Barrauds Oper Numance teilnahm.

Bereits 1956 sang Vanzo Hauptrollen wie den Herzog (Rigoletto) an der Opéra und Gerald (Lakmé) an der Opéra-Comique. Seine Karriere entwickelte sich sowohl an diesen Theatern als auch in der französischen Provinz rasch. Im französischen Repertoire war er u. a. in den Titelpartien in Gounods Faust und Werther, Des Grieux in Massenets Manon, Nadir (Les Pêcheurs de Perles), Roméo (Roméo et Juliette) und Vincent (Mireille) zu hören. Im italienischen Repertoire sang er Alfredo (La traviata), Rodolfo (La bohème) und Edgardo (Lucia di Lammermoor), die er 1957 an der Seite von Maria Callas aufführte.

Internationale Aufmerksamkeit folgte, als Vanzo 1960 die letztere Rolle an der Seite von Joan Sutherland sang, die seinerzeit ihr Debüt an der Pariser Oper gab. Er wurde eingeladen, in Europa am Théâtre de la Monnaie (Brüssel), am Gran Teatro del Liceu (Barcelona), am São Carlos (Lissabon) und an der Wiener Staatsoper zu singen, und in Südamerika am Teatro Colón, Buenos Aires, wo er als Hoffmann (Les Contes d’Hoffmann) einen starken Eindruck hinterließ. Sein Nordamerika-Debüt gab er 1965 als Gennaro (Lucrezia Borgia) an der Seite von Montserrat Caballé in einer legendären Konzertaufführung in der Carnegie Hall, New York, während sein einziger Auftritt am Metropolitan Opera House als Mitglied der Pariser Oper stattfand, als die Kompanie Gounods Faust dort 1977 aufführte.

Alain Vanzo als Werther/OBA

Im Laufe seiner Karriere erweiterte Vanzo sein Repertoire auf schwerere Rollen, z. B. die Titelrolle in Berlioz‘ Benvenuto Cellini, Mylio (Le Roi d’Ys), Robert (Robert le Diable), Raoul (Les Huguenots), Arrigo (I vespri siciliani), Cavaradossi (Tosca) und Gabriele Adorno (Simon Boccanegra). Im letzten Teil seiner Karriere sang er häufig Operette, deren hervorragender Exponent er war, trat weithin in Frankreich auf, beispielsweise in Avignon, Lille, Marseille, Nantes und Nizza, und war auch häufig im französischen Fernsehen zu sehen. Einer seiner bemerkenswertesten späteren Auftritte war 1985 als Meyerbeers Robert an der Pariser Oper. Neben dem Gesang komponierte Vanzo auch Lieder und Bühnenwerke, darunter die Operette Pêcheur d’Étoiles (Uraufführung Lille, 1972) und das lyrische Drama Les Chouans (Uraufführung Avignon, 1982). Er ging niemals offiziell in den Ruhestand und starb an den Folgen eines Schlaganfalls.

Vanzo gehörte zur letzten Generation französischer Sänger, die ihr Repertoire in ihrer Muttersprache erlernten und deren Karriere sich somit weitgehend auf Frankreich beschränkte. Die Fusion der Pariser Oper und der Opéra-Comique im Jahr 1972 und die anschließende Einführung des Stagione-Systems zerstörten die traditionellen Arbeitsplattformen für französische Sänger, die sich nur schwer gegen die folgende Welle des internationalen Wettbewerbs behaupten konnten. Bei diesem bedauerlichen Prozess ging die Kunst des französischen Operngesangs weitgehend verloren, was die Aufnahmen von Vanzo und seiner Kollegen zu unschätzbaren Dokumenten in Bezug auf angemessenen Stil und Technik machte. Vanzo selbst besaß eine Stimme von müheloser Schönheit und großem Charme; er bleibt unvergleichlich in Rollen wie Des Grieux, Gerald, Nadir, Roméo und Vincent (© Naxos Rights International Ltd. — David Patmore: A–Z von Singers, Naxos 8.558097-100). Übersetzung Daniel Hauser

Gelungenes Plattendebüt

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Die Mezzosopranistin Alice Lackner habe ich vor neun Jahren in einer Meisterklasse von Brigitte Fassbaender in Bayreuth, wo ich in beratender Funktion für die Junge Musiker Stiftung tätig war, mit Liedern von Brahms und Wolf zum ersten Mal gehört. Damals war sie 21 und seit vier Jahren in der Ausbildung. In meinem Bericht für Manfred Jung, den künstlerischen Leiter der Stiftung, habe ich seinerzeit notiert: „In allen Fällen ist mir neben einer gewissen Musikalität ein persönlicher, von Herzen kommender Ton positiv aufgefallen. Das läßt für ihre weitere Entwicklung hoffen.“

In der Zwischenzeit hat Alice Lackner nicht nur ihr Gesangsstudium erfolgreich abgeschlossen, sondern auch ein Studium der Soziologie absolviert und ist neben ihren sängerischen Auftritten auch wissenschaftlich für das ZOis (Zentrum für Osteuropa und internationale Studien) in Berlin tätig. Einige ihrer musikalischen Aktivitäten (in Rheinsberg und mit dem von ihr gegründeten Trio meZZZovoce) habe ich in den letzten Jahren auf youtube mit Interesse verfolgt. Trotzdem war ich jetzt von ihrem Debüt-Album bei GENUIN classics sehr positiv überrascht. Es ist schon vom Programm her originell und profitiert zusätzlich von der glücklichen Wahl ihrer Klavierbegleiterin Imke Lichtwark, die mir vorher kein Begriff war.

Das Album Ernsthaft?!, das den Untertitel „Witz und Wahn in Liedern von Zemlinsky, Schönberg und Daigger“ trägt, stellt das Berliner Kabarett „Überbrettl“ ins Zentrum. Es wurde von Ernst von Wolzogen (übrigens dem Librettisten von Richard Strauss’ Feuersnot) 1901 gegründet und war das erste literarische Kabarett, dem im frühen 20. Jahrhundert weitere folgten. Den Begriff hat Otto Julius Bierbaum geprägt, der in seinem Roman Stilpe mit Blick auf Nietzsche ankündigte: „Wir werden den Übermenschen auf dem Brettl gebären!“ Neben Bierbaum waren Autoren wie v. Liliencron, Dehmel, Schnitzler, Wedekind und Morgenstern für das neue Etablissement tätig. Oscar Straus war der musikalische Leiter des Theaters. Bei einem Gastspiel im Wiener Carltheater noch im Gründungsjahr zeigte sich der dortige musikalische Leiter Alexander von Zemlinsky derart begeistert von dem Unternehmen, dass er die beiden Brettl-Lieder In der Sonnengasse und Herr Bombardil schrieb. Sein Schüler und Freund Arnold Schönberg tat es ihm mit acht weiteren Liedern gleich und wurde von Wolzogen für Berlin als Kapellmeister unter Vertrag genommen.

Die beiden Zemlinsky-Lieder und vier von Schönbergs Beiträgen zum Brettl-Genre (darunter ein Langsamer Walzer auf einen Text von Emanuel Schikaneder) sind in dem Recital von Alice Lackner und Imke Lichtwark zu hören und sie haben, obwohl sie ja sehr ihrer Zeit verhaftet sind,  im pointierten Vortrag der beiden Künstlerinnen auch nach über hundert Jahren keinen Staub angesetzt. Eine Brücke zur Gegenwart schlägt Sven Daigger (* 1984), der hier mit Windgespräch (2013, auf einen Text von Christian Morgenstern) und dem vierteiligen Vereinsamt (2020/21, Text: Friedrich Nietzsche) vertreten ist sowie – gleichsam als „Hinausschmeißer“ – dem witzigen Arno-Holz-Song Abfertigung. Die beiden letztgenannten Titel wurden hier erstmals eingespielt. Daigger arbeitet mit musikalischen Zitaten (Brahms, Schubert) und verdoppelt die Gesangsstimme mit elektronischen Zuspielungen. Die Sängerin kann hier die Möglichkeiten ihres hellen lyrischen Mezzos und ihre Ausdrucksfähigkeit voll ausreizen.

Ganz ernsthaft, ohne jedes Fragezeichen, beginnt das Programm mit Zemlinskys Sechs Gesängen nach Gedichten von Maurice Maeterlinck op. 13, in den Jahren 1910-13 erst in einer Klavierfassung komponiert und später auch in eine Orchesterversion gebracht. Symbolistische Dichtungen, die teils offen, teils verklausuliert um das Thema Tod kreisen. Auch wenn die Übersetzung von Friedrich von Oppeln-Bronikowski gelegentlich sehr frei mit dem Original umgeht, wird der Geist der Dichtung in Zemlinskys sehr dichter und harmonisch abwechslungsreicher Vertonung lebendig und Sängerin wie Pianistin treffen die Dämmerlicht-Stimmungen mit ihrem intimen Vortrag bewundernswert gut.

Diese Intimität erreichen sie auch in der Wiedergabe von Schönbergs Vier Liedern op. 2, die der junge Komponist 1899 in einem gemeinsamen Sommerurlaub mit Zemlinsky im niederösterreichen Payerbach begann und in den folgenden Monaten vollendete. Drei Gedichte aus Richard Dehmels erotischem Zyklus Weib und Welt und ein Text von Johannes Schlaf (Waldsonne) trafen wohl den damaligen Gefühlszustand Schönbergs, der noch ganz auf den Spuren der Spätromantik wandelte, und sich gerade in Zemlinskys Schwester Mathilde verliebt hatte, die später seine Frau wurde. Alice Lackner findet für diese Lieder den richtigen Ton zwischen Emphase und sachlicher Gelassenheit und Imke Lichtwark, eine sensible Poetin am Klavier, webt Klanggirlanden voller Zärtlichkeit.

Das Booklet dieses empfehlenswerten Debüt-Albums enthält die Liedtexte, sachkundige und gut geschriebene Werkeinführungen der Sängerin und ein aufschlussreiches Gespräch mit dem Komponisten Sven Daigger (GENUIN classics GEN 21758). Ekkehard Pluta

 

Sachsen-Coburgs „Santa Chiara“

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Mit Spannung erwartet brachte bereits im Februar 2022 das Meininger Staatstheater die Oper Santa Chiara des Prinzen Ernst von Sachsen-Coburg und Gotha heraus – die erste Szenische Aufführung in moderner Zeit, nachdem das verdienstvolle Theater Erfurt das Werk am Klavier bereits 2010 vorgestellt hatte. Nun also gab es die Bühnen-Komponente mit Orchester, Chor, Szene und Regie – eine Rezension gestaltete sich schwierig wegen der bekannten Corona-Probleme, mit denen Meiningen wie viele andere Bühnen geplagt ist. Zum Kennenlernen bringen wir den Artikel von Arne Langer zu der Oper 2010 in Erfurt. G. H.

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Prinz Ernst von Sachsen-Coburg und Gotha/ Wikipedia/ Hampton Court Paintings

Der Komponist: Die beiden Prinzen Ernst und Albert (Victorias späterer Ehemann) von Sachsen-Coburg und Gotha kamen früh mit Musik in Berührung, lernten das Klavierspiel und betätigten sich als Komponisten. Albert komponierte Kirchenmusik und Lieder, auch eine Oper (Hedwig von Linden) soll von ihm stammen. Als Gatte der englischen Königin wurde er ein eifriger Förderer der Musik, wovon bis heute die Royal Albert Hall zeugt. Während seines Studiums in Bonn lernte er u.a. bei dem Musikwissenschaftler Heinrich Carl Breidenstein, der eine Gesangsschule und geistliche Kompositionen veröffentlicht hatte.

Bei ihm erhielt Ernst Unterricht in der Generalbasslehre. Während der Militärzeit in Dresden verkehrte er mit literarischen Größen wie Ludwig Tieck und Schauspielern wie Eduard und Emil Devrient bzw. Sophie Schröder. Musikalisch prägte ihn vor allem der Hofkapellmeister Carl Gottlieb Reissiger, der als Nachfolger Carl Maria von Webers einen hervorragenden Ruf als Opernkomponist besaß.

Seit 1842 stand Franz Liszt in einem Anstellungsverhältnis am Weimarer Hof und wurde für Ernst offenbar ein wichtiger Ansprechpartner in Sachen Musik. Er gastierte im selben Jahr als Pianist im Coburger Hoftheater und spielte auf Schloss Callenberg mit Ernsts Frau Alexandrine vierhändig Klavier.1846 soll Liszt die Anregung für die Komposition der ersten Oper des Herzogs, Zayre, gegeben haben.

Der Kontakt wurde intensiver, seit sich Liszt 1848 in Weimar niedergelassen hatte. Im selben Jahr lernten sich Liszt und Wagner kennen und standen seitdem in enger Verbindung. Im Oktober 1848 erwähnt Liszt in einem Brief an Wagner Herzog Ernst und spricht darin von dessenintelligence superieure,et sa predilection personnelle pour la musique“.

„Santa Chiara“: die Librettistin Charlotte Birch-Pfeiffer (hier auf einem Foto von Harald Craf von 1850)/ Sammlung Langer/ Programmheft zur Aufführung in Erfurt 2010

Die zweite Oper des Herzogs, Die Vergeltung, hatte geringen Erfolg, so dass kurz darauf eine Neufassung unter dem-Titel Tony entstand, die Liszt bald nach der Coburger Uraufführung auch am Weimarer Hoftheater herausbrachte. Der Herzog, der möglicherweise schon in seiner Dresdner Zeit mit Wagner in Berührung gekommen war, ordnete bald nach seinem Regierungsantritt 1844 an, die Partitur des Rienzi anzukaufen. Eine Aufführung kam zunächst nicht zustande. Sicherlich nahm er auch von den Lisztschen Wagner-Aufführungen in Weimar Kenntnis, der Erstaufführung 1849 von Tannhäuser und der Uraufführung von Lohengrin 1850. Durch Liszt verbürgt ist die Anwesenheit des Herzogs bei der Erstaufführung des Fliegenden Holländer 1853. Kurz darauf beabsichtigte Ernst, Wagner mit der Instrumentation seiner neuen Oper Santa Chiara zu beauftragen. Liszt besuchte 1853 in Gotha auf Einladung des Herzogs eine Aufführung von dessen Oper Casilda und übernahm 1854 das Dirigat der Uraufführung der Santa Chiara. Noch kurz vor Liszts Abgang aus Weimar kam 1859 die letzte Oper des Herzogs, Diana von Solange, dort zur Aufführung.

Noch als Erbprinz trat Ernst 1844 erstmals mit größeren Kompositionen an die Öffentlichkeit. In Gotha erklangen – unter der Leitung von Liszt – die Kantate Allerseelen für Vokalquartett und Orchester und das Geistliche Lied Immer Liebe für Sopran, Bariton, Chor und Orchester. Im selben Jahr erschien auch eine Gruppe von Klavierliedern im renommierten Musikverlag Breitkopf & Härtel.

„Santa Chiara“ in Meiningen 2022/ Szene/ Foto wie auch oben Christina Iberl

Auch nach seinem Regierungsantritt 1844 betätigte sich der junge Herzog weiter als Komponist. Eine Anregung Liszts führte wohl zur Komposition seiner ersten Oper, Zayre, eine Große Oper nach der Tragödie Voltaires. Der Uraufführung 1846 in Gotha folgte die Erstaufführung in Coburg.

Es war im „Doppelstaat“ Coburg-Gotha die Regel, dass das Hoftheater jeweils zu Jahresbeginn in Gotha und in der zweiten Jahreshälfte in Coburg spielte. Uraufführungen wurden möglichst gleichberechtigt verteilt. In beiden Städten standen moderne miteinander kompatible Theatergebäude, die 1840 noch vom Vater, Ernst I., errichtet worden waren. Während das Coburger Haus bis heute seinem Zweck dient, wurde das Gothaer Hoftheater nach Kriegszerstörung 1958 abgerissen.

Als zweites Bühnenwerk kam1848 in Coburg Die Vergeltung, eine Romantische Oper, heraus. Sie spielt im vom Freischüfz inspirierten Wald- und Jägermilieu. Die Bearbeitung unter dem Titel Tony wurde nach Coburg und Weimar u.a. 1854 auch an der Münchner Hofoper gespielt. Das spanische Sujet des dritten Bühnenwerkes, Casilda, ebenfalls eine Romantische Oper, erinnert an das Schauspiel Preciosa, das mit der Musik von Carl Maria von Weber ausgesprochen populär war. Ernsts Oper wurde nach der Gothaer Uraufführung 1851 an mindestens 15 weiteren Bühnen gespielt, u.a. in Brüssel, Wien, London, Prag, Riga, Weimar und offenbar 1889 auch in Erfurt.

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„Santa Chiara“ in Meiningen 2022/ Szene/ Foto Christina Iberl

Nun also Santa Chiara: Während der Herzog in seinen ersten Werken mit lokalen Librettisten und musikalischen Beratern zusammenarbeitete, suchte er für die beiden folgenden Opern nach prominentem auswärtigem Sachverstand. Entsprechend groß war das überregionale Echo auf zunächst Santa Chiara und dann auf die Große Oper Diana von Solange. Das Libretto zu Diana schrieb der damals sehr erfolgreiche Wiener Autor Otto Prechtler, der sein eigenes, im historischen Portugal spielendes Drama Adrienne entsprechend umarbeitete. Nach der Coburger Uraufführung 1858 erlebte die Oper mindestens 25 auswärtige Inszenierungen, von Hannover über Dresden, Wien, Warschau, Leipzig, Rotterdam, Prag, Riga, Berlin (Kroll) bis hin zur Metropolitan Opera in New York (1891). Meyerbeer kam im Februar 1860 eigens nach Gotha, um das Werk zu erleben. Viele Jahre später komponierte der Herzog noch zwei Operetten unter Pseudonym, von denen sich kein Aufführungsmaterial erhalten hat: Der Schuster von Straßburg, aufgeführt 1871 im Wiener Strampfer-Theater, und Alpenrosen (1873), angeblich in Hamburg gespielt.

Neben dem Einsatz für seine eigenen Werke interessierte sich Herzog Ernst zeitlebens für das Opernschaffen anderer Komponisten. Die Verbindung zu Giacomo Meyerbeer, dem seinerzeit sicherlich erfolgreichsten Opernkomponisten, wirkte sich auf die Entstehung der Santa Chiara aus und hatte zur Folge, dass die deutschsprachige Erstaufführung von dessen letzter Oper Dinorah 1859 in Coburg stattfand. In späten Jahren wurde Ernst zu einer Schlüsselfigur in der Biographie von Johann Strauß, der sich mit Adele Deutsch neu verheiraten wollte, was im katholischen Wien nicht möglich war. 1886 wurde er auf Bestreben des Herzogs in Coburg eingebürgert, wo dann auch die Ehescheidung und Neuverheiratung amtlich besiegelt werden konnten. Zum Dank widmete Strauß die Werke Simplicius (Wien 1887) und Ritter Pàzmàn (Wien 1892) dem Herzog.

„Santa Chiara“/ das Herzogliche Hoftheater Coburg/ OBA

Kurz vor seinem Tod betätigte sich Ernst noch einmal als Förderer der zeitgenössischen Oper. Nach dem Vorbild des legendären Einakter-Wettbewerbs des Mailänder Verlages Sonzogno, das den Weltruhm der Oper Cavalleria rusticana begründete, initiierte er 1892 einen vergleichbaren Wettbewerb für deutschsprachige Operneinakter. Der Zuspruch war immens, die beiden siegreichen und in Gotha uraufgeführten Werke, Die Rose von Pontevedra von Josef Förster und Evanthia von Paul Umlauft, konnten allerdings keinen dauerhaften Platz im Repertoire erobern.

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„Santa Chiara“: die berühmte Rosina/e Stoltz sang 1856in Brüssel die Berthe (hier als Meyerbeers Fides)/ Wikipedia

Uraufführung und Verbreitung: Die Große romantische Oper Santa Chiara erlebte ihre Uraufführung am 2. April 1854 im Herzoglichen Hoftheater Gotha unter dem Dirigat von Franz Liszt. Die Dekorationen für den zweiten und dritten Akt hatte der später durch seine Arbeiten für Bayreuth und Meiningen berühmte Coburger Hoftheatermaler Heinrich Karl Brückner (* 11. Juli 1805 in Coburg; † 24. Juni 1892 ebenda) gestaltet. Die Titelpartie sang die Sopranistin Anna Falconi (eigentlich Bockholtz), die zuvor an der italienischen Oper in London und an der Mailänder Scala aufgetreten war. Meyerbeer kam auf Einladung des Herzogs nach Gotha zu einer der Folgevorstellungen und vermerkte im Tagebuch:„Der zweite Akt der Oper hat wirklich sehr große musikalische Schönheiten im edlen dramatischen, hochtragischen Stil.“ Ein halbes Jahr später folgte die Coburger Premiere der Oper, dann die Opernhäuser in Frankfurt, Hamburg und Karlsruhe. Spätesten für die prestigeträchtige Erstaufführung in Paris wurde die Oper einer Revision unterzogen. Vor allem im dritten Akt entfielen einige Passagen, andere – wie eine Romanze der Bertha – wurden neu eingefügt. In dieser musikalischen Gestalt, die auch als Klavierauszug gedruckt wurde, ist das Werk in der Folge weitgehend unverändert aufgeführt worden, wie das in der Coburger Landesbibliothek erhaltene Aufführungsmaterial erkennen lässt.

Der Pariser Aufführungin französischer Sprache – gingen intensive Bemühungen des Herzogs voraus, die von Meyerbeer unterstützt wurden. In den vorangegangenen Jahren war Ernst mehrfach in diplomatischer Mission bei Kaiser Napoleon III. gewesen. Ein schon länger schwelender Konflikt zwischen Russland einerseits sowie Frankreich und England anderseits führte schließlich Ende 1854 zum Krim-Krieg. Die profranzösische und zugleich antirussische Tendenz der Santa Chiara-Handlung war in dieser Situation sicher hilfreich. Die Aufführung am 27.9.1855 erfolgte dann kurz nach dem Sieg der Alliierten in Sewastopol in einer Phase nationaler Begeisterung. Noch dazu war gerade in Paris die (Vierte) Weltausstellung eröffnet worden. Die Tenorpartie sang der durch die Uraufführung von Meyerbeeers Le Prophete bekannt gewordene Gustave-Hippolyte Roger. Ebenfalls in französischer Sprache folgte 1856 eine Inszenierung in Brüssel, wo Leopold l., ein Onkel des Herzogs, als belgischer König herrschte und gerade sein Thronjubiläum begangen hatte. Die Charlotte wurde in Brüssel von Rosine Stoltz gesungen, einer der prominentesten Primadonnen ihrer Zeit. Herzog Ernst scheint sie danach besonders protegiert zu haben. 1865 erhob er sie in den Adelsstand, und sie zog für einige Jahre nach Coburg.

1856 gastierte Hector Berlioz als Dirigent eigener Werke in Gotha und stellte dem Programm als Reverenz an den Hausherrn die Ouvertüre von Santa Chiara voran.

„Santa Chiara“: der Tenorstar Gustave-Hippolyte Roger (hier als Meyerbeers Jean van Leyden) sang 1855 den Victor in der Pariser Erstaufführung/ Wikipedia

In den folgenden Jahren ging die Oper über viele große deutschsprachige Bühnen – Dresden, Darmstadt, Wien (Josefstadt-Theater), Leipzig, Bremen, Königsberg. Nach einer längeren Unterbrechung gab es dann ab 1876 noch einmal eine Reihe von Erstaufführungen: Nürnberg, Köln, Straßburg, Augsburg, Chemnitz, Lübeck, Berlin (Kroll-Oper). In Gotha und Coburg kam es immer wieder zu Neueinstudierungen, die letzte Aufführung soll 1927 in Coburg stattgefunden haben – und im Mai 2010 dann in der Reihe „Oper am Klavier“ am Theater Erfurt (Ralph Neubert hatte die musikalische Leitung, in den Hauptrollen hörte man Mate Sölyom-Nagy, llia Papandreou, Stephanie Müther, Richard Carlucci, Vazgen Ghazaryan und Jörg Rathmann sowie Mitglieder des Philharmonischen Chores Erfurt). Arne Langer

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Nun also die szenischen Aufführungen am Staatstheater Meiningen (vom April bis Juni 2022: Charlotte: Lena Kutzner/Deniz Yetim/ Bertha: Marianne Schechtel/Sandra Maxheimer/ Victor: Markus Petsch/Patrick Vogel/ Alexis: Johannes Mooser/ Aurelius: Rafael Helbig-Kostka/ Alphonse: Tomasz Wija/ Herbert: Mikko Järviluoto/ Chor des Staatstheater Meiningen/ Meininger Hofkapelle/ Statisterie/Musikalische Leitung: GMD Philippe Bach/ Regie: Hendrik Müller/ Bühne: Marc Weeger/ Kostüme: Katharina Heistinger/ Dramaturgie: Claudia Forner; nebst absurder Geisterstimme der Heldin, wie man bei der Radioübertragung verärgert vermerken konnte). G. H.

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„Santa Chiara“: Bühnenbildentwurf der Gebrüder Brückner/ Coburg zum 3. Akt/ Sammlung Langer/ Programmheft zur Aufführung in Erfurt 2010

Die Handlung: Russland 1715 unter der Regierung von Peter dem Großen/ Akt 1 – Prächtiger Saal im Palast des Zarewitschs in Moskau Der Engel der Berge. Die deutsche Prinzessin Charlotte Christina lebt als Gattin des Zarewitschs Alexei am russischen Zarenhof und leidet an der Missachtung durch ihren rohen und gewalttätigen Mann. Sie hatte ihren Vater gebeten, zurückkehren zu dürfen. Am Tage ihres Geburtstages erhält sie nun die Nachricht, dass er ihr schweren Herzens aus politischer Rücksichtnahme die Rückkehr verbietet. Selbst das Wiedersehen mit Victor de St. Auban, einem französischen Edelmann in russischen Diensten, kann sie nicht trösten. Auban war ihr in jungen Jahren in der Heimat zufällig begegnet und ist ihr seither verfallen. Während der höfischen Geburtstagsfeier will Alexei den Plan umsetzen, seine Gattin mit Gift zu ermorden. Dem Leibarzt gelingt es aber, das ihr zugedachte Gift durch ein Schlafmittel zu ersetzen. Das Fest endet abrupt mit dem vermeintlichen Tod Charlottes.

Der Autor: Arne Lange, Opern-Chefdramaturg am Erfurter Theater

Akt 2 – Die Michaelskathedrale im Kreml. Die Totenmesse. An Charlottes Sarg gesteht Victor seine Liebe und schwört Rache für den Mord. Nachdem Alexei den Sarg hat verschließen lassen, erwacht Charlotte. Unbemerkt von der trauernden Menge geleiten sie der Sekretär Herbert und Leibarzt Aurelius aus der Kapelle und ermöglichen ihr die Flucht.

Akt 3 – Heitere Gegend bei Resina am Golf von Neapel. Unerkannt lebt Charlotte fortan in Italien, von den Landleuten als Wohl-täterin „Santa Chiara“ verehrt. Der Zufall führt sowohl Alexei als auch Victor in ihre Nähe. Alexei hatte eine gescheiterte Verschwörung gegen seinen Vater geplant und gelangte auf der Flucht hierher. Victor wiederum war auf Befehl des Zaren dem Flüchtenden gefolgt. Während Charlotte und Victor glücklich zueinander finden, wird Alexei durch den Anblick der tot geglaubten in den Wahnsinn getrieben. Arne Langer

(Der Autor: Arne Lange ist Opern-Chefdramaturg am Erfurter Theater und stellte diese Auszüge aus seinem für das Programmheft 2010 geschriebenen Artikel dankenswerterweise zur Verfügung. Textred.: G. H.)

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Und nun die Rezension der Aufführung in Meiningen: Die beiden Herren müssen sich prächtig verstanden haben. Ernst II. von Sachsen-Coburg und Gotha (1818-93) und Georg II. von Sachsen-Meinigen (1826-1914) dürften sich nicht nur bei der Kaiserproklamation in Versailles 1871 begegnet sein, sondern teilten auch weitreichende künstlerische Interessen. Gemeinsam mit seinem jüngeren Bruder Albert genoss Ernst eine umfassende musische Bildung, wozu neben den obligaten Studienreisen auch eine umfassende musikalische Ausbildung gehörte. Nach Studienjahren in Bonn trennten sich ihre Wege. Albert siedelte als Gemahl der britischen Königin Victoria 1840 nach London über, Ernst, der seine Ausbildung noch in Dresden verfeinert hatte, trat 1844 die Nachfolge seines Vaters an. Immerhin fühlte er sich als Musiker und Komponist hinreichend gerüstet, um u.a. vier Opern zu komponieren. Sein ebenso kunstsinniger Meininger Nachbar lebte seine künstlerischen Ambitionen in der Neuorganisation des Meininger Hoftheaters aus. Schön, dass nun die vierte und erfolgreichste Oper von Ernst II. Santa Chiara am Staatstheater Meiningen ausgegraben wurde.

Santa Chiara ist die Wolfenbütteler Prinzessin Charlotte, die zur Stärkung der russisch-westeuropäischen Beziehungen mit dem Sohn Peter I., dem Zarewitsch Alexej, nach Russland verheiratet wurde. Legenden umwoben ist ihr späteres Nachleben. Offiziell 1715 bei der Geburt des späteren Zar Peter II. gestorben, kamen ein halbes Jahrhundert später Gerüchte auf, dass sie ihren Tod nur vorgetäuscht habe, um dem gewalttätigen Gatten zu entgehen und mit ihrem französischen Verehrer Chevalier Victor  St. Auban ausgewandert sei. Für den Text wählte sich der Herzog die populäre Erfolgsautorin Charlotte Birch-Pfeiffer aus, die als Vorlage Johann Heinrich Daniel Zschokkes Roman Die Prinzessin von Wolfenbüttel vorschlug. Die Idee gefiel dem Herzog. Gut möglich, dass sich Ernst II an das Schicksal einer Tante erinnert hatte, die gleichfalls mit einem Romanow-Zarewitsch verheiratet worden war, nach fünfjähriger unglückliche Ehe in die Heimat zurückkehrte und als geächtete Frau und Mutter unehelicher Kinder ein einigermaßen abenteuerliches Leben führte. Auch darüber hinaus hatte der Herzog nur erste Namen im Blick: Gustav Freytag warf einen letzten prüfenden Blick auf das Textbuch, für die Instrumentation versuchte er vergebens, Wagner zu locken. Meyerbeer durfte das Schlussurteil über das Werk fällen, das so vorteilhaft ausfiel, dass sich Meyerbeer für eine Pariser Aufführung einsetzte, die im Jahr nach der von Franz Liszt 1854 am Hoftheater Gotha dirigierten Uraufführung stattfand. Viele, durchaus renommierte Bühnen schlossen sich an. Ende des 19. Jahrhunderts riss die Erfolgsserie ab, nur die ehemals herzoglichen Hoftheater in Gotha und Coburg, wo es zuletzt 1927 zu einer Aufführung gekommen war, hielten der Santa Chiara die Treue.

Nun also neuerlicher Anlauf für Santa Chiara in Meiningen (29. April 2022). Der letzte Versuch sechs Wochen zuvor scheiterte an einer kurzfristigen Corona bedingten Absage der Aufführung. Dem Staatstheater Meinigen muss man das Kompliment machen, dass es sich nicht bequem zurücklehnte, sondern mit Kay Metzgers spannender Inszenierung des Fliegenden Holländers einen guten Ersatz einschob (10. März). Zusammen mit dem Lohengrin (20. April) am Abend vor der jetzigen Santa Chiara eröffnet sich ein kulturgeschichtlicher Horizont und werden „lokale“ kunst- und kulturgeschichtliche Bezüge deutlich, die die Oper des Herzogs nochmals in einem anderen Licht erscheinen lassen. Interessanterweise ist Lena Kutzner, die Senta und Elsa, auch eine der beiden Besetzungen der Santa Chiara. Eine Jugendlich-Dramatische, um die jedes Haus Meinigen beneiden muss.  Höhensicher und mit schönen leuchtenden Bögen, innig im Ausdruck. Überzeugend als Senta, die bei Metzger tagtäglich im altmodischen Kino ihren Kaffee nimmt, um anschließend ihren Star in einem  Fluch der Piraten-Aufguss zu erleben. Wunsch und Realität vermischen sich sehr packend. Und sie sitzt noch immer da. Inzwischen ein altes Weiblein am Gehstock. Noch eindrucksvoller gelingt Kutzner die Elsa, die sie in Ansgar Haags hochromantischer, um Böcklins „Toteninsel“ kreisender Inszenierung sehr leidenschaftlich und packend singt und auf ideale Weise erfüllt. Ein Ideal auch ihr Schwanenritter, den Magnus Virgilius mit silbern metallischem Stahl, unerschöpflich schlanker Kraft und glühendem, im Brautgemach zwischen Unerbittlichkeit und Resignation sich aufreibendem Ausdruck so beeindruckend sang, wie man ihn nicht oft hört.

Handelt es sich bei Santa Chiara um ein vergessenes Juwel der romantischen Oper, das man hinter die beiden 1843 und 1850 in Dresden und Weimar uraufgeführten Wagner-Opern einreihen darf oder nur eine interessante Fußnote zur regionalen Musikgeschichte? Ernst II. beginnt seinen Dreiakter  mit einer geheimnisvoll schwermütigen, reich instrumentierten Ouvertüre, die geradewegs in die dunklen Räume des Kremls zu führen scheint, wo die deutsche Prinzessin unter ihrem gewalttätigen Mann und dessen Mätressen leidet. Dann lichtet sich das Dunkel.  Ernst II. nimmt die hüpfende Tanzlaune Neapels vorweg, wo Charlotte im dritten Akt  als Wundertäter verehrt wird. In dieser zehnminütigen Zusammenfassung seiner Oper kehrt Ernst II. von der Elisir d’amore– oder opéra-comique-Beschwingtheit wieder zu den dunklen Grabesklängen zurück. Trotz aller Originalität wirkt die Ouvertüre kunstsinnig zusammengeflickt, kommt nicht richtig in Schwung, was leider für die gesamte Oper gilt, die sich zwischen französischen und italienischen Vorbildern nicht so recht zu entscheiden vermag.

Am ursprünglichsten wirkt Santa Chiara, wenn Ernst II. in den Rezitativen einen gemütlichen Lortzing-Ton anschlägt, der eigentlich gar nicht zu den französischen Adeligen am russischen Hof passt, und gemütvolle deutsche Romantik anstimmt. Beispielhaft zu Beginn die große Szene des Victor und seine Romanze „Am blum’gen Rain“, die sich wie eine schöne Kopie von Nicolais Fenton und Flotows Lyonel ausnimmt: liedhaft gefällige Schwärmereien, die den hier höhenstark geforderten Tenor in Bedrängnis bringen. Patrick Vogel singt den Victor mit nicht ungefährdetem, manchmal fast brechendem Ton, aber mit einer Operettenleichtigkeit, die hier gut am Platz ist, und mit so viel Charme, dass er, der im dritten Akt mit einer schönen Arie seiner Angebeteten folgt, fast zur Hauptfigur in diesem kruden Schwenk von Moskau nach Neapel wird, in dem keine der Figuren ein Gesicht erhält .

Santa Chiara ist noch eine Nummernoper, „aber wir haben es hinbekommen, dass es mehr ineinanderfließt“,  erzählt GMD Philippe Bach im Programmheft, „Besonders bei den Rezitativen, die nicht nur das kompositorisch schwächste Teil sind, sondern auch zu lang, habe ich den Rotstift angesetzt“. Was auch immer wegfiel, der Rest hängt irgendwie in der Luft, denn aus den kurzen Ensembles und Chornummern, in welche die Gesellschaftsszenen des ersten Aktes aufgelöst sind, lässt sich keine Geschichte filtern. Da hilft es auch wenig, wenn Charlotte eine innere Schauspielerinnen-Stimme zur Seite gegeben wird, die mehr zur Verwirrung denn Klärung beiträgt. Vor allem die Titelgestalt wird nicht greifbar, scheint sich von Anfang an wie ein Phantom durch den Kreml zu schleichen und ihre spätere Legendenbildung vorzubereiten. Mit gebrochen, gezackter Gesangslinie tut sich Deniz Yetim in den kurzen Ariosi und disparaten Attacken schwer, allenfalls ihm Duett mit der Charlotte liebenden Gräfin Bertha besänftigt sie ihren wilden Sopran so weit, dass er in der Sterbeszene recht vorteilhaft klingt. Der zweite Akt mit der Alexejs Giftanschlag um Opfer gefallenen und aufgebahrten Charlotte ist ganz Grand Opéra: die Cavatine der Bertha, in der sie ihr verlorenes Glück beklagt, entspricht vollkommen dem Schema, das an dieser Stelle der zweiten Sängerin eine bravouröse Nummer zuteilt, dazu die anspruchsvolle Tenorszene des Victor, kurze Intrigen des Zarewitsch, der in der Oper immer Czarowitsch genannt wird, vor allem die Gesänge des Archimandriten von Moskau, sakrale Klanggesten und Orchesterraunen – wozu die Regie ein Foto Bruckners aufgestellt hat – und das im Hintergrund erklingende „Requiem“ zeigen, wie genau sich Ernst II. in der weiten Welt der Grand Opéra umgesehen hatte. Musikalisch runder wird die Oper, nachdem Charlotte, die erst in der letzten Zeile als „Santa Chiara“ gefeiert wird, im Süden Asyl gefunden hat.

Idyllische Gesänge, nochmals hübsche Nummern für den Mezzosopran, wobei Sandra Maxheimer als Bertha einen lyrischen Mezzo von angenehmer Wendigkeit zeigte, endlich eine große, kloraturenverzierte fast bellinihafte Arie für Charlotte, die Yildim mit kangvoll, vibratoreichen Sopran angeht. Noch ein Abschiedsduett mit dem Tenor, dann – recht unvermittelt – der Auftritt des Charlotte gefolgten Alexej, der zuvor bestenfalls durch das blaue Ballkleid auffällig wurde, mit dem er auf dem Bett neben dem Sarg mit seiner Gattin tanzte. Nun wird er angesichts der Ereignisse wahnsinnig. Mit seinem leichten Spielbariton kann der spielmächtige Johannes Mooser die Dimensionen der Figuren nur andeuten. Hendrik Müller unterstrich die Ungleichartigkeit der Musik bzw. die vielfältigen stilistischen Einflüsse, die Buntscheckigkeit und Sprunghaftigkeit der Handlung durch eine Inszenierung, die Revue und Show und Zirkus mit ironischer Distanz und parodistischer Leichtigkeit verbindet. In der Charlottes Teddybär ebenso seinen Platz findet wie der Schmerzensmann mit der Dornenkrone, der die Tote im Sarg berührt, worauf sie wie Schneewittchen plötzlich die Augen aufschlägt. Wo Alexejs Mutter und Geliebte als stumme Nebenfiguren auftauchen oder eine neue Glaubensgemeinschaft glückselig taumelt. Wie auf einem Karussell lässt Marc Weeger dazu in den beiden ersten Akten die pompejanisch roten Zimmerfluchten des Kremls rotieren, in denen Müller eine überzeichnete, affektierte Gesellschaft zeigt, in deren Mitte Alexej und Victor als Paradiesvögel  stolzieren. Nicht weniger schillernd das sich drehende Zirkusrund im Süden, wo die durchgehend als weiße Bräute gekleideten Chormassen (Kostüme: Katharina Heistinger) mit den hier besonders auffälligen Plattitüden der Birch-Pfeiffer ihrer Führerin huldigen, die wie eine Operettendiva aus der Kuppel herunterschwebt.  

Zwischen zwei Lohengrins überließ BGM Bach die Aufführung am 30. April Andrey Doynikov, der die wunderbar eingestimmte Meininger Hofkapelle und den Chor und Extrachor so gewinnend durch den 2 ¼ stündigen Abend führte, dass Brüche und Schwächen des Werks wenig spürbar wurden. Großer begeisterter Jubel für diese Prinzessin, die nun wieder für ein Jahrhundert in einen Dornröschenschlaf versinken wird. Für die nächste Spielzeit hat Meiningen bereits eine weitere Beschäftigung mit russischer Geschichte vorgesehen und als Novität die szenische Uraufführung von Bizets fünfaktigem Ivan IV. angekündigt. Rolf Fath

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