Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Paderewskis „Manru“

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„Da hast du ihn“, schreit Urok und stößt Manru den Dolch ins Herz. Er nimmt blutige Rache für Manrus Frau Ulana, die sich zuvor selbst getötet hat. Ein knalliges, auch etwas konventionelles Ende für die von Anfang an zum Scheitern verurteilte Liebe zwischen dem Roma Manru und Ulana, der Tochter von Tatra-Bauern. Leoncavallos Pagliacci scheinen nicht weit. Doch Manru ist mehr als ein aufgewärmter Verismo-Schocker, der zufällig im einem Dorf im Tatra-Gebirge spielt, hat ihn doch Ignacy Jan Paderewski einmal als „erste Oper über das Problem der Rassen“ bezeichnet: ein Ehe- und Gesellschaftsdrama, das Paderewski mit slawischer Volksmusik und Musik der Roma musikalisch genau ausdifferenzierte. Mögen auch manche der Melodien, die er 1883/ 84 bei der von städtischer Zivilisation unberührten Bevölkerung im Süden Polens in den Karpaten sammelte und aufzeichnete aus zweiter Hand sein.

Ignacy Jan Paderewski, 1900, photo collections of United States‘ Library of Congress

Vor allem die beiden Außenakte, bei der Hochzeitsfeier von Ulanas Schwester und bei der Roma-Sippe der  Erumanels, quellen über von Tänzen und Liedern. Der Zigeuner Manru hat Ulana geheiratet und ihr zuliebe seine Gemeinschaft verlassen, die ihn als Abtrünnigen betrachtet. Zugleich bleibt er auch in Ulanas Dorf ein Außenseiter, wo Ulanas Mutter Hedwig, in deren hartherzige Phrasen sich Gabriella Guilfoil verbeißt als sei sie eine Schwester von Janáčeks Kabanicha, gegen den Schwiegersohn hetzt. Obwohl sie ein Kind haben, verlässt Manru Ulana, erliegt der Liebe zur seiner Ex Asa und den Geigenklängen seiner Leute und kehrt zu den Zigeunern zurück. Ulana erkennt, dass sie Manru verloren hat und bringt sich um. Der sie heimlich liebende Urok rächt sich und tötet im Gegenzug Manru. Das liest sich wie die direkte Kopie eines veristischen Stoffes. Tatsächlich könnte man, ungeachtet der Sprache, den durchkomponierten Manru mit seinem kraftvollen Zugriff auf den Text und der leidenschaftlichen Singdeklamation für eine veristische Oper halten. Doch daneben kultiviert Paderewski einen spätromantischen Jahrhundertwendrausch mit vielen überdeutlichen Wagner-Reminiszenzen vom Wälsungen-Liebespaar über Jung-Siegfried, Tristan und Isolde bis Kundry, die ihren Höhepunkt im Liebesduett Ulana/ Manru im zweiten Akt finden, und lässt Asa wie eine in die Karpaten umgesiedelte Carmen klingen.

Paderewskis „Manru“ in Halle/ Szene/ Foto Federico Pedrotti

Die Lücke, die in der polnischen Oper zwischen den Werken Moniuszkos und Szymanowskis König Roger klafft, – Władysław Żeleńskis Goplana von 1896 blieb eine Rarität und wurde erst 2015 von der Warschauer Opern rehabilitiert – schließt Ignacy Paderewski mit seinem Manru. Beim zweiten Blick ist es gar nicht so erstaunlich, dass die auf Jozef Ignacy Kraszewskis Roman Die Hütte am Rande des Dorfs basierende Oper mit dem deutschen Libretto von Alfred Nossig in Dresden 1901 herauskam. Dabei spielte weniger eine Rolle, dass Kraszewski nach dem Januaraufstand von 1863 in die Emigration ging und rund zwanzig Jahre im bei polnischen Exilanten belieben Dresden lebte, wo auch seine Sachsen-Romane entstanden. Vielmehr dürften dabei die weitreichenden Kontakte Paderewskis und seine Bekanntschaft mit allen Persönlichkeiten des europäischen Musiklebens von Vorteil gewesen sein. Um die vorletzte Jahrhundertwende war Paderewski (1860-1941) vor allem der weltweit konzertierende Klaviervirtuose; 1915-22 schlug er zusätzliche eine politische Karriere ein, war Mitglied der polnischen Exilregierung, wurde 1919 zum ersten Ministerpräsident Polens und Außenminister ernannt, vertrat Polen auf der Pariser Friedenskonferenz 1919 und unterzeichnete für sein Land den Versailler Vertrag. Nachdem er 1922 seine politische Tätigkeit aufgegeben und sich wieder seinen Konzertauftritten gewidmet hatte, kehrte er 1939 nochmals in die Politik zurück.

 

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Und nun Rolf Fath zur Auffüherung in Halle, erstmals in deutscher/originaler Sprache: An der Oper Halle, wo Manru erstmals (am 19. März 2022) seit der Uraufführung an der Dresdner Hofoper vor 120 Jahren wieder an einem deutschen Haus gespielt wird, verzichtet Katharina Kastening auf diesen ganzen folkloristischen und dörflichen Zierrat und trennt die jeweils anderen durch eine undurchsichtige milchige Scheibe, die Ausstatter Gideon Davey ganz geschickt auf der nahezu leeren Drehbühne installiert hat. Keiner sieht hinter die Scheibe, keiner kennt den anderen. Die Dorfbewohner feiern. Was dahinter stattfindet bleibt ihnen verschlossen. So entsteht Ausgrenzung. Umgekehrt genauso. Die politischen und gesellschaftlichen Implikationen werden nicht feingezeichnet. Ulana und Manru ziehen sich in ihre mit „Zigeuner“ beschmierten Plexiglasboxen zurück. Die Scheibe dreht sich. Die Ausgelassenheit bei den Roma sieht genauso wie im Dorf von Ulanas Mutter aus, nur die Röcke sind etwas kürzer, die Kleider greller und glitzernder. Manru lässt sich durch seine alte Liebe Asa und die Macht der Musik zum Bleiben verlocken und wird schließlich zum neuen Anführer gekürt, auch wenn ihm die Lederjacke des Herrschers zu eng geworden ist. Ohne konkret zu werden, führt Kastening das alles schmucklos und stringent, in den Chorszenen durchaus bravourös und überzeugend heutig vor, auch die Halluzinationen, in die Manru stürzt, nachdem ihn Ulana durch einen Liebestrank an sich zu fesseln versuchte, und seine Fieberträume, in denen er ständig einen Manru-Doppelgänger mit seiner kleinen Tochter sieht, wirken plausibel.

Paderewskis „Manru“: Marcella Sembrich war die erste Ulana/ Foto Ipernity

Das wird auch als Koproduktion mit der Opéra National de Lorraine in Nancy nocht gut wirken. Im Opernhaus Halle gab es für das Regieteam unverdientermaßen Buhs, während der musikalische Teil über die Maßen gefeiert wurde. Mit dem durchaus reifen Liebespaar Romelia Lichtenstein und Thomas Mohr setzte Halle bewusst nicht auf feurige Leidenschaft und jugendlich unbekümmertes Außenseiterum. Romelia Lichtensteins Sopran weist mittlerweile manche Schwächen auf, klingt nicht in allem Lagen gleichermaßen präsent und sicher, hat aber in der Höhe, so in Ulanas Wiegelied zu Beginn des zweiten Aktes, einen zarten Zauber und kann in den wagnerischen Pucciniaufschwüngen immer noch energisch durchgreifen. Mit robust geradlinigem, trompetenhellem Tenor steuert Thomas Mohr sicher durch die, so der Dirigent, zwischen Cavaradossi und Siegfried angesiedelte Partie und kann dank seiner Routine und vorbildlichen Textdeutlichkeit Akzente setzen. Daneben Levent Bakirci mit dem rechten knarzig schrägen Charakterbariton als faszinierend zwielichtiger Urok, Franziska Krötenheerd mit hart geschliffenem Sopran als brav ungefährliche Asa und Ki-Hyun Park als entthronter Anführer Oros. Mir kam der mit zwei Pausen weit über drei Stunden dauernde Abend deutlich zu lang vor, was vermutlich nicht an Michael Wendebergs musikalischer Leitung und der Staatskapelle Halle lag, schon gar nicht an den ausgezeichneten Chören mit Kinder- und Jugendchor. Paderewskis Hang zum weitschweifigen Kolorieren führt gelegentlich zu einem suppig unnuancierten Orchesterklang, dem Wendeberg entgegensteuert, indem er durchaus die Modernität und Vielfalt der Musik unterstreicht.

Die Buhs zielten sicher nicht auf den mit dem Regieteam erschienen Dramaturgen Boris Kehrmann, denn um Manru und das Thema Integration hatte er neben dem ungemein profunden Text im Programmheft ein Rahmenprogramm aus Ausstellung (Über Ausgrenzung, Assimilation, Homogenisierung), Lesung und Konzert aufgestellt. Vor allem ein zweitägiges Symposium, dessen Themenstellungen mich teilweise an das aktuelle Straßburger Arsmondo Festival Tsigane erinnerten, das sich um den Doppelabend Das Tagebuch eines Verschollenen und El amor brujo rankt und als Hommage an das reiche kulturelle Erbe der Sinti, Roma, Calé, Manush versteht.

Paderewskis „Manru“ in Halle/ Szene/ Foto Federico Pedrotti

Manru stellt den Höhepunkt von Paderewskis kompositorischem Schaffen dar, das um 1900 bereits nahezu vorständig vorlag. Die Dresdner Uraufführung am 29. Mai 1901 dirigierte Ernst von Schuch, es sangen Annie Krull (Ulana), die acht Jahre später die Elektra kreierte, und der erste Heldentenor des Hauses Georg Anthes den Manru, dazu Karl Scheidemantel den Urok. Zehn Tage später folgte in Nossigs Geburtsstadt Lemberg die polnische Erstaufführung. Manru wurde vielfach nachgespielt, 1902 sogar in New York gegeben, wo unter Walter Damroschs Leitung Marcella Sembrich die Ulana war, und steht in Polen bis heute auf den Spielplänen. In Bydggoszcz/ Brombeg entstand 2006 eine Aufnahme (DUX), neue Aufführungen aus Posen und Warschau gibt’s auf youtube oder DVD (alle stets in Polnisch). Nach Deutschland ist der (deutsche) Manru indes gar nicht bzw. 1987 in Dresden nur als Gastspiel aus Lodz zurückgekehrt. Nun also Manrus Heimkehr, die in Halle mit mehr Respekt als Bewunderung zu erleben ist (Dankenswerter Weise gab es einen Radiomitschnitt im Deutschlandradio Kultur/ Foto oben: Aleksander-Brückner-Zentrum/ zu Manru).    Rolf Fath

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Die polnisch-deutschen Schwierigkeiten nicht nur in den kulturellen Nachkriegs-Beziehungen beleuchtet die Oper Manru Paderewskis geradezu exemplarisch. Die Zögerlichkeit der polnischen Theater, den deutschen Anteil des kulturellen Erbes anzuerkennen und sogar vorzustellen mündet in einem sehr langsamen Prozess der Aufarbeitung. Ignaz Paderewski (Ignacy Jan Paderewski Herb Jelita, GBE * 6. bezw. 18. November 1860 geb.  in Kuryłówka; † 29. Juni 1941 in New York), dessen Oper Manru im Paderewski-Jubiläums-Jahr 2018 an der Oper Posen Premiere hatte und der sich gelegentlich auf den nationalen Spielplänen wiederfindet (so in Krakau, Bytom und Breslau) ist natürlich in Deutsch komponiert worden. Da liegt bis heute das Problem wie bei vielen anderen deutsch geschriebenen Werken. Erst die mutige Chefin der Breslauer Oper wagte es bislang, die Oper in Deutsch aufzuführen (zu hören bei DUX). (Inzwischen gibt es ,2023, auch eine deutschsprachige Aufführung aus Nancy. G.H.)

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Paderewkis „Manru“: Theaterzettel für die Aufführung an der Met 1901/Org.

Paderewskis Oper wurde 1901 erst in Dresden, dann im selben Jahr in Krakau und an der alten Metropolitan Opera New York mit Marcella Sembrich aufgeführt (wie auch an den anderen genannten Orten in deutscher Sprache, das soll nicht vergessen sein – tun sich die Polen doch immer noch sehr schwer mit der Anerkennung der deutschen Wurzeln mancher Kulturerscheinungen, und der neue Manru in Posen wurde natürlich in der polnischen Übersetzung gegeben). Paderewski spielte zudem in Amerika und im europäischen Ausland eine enorme Rolle im Kampf Polens um seine Unabhängigkeit auf dem Wege zu einem eigenen Staat, weg von Deutschland, Russland, Litauen und der Ukraine – wir wissen viel zu wenig über die Frustrationen und Verletzungen des polnischen Volkes im Laufe seiner leidvollen Geschichte der Fremdherrschaft und Kujonierung durch andere Staaten. Es ist kein Wunder, dass die eigene Sprache und die katholische Religion bis heute eine solche Bedeutung für Polen haben.

Die nachfolgenden Artikel von Peter-OIiver Loew und Marcin Gmys umreißen die Umstände der Entstehung der Oper, aber vor allem die politischen Dimensionen des Wirkens Paderewskis, den wir heute außerhalb Polens eher nur durch seine pianistische Aktivität erinnern. Dass er ein glühender Freiheitskämpfer war, der sein ganzes Gewicht als Künstler für die Sache eines freien Polens einsetzte, ist für uns Ausländer ebenso erstaunlich wie eindringlich. Wie sein Kollege Monisuzko und andere begriffen sich Polens Künstler in erster Linie als politische Menschen in einem Klima von Unterdrückung und Fremdherrschaft. Geerd Heinsen

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Peter-Oliver Loew: Überlegungen zur deutsch-polnischen Beziehungsgeschichte. Es muss ein erhabenes Gefühl gewesen sein: Am 25. Dezember 1918 stand der weltberühmte Pianist und Komponist an der Reling des britischen Kreuzers HMS Concord, rechts glitt die Halbinsel Hela vorbei, und voraus war bereits die grandiose Silhouette der Stadt Danzig zu erahnen. Den gesamten Krieg über hatte der charismatische Musiker für die polnische Sache gekämpft, war kreuz und quer durch Nordamerika gereist, um die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass Polen als unabhängiger Staat wieder entstehen müsse. Er hatte Zugang zu Präsident Woodrow Wilson gefunden, der in seinen berühmten 14 Punkten für das künftige Polen „einen freien und sicheren Zugang zur See“ verlangt hatte. Wo, wenn nicht hier, in der Danziger Bucht, sollte sich dieser Zugang befinden, hier, wo Polen mehrere Jahrhunderte lang ans Meer gegrenzt hatte? Der kalte Wind zerzauste Paderewskis berühmte Mähne, einst ein leuchtender Rotschopf, mittlerweile war er ergraut. Doch er fühlte sich stark wie selten zuvor, er spürte, dass seine Ankunft in Polen etwas bewirken könnte. Zwar war im einstigen russischen Teilungsgebiet bereits ein neuer Staat entstanden, die deutsch-österreichischen Besatzungstruppen hatten die Waffen gestreckt, aber Danzig oder auch Posen, Teile des historischen polnischen Staatsgebietes, standen nach wie vor unter deutscher Verwaltung.

In Danzig verbrachte der Musiker einen Abend in Gesellschaft von Vertretern der kleinen hier ansässigen polnischen Bevölkerungsgruppe, dann ging es weiter nach Posen. Paderewskis Frau Helena erinnerte sich wenig später an die Stimmung, die ihnen in Danzig von deutscher Seite entgegengeschlagen war: „Die grimmige und feindliche Haltung der Deutschen, nicht nur der Soldaten, sondern auch der Zivilisten, begann sich auf meine Nerven auszuwirken. Ihr Hass auf die Polen war so stark und so verbissen (…), dass man befürchten konnte, einige von ihnen könnten einen Anschlag auf das Leben des Menschen verüben, der die Mission verfolgte, das Land wieder zu errichten.“

Auch Ignacy Paderewski hatte damals schon längst Distanz zu Deutschland gewonnen, und in seinen Lebenserinnerungen vom Ende der 1930er Jahre stilisierte er seine Distanz zu Deutschland – ähnlich wie zuvor seine Frau – sogar ganz deutlich: „(…) ich bin entschieden ein Feind Deutschlands“, schrieb er, um aber gleich danach zu präzisieren: „ (…) eigentlich bin ich nicht feindlich gegenüber allen Deutschen eingestellt, sondern ausschließlich gegenüber den Preußen, denn alle unschönen Merkmale, die wir heute in Deutschland beobachten, wie Rücksichtslosigkeit, Brutalität, Hochmut und Arroganz, wurden ihm von den Preußen aufgezwungen“.

Doch ohne Deutschland, ohne Preußen wäre Paderewskis Karriere gar nicht möglich gewesen. Sein Leben ist im Grunde ein gutes Beispiel für die vielfältigen Verflechtungen zwischen der polnisch- und der deutschsprachigen Welt, für deren Erforschung sich schon seit den 1970er Jahren der vor wenigen Wochen verstorbene Osteuropahistoriker Klaus Zernack stark gemacht hat. In seinem Konzept der „Beziehungsgeschichte“ ging es ihm darum, die Beziehungen zwischen historisch eng verknüpften Staaten bzw. Nationen in ihrem Verlauf zu untersuchen. In einem solchen Blick werden die gegenseitigen, grenzüberschreitenden Bedingtheiten staatlicher oder nationaler Entwicklungen sichtbar, die in der traditionellen Geschichtsschreibung entweder kaum berücksichtigt werden oder lediglich ein holzschnittartiges Stereotyp bilden.

Paderewskis „Manru“/ Szene aus der Aufführung 2018 an der Oper Posen/ Teatr Wielki Poznan

Der 1860 geborene Ignacy Jan Paderewski war im ostpolnischen Podolien aufgewachsen, doch schon mit zwölf Jahren schickte sein Vater das musikalisch begabte Kind zur Ausbildung nach Warschau. 1881 zog es den jungen Musiker schließlich nach Berlin, wo er sein kompositorisches Können vervollständigen wollte. Drei Jahre lang hielt er sich – mit Unterbrechungen – in der deutschen Hauptstadt auf, hier machte er als Komponist auf sich aufmerksam, hier fand er auch seinen ersten Verleger, die bekannte Firma Bote & Bock, und vom musikalischen Leben der Großstadt war er begeistert. Was Paderewski nicht gefiel, war die ihm zufolge in Deutschland herrschende Überzeugung, dass Musik keine nationale Färbung besitzen dürfe, schon gar keine polnische.

Noch mehrmals machte Paderewski Erfahrungen im Deutschen Reich, die er negativ interpretierte. So schrieb er Ende 1885 aus dem elsässischen Straßburg, wo er kurzzeitig am Konservatorium lehrte: „Gewaltige Arbeit, dafür gibt es eine elende Entlohnung, das Leben ist teuer, fast keine Privatstunden, nur Langeweile, Traurigkeit und Kopfzerbrechen bis über beide Ohren.“ Nach seinem sensationellen pianistischen Durchbruch in Paris 1888 spielte er zwar mehrmals in Deutschland, oft mit großem Erfolg, doch ein katastrophales Konzert in Berlin 1890, als Orchester und Dirigent versagten und einige Kritiker ihn verhöhnten, oder auch die negative Bewertung seiner kurz vor dem Weltkrieg vollendeten Symphonie in deutschen Rezensionen (kein Wunder, hatte er sie doch Polonia genannt), verfolgten ihn bis an sein Lebensende. Erfolge wie die sehr gut aufgenommene Uraufführung seiner Oper Manru in Dresden 1901 und manche gefeierten Konzertauftritte verloren für ihn an Bedeutung, ja er stilisierte sich zu einem Opfer des deutschen (Kultur-)Imperialismus. Das wertete ihn in den Augen der polnischen Nationalbewegung auf, und daran war ihm offensichtlich sehr gelegen.

Paderewskis “ Manru“/ Szene aus einer Aufführung an der Opera Wroclaw/ Breslau/Foto Maria Behrendt/ die Dux-Aufnahme der Oper Wroclaw stammt von 2013 und wurde in operalounge.de besprochen.

Sein Publikum suchte Paderewski sich nun vor allem in Nordamerika, wo er sich – nicht zuletzt mit der Interpretation von Chopins Werken – ein sagenhaftes Vermögen erspielte. Immer stärker sah er sich in einer politischen Rolle, als Botschafter einer geteilten Nation in der freien Welt. Als er 1910 das Krakauer Denkmal zum 500. Jahrestag der Schlacht bei Grunwald/Tannenberg stiftete und kurz darauf in Lemberg eine vielbeachtete Rede zum 100. Geburtstag Chopins hielt, in der er eine nationale Kunst forderte, machte ihn dies auch in Polen zu einer der wichtigsten politischen Stimmen.

Dieser Ignacy Jan Paderewski reiste also Ende Dezember 1918 unter britischem Schutz von Danzig nach Posen. Noch musste er dazu das preußische Staatsgebiet nicht verlassen, aber er fühlte sich bereits fast wie in Polen, auf vielen Bahnhöfen machten ihm Vertreter der ansässigen Polen die Aufwartung. In Posen bereitete ihm die polnische Bevölkerung einen grandiosen Empfang: „Ein geliebter König, der nach vielen Jahren der Verbannung zurückkehrt, oder ein von Liedern und Legenden besungener Nationalheld hätten sich keine eindrucksvollere, keine anrührendere Begrüßung erwarten können als die, welche die Posener Paderewski zuteilwerden ließen“, erinnerte sich Helena Paderewska kurz darauf. Tatsächlich war sein Aufenthalt der spontane Auslöser für den insgeheim zwar vorbereiteten, doch eigentlich erst für später geplanten Großpolnischen Aufstand: Die Scharmützel gegen oft unmotivierte, in den Bann der Revolution gezogene preußische Einheiten sowie hastig aufgestellte Freikorps dauerten einige Wochen und forderten viele tausend Tote.

Paderewskis „Manru“: Der Autor Peter-Oliver Loew ist Historiker, wissenschaftlicher Mitarbeiter und stellvertretender Direktor im wissenschaftlichen Bereich des Deutschen Polen-Instituts.

Als nach wenigen Tagen die Kämpfe in Posen abebbten, begab sich Ignacy Jan Paderewski nebst Gattin am Neujahrstag des Jahres 1919 mit dem Zug auf die Reise nach Warschau. Hier übernahm er kurz darauf als über den Parteien stehende Weltberühmtheit für ein knappes Jahr das Amt des Ministerpräsidenten, um Polens Interessen auf der Pariser Friedenskonferenz zu vertreten. Danzig konnte er zwar nicht für Polen gewinnen, aber immerhin einen polnischen Zugang zum Meer.

Paderewski hatte sich bemühen müssen, um die Nähe zur deutschen Musikkultur in den Augen der polnischen Öffentlichkeit abzuschütteln. Aber auch wenn man die vielschichtigen Beziehungen und Verflechtungen zwischen Deutschland und Polen aus der Geschichte heraus zu erzählen versuchte, so sind sie über alle Brüche hinweg bis heute ein fundamentaler Bestandteil europäischer Lebenswelten geblieben. Ihre Erforschung im Sinne Klaus Zernacks bietet noch Arbeit für Generationen. Peter Oliver Loew/ Dialog Forum 11/01/2018

 

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Und nun ein Ausschnitt aus dem Artikel des polnischen Musikwissenschaftler Marcin Gmys zur Oper selbst (aus dem Programmheft zur Aufführung 2018 an der Oper Posen) (…) Nach einer triumphalen Tournee durch England beschloss Paderewski 1893, auf dem Höhepunkt seiner Virtuosenkarriere, zur Überraschung der Welt, obwohl er sehr unzufrieden mit den äußerst quälenden Schmerzen in seinen Händen war, seine Aufführungen in der kommenden Spielzeit einzustellen, um ernsthaft zu komponieren. Wie er in seinen Tagebüchern erwähnt: „Der Grund dafür war folgender: Ein polnischer Dichter und Schriftsteller, Alfred Nossig, schlug lange Zeit vor, einen Text zu schreiben, der als Libretto für eine Oper dienen würde. Ich habe einen seiner Entwürfe ausgewählt. Er hat es für mich geschrieben und, obwohl noch nicht ganz fertig, Ende 1893 an mich geschickt. Es diente als Grundlage für das Libretto für Manru.“ Dazu gehörten der Ballettentwurf Mittsommernacht und der Entwurf der Oper Schloss der Sirenen, der die Handlung in der imaginären Burg des Kastellans Syreniecki am Morskie-Oko-See unter Beteiligung einer Gruppe von „Hochlandräubern“ verlegt und – ja, tatsächlich – die Protagonistin Maryla tötet, die schließlich Selbstmord begeht, indem sie in den See springt. (Übrigens dürfen wir nicht vergessen, dass Alfred Nossig, der sich im 20. Jahrhundert der Idee des Polentums und dann des Zionismus und Pazifismus verschrieben hatte, in die entgegengesetzte Richtung ging wie der patriotische Paderewski: Bereits während des Ersten Weltkrieges im Verdacht, die Deutschen zu bevorzugen, wurde er 1943 im Warschauer Ghetto von Mitgliedern der Jüdischen Kampforganisation wegen seiner beschämenden Zusammenarbeit mit den Besatzern erschossen.)

Paderewskis „Manru“/ Szene aus der Aufführung an der Schlesischen Oper/ Opera Slaska Bytom/ Org.

Paderewski wollte sein Werk in Italien schreiben, wo er zum ersten Mal in seinem Leben war, aber er musste wegen Problemen mit seinem kranken Sohn nach Paris zurückkehren. In Frankreich mietete er heimlich ein Haus in Passy, ​​um sich zu beruhigen und Abstand von der immer lauter werdenden „Paddy–Manie“ zu gewinnen (seine Pariser Wohnung wurde täglich von Freunden und Bewunderern belagert), wo er Privatsphäre und die Gelegenheit dazu erhielt, sich auf kreatives Denken konzentrieren. Infolgedessen vollendete er in den nächsten sechs Monaten die Originalfassungen des ersten und zweiten Aktes sowie den Beginn des dritten Aktes. Leider stellte sich bald heraus, dass der Künstler wieder seinen Lebensunterhalt verdienen musste: „Ich brauchte Geld (…) – meine zehn Finger waren mein ganzes Vermögen.“ Das Komponieren weiterer Fragmente, die manchmal für mehrere Monate unterbrochen wurden, dauerte bis 1901. Doch wurde Paderewski bereits 1897 bekannt, dass in Dresden – der Stadt, die er wegen ihrer Offenheit gegenüber den Novemberaufständischen, die in den 1830er Jahren aus ihrer Heimat flohen, sehr mochte – eine Oper auf seine Partitur wartete. Der Komponist korrigierte seine Partitur praktisch bis zur Uraufführung. Diese Modifikationen waren nicht nur mit einem Gefühl der Unzufriedenheit mit der musikalischen Form des Werkes verbunden, sondern – und mindestens ebenso oft – mit der Überzeugung, dass der von Nossig zur Verfügung gestellte Text zuweilen elementare dramaturgische und sprachliche Mängel aufwies.

 

Kraszewskis Prototyp und das Libretto von Nossig: Die Hütte außerhalb des Dorfes wurde in den Jahren 1854–1855 von Ignacy Jan Kraszewski verfasst, eine Reihe populärer Romane dieses Schriftstellers, die von Anfang an eine große Leserschaft anzog. Die Tatsache, dass es im Laufe des Lebens des Schriftstellers insgesamt dreimal veröffentlicht wurde, wurde nicht nur – wenn auch wahrscheinlich zu einem großen Teil – durch das melodramatische Thema bestimmt, sondern auch durch seine innovativen Merkmale: eine Einführung in die literarischen Salons des Themas Zigeuner als eine Gruppe, die die kulturelle Vielfalt und die sozialen Folgen dieser Tatsache symbolisiert.

Paderewskis „Manru“: Aleksander Bandrowski war der erste Titelsänger, auch an der Met New York/ Foto Museum Paderewski, Morges/Schweiz/ Foto Mazur, Dawid (?-1916)

Bei der Beschreibung der Adaptionsarbeiten von Nossig und Paderewski, in deren Verlauf diese zahlreiche Änderungen erforderten (z. B. die Erweiterung der beiden ursprünglichen Akte, die ein instrumentales Intermezzo benötigten, in die dreiaktige Struktur), sollten wir zunächst auf oberflächliche Änderungen achten. Im Zuge von Änderungen begannen die Autoren damit, die Namen der Helden zu ändern: Die fiktiven Charaktere Tumra und Motruna wurden in Manru und Ulana umbenannt. Ulana – der Name stammt übrigens aus einem der ersten Kraszewski–Volksromane, die in den frühen 1840er Jahren geschrieben wurden – ist eine tragischere Heldin als Motruna; Sie stirbt nicht auf natürliche Weise, sondern wie Moniuszkos Halka – indem sie ins Wasser springt, einen See oder Fluss (Kraszewskis Ulana begeht auch wegen unerwiderter Liebe Selbstmord). Zwei weitere wichtige Modifikationen sind: Der fiktive Krüppel Janek, der Motruna im Libretto unterstützt, verwandelt sich in einen Zwerg namens Urok (Charme), Chef der Zigeuner. Aprasz in Oros, während Motrunas Vater Lepiuk, eine Figur von Zigeunerherkunft, in der Oper durch Ulanas Mutter Jadwiga ersetzt wird, die nichts mit den Zigeunern zu tun hat und ihnen gegenüber offen ihre Feindschaft ausdrückt.

Jede Dramatisierung eines umfangreichen Romans – Dramaturgie, Film und insbesondere Oper, in der etwa 2/3 weniger Platz für Wörter vorhanden ist – erfordert Abkürzungen, Vereinfachungen und Verweise auf gängige Muster. Bei der Beziehung zwischen Die Hütte außerhalb des Dorfes und Manru war das nicht anders. Beim Betrachten und Anhören dieser Oper darf das für Kraszewski so wichtige Herrenhausmotiv von Paderewski und Nossig nicht außer Acht gelassen werden, oder die Tatsache, dass wir nur den letzten Teil der Geschichte der Ehe des Hochlandfrau und des Zigeuners auf der Bühne sehen. Ulana und Manru, die mit ihrem kleinen Sohn (Motruna und Tumrym hatten eine Tochter) in der titelgebenden Hütte am Rande der Hochlandgemeinde leben, haben es satt, weiter ums Überleben und die elementare Würde zu kämpfen. Ulana, in der Arbeit von Nossig und Paderewski ein bisschen Pappfigur, die ihr Schicksal sanftmütig trägt, und die innerlich zitternde und viel interessantere (auch musikalisch) Manru werden als Ausstrahlung ihrer jeweiligen Gemeinschaften dargestellt: etwas farblose Hochländer und faszinierende Zigeuner mit ihren mysteriösen Bestrebungen und ihrer Bereitschaft, ihren natürlichen Instinkten zu folgen.

In den ersten Jahrzehnten fand die Oper von Paderewski – worauf später noch eingegangen wird – weltweit großen Anklang. Und in Polen führte es indirekt zu einer temporären „Kraszewski–Mode“ unter den Komponisten, da 1907 die Uraufführung von Die alte Erzählung von Wladyslaw Żeleński nach einem Libretto von Aleksander Bandrowski und 1909 von Boleslaw der Tapfere nach Ludomir Różycki stattfand, ebenfalls nach dem Libretto von Bandrowski (wahrscheinlich der wichtigste Darsteller der Rolle von Manru in der Geschichte) nach dem Roman mit dem Titel Boleszczyce.

 

Paderewskis „Manru“: Marcella Sembrich war die Ulana an der Met/ Foto Ipernity

Musik: Aktuelle Trends gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Die ersten Kommentatoren von Manru wiesen darauf hin, dass Paderewski als Opernkomponist einen viel stärkeren Einfluss Wagners spüren ließ als in seinen anderen Werken. Für zeitgenössische, insbesondere ausländische Kritiker, war es in der Regel ein Grund, den polnischen Künstler zu komplementieren, da er sich auf den „heißesten“ Komponisten der letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts bezog, dessen Einfluss auf die Musik in den folgenden Jahrzehnten überwältigend zu sein schien. In Polen wurde diese Tatsache mit weniger Enthusiasmus akzeptiert, aber auch die Musik Wagners brauchte mehr Zeit, um ihren rechtmäßigen Platz einzunehmen. Der Wagnerismus in Manru wird in der Regel nicht diskutiert, ist aber nicht das einzige Zeugnis für die Übernahme bewährter Opernmodelle. Wenn man sich die Partitur des Werkes ansieht, kann man mit gebührender Vorsicht feststellen, dass Paderewski drei allgemeine Prinzipien von Wagner übernommen hat: die dramatische Wirkung auf Dialoge und Rücknahme der großen Ensembles, die Verwendung der Leitmotivtechnik und bestimmte Instrumentierungslösungen. Die Zurückhaltung dieser Meinung ergibt sich aus der Tatsache, dass für die dramatische Wirkung des Werkes auch die Chorszenen eine wichtige Rolle spielen, die – in diesen Größen – in den Musikdramen Wagners fehlen. Auch die Leitmotivtechnik erscheint problematisch, denn obwohl jeder der Protagonisten ein eigenes Thema hat, werden sie nur selten ähnlich dargestellt wie beim Autor von Tristan und Isolde – in dieser Hinsicht war Paderewski anderen Komponisten näher, insbesondere den Franzosen: Gounod, Saint–Saëns, Charpentier und Thomas, aber auch den Italienern (Puccini und Leoncavallo), Russen (hauptsächlich Tschaikowski) und Tschechen (Dvorák).

Leitmotive in Paderewskis Werken haben so weitreichende Assoziationen, dass sie ihre Einzigartigkeit verlieren. Dies ist der Fall, wenn die Oboenphrase die Oper in g–Moll eröffnet (was übrigens an Beginn von Moniuszkos Halka erinnert) oder wenn sich Jadwiga (Mezzosopran) über das Schicksal einer Mutter beschwert, deren Tochter von einem Zigeuner verführt wurde. Dieses Motiv wird schnell als Gesangspart vom Chor übernommen, der fortan den Verlauf des ersten Aktes bestimmt. Das Thema der Ulana (Sopran) wiederum erinnerte einige Kommentatoren (etwas übertrieben) an das sehnsüchtige Leitmotiv des wagnerischen Tristan und hat auch eine gewisse Beziehung zur Melodie von Jadwiga.

Paderewskis Manru: Ein Beleg für den Starstatus, den Paderewski in Amerika und Europa hatte, ist der Film „Moonlight Sonata“; Wikipedia schreibt: „Moonlight Sonata“ is a 1937 British drama film directed by Lothar Mendes and written by E. M. Delafield and Edward Knobloch. The film stars Ignacy Jan Paderewski, Charles Farrell, Marie Tempest, Barbara Greene and Eric Portman. The film was released on 11 February 1937, by United Artists and re-released in 1943 as „The Charmer“ (shortened). / Foto google-art-culture

Der Protagonist Manru (Tenor) ist mit zwei Motiven ausgestattet. Das erste, das auch als Stütze der gesamten Zigeunergemeinschaft gesehen werden kann, ist ein charakteristisches Volksthema, das in sehr charakteristischen rhythmischen Werten des Quintoletts eingeschlossen ist: Es erklingt zum ersten Mal im ersten Akt, als Manru noch nicht sichtbar ist auf der Bühne und Urok (Charm) zu Ulana die bedeutungsvollen Worte sagt: „Du machst dir selbst etwas vor, weil Zigeuner niemals Bauern sein dürfen“ (Manrus Quintolett fällt offensichtlich auf das Wort Zigeuner und kann daher auch als musikalisches Symbol der nomadischen Gemeinde angesehen werden, zu der Ulanas Ehemann gehört). Das zweite Manru–Thema dominiert den zweiten Akt in seiner Schmiede und ist oft eng mit den Klängen des Hammers verbunden, der auf den Amboss schlägt.

An diesem Punkt erreichen wir die Rolle des Orchesters, das der Komponist offensichtlich mit musikalisch–dramatischer Spannung angereichert hat. Die Beziehung zum ersten Akt des Siegfried im Ring des Nibelungen wurde zum Beispiel schon vor langer Zeit als offensichtlicher Stempel Wagners herausgestellt: Die Szene mit Manru in der Schmiedewerkstatt sollte das Bild des Schwertes Nothung wiederaufleben lassen. Es scheint gibt eine weitere Assoziation in einer kurzen letzten Szene – zum Abschluss dieses Aktes –, in der Jadwiga nach Rache ringt, beim Abschied zischt: „Lass die Verdammten gehen. Sie sollen Aussätzige im Dorf sein.“

Wenn wir im zweiten Akt die Geige des Zigeunermusikers Jagu hören, der eine klagende Melodie spielt, singt Ulana irgendwann die Worte „Das ist mein Tod“ mit vier (obwohl dies wiederum in den rhythmischen Partituren von Beethovens Schicksalsmotiv zum Ausdruck kommt!) fallenden Geräuschen und im tiefen Register der Skala ihrer Stimme. Eine eigentümliche Umkehrung dieser Linie erklingt im dritten Akt, wenn Manru bei den Zigeunern ist: Dasselbe Motiv mit den Worten „Das ist mein Triumph“ ist in der aufsteigenden Fassung zu hören, die von Aza in ekstatischen Tönen gesungen wird.

Paderewski wählte beim Schreiben von Manru bewusst Töne, die etwas bedeuteten. Zum Beispiel ordnete er g–Moll den Zuständen der Melancholie zu (die traurige Jadwiga zu Beginn des ersten Aktes), As–Dur einer etwas fröhlicheren Stimmung (Ulanas Wiegenlied im zweiten Akt), A–Dur den Hirtenszenen (Refrains zu Beginn des ersten Aktes) und c–Moll wahrscheinlich aus Beethovens Fünfter abgeleitet, dem dunklen – trotz aller Sinnlichkeit –, vom Tod geprägten Zigeuneruniversum (die letzte Szene der Oper!).

 

Paderewskis „Manru“: Theaterkritik zur Uraufführung in New York 1901/ google-arts-6-culture

Konfrontation zweier Welten und Kulturen: Die Hauptkonfliktachse in Manru, die sich auf das Stereotyp der mangelnden Akzeptanz der der Andersartigen (hier: eine gemischte Hochländer– und Zigeunerfamilie) durch die neidische Mehrheit (hier: die Gemeinschaft der Hochländer) konzentriert, schwingt offensichtlich mit in der musikalischen Ebene der Partitur. Und hier taucht ein axiologisches Problem auf: Es ist schwer zu leugnen, dass Paderewski – wie wir uns erinnern, der Autor des Tatra–Albums – die Audiosphäre der Hochländer umreißt (wie zuvor Moniuszko in Halka, doch der Vater der polnischen Nationaloper kannte das Hochländer–Original nicht so gut wie sein Nachfolger). Er schreibt ihnen eine erweiterte Ballettsequenz mit Chorstimmen in den folgenden vier Abschnitten zu: Schnelles Vivace (ähnlich der berühmten „Sabałowe–Note“), der sogenannte doppelte „Hochländer“–Tanz, der die Fortschritte eines Jungen hinsichtlich eines fliehenden Mädchens illustriert (aber ohne die charakteristische „Verdrehung“ am Ende) und die letzten beiden Teile, die eine Art Zusammenfassung der zuvor vorgestellten Themen und Motive darstellen.

Zur Abwechslung wird die Zigeuner–Folklore in zwei aufeinander folgenden Akten suggestiver und breiter umrissen. Es ist wahr, dass diese Musik den Eindruck einer fernen Inspiration von einigen ungarischen Rhapsodien von Franz Liszt erweckt, die dem populären Original nicht so nahe kommen, aber dank der Violinsoli (das wehmütige „Lied ohne Worte“, das manchmal an ein von Jagu gespieltes Miniatur–Violinkonzert erinnert) und – vor allem – das Hackbretts. Die Musik lässt keinen Zweifel daran, wer sich gegen die Hochländer in der Oper stellt (eine andere Sache ist, dass das Hauptthema der Zigeuner Geige mit Hackbrett – wahrscheinlich wegen der kulturellen Distanz zu den Volksquellen – heute sogar einige Assoziationen an die Mitte des 20. Jahrhunderts von Astor Piazzolla entwickelte Sprache des melancholischen Tangos aufkommen lassen könnte).

Paderwskis „Manru“: Der Autor Marcin Gmys: Musikwissenschaftler und Musikjournalist, Assistenzprofessor, Professor am Institut für Musikwissenschaft der Adam-Mickiewicz-Universität in Poznan, Direktor des Polnischen Radios Chopin. Sein Buch Harmonie and dissoancnes. Young Polish music to other arts (Poznan 2012) gewann den Hauptpreis im Wettbewerb des Nationalen Kulturzentrums für das beste schriftliche Werk in der Geschichte der polnischen Musik (2010-2014). Er hat kürzlich zwei weitere Monographien vorgelegt: Karol Kurpiński and Romantic Europe (Editions Spotkania/ Grand Theater − National Opera, 2015) sowie Not just “Rota”. Feliks and his music (PWM, Kraków 2017).

Beide Welten und auch die mit dramatischen Situationen verbundenen psychologischen Profile sind zu Beginn des zweiten Aktes auf äußerst interessante Weise polarisiert. Dann beginnt Manru seine Beschwerden über die Welt, die von melancholischer Stimmung durchsetzt sind und schlägt mit dem Schmiedehammer auf den Amboss. Seine Zuneigung wird durch Ulanas Gesang hervorragend untermauert – und dies ist eine der schönsten Seiten der gesamten Partitur, die Paderewskis Klavieredelsteinen wie den Melodien in G–Dur oder der Nocturne in B–Dur ebenbürtig ist – ein zartes Wiegenlied für seinen Sohn. Die Zigeuneridentifikation von Manru, die in dieser Passage des Werks in akustischer Hinsicht leicht wahrnehmbar ist, ist ein Anlass zum Nachdenken, wenn wir feststellen, dass das Unisono–Thema, das den zweiten Akt auf dem Gebiet der Instrumentierung und Tonalität eröffnet, auf Paderewskis anfängliche Quasi–Polonaise der Polnischen Fantasie in gis–Moll für Klavier und Orchester verweist. Wollte der Komponist vorschlagen – im Libretto von Nossig nicht präsent –, dass Manru trotz allem in die Kultur und Sitten der Hochländer passte, unter denen er lebte? Wir können nicht ausschließen, dass dies die Absicht des Komponisten war.

Volksmedizin gegen Volksmusik: Ein anderes wichtiges Motiv, das zuvor nicht erwähnt wurde (hauptsächlich aus Tristan und Isolde stammend) und das auch aus dem beliebten Liebestrank von Gaetano Donizetti abgeleitet werden könnte, ist der aus Liebstöckel hergestellte Liebestrank Uroks für Manru, den Ulana fordert, um die kühlen Gefühle ihres Mannes wieder zu entfachen. Dieser Trank ist wirksam, auch wenn er sich als kurzlebig erweist. Nach dem Triumph der Uraufführung im Königlichen Opernhaus in Dresden am 29. Mai 1901 (Georg Anthes sang den Manru, Annie Krull die Ulana) und der ebenfalls herzlichen Rezeption der Oper in ihrer polnischsprachigen Fassung unter Stanislaw Rossowski (unter der strengen Aufsicht des Komponisten) am 8. Juni 1901 in Lemberg (mit dem charismatischen Paar Aleksander Bandrowski und Janina Korolewicz-Waydowa) nahm das Werk ein Dutzend andere europäische und amerikanische Bühnen im Sturm ein, insbesondere die Metropolitan Opera in New York, das Opernhaus, an dem sich niemals zuvor oder danach eine polnische Oper im Standardrepertoire halten konnte. Die Begeisterung für Manru – dies muss ehrlich zugegeben werden – sank ab den 1930er Jahren rapide und auch heute wird diese wirklich aufführungswürdige Partitur – nach wie vor zu selten – durch polnische Theater dargeboten.

Die Schulden, die wir Padereweski Manru bezahlen müssten, sind noch immer nicht beglichen:  Das Werk ist trotz seiner Verfügbarkeit auf CD (Oper Wroclaw) and DVD (Opera Nova in Bydgoszcz) noch nicht ausreichend bekannt. Und es ist nicht nur so, dass die Auswahl an Aufnahmen immer noch sehr schlecht ist, sondern auch, dass diese beiden Aufnahmen (insbesondere aus Wroclaw) keine Ehrfurcht vor dem Partitur haben, was zu drastischen Kürzungen führte. Hoffen wir, dass die jüngste Inszenierung der erste Schritt in Richtung einer würdigen Präsentation des Opus magnum des herausragenden Künstlers sein wird. Wir schulden dies einfach Ignacy Jan Paderewski im Jahr des hundertjährigen Bestehens der polnischen Unabhängigkeit. Marcin Gmys ( Übersetzung aus dem Englischen Daniel Hauser)

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Wir bedanken uns für die Erlaubnis zur Übernahme des ersten Aufsatzes bei  Peter-Oliver Loew und Arkadiusz Szczepanski vom Dialog Forum, wo der Artikel vom Peter-Oliver Loew erstmals 2018 erschien; und bei Piotr Tkacz vom Pressebüro des Teatr Wielki Poznan für die Genehmigung, den Artikel von Marcin Gmys aus dem Programmheft zum Manru an der Oper Posen 2018 in Deutsche übersetzen und hier verwenden zu dürfen. Redaktion G. H. 

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Turqueries Galantes

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Eine reizvolle Platte mit der kanadischen Sopranistin Florie Valiquette bringt das Label Château de VERSAILLES heraus (CV5058). Begleitet vom 2019 gegründeten Orchestre de l’Opéra Royal unter dem französischen Dirigenten Gaétan Jarry stellt sie ein Programm mit dem Titel La Captive du Sérail vor, das im Oktober 2020 im Château de Versailles aufgenommen wurde. Die Arien und Orchesterstücke von André Grétry, Wolfgang Amadeus Mozart, Christoph Willibald Gluck, François-André Danican Philidor, Pierre-Alexandre Monsigny und Paul-César Gibert huldigen sämtlich der im 18. Jahrhundert gängigen Türken-Mode. Das Programm beginnt mit einem Block von Grétry-Kompositionen. Aus La Caravane du Caire – einem Meisterwerk des à la Turque-Genres – sind die Ouverture, die Danse générale und die Ariette der Esclave française „Ne suis-je pas aussi captive“ zu hören. Die Sopranistin besitzt eine weiche, lyrische Stimme, die feine Triller und Verzierungen mühelos absolviert, darüber hinaus auch mit koketten Tönen erfreut. In den orchestralen Kompositionen kann der Klangkörper der Opéra Royal gebührend auftrumpfen, aber auch delikate und orientalisch anmutende Klänge hören lassen. Aus Zémire et Azor, einem Opéra Ballet, erklingt das Air der Titelheldin „La fauvette“. Später gibt es aus diesen beiden Werken noch mehr Ausschnitte – aus der Caravane die Danse Égyptienne in reizvoller Fremdartigkeit und eine weitere, liebliche Arie der Esclave française („Nous sommes nés pour esclavage“) sowie aus Zémire et Azor Zemires zärtliches „Rose Chérie“ und den munteren Passepied.

Weitere Beiträge französischer Komponisten stammen von Philidor (die innige Arie der Zeila „Oh Ciel“ aus La Belle Esclave, Monsigny (Andante, Gigue et Contredanse aus Aline, reine de Golconde) und Gibert (die Arie der Roxelane „Oh, vous que Mars rend invincible“ aus Soliman II ou les Trois Sultanes. Bei Monsignys Opéra Ballet hat das Orchester Gelegenheit für subtile und rhythmisch rasante Beiträge. Die feinsinnige Arie von Gibert steht am Schluss des Programms und lässt die Stimme der Solistin noch einmal hell erstrahlen.

Mit Gluck findet sich der erste bekannte Komponist in dieser Anthologie. Aus seiner Oper Les Pélerins de la Mecque gibt es nicht weniger als vier Ausschnitte – die lebhafte Ouverture, die Arien der Amine („J’ai perdu mon étalage“) und der Rezia („Ah! Qu’il est doux de se revoir“) sowie das Duett Ali/Rezia „Qu’il est doux de partager ses chaines“, bei dem der recht buffonesk tönende Tenor Nicholas Scott Partner der Sopranistin ist. Während die Amine den Soubrettenpart des Werkes bedient, ist die Rezia von lyrischem Gewicht und mit anspruchsvollem Zierwerk ausgestattet. Valiquette verleiht beiden Partien die passende Kontur. Schließlich findet sich mit Mozarts Singspiel Die Entführung aus dem Serail auch ein wirklich populäres Werk in der Sammlung – hier in der französischen Version als L’Enlévement au Sérail. Zu hören sind die Arie der Konstanze „Loin de l’objet de ma tendresse“ („Ach, ich liebte“) und das Duett Konstanze/Belmonte „Je te savais“ („Meinetwegen sollst du sterben!“). Der jugendliche Sopran der Valiquette ist im Ausdruck für die Konstanze vielleicht noch nicht reif genug und eher noch dem Blondchen zugehörig, doch singt sie mit viel Empfindung und ohne Frage mit hoher Virtuosität. Beim Duett ist wieder der Tenor Nicholas Scott beteiligt ist – auch er mehr ein Pedrillo denn ein gültiger Belmonte (18. 02. 2022). Bernd Hoppe

Michail Jurowski

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Das Radio Sinfonie Orchester Berlin schreibt: Der 1945 in Moskau geborene Michail Jurowski starb am 19. März 2022 in Berlin (* 25. Dezember 1945 in Moskau). Er war der Sohn des Komponisten Wladimir Jurowski, Enkel des Dirigenten David Block, und Vater der Dirigenten Vladimir und Dmitri Jurowski. Michail Jurowski wuchs im Kreis international anerkannter Künstler der ehemaligen Sowjetunion wie Ojstrach, Rostropowitsch, Kogan, Gilels und Chatschaturian auf. Dmitri Schostakowitsch war ein enger Freund der Familie und er und Michail sprachen nicht nur oft, sondern spielten auch Klavierstücke zu vier Händen zusammen. Daher ist es kein Zufall, dass Michail Jurowski heute einer der führenden Interpreten der Musik Schostakowitschs ist. 2012 wurde Michail Jurowski mit dem dritten Internationalen Schostakowitsch-Preis der Schostakowitsch-Gohrisch-Stiftung ausgezeichnet.
Michail Jurowski studierte am Moskauer Konservatorium Dirigieren bei Leo Ginsburg und Musikwissenschaft bei Alexei Kandinsky. Während seines Studiums assistierte er Gennady Rozhdestvensky am Großen Sinfonieorchester des Allunionsradios und des zentralen Fernsehens Moskau. Er leitete das Stanislawski- und Nemirowitsch-Dantschenko-Musiktheater in Moskau und während seiner letzten Jahre in der Sowjetunion regelmäßig Aufführungen am Bolschoi-Theater.
Ab 1978 war Michail Jurowski regelmäßig Gastdirigent an der Komischen Oper Berlin und 1989 verließ er mit seiner Familie die UdSSR, nachdem er eine feste Anstellung an der Semperoper Dresden angenommen hatte. Zudem war er Generalmusikdirektor und Chefdirigent der Nordwestdeutschen Philharmonie; Chefdirigent der Oper Leipzig; Chefdirigent des WDR Rundfunkorchesters Köln; Chefdirigent der Deutschen Oper Berlin; Erster Gastdirigent des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin; Erster Gastdirigent der Janáčkova filharmonie Ostrava, Sinfonia Iuventus und Tonkünstler-Orchester Niederösterreich.
Als Gastdirigent leitete Michail Jurowski u.a. das Gewandhausorchester Leipzig, die Dresdner Philharmonie, Staatskapelle Dresden, Oslo Philharmonic, Bergen Philharmonic, das London Philharmonic Orchestra, die St. Petersburg Philharmonia, das MDR-Sinfonieorchester, die Königliche Kapelle Kopenhagen, das Orquestra Sinfónica do Porta Casa da Música und das Orquestra Sinfônica do Estado de São Paulo.
Neben Fernsehübertragungen und Rundfunkaufnahmen in Stuttgart, Köln, Dresden, Oslo, Norrköping, Hannover und Berlin hat Michail Jurowski Aufnahmen mit u.a. dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin, dem Deutschen Symphonie-Orchester Berlin und dem L’Orchestre de la Suisse Romande gemacht. Seine Diskografie umfasst Schostakowitschs Oper „Die Spieler“, Schostakowitschs gesamten sinfonischen Vokalstücke und Rimsky-Korsakows Oper „Die Nacht vor Weihnachten“ sowie Orchesterstücke von Tschaikowsky, Prokofjew, Reznicek, Meyerbeer, Lehár, Kálmán, Nicolai, Rangström, Pettersen Berger, Grieg, Svensen, Kantcheli und viele andere.
1992 und 1996 erhielt Jurowski den Preis der deutschen Schallplattenkritik und 2001 eine Grammy-Nominierung für 3 CD-Produktionen mit Orchestermusik von Rimsky-Korsakow mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin. Zuletzt erhielt er 2017 erneut den Preis der deutschen Schallplattenkritik für seine CD mit Musik von Schostakowitsch, Pärt und Weinberg, die live mit der Staatskapelle Dresden beim Internationalen Schostakowitsch-Festival in Gohrisch aufgenommen wurde. (Foto rsb/Quelle rsb-online)

Feuerwerk und Halle Luja

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Als einziger Musiker liegt „unser Händel“ als  George Frederic Handel in Londons Westmister Abbey begraben, „in der sogenannten Poet´s Corner, neben den großen Dichtern unweit der Gräber der englischen Könige… einer im Bereich der Musik damals noch singulären Erinnerungskultur.“ So schreibt der renommierte Musikwissenschaftler Arnold Jacobshagen in seinem so fundamen­talen wie profunden Essay über den „Mythos Händel“, der gewissermaßen das Rückgrat der opulent bebilderten Publikation ist (100 Jahre Händel-Festspiele¸ Henschel Verlag, ISBN 978-3-89487-835-1, 192 S.

Er spannt den Bogen von Händels Zeit an Hamburgs Gänsemarkt-Oper, seine glänzende monetäre Verwöhntheit wie Geschäftstüchtigkeit, Händels „Selbstinszenierung“ am Ende seines Lebens über die Händel-Literatur (Klopstock schrieb schon 1766 von „Händels Zaubereyen“ bis hin zu heutigen Händel-Musik-Zelebrierung der Champions League mit einer Komposition von Tony Britten, „in Anlehnung an Händels Coronation Anthem ‚Zadok the Priest‘. Dass Händels Musik somit auch den Mythos des Populären ohne Weiteres zu bedienen vermag, verdankt sich ihrer besonderen Affinität zur Darstellung des Festlichen, Majestätischen und Erhabenen.“ Selbst ein Massenphänomen wie der Fußball vereinnahmt den englischen Komponisten Hallescher Abstammung.  Sowohl im Dritten Reich wie in der DDR hab er eine „kulturpolitische Stellvertreterrolle für den ideologisch weitaus problematischeren Johann Sebastian Bach“ eingenommen. Spätesten seit der Händel-Renaissance in den 20er Jahren war Händel gefeierte Projektionsfläche wie gefeierter Repräsentationskomponist.

Clemens Birnbaum, gegenwärtiger Direktor des Händelhauses sowie Leiter der Händelfestspiele Halle spricht denn auch in seinem eröffnenden Beitrag zur großen publizistischen Feier des 100sten Jubiläums dieses Festivals von einem „Händel-Bild für jede Zeit“. 1922 wurden die Händelfestspiele Halle vom damalige Oberbürgermeister Rive als zunächst lokales Event gegründet. Zurecht betont Birnbaum, dass das Festival heute zu den größten Barockmusikfesten Europas zählt. „Beim Rückblick auf eine hundertjährige Geschichte lassen sich Kontinuitäten und gleichermaßen Diskontinuitäten Feststelle.“ Davon handelt die Publikation bei Henschel, deren 18 Kapitel unterschiedlichste Aspekte des Festivals in den Fokus rücken: historische, politische, ideologische, werk-, aufführungs- und theatergeschichtliche, aber auch Fragen der Wissenschaft und Händelforschung, aufgelockert von 17 vorwiegend erlebnisorientierten, subjektiven Beiträgen unterschiedlichster Couleur. Auch fehlen die Grußworte und Statements einiger Lokalpolitiker und Sponsoren Sachsen-Anhalts nicht. Lorbeeren und Streublümchen dürfe nicht fehlen in einer Jubiläumsfestschrift. Aber es gibt auch Substanzielles.

Annette Landgraf beschreibt die Geschichte der Händelaufführungen in Halle bis zum ersten Händelfest 1922.

Hanna John etwa, ehemalige Leiterin der Händel-Festspiele blickt in einem Interview zurück auf die Zeit vor Ihrer Intendantur (als sie aber schon beim Festival angestellt war): „Rückblickend muss ich sagen: Das war eine Gratwanderung. Zum einen wünschte die sozialistische Kulturpolitik nicht, dass zu viele westliche Interpreten in Halle auftraten, auch die Valuta zur Bezahlung dieser Künstler Waren recht knapp. Zum anderen wollte man aber Trotzdem ein internationales Fest und Besucher aus dem Ausland. Es sollte gezeigt werden, welch hohen Stellenwert die Kultur in der DDR hat.“ Nun davon ist das heutige Festival weit entfernt.

Der rührige Kulturmanager und Konzertgestalter Folkert Uhde reflektiert ausgehend von Händels grandiosem Oratorium „Il Trionfo del Tempo e del Disinganno“ über den „Triumph der Musik Händels an sich. Dorothea Schröder wirft ein Schlaglicht auf die Feuerwerkskunst, die für Händelaufführungen einst wie jetzt nicht unwesentlich war und ist.

Darauf, dass es immer wieder auch einzelne Säger- bzw. Sängerinnen Persönlichkeiten waren, die den Rum Händels mehrten weist Graydon Beeks am Beispiel Jenny Linds hin, einer der gefeiertsten Sopranistinnen des 19. Jahrhunderts.

„Zu Geschichte und Themenfeld der Historische Aufführungspraxis“ hat Hartmut Krones ein Kapitel geschrieben. Ein musikwissenschaftlicher Gelehrtenbeitrag zur Chronologie der „historisch informierten“ Aufführungspraxis, von der, an heute ehr spricht. Das vertieft ganz konkret Edwin Werner. Er nimmt die „Aufführungspraxis Alter Musik in Halle zwischen 1922 und 1993“ ins Visier, nennt Namen und würdigt detailliert Ereignisse des Musiklebens. Über Händel-Schallplatten-Einspielungen der DDR berichtet Bernhard Schrammek. Martin Elste (bis 2018 Medienkurator im Musikinstrumenten-Museum Berlin sowie Vorsitzender des Preises der deutschen Schallplattenkritik) erläutert am Beispiel des „Messiah“ kenntnisreich und differenziert die diskologische Interpretation- und Rezeptionsgeschichte dieses Werks, das als Paradebeispiel für den Erfolgszug Händels „von Großbritannien aus in die Welt“ gelten kann.

Der Karlsruher Musikwissenschaftler Thomas Seedorf beschreibt den „Einzug des Countertenors in Halle“.

Es gibt differenzierte Werkbetrachtungen Beschreibungen legendärer Inszenierungen. Die Musikwissenschaftlerin, Händelpreisträgerin und Autorin des Händel-Opernlexikons, Silke Leopold fragt in einem anspruchsvollen Aufsatz nach der „Neapolitanischen Drahtpuppendramatik“ Händels, was ein Licht wirft auf „Erzählweisen und Charakterentwürfe,“ und das Bemühen „Barockoper dem Publikum … schmackhaft zu machen“.

Natürlich wird (vom Händelexperten und Tübinger Professor Matthew Gardner) die große Bedeutung der Hallischen Händel-Ausgabe gewürdigt, die 33 Jahre nach den ersten Festspielen in Halle erschien, erstmals die Fassungsproblematik wissenschaftlich aufgearbeitet hat und damit die Aufführungspraxis veränderte.

Sehr interessant sind die Aufklärungen Juliane Riepes (Expertin für die Rezeptionsgeschichte Händels) über die Geschichte der „Händel-Tage in der NS-Zeit (1935-1944)“, die veranschaulichen, wie „bemerkenswerte kulturelle Leistungen und eine menschenverachtende Ideologie und Politik durchaus miteinander vereinbar sind“.

Der Fall Händel zeigt einmal mehr, wie eng Musik und Politik ineinander verschlungen sind. Dieser Jubiläumsband macht es deutlich.

Das so gehrte wie unterhaltsame, weitausholende Panorama der Händelfestspiele Halle wird von nützlichen Personen-, Werk- und Aufführungs-Registern sowie einer Zeittafel zur Geschichte des Festivals abgerundet. Dieter David Scholz

Wunderbar

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Als wollten sie das gebeutelte Publikum für eine inzwischen bereits Jahrzehnte andauernde Qual, verursacht durch armselige Bühnenbilder, Sänger entstellende Kostüme zwischen Trenchcoat und Schiessers Feinripp und sinnlose, aber vorzugsweise brutale Handlungen auf der Opernbühne mit einer einzigen Produktion entschädigen, haben sich Regisseur Daniele Finzi Pasca, Bühnenbildner Hugo Gargiulo und Kostümbildnerin Giovanna Buzzi ins Zeug gelegt und Wunderwerke an das Herz berührender Schönheit auf die Hamburger Opernbühne gewuchtet. Es ging im September 2021 mitten in Corona-Zeiten um Offenbachs Les Contes d’Hoffmann, und um das Glück inzwischen auch des Blu-Ray-Betrachters vollkommen zu machen, war auch das Sänger Ensemble zumindest teilweise sensationell, das Dirigat Kent Naganos beeindruckend durch Feinfühligkeit, Eleganz und atmosphärische Dichte. Sollte eine durch Corona trübe Realität das Verlangen nach einem Ausgleich durch die Kunst so sehr verstärkt haben, dass es sich zunehmend als zwingender erweist als das der modernen Regie, vor den Augen des mehr oder weniger angewiderten Zuschauers alle Scheußlichkeiten dieser Welt auf der Opernbühne aufzutürmen? Auch in Dresden gab es kürzlich eine Aida, die hoffen lässt, selbst wenn sie eher einen Verzicht auf Absurditäten darstellt als das Positivum einer Alternative.

Was Bühnenbildner, Kostümbildner, Gewandmeister, Perückenhersteller und alle, die sich in der letzten Zeit heillos unterfordert sehen mussten, leisten können, wenn man sie denn lässt, beweisen die wunderbaren Bühnenbilder: Ein Giulietta-Akt mit den Wahrzeichen Venedigs, Taubenkostümen für den Chor und herrlichen Rokokokostümen für die Solisten oder ein Kabinett voller aufgespießter Schmetterlinge, als deren einer Antonia selbst in einem wunderschönen Kostüm auftritt- alles in einem sanften bleu mourant, der Erfindung der Berliner Porzellanmanufaktur und von Friedrich dem Großen geliebt. Ähnlich phantasievoll sind auch die anderen Schauplätze, Luthers Weinkeller und die Schatulle, in der die Puppe Olympia aufbewahrt wird, gestaltet. Nicht satt sehen kann man sich an den kunstvollen  Hintergrundprospekten. Und auch die Technik wird gefordert, wenn Muse oder Mutter bzw. deren Doubles auf die Bühne schweben. Das alles ist so phantasievoll, wie es die Phantasie anzuregen versteht, und es gibt genügend Anlässe zum Nachdenken, so darüber, warum im ersten und letzten Bild die Komparsen zweigeteilte, halb Anzug, halb Kellnerkostüm, Gewänder haben.

Sein Rollendebüt in der Titelpartie gab der französische Tenor Benjamin Bernheim, ein junger, munterer Geselle, nicht zerquält wie weiland Dauer-Hoffmann Neil Shicoff oder ein Klein-Zack-Imitat wie Kenneth Riegel, sondern ein romantischer, wenn auch als Liebhaber scheiternder und letztlich doch als Künstler  triumphierender Held mit der timbrereichsten, geschmeidigsten und mit perfekter voix mixte auftretenden Stimme, die man sich für die Partie wünschen kann. Ihm zur Seite steht mit Angela Brower eine Muse bzw. ein Nicklausse der charmantesten Art mit hellem, flirrendem Mezzosopran. Immer heikel ist die Besetzung aller vier Frauenrollen mit einer Sängerin. Olga Peretyatko ist als Stella so schön wie als Antonia, Olympia oder Giulietta, vokal perfekt aber nur als Olympia, ansprechend als Antonia, aber enttäuschend als zu hellstimmige Giulietta. Am dämonischsten am vierfachen Bösewicht sind bei Luca Pisaroni die überlangen Spinnenfinger, dazu ist er ein sehr guter italienischer Bariton, dem man etwas mehr vokale Düsternis für di Partien wünschte. Angemessen unterschiedlich gestaltet Andrew Dickinson die drei Dienerpartien und amüsiert das Publikum mit seinem Couplet als Franz. Martin Summer ist so sonor als Luther wie ganz besonders als unglückseliger Crespel. Einen kurzen, aber eindrucksvollen Auftritt hat Kristina Stanek als Mutter. Der Exberliner Eberhard Friedrich hat den Chor auf seine vielfältigen Aufgaben bestens vorbereitet.  Kurz und gut: Ob im Theatersaal oder vor dem Fernsehschirm ist ein beglückender Abend garantiert (DG 2068594). Ingrid Wanja

Bernabé Martí

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Bernabé Martínez Remacha, better known as Bernabé Martí (14 November 1928 – 18 March 2022) was a Spanish Aragonese operatic tenor and the widower of Montserrat Caballé. He was born as Bernabé Martínez Remacha, the sixth and last child of his family, in Villarroya de la Sierra in the Province of Zaragoza, Aragon. His early musical training was in the saxophone in his municipal band. He later studied singing in Zaragoza, the Madrid Royal Conservatory under José Luis Lloret, the Accademia Nazionale di Santa Cecilia in Rome, and the Accademia Musicale Chigiana in Siena. He also had lessons with the soprano Mercedes Llopart in Milan.

His first critical success came with Manuel de Falla’s La vida breve in Granada in 1958, followed by Salome in Düsseldorf under Alberto Erede. He then toured for two years singing in various European cities. In 1960 he performed at the Liceu in Barcelona in the premiere of El cap de drac by Ricard Lamote de Grignon.

At that time he changed his professional name to Bernabé Martí. He later appeared in France, Germany, Buenos Aires, Mexico City, Lima, Caracas and Santiago de Chile, in operas such as Carmen, Werther and Manon Lescaut.

His Carnegie Hall debut was in Il pirata, followed by Il trovatore, Rigoletto, Tosca, Werther, Turandot, Pagliacci, Carmen and Norma, in American cities such as San Antonio (Texas), Washington DC, Dallas, Houston and Kansas. He sang Gabriele Adorno in Simon Boccanegra in Philadelphia. The tenor appeared with the New York City Opera from 1967 to 1971, debuting as Luigi in Il tabarro.

On 14 August 1964 he married the soprano Montserrat Caballé at Santa Maria de Montserrat Abbey. They had met earlier that year when on short notice he replaced an ailing tenor for performances of Madama Butterfly in Corunna. Martí and Caballé later sang together many times. They had a son named Bernabé and a daughter named Montserrat, also a singer.

In 1972 he had to abandon a performance in Paris due to problems with his voice, which was subsequently identified as lung disease. He responded to treatment, but his career came to an end in 1985 after he was diagnosed with a cardiac condition. He died on 18 March 2022 at the age of 93 in his home in Barcelona. Quelle engl. Wikipedia

Chez Louis

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Le Bourgeois Gentilhomme wurde als „Comédie-Ballet“ von Jean-Baptiste Lully (1632-1687) und Jean-Baptiste Poquelin, auch bekannt als Molière (1622-1673) konzipiert und, auf Forderung von König Ludwig XIV., im Theater von Schloss Chambord viermal im Oktober 1670 aufgeführt. Dieses einzigartige Werk besteht aus Musik, Schauspiel und Tänzen, die die Geschichte eines Neureichen namens Monsieur Jourdain, der seine gesellschaftliche Stellung durch die Heirat seiner Tochter Lucile mit dem angeblichen „Sohn des Großtürken“ erhöhen will. Eigentlich ist dieser „Sohn“ ein junger Mann, Cléonte, dessen Heiratsantrag an Lucile von Monsieur Jourdain trotz Madam Jourdains Befürwortung abgelehnt wurde, weil er kein Edelmann ist. Verkleidet als Türke stellt er sich als ausländischer Edelmann vor und erhält so Monsieur und Madam Jourdains Zusage.

Die zwischen 23. und 27. April 2021 in der Königlichen Oper des Schlosses von Versailles entstandene Aufnahme von Le Poème Harmonique unter der Leitung von Vincent Dumestre ist durchweg ausgezeichnet gespielt. Allerdings ist diese Audioaufnahme eine Fallstudie darüber, wie eine Komposition, die für Theateraufführungen gedacht war, nicht immer in eine reine Audio-Präsentation umgewandelt werden kann. Für die Musikstücke war die Begleitung eines Balletts vorgesehen, da viele der Inhalte, vor allem die visuellen Elemente sowie die humorvollen Aspekte, durch Schauspiel und Tanz dargestellt und nicht gesungen werden. Das beste Medium für die Wiedergabe zu Hause wäre daher eine DVD.

Das 108-seitige Beiheft ist ein Musterbeispiel für das, was klassische Musikveröffentlichungen begleiten sollte. Ein wissenschaftlicher Aufsatz über die Komposition, das vollständige Libretto, eine Inhaltsangabe sowie Kurzbiografien von Molière und Lully in französischer, englischer und deutscher Sprache führen in das Werk ein. Der hochwertige Druck auf Hochglanzpapier mit farbigen Reproduktionen von Gemälden u.a. des Komponisten und Librettisten wertet dieses Produkt auf.

Für Kenner und Einsteiger gleichermaßen bietet diese vollständige Aufnahme die Gelegenheit, ein Meisterwerk des französischen Musiktheaters des 17. Jahrhunderts zu genießen. Wer mit diesem Repertoire nicht vertraut ist, kann zur Richard Strauss‘ Fassung von Auszügen dieser Musik im modernen Orchestergewand greifen (Jean-Baptiste Lully und Molière Le Bourgeois Gentilhomme mit Le Poème Harmonique, Vincent Dumestre; Château de Versailles Spectacles CVS053 / 28. 02,. 22). Daniel Floyd

Stephen O´Mara

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Stephen O´Mara: Geboren in den USA. Gastspiele (gestorben am 21. März 2022), vor allem mit den großen Tenorpartien von Verdi und Puccini, an der Metropolitan Opera und der City Opera in New York, an den Staatsopern von Wien, Berlin, Stuttgart und Hamburg, bei den Festspielen von Glyndebourne und Bregenz, am Teatro Colon Buenos Aires und am Royal Opera House, Covent Garden. Er sang in der Uraufführung von Salammbo in Paris, Laca (Jenufa) in Kopenhagen, Erik (Der fliegende Holländer) in Cleveland, Samson (Samson et Dalila) in Montpellier und Turiddu (Cavalleria rusticana) in Stuttgart. 1999 Darsteller des Gustavo (Un ballo in maschera) bei den Bregenzer Festspielen. In den vergangenen Jahren sang er vermehrt Partien in Opern von Richard Wagner und Richard Strauss. Partien an der Bayerischen Staatsoper: Gabriele Adorno (Simon Boccanegra), Radames (Aida), Rodolfo (La bohème). Bayerische Staatsoper

Zu seine  Dokumenten gehören ein Ballo in Maschera von 1992 aus Bregenz beim orf-Label sowie eine Ägyptische Helena aus Cagliari bei Dynamic, weiteres bei youtube, dort auch eine kurze Lehrstunde über Gesang. Genaue Informationen über seine Lebensdaten waren nicht zu ermitteln (Foto oben Stephen O’Mara als Hirte von Szymanowsky, 1992). G. H.

Der Deutschen Oper Berlin verbunden

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Hulkar Sabirova (die Hélène in den neuen Vêpres siciliennes im März/April 2022) ist der Deutschen Oper Berlin  seit dem Beginn ihrer Karriere verbunden. Die aus Usbekistan stammende deutsche Sopranistin startete dort ihre Laufbahn als Stipendiatin und war anschließend für drei Jahre Ensemblemitglied des Hauses. Schnell wurde sie dort in Rollen wie der Königin der Nacht in der Zauberflöte, bald auch in der Titelpartie von Lucia di Lammermoor und im Sopranpart in szenischen Aufführungen des Verdi-Requiem bekannt. Zuletzt feierte sie große Erfolge etwa als Rosalinde in der Fledermaus und Madama Cortese im  Viaggio a Reims feiern. Auch abseits der Deutschen Oper macht die dramatische Koloratursopranistin eine beachtliche Karriere, etwa an Opernhäusern und Festivals wie dem Teatro Real in Madrid, der Staatsoper Hamburg, der Semperoper Dresden, der Arena di Verona und dem Savonlinna Opera Festival. Ab dem 20. März 2022 ist die Sängerin in der Neuinszenierung von Verdis Oper Les vêpres siciliennes an der Deutschen Oper Berlin zu erleben und gibt mit der Hélène ein wichtiges Rollendebüt. Mit Helmut Brinkmann hat die Sopranistin über diese Rolle an der Deutschen Oper, ihren Werdegang und ihr Stimmfach als Dramatischer Koloratursopran gesprochen.

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Auf Ihrer Webseite werden Sie als dramatischer Koloratursopran bezeichnet. Wie definieren Sie dieses Stimmfach und was sind die stimmlichen Anforderungen an eine dramatische Koloratursopranistin? Ein Dramatischer Koloratursopran ist eine „lange“ Stimme, mit großer Beweglichkeit und guter Höhe, aber auch mit Durchschlagskraft in der Mittellage und einer eher warmen Stimmfarbe.

Auch die Hélène in den Vêpres siciliennes kann als dramatische Koloraturpartie bezeichnet werden. Nach mehreren Stunden Musik und zwei Arien hat die Sängerin dieser Rolle im letzten Akt die wohl schwierigste Arie und das berühmteste Stück der Oper zu singen, den Bolero. Was sind die Anforderungen dieser Rolle und wie würden Sie den Charakter der Hélène beschreiben?  Hélène ist eine sehr lange Partie, die große Ausdauer verlangt und die Fähigkeit, sowohl dramatisch, als auch zart zu singen. Und Koloraturen sind auch dabei. Also, eine super vielfältige und herausfordernde Partie. Sie ist eine Frau, die zwischen Liebe und Krieg hin und her pendelt. Also eine sehr hin- und hergerissene Frau. Daher finde ich die Rolle darstellerisch sehr interessant, da in ihr so viele unterschiedliche Emotionen und Gefühle vorhanden sind.

Sie verbindet eine langjährige Zusammenarbeit mit der Deutschen Oper und Sie haben Ihre Karriere eigentlich von dort aus gestartet. Wie würden Sie Ihre Verbindung zu diesem Haus beschreiben? Ich hatte großes Glück meine ersten Schritte als Sängerin gleich an der Deutschen Oper zu machen. Ich liebe dieses Haus, seit 12 Jahren arbeite ich regelmäßig hier, habe viele Freunde und liebe Kollegen. Daher bin ich glücklich darüber, eine wunderschöne und herausfordernde Partie wie Hélène hier singen zu dürfen, sozusagen zu Hause. Das macht besonders viel Freude.

Wenn man sich Ihren Werdegang anschaut fällt auf, dass Sie Ihr Repertoire sehr organisch entwickeln. Die Rollenentwicklung könnte man eigentlich als exemplarisch für einen dramatischen Koloratursopran bezeichnen: Erst die Königin der Nacht und Konstanze, dann nach und nach schwerere Partien. Vor ein paar Jahren haben Sie wohl die Partie für dramatischen Koloratursopran schlechthin gesungen, Norma. Wie geht man eine solche Rolle an, die ja von so vielen großen Sopranistinnen der letzten Jahrhunderte interpretiert wurde.  Norma ist eine Art „Qualitätsprüfung“ für jede Sängerin, die sich da rantraut. Ich hatte großen Spaß diese Partie zu singen, aber noch mehr freue ich mich auf die nächsten Norma-Produktionen, da diese Partie mit der Zeit reift und ich denke, dass ich sie jetzt anders gestalten würde als vor ein paar Jahren. Norma ist musikalisch und emotional eine sehr vielfältige und inspirierende Partie.

Um bei Verdi zu bleiben: Folgen nach der Hélène in den Vêpres siciliennes weitere dramatische Koloraturpartien aus seiner Feder? Die Leonora im Trovatore haben Sie ja bereits gesungen, aber es gibt noch so viele Sopranpartien des frühen Verdi, die Ihnen wunderbar liegen dürften. Ich denke da etwa an die Hélène aus Jérusalem, die Giovanna d’Arco oder Amalia in I masnadieri. Traumpartien aus Werken, die leider sehr selten aufgeführt werden. Aber wer weiß, ich lasse mich überraschen. Falls ein Hause darüber nachdenkt, ich bin bereit! (sie lacht)

Wenn wir über dramatische Koloraturpartien Verdis sprechen, dürfen die schwereren Rollen natürlich nicht fehlen. Wird irgendwann auch einmal eine Odabella/Attila, eine Abigaille/Nabucco oder eine Lady Macbeth kommen? Ich finde diese Opern sollte man singen, wenn man das wirklich gut singen kann. Ich würde mich sehr freuen, wenn meine Stimme sich dahin entwickeln könnte und ich auch diese Partien eines Tages singen werde!

Um bei Verdi zu bleiben freue ich mich auf die Neuinszenierung von Verdis Requiem szenisch in der Schweiz, was ich auch hier an der Deutschen Oper gemacht habe. Regelmäßig singe ich auch die Rosalinde in der Fledermaus, demnächst unter anderem an drei großen Opernhäusern in Deutschland sowie in Österreich. Ein Stück, in dem ich erfreulicherweise am Ende nicht sterbe.

Sie wurden in Usbekistan geboren und sind dort aufgewachsen. Wie war Ihr Werdegang genau und wie sind Sie zur Musik und zum Gesang gekommen? Ich habe als Kind schon immer gern gesungen und Musik gehört. Meine Mutter hat das gefördert und mich für die Staatliche Musikschule für musikalisch begabte Kinder angemeldet, wo ich nach Aufnahmeprüfungen angenommen wurde.

Es war mir klar, dass ich Gesang studieren möchte. Auf eigene Initiative habe ich über die deutsche Botschaft in Usbekistan die Adressen von den Musikhochschulen in Deutschland bekommen. Ich habe Demo-Aufnahmen dort hingeschickt und wurde so zur Aufnahmeprüfung nach Mannheim eingeladen.

Ich habe in Taschkent einen Deutschkurs am Goetheinstitut besucht, was mir eine gute Basis gegeben hat. Als ich nach Deutschland kam, feilte ich an meinen Sprachkenntnissen, indem ich ausschließlich deutsch gesprochen und gelesen habe. Ich lerne sehr gerne Fremdsprachen, da mir das jedes Mal eine neue Welt öffnet.

Sind Sie oft in Ihrer Heimat und haben Sie noch Familie dort? Wie würden Sie die Lebensverhältnisse der Menschen dort beschreiben? Meine Mutter lebt in Usbekistan. Ich war leider seit mehreren Jahren nicht mehr dort. Die Lebensverhältnisse sind ganz anders als die in Westeuropa. Aber ich hoffe, dass dieses Land, das eine so reiche Kultur und Geschichte hat auch eines Tages eine höhere Lebensqualität haben wird. Das wünsche ich mir von ganzem Herzen! (alle Fotos Bettina Stöß)

Und noch einer …

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Ein omnipräsenter Don Giovanni, drei der Nymphomanie nicht allzu ferne Damen, eine wie eine Graphik aussehende drehbare Halbruine in Grautönen sind von der Premiere im Jahre 2014 noch vorhanden, ebenfalls die Donna Anna von Malin Byström, während ansonsten auf der Aufnahme aus dem Jahre 2019 die schöne Nackte durch schemenhafte weibliche Wesen, die sich über die Szene schleichen, und das gesamte Restensemble ersetzt wurden. Kasper Holten hielt offensichtlich nicht viel von weiblicher Sittsamkeit in seiner Londoner CG-Inszenierung von Mozarts Don Giovanni, denn die behutsam fürsorglichen Don Ottavio und Masetto finden bei ihren Damen weit weniger Anklang als der sittenlose Don, und diese machen sich eines Verbrechens, dessen sonst eher Männer bezichtigt werden, nämlich unermüdlichen Grapschens durch die Bank und von Anfang bis Ende schuldig.

Sehr vielmehr Bühnen- und auch vokale Präsenz als sein Vorgänger hat Erwin Schrott in der Titelpartie, damit allerdings ist nicht unbedingt lupenreiner, eleganter Mozartgesang verbunden, so wie auch der Leporello von Roberto Tagliavini, längst ein basso profondo, sehr dunkel und sehr gewichtig klingt und das nicht nur im genüsslich zelebrierten  „maestosa“. Schrotts Stimme klingt süffiger, kostet mit hörbarer Wonne aus, was auszukosten ist, scheut auch vor Deftigkeit nicht zurück, genau so wenig wie in der Darstellung, wenn zu „lasciar le donne“ Brechreiz realistisch dargestellt wird. Beim Don Ottavio von Daniel Behle konkurrieren miteinander verordnete darstellerische Blässe mit letztendlich doch triumphierender vokaler Sensibilität, viel Zärtlichkeit in der agogikreich geführten Tenorstimme, einer wunderbar stilsicher im Piano gesungenen zweiten Strophe von „Il mio tesoro“, die den entsprechend herzlichen Beifall des Publikums provoziert. Auch der Masetto von Leon Košavić weiß stimmlich zu gefallen, selbst wenn seine sanften Zärtlichkeiten der aufgekratzten Zerlina nicht zu genügen scheinen. Genügend akustisches Gewicht gibt Petros Magoulas dem Commendatore, an den nicht eine Statue, sondern nur eine Büste, die zudem von Don Giovanni zertrümmert wird, erinnern darf.

Malin Byström, die in der Premierenserie noch eine recht zartstimmige Donna Anna gab, hat nun an corpo und Farbe des Soprans gewonnen, bei ihr entsteht manchmal der Eindruck, dass der Zwang, ein verlogenes Aas spielen und zugleich eine zarte, verletzte Seele singen zu müssen, beide Ambitionen behindert. Davon abgesehen, ist ihre Leistung eine hoch anzuerkennende. Weniger präsent und ausgeglichen klingt die Donna Elvira von Myrto Papatanasiu, deren Sopran recht spröde ist, deren Intervallsprünge scharf klingen und die von „dolce maestà“ wenig spüren lässt. Einen angenehmen lyrischen Sopran setzt Louise Alder für die Zerlina ein, auf die der arme Masetto stets ein wachsames Auge haben sollte. Aber auch Don Ottavio wird mit Donna Anna kaum eine stetig liebende Ehefrau gewinnen können. Zur aus dieser Einsicht erwachsenden Tristesse trägt auch die eindrucksvolle, aber gespensterhausgleiche Szene von Es Devlin bei, während die opulenten Kostüme von Anja Vang Kragh einen attraktiven Kontrast dazu bieten. Hartmut Haenchen ist am Dirigentenpult der kompetente Anwalt Mozarts und den Sängern hilfreich zur Seite stehend. Mal sehen, ob es in Bälde noch weitere Aufnahmen dieser Produktion gibt, deren Aufführungen nicht nur auf London beschränkt waren (Opus Arte 1344D). Ingrid Wanja 

Zwiespältig

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Donnerwetter o meglio colpo di tuono denkt man und: „Erscheinen denn jetzt die CDs schon, ehe das Konzert, das sie wiedergeben, überhaupt stattgefunden hat?“  Genau die  futuristische Robe der Designerin Paloma Picasso ist auf dem Cover der CD mit dem Titel The Three Queens zu sehen, die Sondra Radvanovsky bei der halbszenischen Aufführung der Schlussszenen von Donizettis Anna Bolena, Maria Stuarda und Roberto Devereux Ende Februar im Teatro San Carlo in Neapel trug. Die CD jedoch wurde weit früher in Chicago aufgenommen, allerdings ebenfalls mit Riccardo Frizza am Dirigentenpult und Kräften des Hauses in den kleineren Partien. Eine CD aus Neapel hätte wohl eher den Titel Le tre Regine getragen, die amerikanische Sopranistin ist eher als Verdi-, denn als Donizettisängerin bekannt geworden, hat sich in den letzten Jahren mit Brocken wie Turandot, Tosca und Odabella herumgeschlagen, was nicht gerade für den Belcanto prädestiniert. Auch stimmt bedenklich, dass die drei überaus anspruchsvollen Schlussszenen ganz unterschiedliche Anforderungen an einen Sopran stellen, wenn er kurz nacheinander Gemütslagen wie die üble Situation verklärenden Wahnsinn, fromme Abgeklärtheit und das Eingeständnis des Scheiterns in vorgerücktem Alter darstellen soll, bei aller Verpflichtung gegenüber dem Schöngesang der Stimme unterschiedliche Farben abverlangen muss.

Den Schlussgesängen ist jeweils die entsprechende Sinfonia vorangestellt, was zur Schonung der Stimme, zur Schaffung längerer Erholungszeiten verständlich, künstlerisch allerdings weniger gerechtfertigt ist, da diese die Stimmung der Szenen kaum widerspiegeln, eher unverbindlich klingen. Allerdings sorgt der Dirigent mit dem Orchester der Lyric Opera of Chicago für das notwendige Brio.

Für die Maria Stuarda hat der Sopran helle, recht scharfe Töne, fällt häufig durch ein leichtes Flackern auf, lässt wenig engelsgleiche dolcezza einer Caballé oder Devia vernehmen, klingt  eher leidgeprüft als verklärt, entschädigt allerdings ab und zu durch schöne Bögen wie auf „tutto col sangue cancellerà“.  Die Höhe wird durchgehend erreicht, klingt allerdings manchmal recht dünn wie auf „conforto d’amor“, man vermisst Geschmeidigkeit und chiaro-scuro. Die beiden Bässe klingen hart (Cecil) oder dumpf (Talbot), Gefährtin Anna hell und scharf, und nur der Leicester von Mario Rojas lässt Tenore-di-Grazia-Qualitäten erkennen.

Weit mehr gefallen als die Maria kann die Kontrahentin Elisabetta in Roberto Devereux, als die Sondra Radvanovsky zu Beginn der zweiten Szene schöne Trauertöne mit reichen Schattierungen zur Verfügung stehen, ein seltsamer Schluchzer vor „vivi“ allerdings etwas befremdet, und morbidezza manchmal mit verwaschen klingenden Tönen verwechselt wird. In den Presto-Teilen führt das bis zur Unverständlichkeit.  Unangestrengt klingen die Intervallsprünge, doch ab „Quel sangue“ wird die Höhe dünn, scheint die innere Spannung zu fehlen, was vielleicht damit zusammen hängt, dass die Sängerin an der Zielgeraden ihres Gesangsmarathons angelangt ist.

In Anna Bolena hat zunächst der Damenchor das Wort und schlägt sich agogikreich mehr als gut. Mit Lauren Decker wurde auch ein vollmundiger Smeton gewonnen, Mario Rojas bewährt sich als Percy. Die Diva lässt erkennen, dass sie um die Bedürfnisse des Belcanto weiß, überzeugt auch mit schönen Decrescendi wie auf „al dolce guidami“, lässt den Hörer aber auch verstört über ein schneidendes „infiorito l’altar“  zurück, wenn das Orchester weit milder gestimmt ist als die Solistin. Immer wieder wechseln feine Klanggirlanden ab mit verwaschen Klingendem wie „Cielo, a miei lunghi spasimi“.  Als ideal erweist  sich weder die Zusammenstellung des Programms noch das Wechseln der Sängerin zwischen Hochdramatischem und Belcanto (Pentatone PTC 5186 970). Ingrid Wanja

 

Hans-Dieter Roser

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Es sagt sich in vielen Fällen so dahin, von „tiefer Betroffenheit“ im Falle eines Ablebens zu sprechen, aber die Nachricht vom Todes des wunderbaren und stets liebenswürdigen Wieners Hans-Dieter Roser am 6. März 2022 trieb mir die Tränen in die Augen, verehrte ich ihn doch seit seiner Berliner Zeit an der hiesigen Staatsoper, der er als Betriebsdirektor von 1991 bis 1998 vorstand und wo er mit Hans-Georg Quander als Intendanten dem Haus damals zu ungemeiner und nicht wieder erreichter Blüte verhalf. Wir Berliner erinnern uns wehmütig an die hinreißenden Produktionen Alter Musik mit René Jacobs und an die Vielfalt des Spielplans.

Auch in der Folgezeit blieben wir ihm verbunden; und er schenkte uns ebenso witzige wie profunde Beiträge (so die köstlichen Artikel zu den „Weinberl und Zibeben“ und „Das Erotische in der Wiener Operette“), war stets erreichbar und stets gütig mit uns, kompetent beratend und liebevoll. Ach was für ein Verlust. Er war mir ein Vorbild, das Ideal eines gebildeten, hochbelesenen Mitteleuropäers, wie es wenige nur gibt. Danke Hans-Dieter Roser! G. H.

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Hans-Dieter Roser (* 6. Jänner 1941 in Allentsgschwendt im Waldviertel; † 6. März 2022 in Wien) wer  österreichischer Historiker, Germanist, Musik- und Theaterwissenschaftler, Dramaturg sowie Disponent mit den Forschungsschwerpunkten Oper, Operette und Musical. Roser absolvierte zunächst das Piaristengymnasium Krems (Matura 1959) und danach neben seinem Studium der wissenschaftlichen Fächer an den Universitäten Wien und Bern auch eine Schauspielerausbildung. Ab 1962 folgten Engagements am Theater als Schauspieler und als Regieassistent (u. a. Stadttheater Bern). Von 1965 bis 1967 war Roser Dramaturg und Schauspieler an der Landesbühne Schleswig-Holstein in Rendsburg, 1967 bis 1972 Leiter des Künstlerischen Betriebsbüros am Theater an der Wien (Direktion Rolf Kutschera). In dieser Zeit war er auch Mitarbeiter bei den Wiener Festwochen unter Ulrich Baumgartner im Betriebsbüro und als Regisseur. Anschließend war Roser bis 1975 Musikdramaturg am Staatstheater Kassel (Intendanz Peter Löffler). Für die Jahre 1976 bis 1982 wechselte er in das Direktionsbüro des Burgtheaters (Direktion Achim Benning). Von 1982 bis 1986 war er neben Karl Dönch der Vizedirektor der Volksoper Wien und von 1986 bis 1991 der Künstlerische Betriebsdirektor an der Staatsoper Wien (Direktion Claus Helmut Drese/Claudio Abbado). In den Jahren 1991 bis 1998 wechselte er in gleicher Funktion an die Berliner Staatsoper Unter den Linden (Intendanz Georg Quander/Daniel Barenboim). Danach war Roser hauptsächlich musikpublizistisch aktiv. (Wikipedia)

Gewaltiges Panorama

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Von A-Z. von Joachim Alberlin, der eine wichtige Rolle in der Kirchenmusik der Refor­mation spielte (seine „Bibel oder Heilige Schrift gsangweyss“), die1616 in Zürich gedruckt wurde) bis zu Alberich Zwyssig (dem Klostermusiker und -komponisten), der den „Schweizerpsalm“ komponierte, aus dem die Schweizer Nationalhymne hervorging, reicht das lang erwartete Lexikon über „Musik in Zürich“.

„Zürich war und ist eine Musikstadt“, dieses Bekenntnis von Inga Mai Groote und Laurenz Lütteken steht am Anfang dieses verdienstvollen Buches. Es ist Ergebnis diverser Forschungs-Aktivitäten und wurde verfasst von zahlreichen Mitarbeitern des Musikwissenschaftlichen Instituts der Universität Zürich.

Das Buch ist ein Stadtführer, dessen lexikalischer Teil mit Porträts von 253 Personen, 14 Orten und 21 Institutionen (Klöster, Theater, Konzerthäuser, Archive und Bibliotheken) aufwartet.“ Der Fokus der Artikel, insbesondere bei bekannteren Persönlichkeiten, liegt auf dem Wirken und Leben in der Limmatstadt,“ betonen die Herausgeber.

Zürich war und ist natürlich nicht nur Wirkungsort schweizerischer Persönlichkeiten des Musiklebens wie Hans Conrad Bodmer, Robert Blum, Max Fehr, Rudolph Ganz, Noko Kaufmann, Rolf Liebermann, Paul Sacher oder Hans Rosbaud (um nur einige zu nennen), sondern von solchen aus ganz Europa.

Es versteht sich von selbst, dass die städtische Geschichte mit ihren kulturell markanten Orten und Personen – mit ihrem weit über die Region ausstrahlenden Profil besonders berücksichtigt wird. Es versteht sich von selbst, dass die städtische Geschichte mit ihren kulturell markanten Orten und Personen mit ihrem weit über die Region ausstrahlenden Profil besonders berücksichtigt wird.  Vor allen das Opernhaus, dessen Geschichte ausführlich behandelt wird, ein­schließlich der Dirigenten und ihrer Verdienste – nicht zuletzt Ralf Weikerts).

Aber dieses Porträt der Musikstadt am Zürichsee umfasst auch weniger bekannte oder in einem Zürcher Musikgeschichtsführer nicht erwartete Persönlichkeiten wie den umstrittenen Stardirigenten (des Dritten Reiches) Wilhelm Furtwängler, der kurz von Ende des Zweiten Weltkriegs in die Schweiz floh. Viele seiner Dirigier- und Studienpartituren aus dem Nachlass liegen heute in der Zentralbibliothek Zürich. Auch über den aus Nazi-Deutschland geflohenen jüdischen Dirigenten Otto Klemperer, dem Zürich „als erste Station auf dem Weg ins Exil“ diente, und dessen Familie sich nach dem Zweiten Weltkrieg in Zürich niederließ, ist interessantes zu lesen. Er liegt auf dem Friedhof Oberer Friesenberg begraben. Auch der in den USA erfolgreiche jüdische Dirigent Erich Leinsdorf, der Deutschland verlassen hatte und viele Konzerte in Zürich dirigierte, hat Zürich ab 1978 zu seiner Wahlheimat erkoren, so liest man.

Einen besonderen Stellenwert hatte Richard Wagner in der Geschichte der Stadt an der Limmat. Zwei lange Lebensabschnitte verbrachte er in der Schweiz. Allein neun Jahre im Zürcher Exil (von 1849 bis 1858), danach lebte er mit einjähriger Unterbrechung in Venedig, sechs Jahre abwechselnd in Luzern, bei Zürich und in Genf. Und dann, ab 1866, noch einmal sechs Jahre in Tribschen am Vierwaldstädter See. Ein Großteil seiner Werke entstand in der Schweiz und in Paris.

Nach seiner Flucht aus Dresden erreichte der Revolutionär Richard Wagner Zürich zu kurzem Aufenthalt am 28. Mai 1849. Nach seiner Rückkehr aus Paris am 6. Juli 1849 wohnte er mit Gattin Minna Wagner nacheinander bei Alexander Müller am Rennweg 55, in den hinteren Escher-Häusern am Zeltweg 182 (17. September 1849), im Haus „Zum Abendstern“ in der Gemeinde Enge, Sterngasse (13.April 1850), in den vorderen Escher-Häusern Zeit-Weg 11 (15. September 1851), Zeltweg 13, 2. Stock (15. April 1853) und schließlich auf dem Gabler bei seinem bedeutendsten Mäzen, dem reichen Kaufmann Otto Wesendonck Mit Gattin, der ihm in einem eigenen kleinen Haus im Park der Villa Asyl gewährte, das er am 17. August 1858 verließ, um nach einem amourösen Eklat, den seine Frau Minna angezettelt hatte,  nach Venedig zu reisen. In Zürich entstanden der Dramen-Entwurf Wieland der Schmied, die gesamte Ring-Dichtung und die Musik bis zum II. Akt Siegfried.

Zum Waldweben im »Siegfried« inspirierte Wagner das Sihltal bei Zürich. Im Walliser Vispertal und am Fuße des Matterhorns las Wagner Homers „Odyssee“, die – wie auch die antike Tragödiendichtung – die Dramaturgie seines »Rings« in der Tiefe mehr geprägt hat, als die Edda oder die Völsunga Saga. Der große Kenner der griechischen Sprache und Literatur, Wolfgang Schadewaldt, hat das als Erster erkannt und dargestellt. Zu den szenischen »Ring«-Phantasien wurde Wagner aber auch im Appenzeller Ländchen und am Hohen Säntis, am Julier-Pass, auf dem Rosegg-Gletscher und auf dem Rütli inspiriert.

Den vollendeten »Ring des Nibelungen«, den Friedrich Nietzsche (in seinen »Unzeitgemäßen Betrachtungen«) eine „Welt als Hörspiel“ nannte, diesen »Ring« hätte Richard Wagner übrigens ebenso gern an den Ufern des Mississippi uraufgeführt wie an denen des Rheins, oder des Zürichsees, wie er aus Zürich an seinen Freund Ernst Benedict Kietz in Paris schrieb.

Auch die Dichtung von Tristan und Isolde und die Musik zum I. Akt entstand inspiriert von seiner „Muse“ Mathilde Wesendonck, die Wesendonck-Lieder, die Kunstschriften, ferner die Aufsätze „Das Judentum in der Musik“, „Das Kunstwerk der Zukunft“ und Nebenschriften wie „Ein Theater in Zürich“ und „Über Franz Liszts symphonische Dichtungen“. Wagner veranstaltete vom 16. bis 19.Februar 1853 Vorlesungen seines „Rings“ im Hotel Baur au Lac und am 18., 20. und 22. Mai 1853 drei gefeierte Sonderkonzerte mit eigenen Werken. Er dirigierte vielbeachtete Opern und zog zeitweise die Stadt Zürich als Festspielort in Erwägung. Fast wäre Zürich Festspielstadt geworden. Was für eine Alternative zu Bayreuth! Unterbrochen wurde der Zürich-Aufenthalt von zahlreichen Gebirgswanderungen, von Reisen nach Bordeaux, Paris, Gent, Albisbrunn, zum Vierwaldstädter See und zum Lago Maggiore, nach Italien (August/September 1853) und zu Londoner Konzerten (1855).

Seine wichtigsten Zürcher Freunde In Zürich waren Jakob Sulzer, Franz Hagenbuch, Wilhelm Baumgartner, Alexander Müller, Bernhard Spyri, Gottfried Keller, Ignaz Heim; unter den Emigranten waren es Georg Herwegh, Gottfried Semper, Friedrich Theodor Vischer und Hermann Müller. 1852 lernte er Otto und Mathilde Wesendonck kennen. Ebenfalls 1852 lernte er, auf dem Gut Mariafeld, in Meilen bei Zürich, die aus Norddeutschland emigrierten Frangois und Eliza Wille kennen, die Wagner ebenfalls finanziell unterstützten. Von ihr stammt die beste Charakterisierung Wagners als „einer Taschenbuchausgabe von Mann und eines Folianten an Eitelkeit“. Zu Wagner-Besuchen hielten sich in Zürich u.a. auf: Karl Ritter, Theodor Uhlig, Franz Liszt, Carl Tausig, last but not least Cosima (die Liszt-Tochter und spätere Wagnergattin) und Hans von Bülow, ihr erster Mann, den sie Wagner zuliebe verlassen sollte.

Über all diese Stationen, die erwähnten Personen und Ort (Adressen) erfährt man Detailliertes in dem Buch „Musik in Zürich“ ein Buch nicht nur schweizerischer Musiker und Musikinstitutionen, sondern zu einem Gutteil auch auswärtiger Exilanten und Übersiedler, was natürlich mit dem unabhängigen politischen Status der Schweiz zu tun ha – und mit monetären Fragen. Aber das ist ein anderes Thema.

Natürlich fehlt auch Thoms Mann nicht, der nach seinem Exil in den USA ab 1952 in Zürich ansässig wurde. Auch das Thomas Mann-Archiv mit seiner bedeutenden Sammlung ist in Zürich, das dem (Wagner-) Schriftsteller Manches zu verdanken hat. Auch die wegen Ihrer Nazivergangenheit nicht unumstrittene Sopranistin Elisabeth Schwarzkopf hatte sich mit ihrem Ehemann, dem Schallplattenproduzenten Walter Legge am Zürichsee (Zumikon) niedergelassen und dort zahlreiche künstlerische und pädagogische Aktivitäten entfaltet. Ihre letzte Ruhestätte fand sei im Familiengrab in Zumikon. Die engen Beziehungen des (ebenfalls wegen seiner ambivalent opportunistischen Rolle in Nazideutschland umstrittenen) Dirigenten und Komponisten Richard Strauss zu Zürich werden genauestens dargestellt. Nicht vergessen werden Igor Strawinskys Züricher Verbindungen und die zu seinen Schweizer Mäzenen. Zu schweigen von den vielen Zürcher Komponisten und Dirigenten. Aber auch der in Berlin geborenen Nikolaus Harnoncourt, dessen Zürcher Monteverdi – und Mozatrtzyklus Aufsehen erregten, wird gewürdigt.

Ein gewaltiges Panorama wird entfaltet. Doch das mit reichlich und zum Teil raren Bildmaterial ausgestattete Buch ist mehr als nur ein Zürcher Musiker-Lexikon, es ist auch ein veritabler Stadtführer mit hervorragenden Karten, Adressenverzeichnissen, detaillierten Spaziergangs-Vorschlägen zu erwähnten Adressen von Musikschaffenden oder -institutionen im gesamten Stadtgebiet von Zürich. Ein Zeitleiste vom 13. Jahrhundert (als die wichtigsten Klöster als Orte täglicher Musikausübung in Zürich gegründet wurden) bis ins Jahr 2021 (als der Umbau der Tonhalle abgeschlossen wurde) und ein gutes Literatur­verzeichnis runden diese nützliche uns informative Buch ab. Eine Lücke ist geschlossen (Musik in Zürich
Menschen, Orte, Institutionen; Hrsg. Von Bernhard Hangartner, David Reißfelder; Chronos Verlag ISBN 9 783 034016414). Dieter David Scholz

Wer hat die Hosen an?

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2019 hatte Erato eine CD mit der ungarischen Sopranistin Emöke Baráth veröffentlicht (Voglio cantar), die sich dem Werk der italienischen  Komponistin Barbara Strozzi widmete. Nun legt die Firma ein Album mit der Sängerin nach, das im Juli 2021 in Paris aufgenommen wurde und mit Opernarien von Händel eher einen traditionellen Weg beschreitet, sich allerdings durch eine originelle Programmkonzeption auszeichnet  (0190296370625). Der Titel dualità bezieht sich auf das Vermögen einer Sängerin, Rollen beider Geschlechter gleichermaßen kompetent zu interpretieren, wie es beispielsweise die berühmte Margherita Durastante vermochte. Händel engagierte sie 1720 für die Eröffnung der Londoner Operngesellschaft und vertraute ihr den Titelhelden in Radamisto an. In der Arie „Ombra cara“ im 2. Akt richtet dieser sich an den Geist seiner vermeintlich verstorbenen Gattin und schwört Rache an deren Peinigern. Emöke Baráth kann hier die Schönheit ihrer Stimme im schlichten Gesangsfluss der Arie als auch dramatisches Gespür demonstrieren. Später widmet sich die Sängerin noch Radamistos Gleichnisarie aus dem 3. Akt („Qual nave smarrita tra sirti“), welche ein Schiff auf hoher See beschreibt, das ohne Leuchtfeuer verloren scheint. In dieser getragenen Komposition von großer melodischer Schönheit tupft Baráth feinste Töne. Ein Jahr später übernahm Durastante in dieser Oper die Zenobia, Radamistos Gattin, was ihre professionelle Wandlungsfähigkeit bewies. In der Saison 1733/34 kehrte sie mit einem männlichen Part nochmals nach London zurück, dem Tauride in Arianna in Creta. Dessen „Qual leon“ aus dem 2. Akt ist wiederum eine Gleichnisarie, in der sich der Held mit einem Löwen vergleicht. In dieser Nummer, welche die CD eröffnet, bemüht sich Baráth um einen martialischen, heroischen Tonfall, klingt hier auch dunkler als erinnert. Unterstützt wird sie vom Ensemble Artaserse unter Leitung des renommierten Countertenors Philippe Jaroussky, das bei dieser Arie mit lebhaftem Hörnerschall eine Jagdatmosphäre assoziiert. Der Klangkörper begleitet die Sängerin je nach Titel mit Schwung oder Innigkeit.

Als sich Händel in den späten 1730er Jahren in London verstärkt dem Oratorium zuwandte, stand ihm die englische Sängerin Miss Edwards zur Verfügung,  der er den Achille in der Deidamia  anvertraute. In dessen Arie „Ai Greci questa spada“ vermag Baráth dem jungmännlichen Helden vokale Kontur zu geben und mit emphatischer Artikulation auch die kämpferische Situation zu umreißen. Einige exponierte Töne geraten dabei etwas forciert und grell.

Rein auf Männerrollen spezialisiert war Margherita Chimenti, die 1736 bis 38 in London sang und dort beispielsweise mit dem Adolfo in Faramondo besetzt war. Dessen lebhafte Arie „Se ria procella sorge nell’onde“ stellt keine übergroßen Anforderungen an die Interpretin, was auf  das bescheidene gesangliche Vermögen der Uraufführungssängerin schließen lässt, doch Baráth nutzt den Titel für ein heiteres Intermezzo in ihrer Programmfolge.

Andere Sängerinnen, wie die legendäre Francesca Cuzzoni, widmeten sich ausschließlich den Heldinnen in Händels Opern. Im Giulio Cesare in Egitto feierte sie als Cleopatra Triumphe. Baráth kann in zwei gegensätzlichen Arien der ägyptischen Königin ihre Vielseitigkeit zeigen: „Se pietà di me non senti“ zeigt die Regentin erschöpft und leidend, „Da tempeste il legno infranro“ dagegen triumphierend im Koloraturjubel.

Auf Zauberinnen spezialisiert war Elisabetta Pilotti-Schiavonetti. In Amadigi di Gaula sang sie die Melissa, deren Arie „Ah! spietato!“ zwischen spektakulärer Gesangskunst und Gefühlsextremen pendelt. Baráth überzeugt hier gleichermaßen mit gefühlsstarkem Vortrag wie virtuoser Beherrschung des Zierwerks. Die Titelrolle in Alcina stellt eine besondere Herausforderung an die Interpretationskunst einer Sängerin dar. Sie wurde von der großen Anna Maria Strada del Pò verkörpert, die mehr Titelrollen von Händel interpretierte als irgendeine andere Sängerin. In „Ombre pallide“ beschwört die Zauberin die Geister der Unterwelt, was Baráth bis in die Extreme ausreizt. Bereits das Rezitativ „Ah! Ruggiero crudel“ ist erfüllt von enormer Intensität und Spannung, die Arie dann von erregt verwirrtem Zustand und hastigem Redefluss, der sich in schier endlosen Koloraturläufen ausdrückt.

Del Pò sang auch die Partenope, deren heitere Arie „Qual farfalletta gira“  vom Orchester lieblich umspielt und von Baráth mit sanftem Ton zauberhaft modelliert wird. Und sie war die Adelaide in Lotario, mit deren virtuoser Arie „Scherza in mar la navicella“ die Programmfolge endet. Baráth kann hier noch einmal technische Bravour und vokalen Glanz vereinen. Das Cover zeigt sie in einer Fotomontage mit einem weiblichen und einem männlichen Porträt, was die Programmkonzeption der CD auch optisch unterstreicht. Bernd Hoppe

Kleine Entdeckungen

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Dinu Lipatti: Als Pianist ist er eine Legende. Als Komponisten muss man ihn erst kennen lernen. Für den Rumänen Dinu Lipatti waren indes beide Tätigkeiten von gleichrangiger Bedeutung und er hat gegenüber seiner Lehrerin Nadia Boulanger immer wieder betont, wie sehr es ihn schmerze, wegen seiner vielen Konzertauftritte nicht genügend Zeit fürs Komponieren zu haben. Gerade die Zeit war es aber, gegen die er ankämpfen musste, denn er war schon in jungen Jahren schwer krank und ist 1950 mit gerade einmal 33 Jahren an der seltenen Hodgkinschen Krankheit, einem bösartigen Tumor des Lymphsystems, gestorben.

Seine diskographische Hinterlassenschaft als Pianist ist trotz der kurzen Spanne seiner aktiven Jahre sehr respektabel – jeder Klavierfreund wird zumindest seine Aufnahme von Schumanns a-moll-Konzert unter Herbert von Karajan kennen -, dass er aber zahlreiche Orchester-, Klavier- und Kammermusikwerke, daneben auch zwei Liedzyklen komponiert hat, wusste zumindest ich bisher nicht. Und die letztgenannten Lieder, umgeben von Werken seiner Landsleute George Enescu und Violeta Dinescu, wurden jetzt beim Label dreyer gaido in einer exemplarischen Einspielung mit dem Tenor Markus Schäfer und dem Pianisten Mihai Ungureanu veröffentlicht.

Die Cinq Chansons, im Kriegsjahr 1941 in Rumänien entstanden, basieren auf Texten von Paul Verlaine, der schon zahlreiche Komponisten zuvor zu Vertonungen angeregt hat. Lipattis Adaptionen stehen in der – überwiegend impressionistischen – Tradition der Vorgänger, zeigen aber auch in der gelegentlich dramatischen Zuspitzung einen eigenen Charakter und lassen erkennen, dass sich der Komponist tief in die poetischen Vorlagen eingegraben hat. Es gibt dringliche Textwiederholungen, gesummte und deklamierte Passagen, Flüstern und Schreie brechen aus der Kantilene hervor, und das Klavier gibt dem Gesang, etwa in der Sérénade, einen geradezu stürmischen Widerpart. Der Sänger spricht überspitzt von „Klavierkompositionen mit zugefügtem Sologesang“, aber er meistert diese Herausforderung souverän mit tiefem Verständnis auch der textlichen Feinheiten. Und Mihai Ungureanu ist sein ebenso brillanter wie einfühlsamer Partner.

In den Quatre Mélodies von 1945 kann er sich wieder mehr aufs Begleiten zurückziehen und auch die Gesangslinie ist mehr auf Einfachheit ausgerichtet. Die Gedichte von Arthur Rimbaud, Paul Éluard und Paul Valéry sind aber nicht weniger anspruchsvoll als diejenigen Verlaines und teilweise sehr verrätselt. Sie entziehen sich einer stimmigen deutschen Übersetzung, können allenfalls nachgedichtet werden. Trotzdem wäre ein Abdruck der deutschen Texte notwendig gewesen, um die Lieder zu verstehen. Ich habe sie mir mühsam aus dem Internet zusammengesucht. Auch hier wird das Eindringen des Hörers in die Musik durch Markus Schäfers imaginativen und suggestiven Vortrag erleichtert.

Den Kompositionen Lipattis sind die Sept Chansons de Clément Marot op. 15 seines Patenonkels George Enescu vorangestellt, der auch sein erster Lehrer war, schon den 4jährigen auf der Geige unterrichtet hat. Marot war ein Dichter des frühen 16. Jahrhunderts und als Sekretär für Margarete von Navarra tätig. Die Gedichte sind Anne d’Alençon, einer Nichte von Margaretes erstem Gatten, gewidmet und handeln – was sonst? – von möglicherweise unerwiderter Liebe. Enescu hält den 1908 in Paris uraufgeführten Zyklus in einem an alte Lautenlieder gemahnenden höfisch-eleganten Tonfall, den Schäfer und Ungureanu überzeugend aufnehmen.

Den Abschluß des Albums bildet eine Komposition Violeta Dinescus, als Hommage an Lipatti zu dessen 100. Geburtstag geschrieben, andererseits von Enescus Carillon nocturne (1916) inspiriert: Mein Auge ist zu allen sieben Sphären zurückgekehrt. Die sechs vertonten Textzeilen stammen aus dem 3. Teil (Paradies) von Dantes Divina Commedia und werden von Dinescu nach mathematischen Strukturen bis zur Unkenntlichkeit dekonstruiert. Den Sinn dieser Auflösung habe ich beim Hören nicht verstanden, der Booklet-Kommentator Jörg Jewanski meint jedoch: „Die Obertöne, die sie (Dinescu) an Lipattis Klavierspiel und an Enescus nächtlichen Glocken faszinieren und die immer wie zartes entrücktes und wie aus der Ferne also quasi aus dem Himmel herüber wehendes Glockenspiel klingen, schaffen eine Beziehung zu den Klängen des himmlischen Paradieses aus der Göttlichen Komödie“. Markus Schäfer zeigt sich auch auf diesem Terrain sängerisch virtuos (Dreyer gaido CD 21132). Ekkehard Pluta