.
„Nein!“, schreit Nunciata, die eigensinnige korsische Großmutter, als sie angefleht wird, die Fehde zwischen ihrer Familie, den Fabiani, und ihren Feinden, dem Clan Pietra-Nera, zu beenden.
Vor dem Hintergrund tragischer Todesfälle, unersättlicher Rachegelüste und leidenschaftlicher Liebe auf dem Höhepunkt der Napoleonischen Kriege wurde dieses 1906 von Saint-Saëns komponierte „lyrische Drama“ L´Ancêtre an der Opéra de Monte-Carlo uraufgeführt und dem Prinzen Albert I. gewidmet, der es in Auftrag gegeben hatte. Saint-Saëns zeigt hier die ganze Bandbreite seines Stils und verwebt Debussy’sche Akkorde, Melodielinien à la Massenet und aggressive Rhythmen, die Prokofjew würdig sind. Vor allem aber beweist er ein Gespür für das Theater, das für die französische Oper so charakteristisch ist, und man kann sich nur vorstellen, wie erfolgreich diese Partitur wäre, wenn sie wieder auf die Bühne käme.
Nicht ohne Grund wurde L’Ancêtre nach seiner triumphalen Premiere in Monte Carlo in mehreren Städten in Frankreich, Belgien, der Schweiz und Deutschland sowie in Algier (Februar 1911) und Kairo (Februar 1912) aufgeführt, bevor es im März 1915 zu zwei weiteren Aufführungen in dem Theater kam, in dem es entstanden war.. (Palazzetto Bruzane/DHL)
.
Diese interessante späte Oper (die x.te im Katalog des Palazzetto Bru Zane, mit der etwas eingenwillige Liebe des Künstlerischen Directors Alexandre Dratwicki zum französischen Komponisten) wollen wir mit einer ausführlichen Rezension der neuen Aufnahme von Rolf Fath würdigen, dazu ein paar Worte des Prinzipalen. G. H.
.
Die Zuschauer in der Opéra von Monte-Carlo dürften 1906 einigermaßen erstaunt gewesen sein, als sie der 70jährige Camille Saint-Säens mit einem völlig neuen Ton überraschte. Erstmals vertonte er einen fast gleichzeitigen Stoff, erstmals näherte sich seine Musik zaghaft dem Verismo. Vielleicht erklärt sich aus dieser Überraschung auch der Anfangserfolg seiner letzten Oper. Es folgte, ebenfalls in Monte-Carlo, nur noch die Adaption der Bühnenmusik zu Dejanire zur vollständigen gleichnamigen Oper.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts kokettierte der alte Saint-Säens mit der Opernmode aus dem letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts, als der Verismo mit Cavalleria Rusticana, Pagliacci sodann mit Pierantonio Tascas Santa Lucia und Giordanos Mala Vita Triumphe feierte. In Frankreich hatte sich Alfred Bruneau mit L’attaque du moulin an dem Genre versucht, in Prag 1903 Eugène d’Albert mit Tiefland.

Massenet: « L’Ancêtre à l’Opéra-Comique ». Musica, mars 1911. Bibliothèque du conservatoire de Genève/Palazzetto
L’Ancêtre (Die Ahnin) ist eine ebensolch vor Rache, Hass, Mord und tödlichen Verkettungen strotzende Geschichte, die der Dichter, Librettist und Historiker Lucien Augé de Lassus im Ersten Kaiserreichs, also in den Jahren zwischen 1804 und 1815 auf Korsika verortet. Sie erzählt von den zerstrittenen Familien der Piétra Néra und Fabiani, die durch Zutun des Eremiten Raphael sich endlich dazu bereitfinden, ihren alten Zwist beizulegen. Die beiden Fabiani-Mädchen Vanina und ihre Pflegeschwester Margarita sind in den Piétra Négra-Sproß Tébaldo verliebt. Der junge Offizier aus Napoleons Armee liebt Margarita. Sie schwören sich Liebe. Die Fabiani-Großmutter Nunziata, die Ahnin, lehnt jegliche Versöhnung ab. In ihrer sturen Haltung wird sie bestärkt, als ihr Enkel Leandi von Tébaldo getötet wird. Nunziata zwingt Vanina den Tod ihres Bruders zu rächen. Als sich Tébaldo und Margarita heimlich von dem Eremiten trauen lassen, werden sich von Vanina und der Großmutter beobachtet. Nunziata will, dass Vanina den Gegner tötet. Vanina weigert sich. Nunziata greift selbst zum Gewehr und schießt. Versehentlich tötet sie dabei Vanina.
.
Das Werk erklingt in gepflegter Meisterschaft. Da irritieren keine rauen und kantigen Töne, nichts Schroffes, korsisch Wildes. Der Verismo hatte sich totgelaufen. Mit schönen Auftritten des Eremiten Raphael, den Michael Arivony mit betörender baritonaler Eleganz singt, wird ein nobles Drama vorbereitet. Es folgen Szenen des Tébaldo, der Halbschwestern, das große von Raphael angestimmte Gebet und die Liebesszene Margarita und Tébaldo. Saint-Saens besinnt sich auf seine alten Tugenden und entwickelt alles sehr gefällig und kultiviert, vom stimmungsvollen, fast impressionistischen wispernden Prélude bis zu den schematischen Ensembleszenen.

Massenet: Félia Litvinne war die Hauptdarstellerin der Uraufführung, hier als Massenets Déjanire/Palazzetto
Wie stets bei Saint-Säens fehlt es jedoch an dramatischem Feuer, an musikalischem Bühneninstinkt, an Dringlichkeit und Spannung, an Gespür für Steigerungen. Alles ist allerfeinst ineinander gewoben, souverän abgetönt, wie man es kennt von dem 2017 an der Opéra Comique wiedererklungenen und dann von Palazzetto Bru Zane veröffentlichten Erstling Le timbre d’ argent, an dem er bis 1914 herumdokterte, bis zur Merowingeroper Frédégonde seines Freundes Ernest Guiraud, deren letzte Akte er nach dessen Tod fertigstellte und mit der er sich 1895 von der Bühne verabschieden wollte. Stets wird man den geschmackvollen Handwerker bewundern, der Stimmen und Orchester geschmeidig verbindet.
Stets kommt aber auch etwas Langeweile auf, was bei dem 90minütigen Dreiakter L’Ancêtre, von dem der Komponist sagte, er sei weder grand-opéra noch opéra-comique, etwas heißen will. Da kann auch die vorzügliche Wiederbelebung durch Palazzetto Bru Zane und die üppige Ausstattung nicht viel retten, so verdienstvoll sie natürlich gleichwohl bleibt. In der Stadt der Uraufführung leitet der Japaner Kazuki Yamada, der ab 2026 Chefdirigent des DSO sein wird, Anfang Oktober 2024 im Auditorium Rainier III mit dem Orchestre Philharmonique de Monte-Carlo und dem Philharmonic Chorus of Tokyo eine umsichtige, geschlossene und etwas steife Aufnahme, bei der die kurzen, doch sehr elegant ausgewiesenen Préludes, insbesondere jenes zum dritten Akt, auffallen. Auch den ausgezeichneten Raphael des Michael Arivony wurde schon hingewiesen. Julien Henric singt den Tébaldo mit französischer Eleganz und italienischen Temperament, auch mit Heldenstrahl und subtiler Empfindung, beide Fabiani-Mädchen haben kleine dankbare Aufgaben, die markant aparte Mezzosopranistin Gaëlle Arquez (man hat sie noch als fulminante Carmen bei der René-Jacobs-Tournee in Erinnerung/G.H.) als Liebesschmerz leidende Vanina und Hélène Carpentier mit ihrem duftigen Sopran in der Micaela-Unschuld der Margarita. Ihr Terzett mit Tébaldo und das folgende Quartett (mit Nunziata) sind Höhepunkte der Oper, ein weiterer die ariosen Szenen der Ahnin.

Massenet: Camille Saint-Saëns and the cast of L’Ancêtre at Monte Carlo. Musica, May 1906. Bibliothèque du Conservatoire de Genève/Palazzetto
Die Titelrolle wurde von der berühmten Félia Litvinne kreiert, die Mezzo- wie Sopranpartien sang, mit Wagner, Verdi und Ponchielli und zahlreichen Partien des französischen Repertoires Akzente setzte. Entsprechend wirkungsvoll hat Saint- Säens die Primadonna in Szene gesetzt, lässt sie nur kurz im ersten Akt auftreten, wo sie mit einem knappen „No“ jegliche Versöhnung ablehnt und in der großen Anathème-Szene von Raphael verflucht wird. Nunziata gehört aber der Mittelakt, wo sie in mehreren aufeinanderfolgenden Szenen, darunter die Déploration und Malédiction, glänzen kann. Jennifer Holloway, die in Bayreuth in diesem Jahr die Sieglinde war und 2025 Adriano in Rienzi singen wird, ist wie ihre berühmte Vorgängerin u.a. auch in Saint-Säens Henry VIII. aufgetreten. In der anfänglichen Traumszene „Je révais de mon fils“ besticht Holloway durch die samtene Schönheit und das umflorte Timbre ihres höhenstarken Mezzosoprans, in den leidenschaftlichen Passagen verhärtet sich die Stimme rasch, klingt dann etwas unattraktiv und schrill. Rolf Fath
.
.

Massenet: Raoul Gunsbourg, der mutige und schöpferische Intendant der Opéra de Monte-Carlo/Palazzetto
Besser heute als gestern? Die 2012 begonnene Reihe von Aufnahmen aller Opern von Saint-Saëns durch das Palazzetto Bru Zane wird nun mit der Veröffentlichung eines seiner geheimnisvollsten Werke fortgesetzt. Denn L’Ancêtre ist im Gegensatz zu Phryné oder La Princesse jaune eine Partitur, die von der französischen Musikgeschichte hartnäckig ignoriert wurde und deren Titel wenig über ihren Inhalt aussagt. Man ist immer wieder überrascht über das allgemeine Desinteresse der Opernhäuser an Saint-Saëns‘ Werken für das Theater, obwohl seine Danse macabre, seine Konzerte für Klavier und Cello und das Bacchanal aus Samson et Dalila ständig zu hören sind. Lassen Sie uns untersuchen, ob die Qualität von L’Ancêtre seine spätere Vernachlässigung rechtfertigt. Anstatt eine Antwort auf diese Frage mittels musikwissenschaftlicher Analyse zu geben, wäre es vielleicht besser, die Musikkritiker unserer Zeit zu Wort kommen zu lassen, jene Journalisten, die sich beeilt haben, ihre Meinung nach dem Konzert in Monaco im Oktober 2024 zu äußern, aus dem diese Aufnahme stammt. Und schauen wir mal, ob der heutige Diskurs mit den – durchweg begeisterten – Reaktionen der Anwesenden bei der Weltpremiere (darunter Gabriel Fauré selbst) übereinstimmt. François Laurent (Diapason) ging sogar so weit, die Oper als „ein Wunderwerk” zu bezeichnen, in dem „nichts langatmig ist, die Handlung fließt. […] Der alte Saint- Saëns versucht, sein Publikum auf Schritt und Tritt zu überraschen”. Laurent Bury (Classica) nannte es ein „kurzes, aber kraftvolles Stück” mit „gut charakterisierten Protagonisten” und einem Libretto, das „in seinem tragischen Charakter vollkommen wirkungsvoll” ist. Für Damien Dutilleul (Olyrix) ist L’Ancêtre „musikalisch sehr reichhaltig. Es ist das Werk eines kühnen, reifen Komponisten. Mehrere Nummern, insbesondere Ensembles und Chöre, sind besonders beeindruckend“. Jany Campello (Resmusica) schätzte die „Prägnanz“ und „Üppigkeit“ einer Partitur, die „einen dramatischen Faden von seltener Spannung entwirrt, insbesondere ab dem zweiten Akt. […] Die Vielfalt der Effekte und Orchesterfarben, das Fehlen von Längen und die Vitalität seiner Musik verhindern Langeweile und bieten Momente von großer Schönheit […] bis hin zu einem Vokalquartett von überwältigender Lyrik“. Laut Clément Mariage (Forum Opéra) ist die Musik besonders „inspiriert“ und erzeugt „äußerst gelungene dramatische Episoden. […] Darüber hinaus ist die Orchestrierung des Werks äußerst sorgfältig“, insbesondere der finale „leidenschaftliche lyrische Ausbruch, der durch seine Sinnlichkeit und seinen Schmerz überwältigt“.

Massenets „L´Ancêtre“: die Opéra de Monte-Carlo um 1906/Palazzetto
Schließlich lobt Laurent Bury (wiederum, diesmal jedoch für Concertclassic) „eine bei Saint-Saëns seltene Prägnanz und Freiheit, der sich nicht verpflichtet fühlt, die strenge Drapierung der Antike zu übernehmen, und sich flexiblere Formen erlaubt”; der Kritiker bekannte sich „beeindruckt von bestimmten Motiven, deren dramatische Wirkung fast schon die Filmmusik von Bernard Herrmann vorwegzunehmen scheint”.
Was können wir aus diesem Chor des Lobes schließen, dessen Einstimmigkeit sogar die Kritiken zur Uraufführung übertrifft (die man durchaus auf die höfliche Wertschätzung für den betagten Saint-Saëns zurückführen könnte)? Erstens, dass die unermüdliche Arbeit von Institutionen, die nach verborgenen Schätzen suchen, Früchte tragen kann und nicht umsonst ist. Aber auch, dass solche schlummernden Werke mit Begeisterung und Talent von Künstlern gefördert werden müssen, die sich ihre Verantwortung in dieser Mission der Wiederbelebung bewusst sind. Denn alle oben genannten Kommentatoren lobten die Qualität eines Teams von Interpreten, die sich voll und ganz für die Wiederbelebung des Werks engagierten. Aus diesem Grund möchten wir den Instrumentalisten, dem Dirigenten und den Sängern, die sich bemüht haben, L’Ancêtre zu neuem Leben zu erwecken, unsere aufrichtige Anerkennung aussprechen.

Der Musikwissenschaftler Alexandre Dratwicki ist der wissenschaftliche Leiter beim Projekt Palazetto Bru Zane/ PBZ
Denn wenn die Partitur die Voraussetzung für die Entfaltung des Talents des Künstlers ist, so sind es dessen Sensibilität und sein Anspruch, die über diese Partitur hinausgehen und sie zu neuen Höhen führen. Und schließlich möchten wir den Interpreten, die sich für die Wiederbelebung von L’Ancêtre Denn wenn die Partitur die Voraussetzung für die Entfaltung des Talents des Künstlers ist, so sind es dessen Sensibilität und hoher Anspruch, die über diese Partitur hinausgehen und sie zu neuen Höhen führen.
Und schließlich möchten wir noch ein Wort über die Begeisterung unserer Zusammenarbeit mit dem Orchestre Philharmonique de Monte-Carlo und seinem Dirigenten Kazuki Yamada, eine gemeinsame Initiative, die dank Didier de Cottignies ins Leben gerufen und fortgeführt wurde. Ihm gilt unser herzlicher Dank dafür, dass er dieses Abenteuer ermöglicht hat. Dank ihm wird es von nun an ein Vergnügen sein, unseren Vorfahren zuzuhören. Alexandre Dratwicki (Palazzetto Bru Zane)/DeepL
.
.
Camille Saint-Saens (1835-1921): L’Ancetre (Deluxe-Ausgabe im Hardcover-Buch) Michael Arivony, Gaelle Arquez, Helene Carpentier, Julien Henric, Jennifer Holloway, Matthieu Lecroart, Tokyo Philharmonic Chorus, Orchestre Philharmonique de Monte-Carlo, Kazuki Yamada 2 CDs; Palazzetto Bru Zane