Schmuckstück im Barock-Katalog

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Liebhaber der Barockmusik dürften jubeln über die Veröffentlichung von Porporas Dramma per Musica Calvo il Calvo bei Parnassus (PARARTS002, 3CDs). Denn mit diesem 1738 in Rom uraufgeführten und danach nie wieder gespielten Werk wurde im September 2020 das von Max Emanuel Cencic initiierte Bayreuth Baroque Opera Festival im Markgräflichen Opernhaus der fränkischen Wagner-Metropole eröffnet. Das Werk basiert auf einer Episode aus dem deutschen Mittelalter und behandelt den Streit um ein Familienerbe. Die neue Einspielung entstand im August 2021 in Athen und weist in allen Partien eine identische Besetzung gegenüber der Bayreuther Aufführung auf.

Eine Phalanx der aktuell führenden Countertenöre und Sopranisten ist angetreten, angeführt von Franco Fagioli als Adalgiso. Die Partie war für den Starkastraten Lorenzo Ghirardi geschrieben und ist die anspruchsvollste der Oper. Die Auftrittsarie, „Tornate tranquille“, ist gespickt mit Trillern und Verzierungen, verlangt vom Interpreten sogleich höchste Kunstfertigkeit. Am Ende des 1. Teiles sorgt er mit einer tobenden Sturm-Gleichnisarie, „Saggio Nocchier che vede“, für einen wirkungsvollen Aktschluss. Während das Orchester das wogende Meer suggeriert, muss der Sänger mit endlosen, geradezu gurgelnden Tönen einen Steuermann in auswegloser Situation auf hoher See vorgeben – eine tour de force fast ohne Vergleich im Barockgenre. Von ähnlichem Anspruch ist die Gleichnisarie am Ende des 2. Aktes „Spesso di nubi cinto“ mit ihren schier endlosen Koloraturgirlanden. Fagioli fegt hier wie ein Rasender durch das System und fügt seinen vielen Ausnahme-Interpretationen eine weitere bedeutende hinzu. Auch das letzte Solo des Werkes („Con placido contento“) gehört ihm und in diesem haben sich alle Stürme gelegt, sind Ruhe und Frieden eingekehrt. Fagioli verdeutlicht dies mit zärtlich getupften Tönen und delikaten Trillern. Adalgisos Vater Lottario gibt Max Emanuel Cencic, Gründer des Festivals und Regisseur der Produktion. Ihm fällt die erste Aria des Werkes zu, „Vado nello splendore“, in der er mit dem schmeichelnden Klang seines Counters den wiegenden Rhythmus des Stückes betörend ausbreitet. Im Kontrast dazu ist sein zweites Solo, „Se rea ti vuole iol Cielo“, von furiosem Zuschnitt mit rasenden Läufen und eine Herausforderung an die Bravour des Sängers. Ein musikalisches Juwel ist seine wiegende Aria „Quando s’obscura il Cielo“ im 2. Akt, in welcher Cencic mit geschmeidiger Stimmführung imponiert. Gegen Ende des 3. Akt hat er mit der aufgewühlten Aria „So che tiranno io sono“ noch ein Bravourstück par excellence, mit dem er seinen führenden Status eindrücklich bestätigt. Der Tenor Peter Nekoranec ist sein Vertrauter Asprando. Der Sänger mit gediegen timbrierter Stimme ist eine Entdeckung. Seine erste Aria, das stürmische „Col passaggier talora“, nutzt er, um die Kultur seines Organs und die Bravour in den Koloraturläufen effektvoll zu demonstrieren. Von ähnlichem Charakter ist „Piena di sdegno in fronte“ im letzten Akt, in welchem er noch einmal mit wilder Verve aufwartet. Giuditta, zweite Frau von Kaiser Ludwig, ist die zentrale Sopranpartie des Werkes und mit Suzanne Jerosme besetzt. Im Auftritt, „Pensa, che figlia sei“, kann sie energisch auftrumpfen, aber auch empfindsame Töne hören lassen. Die Solistin, hierzulande noch weniger prominent, hinterlässt den besten Eindruck. Diesen vermag sie in der rasanten Aria „Vorresti a me sul ciglio“ mit vehementen Koloraturrouladen sogar noch zu steigern. Stark in der Wirkung auch die wütende Aria „Tu m’ingannasti“ mit fulminantem Einsatz. Auch Gildippe, ihre Tochter aus erster Ehe, ist eine Sopranrolle und wurde Julia Lezhneva übertragen. Sie muss in ihrem Auftritt, der Aria „Sento, che in sen turbato“, sogleich alle Register ihrer Kunst ziehen, denn die Partie war für Porporas Schüler Porporino komponiert, der mit Ghirardi konkurrieren sollte. Mit ihrer lieblichen, überaus flexiblen Stimme kann Lezhneva hier glanzvoll bestehen. Dies trifft auch auf die ausgedehnte Aria „Se nell’amico nido“ zu, in welcher ein ganzer Katalog von kosendem Zierwerk gefordert wird. Bezaubernd singt sie die Aria „Se veder potessi il core“ im 2. Akt mit ihren gurrenden, zwitschernden Lauten. Hinreißend auch das kokette „Amore è un certo foco“ mit lieblich verspielten Tönen. Im 3. Akt hat sie mit Adalgiso das Duetto „Dimmi, che m’ami“ zu singen, das in seinem innigen Melos und den sich harmonisch verschlingenden Stimmen einen Höhepunkt der Komposition darstellt. Giudittas Vertrauter und vermeintlicher Liebhaber Berardo ist der seit kurzem aufstrebende Sopranist Bruno de Sá. Sein kindliches Timbre mag Geschmackssache sein, doch ist seine Virtuosität über jeden Zweifel erhaben. Die stupende, absolut sichere Extremhöhe kann er schon in seiner ersten Aria, „Sai, che fedel io sono“, zeigen. Mit „Per voi sul Campo armato“ hat er im 2. Akt eine beherzte Aria, die einen kämpferischen Entschluss ausdrückt. Hier fehlt es dem Interpreten weniger an Emphase als an heroischem Stimmklang. Gleiches trifft auf „Su la fatal arena“ im 3. Akt zu, wo die Stimme fast einen heiteren Klang aufweist und kaum an einen „tödlichen Kampfplatz“ denken lässt. Aber man staunt erneut über die Bravour des Sängers und die brillanten Töne in extremer Tessitura. Nian Wang komplettiert die Besetzung als Giudittas Tochter Eduige. Die Stimme der Mezzosopranistin von androgynem Charakter lässt auch an einen Counter denken, auf jeden Fall ist sie von schöner Substanz und hoher Klangqualität.

Dirigent George Petrou ist mit seinem auf historischen Instrumenten musizierenden Orchester Armonia Atenea den Festspielen von Beginn an verbunden. Auch mit dieser Einspielung beweist er seine Kompetenz für die Musik mit ihrer leidenschaftlichen Dramatik und allerhöchsten Virtuosität. Gleich in der einleitenden Sinfonia mit pompösem Trompetengeschmetter im ersten Allegro setzt er ein Achtungszeichen und kann auch die drei festlichen Aktfinali mit gebührendem Glanz ausbreiten.

Nach diesem Carlo, einem Schmuckstück im Barock-Katalog, wartet der Freund Alter Musik nun noch auf Porporas Polifemo, der zuerst bei den Salzburger Pfingstfestspielen zu erleben war und 2021 in Bayreuth erklang. Bernd Hoppe