Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Glanzvoll nach Corona

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Schlimmes erdulden müssen die Opern von Mozart und Verdi und vieler anderer Komponisten durch die moderne Regie, weitgehend verschont davon bleiben die Werke von Leoš Janáček, denen allerhöchstens die Verwurzelung in einer Landschaft, in einem Milieu abhanden kommt, deren Grundkonflikt und Personal hingegen intakt bleiben. Das mag daran liegen, dass hochtrabende Ideale wie la patria, l’onore, l’amor eterno sowieso bereits im Libretto außen vor bleiben, das Personal sich weder in göttlichem noch aristokratischem Milieu bewegt und ein end, wenn nicht mit dem Tode der Hauptpersonen verbunden, doch nie so richtig happy ist. Janaceks Jenufa liefert den Beweis dafür, wenn ihr zwar oft die farbigen volkstümlichen Trachten, nicht aber die Integrität ihres Charakters, der der Küsterin und die aus einem gesellschaftlichen Konflikt erwachsende Tragik genommen wird. So auch geschehen in der Inszenierung von Claus Guth für Covent Garden, deren erster Akt in einer Anstalt, in der die Frauen vor ihren Betten sitzend Kartoffeln schälen, im Hintergrund Männer die Pissoirs benutzen, spielt, der zweite in einem riesigen Käfig und der dritte schließlich in einem Riesenraum, dessen Fußboden mit gelben Blüten bedeckt ist (Bühne Michael Levine). Ganz in Schwarz gekleidet ist auch die an sich feierbereite Gesellschaft im ersten Akt, dafür im letzten in übermäßig farbige, fröhliche Kostüme, die den Kontrast zu der furchtbaren Entdeckung im schmelzenden Eis umso stärker werden lässt (Kostüme Gesine Völlm), die quasi obszön wirken. Bedrohlich wirken im zweiten Akt nicht nur die den Käfig umgebenden Frauen, sondern zusätzlich die eine unter ihnen, die sich als Krähe entpuppt. Mit Beginn jeden Akts muss erst ein Vorhang aus schwarz-weißen Lamellen emporgezogen werden, um den Blick auf das Geschehen frei zu geben, wodurch eine zusätzliche Distanz zwischen Bühnenpersonal und Publikum konstruiert wird. Den Eindruck von auswegloser Düsternis verstärkt noch die Tatsache, dass sich die Massen wie unter einem Zwang stehend bewegen, dass Jenufa wie besessen in der am Bühnenrand aufgeschütteten Erde wühlt. Ob es  dem frischvermählten Paar gelingen wird, sich eine gemeinsame Zukunft aufzubauen, bleibt offen und lässt den Zuschauer nachdenklich zurückbleiben.

Für die beiden weiblichen Hauptrollen, und es gibt nur solche, standen zwei wunderbare Singschauspielerinnen zur Verfügung. Asmik Grigorian ist eine schöne, stolze Jenufa, die alle Gefühlsregungen, mit denen das Stück sie so reich ausgestattet hat, in Darstellung wie Gesang an das Publikum vermitteln kann. Der flexible, klare Sopran überstrahlt die Ensembles und kennt keine Ermüdungserscheinungen. Jahre lang am gleichen Haus ebenfalls eine sehr gute Jenufa war Karita Mattila, die nun als Küsterin wunderschöne Klagelaute, viel vokale Überredungskunst und so eindrucksvolle wie kontrollierte Ausbrüche der Verzweiflung hören lässt. Ein mondänes Äußeres wie bemerkenswerte Stimmreste offeriert die ewige, aber immer charaktervolle Comprimaria Elena Zilio als Großmutter. Kontrastreich in Optik und Stimme sind die Enkel Laca und Steva, der eine, Nicky Spence,  blond, rundlich und mit einem schönen Zwischenfachtenor dem Schöngesang huldigend, der andere, Saimir Pirgu, als Latin Lover auf denselben verzichtend, obwohl er eigentlich im italienischen Fach zu Hause ist. Der bildungswillige Jana ist hier ein Mädchen und wird als solches von Yaritza Veliz mit frischer junger Stimme gesungen, ganz wie in weiteren kleinen Rollen Jacqueline Stucker als Karolka, April Koyejo-Audiger als Barena und Renata Skarelyte als Tetka. Ob der als Principal Guest Concert Master aufgeführte Vasko Vassilev für einen authentischen „slawischen“ Klang sorgen sollte, lässt sich nicht erschließen. Ursprünglich war für die für März 2020 vorgesehene Premiere Vladimir Jurowski , inzwischen in München tätig, engagiert gewesen. Nun konnte man feststellen, dass Hendrik Nanasi durchaus die Partitur zum Leuchten bringen konnte, gleichzeitig den Sängern ein rücksichtsvoller Begleiter war. Der Jubel des Publikums war grenzenlos (Opus Arte BD7302D). Ingrid Wanja                  

Zigeunerlieder

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In Zeiten, wo „Zigeuner“ ein Unwort ist, wagt das wenig bekannte Label AVIE die Veröffentlichung eines Recitals mit dem Titel „La Zingarella“ (ital.: die Zigeunerin). Solistin ist die Sopranistin Isabel Bayrakdarian, deren Wurzeln im Libanon und in Armenien zu finden sind. Man erinnert ihr denkwürdiges Album „Cleopatra“ mit barocken Arien rund um die ägyptische Königin.

Auch bei ihrer neuen CD ist die dramaturgische Konzeption vorbildlich, denn die Anthologie umfasst Lieder und Liedzyklen sowie Arien aus Opern und Operetten. Sie beweist die Fülle und Vielfalt der Werke, in denen sich eine Zigeuner-Thematik findet. Und wenn beispielsweise das Staatsballett Berlin in seiner Produktion des Don Quichotte die im 2. Akt auftretenden Zigeuner in „Gitanos“ umbenennt, ist das einfach nur lächerlich, weil das Wort im Spanischen nichts anderes bedeutet als eben „Zigeuner“. Auch deshalb ist die Veröffentlichung der CD verdienstvoll und kann nicht hoch genug gelobt werden (AV2506). Streitbar sind allerdings die von Peter Tiefenbach und John Creer erstellten Arrangements für Geige (Mark Fewer), Viola (Juan-Miguel Hernandez) und ein Klavier-Trio (Annalee Patipatanakoon/Violine, Roman Borys/Cello, Jamie Parker/Klavier), die den Titeln ein ganz neues Gewand verleihen, das freilich zuweilen in die Nähe von Kaffeehausmusik rückt.

Der Einstieg in das Programm mit deutschsprachigen Liedern ist nicht glücklich, denn für Liszts „Die drei Zigeuner“ und Brahms’ „Zigeunerlieder“ fehlt es der Interpretin an idiomatischem Einfühlungsvermögen. Die verwaschene Artikulation macht die Texte nahezu unverständlich. Und der Brahms-Zyklus liegt einem Mezzosopran ohnehin besser in der Kehle. Es lag nahe, danach Dvoráks Zyklus „Cigánske melodie“ (Zigeunermelodien) folgen zu lassen, der einen günstigeren Eindruck hinterlässt. Inwieweit der tschechische Text authentisch wiedergegeben ist, kann man freilich nicht einschätzen. Mit drei canciónes von Sebastián Iradier (1809 -1865) stellt die Sängerin einen heute nahezu vergessenen Tonsetzer vor. Zuerst erklingt das übermütige „Juanita“ mit ausgelassenen Koloraturen am Ende. Das zweite ist eine Serenata andaluza, welche die Schönheit einer Zigeunerin besingt, das letzte ein Canción habanera, welches das Thema von Carmens berühmter Habanera, „L’amour est un oiseau rebelle“; aus Bizets Oper vorwegnimmt. Da verwundert es nicht, dass diese danach folgt. Der chansonhaften Interpretation kommt die kammermusikalische Begleitung entgegen. Das nächste Lied, die Zambra gitana „Clavelitos“ von Valverde, liegt in legendären Interpretationen von spanischen Diven vor: Victoria de los Angeles, Montserrat Caballé, Teresa Berganza. Gegen diese historische Übermacht behauptet sich Bayrakdarian achtbar.

Von Henry F.B. Gilbert sind 2 South American Gypsy Songs zu hören. Sie wurden in spanischer Sprache komponiert und atmen durch und durch mediterranes Flair, was die Sängerin mit ihrer Sinnlichkeit bestens bedient.

Der Titel des Albums ist dem gleichnamigen Air d’entrée aus der Operette Chanson gitane von Maurice Yvain entnommen. In diesem Titel in französischer Sprache schwelgt die Sängerin in Wohlklang und Temperament. Drei deutschsprachige Operettenmelodien beenden das Programm. Aus Lehárs Zigeunerliebe erklingen Zorikas Lied „Hör ich Cymbalklänge“ und der Csárdás. Sie gehören in ihrer überschäumenden Verve insgesamt zu den besten Titeln der Platte. Es folgt die Arie der Sylva „Heia, heia, in den Bergen“ aus Kálmáns Die Csárdásfürstin, der man ähnliche Qualitäten bescheinigen kann. Der Gipsy Love Song aus Herberts The Fortune Teller ist ein melancholischer Ausklang des Programms. Bernd Hoppe

Cio-Cio-Sans Metamorphosen

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Puccinis berühmteste Oper, die Belasco-Story von der Kleinen Japanerin, die vom gemeinen Ami-Offizier verlassen wird, dessen Kind zur Welt bringt und sich zum Schluss angesichts der geplanten Adoption mit dem Schwert ihrer Ahnen ersticht, bewegt seit ihrer musikalischen Umsetzung 1904 die ganze Welt. Millionen haben in ihre Taschentücher geweint, und unzählige Sopranistinnen haben in der Partie Erfolge erzielt. Wobei noch einmal gesagt werden muss, dass Cio-Cio-San ebenso wenig für eine asiatische Interpretin geschrieben wurde wie Aida für eine Farbige. Das ist opportunistischer Unfug. Und die Auseinandersetzung um „black-facing“, wie sie gerade wieder mal tobt und wie sie von der selbst von Grace Bumbry zurechtgewiesenen Angel Blue publikumswirksam geführt wird, sind genauso unsinnig, wie nun stereotyp jede Chinesin, Thailänderin, Japanerin oder Koreanerin in der Rolle der trippelnden Geisha zu casten.

Puccinis „Madama Butterfly“: Die Macher David Belasco, Arturo Toscanini und Giacomo Puccini/ Dober Press

Nur wenige erinnern sich, dass Madama Butterfly (nach Belascos erfolgreichem Bühnenstück in New York 1900) an der Scala 1904 einen ganz schlechten Start hatte und erst wenig später überarbeitet in Brescia einen rauschenden Erfolg verbuchen konnte. Nur wenige erinnern sich zudem, dass es bei diesen beiden Versionen nicht blieb. Viel spannender finde ich die Fassung für Paris 1906, die für mein Empfinden viel weicher, konventioneller und weniger von den damals aufkommenden Japanoiserien durchzogen ist, als die beiden Fassungen davor. Es ist das große Verdienst der bislang einmaligen Ver-Sammlung aller drei/ bzw. vier Versionen in einer 3-CD-Box, den Hörer per Programmierung in die Lage zu versetzen, nach- und nebeneinander eben diese zum Teil sehr voneinander abweichenden Versionen zu hören. Zumal hier auch die vierte, (ursprünglich englisch gesungenen) Variante für Washington 1908 mit eingeschlossen ist.

Es handelt sich um die inzwischen leider vergriffene Vox-Einspielung unter Charles Rosecranz am Pult des Ungarischen Staats-Opernorchesters mit der fulminanten Maria Spacagna in der Titelpartie neben Richard Di Benzi, Erich Parce und Sharon Graham in den weiteren Hauptpartien – alle kompetent und werkdienlich, weniger Met-Stars als würdige Interpreten, die man für ihre Flexibilität bewundern muss. Rosecrans und die Spacagna haben ja einige tolle Aufnahmen darüber hinaus herausgebracht (L´Arlesiana et al). Also rate ich, die regionalen Bibliotheken zu stürmen oder die wenigen verbliebenen, leider drastisch überteuerten Exemplare bei Amazon oder ebay zu kaufen. Es lohnt sich, schon weil das exzellente, dicke (nur englischsprachige) Booklet viele Informationen und eben den Progammierschlüssel für die einzelnen Änderungen und Einschübe bietet..

Der Musikwissenschaftler Michael Kaye hat zu dieser spannenden Ausgabe in dem üppigen Beiheft (alle Libretto-Versionen nebst Programmieranleitungen zu den einzelnen Tracks der jeweiligen Fassungen) einen ebenso spannenden Artikel geschrieben, brillant wie stets und kundig wie eh. Man erinnert sich an seine überzeugende Recherche zu Offenbachs Hoffmann.

Aus diesem erwähnten Beiheft bringen wir mit Dank an den inzwischen verstorbenen Autor in unserer eigenen deutschen Übersetzung (Daniel Hauser) Michael Kayes Aufsatz in großen Auszügen (namentlich die zitierten Briefstellen und ein Interview mit einer damaligen Augenzeugin wurden ausgelassen; zu Albert Carrés Bühnenanweisungen der Produktion 1906 an der Pariser Opéra-Comique s. auch Albert Carré’s Staging Manual for «Madama Butterfly» (1906) von GIRARDI, Michele 2016). G. H.

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 Nun also Michael Kaye: Es ist schwer zu glauben, dass eine Oper wie Madama Butterfly, die heute einen so wichtigen Platz im Repertoire aller Opernhäuser der Welt einnimmt und die Opernliebhaber als eine ihrer Lieblingsopern betrachten, eine der ungünstigsten Reaktionen des hochkarätigen Premierenpublikums bei der Premiere an der Mailänder Scala am 17. Februar 1904 provoziert hat.

Wie seltsam muss es den an der Uraufführung beteiligten Künstlern vorgekommen sein. Die Proben waren so gut verlaufen, in einer Atmosphäre voller Enthusiasmus und emotionaler Hingabe. „Es war ein schrecklicher Abend“, sagte Puccini zu einem seiner Biographen, Arnaldo Fraccaroli. Arturo Toscanini hatte jedoch das Scheitern der ersten Version von Madama Butterfly vorausgesagt.

Tito Ricordi, der bei der ersten Fassung von Madama Butterfly Regie führte, war maßgeblich an der Gestaltung der ersten Überarbeitung nach der Mailänder Scala für eine Produktion am Teatro Grande in Brescia beteiligt. Er bestand darauf, im ersten Akt das zu entfernen, was er als „viele nutzlose Episoden“ bezeichnete; die Aufspaltung des zweiten Aktes in zwei Teile, den Abschluss des ersten Teils mit dem „Summchor“ und das Hinzufügen von Pinkertons Arie „Addio fiorito asil“ (basierend auf bereits im Orchester-Intermezzo vorhandener Musik). Tito Ricordi gab Puccini zwei Monate Zeit, um die Überarbeitungen für Brescia durchzuführen, mit der ermutigenden Nachricht, dass Toscanini darauf warte, die Oper in Buenos Aires zu dirigieren.

Puccinis „Madama Butterfly“: Giovanni Zenatello war der erste Pinkerton/ Wikipedia

Drei Monate später, am 28. Mai 1904, war die revidierte Fassung von Madama Butterfly in Brescia ein triumphaler Erfolg. Das Publikum hörte aufmerksam zu, und alles gefiel ihm. Bevor Pinkerton seine erste Arie beenden konnte, war der Applaus ohrenbetäubend und das Publikum verlangte nach einer Zugabe; man forderte Puccini auf, sich während der Aufführung unzählige Male zu präsentieren, um den Beifall entgegenzunehmen. Der zweite Aufzug war ein noch größerer Triumph. Einen Monat später war die Brescia-Version ein großer Erfolg in Buenos Aires am Teatro de la Opera, später bekannt als Teatro de la Plata (nicht das Teatro Colón), am 2. Juli 1904 mit Toscanini und der Storchio.

Die Vox-Aufnahme unter Rosecranz bietet nun Zuhörern die Möglichkeit, Puccinis Modifikationen, Überarbeitungen, Änderungen und Errungenschaften für alle wichtigen Überarbeitungen von Madama Butterfly zu hören und zu vergleichen. Sie endeten nicht mit Brescia; tatsächlich basiert die traditionelle Version, die das zeitgenössische Publikum wahrscheinlich im Opernhaus sehen wird, auf der Fassung, die Puccini Albert Carré 1906 an der Opéra Comique in Paris zur Verfügung stellte. Vielleicht kommen Sie zu dem Schluss, dass nicht alle Änderungen, die an der Originalfassung vorgenommen wurden, Verbesserungen waren.

Puccinis „Madama Butterfly“: Rosina Storchio war die erste Cio-Cio-San/ Dover

Die Oper wurde in der Brescia-Fassung in Montevideo, Alexandria und Kairo aufgeführt. Ricordi veröffentlichte eine neue Partitur der Oper in italienischer Sprache zusammen mit einer singbaren englischen Übersetzung von R. H. Elkins für die Uraufführungen in London in Covent Garden (in italienischer Sprache am 10. Juli 1905) mit Emmy Destinn, Enrico Caruso und Antonio Scotti unter der Leitung von Kleofonte Campanini.

Die sogenannte „Neuausgabe“ (nuova edizione) von Madama Butterfly wurde am 12. Oktober 1905 erfolgreich am Teatro dal Verme in Mailand unter der Leitung von Tullio Serafin aufgeführt; das Publikum forderte eine Zugabe von Butterflys Einstiegsauftritt. Puccini nahm einige kleine Änderungen an der ersten Produktion am Teatro Comunale in Bologna unter der Leitung von Toscanini am 29. Oktober 1905 vor. Diese Änderungen sind im Verlauf des vorliegenden Librettos notiert. Puccini war um jeden Aspekt der Produktion seiner Opern besorgt. Aus London schickte er Toscanini detaillierte Anweisungen bezüglich der gewünschten Beleuchtung für die letzte Szene von Madama Butterfly.

Im Februar 1906 waren die Vorkehrungen für die ersten Aufführungen von Madam Butterfly in Amerika abgeschlossen: Eine von Henry W. Savage und Tito Ricordi organisierte Tourneeproduktion, die auf Englisch gesungen werden sollte, und die Premiere einer anderen Produktion auf Italienisch an der Metropolitan Opera. Dies führte zu Ricordis Veröffentlichung einer dritten Aufführungsfassung für Nordamerika.

Im Mai 1906 reiste Puccini für eine Woche nach Budapest, um Aufführungen von La Bohème, Tosca und Madama Butterfly beizuwohnen, die auf Ungarisch gesungen wurden. In diesem Sommer tauschte Puccini ständig Briefe mit Tito Ricordi über geplante Überarbeitungen der Butterfly für Produktionen in Berlin und Paris aus. Neue Partituren wurden in französischer und deutscher Fassung vorbereitet, damit die Künstler ihre Rollen einstudieren konnten. Vier verschiedene Klavierauszüge und zahlreiche Ausgaben des Librettos waren im Druck, aber eine „endgültige“ Version von Madama Butterfly musste noch erstellt werden. Im Juni 1906 beschloss Ricordi, die vollständige Orchesterpartitur zu stechen, was jedoch aufgrund von Tito Ricordis Verhandlungen für die französische Erstaufführung mit Albert Carré, dem einfallsreichen Bühnenregisseur und Impresario der Opéra Comique, verschoben wurde.

Puccinis „Madama Butterfly“:Bühnenbild für Paris 1906/ core.ac.uk

Carré glaubte, dass Butterfly dem französischen Publikum nicht gefallen würde und bestand auf einigen wesentlichen Änderungen. Puccini erklärte sich bereit, sich mit Carré in Paris zu treffen, um die Aufführungsfassung zu besprechen. Er kam am 11. Juli an, war schnell von Carrés Ideen beeindruckt und erklärte sich bereit, daran mitzuarbeiten. Puccini löschte alle beleidigenden Bemerkungen im ersten Akt an und über die Japaner. Er entfernte auch das meiste Material, das sich auf Butterflys Familie in der Hochzeitsszene bezog, was einige lebhafte Episoden mit Lokalkolorit lieferte. Er erweiterte auch das Blumenduett, indem er einen kurzen Abschnitt Orchestermusik hinzufügte, um Carrés Inszenierung Rechnung zu tragen.

Carrés Überarbeitung des Textes umfasste viel mehr als nur das Entfernen bestimmter Passagen, die einige als irrelevante Details betrachteten. Ihm und seinem Übersetzer Paul Ferrier war es letztlich zu verdanken, dass Butterflys kraftvolle Arie im zweiten Akt „Che tua madre“ (von Ferrier zunächst nach italienischem Text übersetzt) den Charakter komplett veränderte. Wie dem vergleichenden Libretto zu entnehmen ist, war auch Carrés Inszenierung der Todesszene deutlich anders. Darüber hinaus verwandelten Carré und Ferrier, indem sie die Stimmen änderten, aber die Orchesterbegleitung unverändert ließen, Kate Pinkertons Persönlichkeit von gefühllos zu sympathisch, was zu einer völlig anderen Konfrontation mit Butterfly führte.

Puccinis „Madama Butterfly“: Marguerite Giraud-Carré war die Butterfly in Paris 1906, hier als Phryné/ Ipernity

Obwohl Butterflys zweite Aktarie „Là un bravo giudice“ bei der Pariser Premiere im Dezember 1906 weggelassen wurde, begründete Carrés Inszenierung die heute als traditionell angesehen Partitur der Oper. Die Pariser Änderungen wurden aus dem Französischen ins Italienische, Deutsche und Englische übersetzt und in die Ausgaben der Partitur von 1907 eingearbeitet, obwohl ein paar verwirrende Überbleibsel widersprüchlicher Regieanweisungen und früherer Fassungen in der jüngsten Druckausgabe erhalten geblieben sind. (Der englische Dirigent und Musikwissenschaftler Julian Smith entdeckte, dass einige der Original-Zinkplatten, die zum Stich von Ricordis erster französischer Ausgabe von Butterfly verwendet wurden, an eine Baufirma verkauft wurden und als Dachmaterial für ein Gebäude in Treviso endeten. Dies ist nicht so überraschend wenn man bedenkt, dass viele der originalen Druckplatten zu Wagners Parsifal als Briefbeschwerer verkauft wurden!)

Wenn er nicht nach Stoffen für neue Opern suchte, verbrachte Puccini viel Zeit damit, seine anderen Werke zu überarbeiten. (…)  1920 hat Puccini möglicherweise Änderungen an der Aufführungsversion von Madama Butterfly für eine Produktion im Teatro Carcano in Mailand genehmigt. Die Partitur der „Carcano-Version“ in den Ricordi-Archiven (basierend auf einem Klavierauszug vom März 1908) wurde von Ricordis hoch angesehenem Hausredakteur Maestro Roberto Tenaglia erstellt, der das Cover der Carcano-Version auf den 12. Januar 1920 datierte (…) Die Carcano-Version macht mehrere Kürzungen in der traditionellen Aufführungsausgabe. Die Phrasierung des Summchors wurde verändert, und die Begleitmusik zum Vogelgezwitscher im Morgengrauen, das bei der Scala-Premiere so gnadenlos verspottet wurde, wurde aus dem Intermezzo herausgeschnitten. Vor allem hat die Carcano-Fassung drei Teile der Brescia-Fassung wiederhergestellt, die auch in diesem vergleichenden Libretto angedeutet sind.

Puccinis „Madama Butterfly“: Eine Zigarrenschachtel zeugt von der immensen Popularität der Oper zum Anfang des 20. Jahrhunderts/ Malta

Vielleicht versuchte Puccini einiges von dem, was er 1904 als seine modernste Oper betrachtete, wiederherzustellen. Wie man hören kann, gibt die Originalfassung von Madama Butterfly eine Vorschau auf musikalische Idiome, die Puccini in seinen späteren Werken entwickeln würde. Zum Beispiel der erste Auftritt von Onkel Yakusidé; die erweiterte Hochzeitsszene; die ursprüngliche Version des Erscheinungsbilds des Bonze; Butterflys „pensavo se qualcuno mi volesse“; ihr „la maggior fiamma e nell’anima mia“ und „non piangete, signore … quelli no, non dan pace“; Suzukis „non vi voglio lasciar“; und die Originalversion der letzten Szene, all diese angedeuteten Musiken, die Puccini für La Fanciulla del West, Il Tabarro, Gianni Schicchi (insbesondere das Thema für „addio peranza bella“), La Rondine und Turandot geschrieben hat.

Julian Smith, der die für diese Vox-Aufnahme verwendete Aufführungsausgabe der Originalversion von Madama Butterfly an der Mailänder Scala vorbereitete und die Orchestrierung für den achttaktigen Übergang vom Summchor zum Intermezzo rekonstruierte, bemerkte gegenüber der Royal Musical Association, dass „die originale Butterfly eine gewagte Oper war, unkonventionell in ihrer Struktur und schonungslos in der Übermittlung einer für ihre Zeit ungewöhnlich pointierten moralischen und sozialen Botschaft. Das Mailänder Publikum von 1904 lehnte ersteres ab, und Albert Carré verwässerte im Namen der Pariser Bourgeoisie erfolgreich letzteres. Und so durchlief Puccinis Original-Butterfly eine tragische Metamorphose, mittels derer sie einem sentimentalen Melodram gefährlich nahe kam.“

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Puccinis „Madama Butterfly“: Louise Homer und Geraldine Farrar an der Met 1906/ Met Opera Archives

Bei der Premiere an der Opéra Comique wurde die Rolle der Butterfly von Albert Carrés Ehefrau Marguerite Giraud gesungen. Obwohl sie eine gute Sängerin war, bekannt für ihre Interpretationen von Massenets Manon und Puccinis Mimì, vertraute Puccini in Briefen an seine Freundin Sybil Seligman dieser einige seiner wahren Gefühle über sie an: „Die Proben liefen heute gut – aber Madame Pomme de terre wird dem nicht gerecht… Ich habe Angst um Mme Carré; sie ist schwach und hat wenig Intelligenz, aber ich muss mich mit ihr abfinden(…).“ Albert Carré bestand auf einer langen Probenzeit, während der Puccini sehr ungeduldig. Schließlich wurde die Uraufführung an der Opéra Comique auf den 28. Dezember 1906 festgesetzt. Illica fand sie „ganz anders als unsere … logisch, praktisch und poetisch“. Puccini wohnte den meisten Proben bei und berichtete begeistert Giulio Ricordi aus Paris.

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Puccinis „Madama Butterfly“: Der Entrepreneur Henry Savage brachte die Oper in die USA/ photo icon

Während seines Aufenthalts in Paris erhielt Puccini Nachrichten über die erfolgreiche Tourneeproduktion von Madam Butterfly, die mit dem Segen von Ricordi von Henry W. Savage organisiert wurde, einem ehemaligen Immobilienmakler aus Neuengland, der die Henry Savage Grand Opera Company gründete, die viel bewirkte um die Oper in Amerika bekannt zu machen. Die Madam Butterfly-Tournee war beispiellos in der Operngeschichte: sechs Monate lang Auftritte in großen amerikanischen Städten, mit vier Sopranen in der Titelrolle, zwei Besetzungen der anderen Hauptdarsteller, Zweitbesetzungen, Chor und Orchester mit 60 Spielern, alles unter der Leitung von Tito Ricordi. Die aufwändige Produktion wurde achtmal pro Woche aufgeführt, gesungen in englischer Übersetzung von R. H. Elkins. Sie begann am 15. Oktober 1906 in Washington, D.C., am Columbia Theatre. Am nächsten Tag berichtete die Washington Post begeistert über die Produktion. (…)

Für die Aufführungen in Washington (in englischer Sprache 1906) engagierte Savage mehrere Sopranistinnen für die Titelrolle, darunter die ungarische Sopranistin Elza Szamosy (die die Uraufführung sang), Rena Vivienne, Florence Easton, Louise Janssen und Estelle Bloomfield. Laut einem Artikel in der New York Times vom 14. Oktober 1906 wurde Mme Szamosy „von Puccini speziell als diejenige ausgewählt, die die Rolle in Washington geben sollte (…).  Mme Szamosy sang an der Königlichen Oper in Budapest, und auf Empfehlung des Komponisten wurde sie für die amerikanische Produktion engagiert.“ Eine andere amerikanische Sopranistin, Rena Vivienne, „ließ alles beim ersten Anzeichen einer Gelegenheit, in Puccinis exquisiter Oper aufzutreten, fallen“. Sie studierte die Rolle in Europa bei ihrem Lehrer, dem renommierten Bariton Victor Maurel, und spielte in Mailand für Puccini und Tito Ricordi vor. Florence Easton kam später an die Metropolitan Opera, wo sie 1918 die Rolle der Lauretta in Puccinis Gianni Schicchi kreierte. Andere Künstler, die bei der Premiere in Washington auftraten, waren Harriet Behnee (Suzuki), Joseph Sheehan (Pinkerton) und Thomas Richards (Sharpless), dirigiert von Walter H. Rothwell.

Puccinis „Madama Butterfly“: Die ungeheure Pupolarität der Oper schwappte auch auf den Film über und war eine gute Vorlage dafür, zahlreiche Versionen beschäftigten sich mit dem Sujet, hier Anna May Wong (bekannt neben der Dietrich in „Shanghai Express“) mit Kind und „Kate Kinkerton“ in Chester Franklins „The Toil of the Sea“ 1922/ Wikipedia

Um nicht übertroffen zu werden, kündigte Hans Conried am 11. November 1906, dem Tag vor der Eröffnung der Savage-Produktion im Garden Theatre in New York, in der New York Times an, dass Puccini selbst die Premiere von Madama Butterfly in italienischer Sprache an der Metropolitan Opera in dieser Spielzeit (1906/07) beaufsichtigen würde. Am Tag nach der Met-Premiere am 11. Februar 1907 mit Geraldine Farrar, Louise Homer, Enrico Caruso und Antonio Scotti beschwerte sich der New York Daily Tribune darüber, dass „Signor Puccini, der in der Stadt ist und aktiv an der Produktion seiner Werke arbeitet, die unser Publikum liebt, es bedauerlicherweise für nicht angebracht hielt, einige der Makel zu entfernen, die Madama Butterfly entstellen. Die völlig unnötige und schmerzlich beunruhigende Gestalt von Madame Pinkterton sollte entfernt werden; die beiden Szenen des letzten Aktes sollten durch das Intermezzo zusammengeführt werden, wie sie erstmals 1904 in Mailand dargestellt wurden. Völlig verderblich für die Wirkung der Szene der Nachtwache ist diese Pause von Korridorpromenade und Klatsch.“ (Auch nachdem Puccini beschlossen hatte, den zweiten Akt in zwei Teile zu spalten, bezeichnete er die Orchestermusik zur Nachtwache der Butterfly als „Intermezzo“ oder „mezzo preludio scenico“.)

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Puccinis „Madama Butterfly“: der „Erfinder“ des Ganzen, der Romanautor John „Luther“ Long schrieb die Kurzgeschichte „Madame Butterfly“/ tumgir

Puccini diskutierte die Entstehung seiner Madama Butterfly in einem Interview mit Carlo Paladini, das im Giornale d’Italia vom 14. September 1902 veröffentlicht wurde (es wurde mit einigen Änderungen im Artikel der New York Times vom 11. November 1906 nachgedruckt): „John Luther Long, ein origineller und mutiger Romanautor, schrieb Madame Butterfly, welche David Belasco, ein Arrangeuer französischer Theaterstücke (der [Simon und Bertons] Zazà ins Englische übersetzte), für die Bühne adaptierte. Eines Abends, als ich [1900] in London war, ging ich zufällig zum Duke of York’s Theatre und sah dort Madame Butterfly. Diese unvergleichliche Künstlerin, das wunderschöne Wesen, Miss Evelyn Millard, spielte darin mit. Ich war sofort mit Herz und Seele ergriffen. Ich kehrte immer wieder zurück und schleppte auch meine Freunde [die Komponisten Luigi Denza, Paolo] Tosti und andere mit, die bald genauso begeistert waren wie ich. Das war das Libretto für mich. Obwohl ich Englisch nicht sehr gut verstehe, habe ich genug verstanden. Davon wollte Giulio Ricordi nichts wissen, und auch Giacosa war dieser Meinung. Aber ich bestand darauf. Jetzt, wo sie auch so verliebt in Madame Butterfly sind, bin ich fast neidisch darauf.“

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Puccini und seine Librettisten Illica und Giacosa waren auch mit Pierre Lotis Roman Madame Chrysanthème (1887) vertraut, der Quelle für André Messagers einst populäre gleichnamige Oper (1893). Der Loti-Roman beeinflusste Illicas orientalisches Libretto für Mascagnis Iris (1898) und Teile von Madama Butterfly. Puccini integrierte authentische japanische Musik in die gesamte Oper. Er kannte auch die von den deutschen Musikethnologen und Komponisten Georg Capellen und Rudolf Dittrich für diese japanischen Melodien realisierten Arrangements und Begleitungen. Puccini hatte die Gelegenheit, die erste japanische Kabuki-Theatergruppe zu sehen, die durch Europa tourte, die Kaiserliche Japanische Theatergesellschaft unter der Leitung von Otojiro Kawakame und der Schauspielerin Sada Yacco, deren Meisterleistungen in The Geisha und The Cavalier von 1902 auf dem Kontinent das Gespräch waren.

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Puccinis „Madama Butterfly“: Und selbst Cary Grant nahm an einer Verfilmung des Stoffes 1932 teil/Wikipedia

Die Kurzgeschichte von John Luther Long mit dem Titel Madame Butterfly wurde erstmals 1898 im Century Magazine veröffentlicht. Das gleichnamige Stück, das in Zusammenarbeit mit David Belasco geschrieben wurde, erlebte seine Erstaufführung am 5. März 1900 in New York City am Herald Square Theatre. Die Japan Times and Mail vom 15. März 1931 stellte klar, dass die Quelle für John Luther Long und David Belascos interrassische Tragödie auf einem Teehausmädchens namens O-Cho (Butterfly/Schmetterling) oder Cho-San basierte, das von einen amerikanischen Marineoffizier verlassen wurde:

Am 27. Dezember 1903 um 23.10 Uhr unterzeichnete Puccini zu Hause in Torre del Lago das „fertige“ Manuskript von Madama Butterfly. „Es ist nicht schlecht“, schrieb er an Carlo Clausetti in Neapel. „Wir werden sehen.“ Wenn der Opernfreund das nächste Mal Gelegenheit haben, einer Produktion von Madama Butterfly beizuwohnen, und diese im zweiten Akt ihr Spiegelbild anstarrt und singt „non son più quella“ („Ich bin nicht mehr dieselbe“), verstehen er womöglich besser, was das auch für Puccini bedeutete.

Kein Gewinn

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Vorgewarnt durch Albert Giers (nachfolgend) erschöpfende Besprechung, ernüchtert die DVD der Aufführung von Siegfried Wagners Sonnenflammen aus dem bis 1999 als Kino und seit 2019 als Kulturbühne genutzten Reichshof in Bayreuth doch einigermaßen (1 DVD Naxos 2.22007). Zwar lässt sich Peter R. Pachls Inszenierung, die bei Siegfried Wagners Kreuzfahreroper Sonnenflammen zwischen den 13. Jahrhundert und der Zeit der Entstehung hin- und herpendelt und ihre wackere Ambitioniertheit durch den beredten Einsatz von Film- und Videosequenzen (Robert Pflanz) aufputzt, recht gut erkennen. Großes Kino im ehemaligen Kino: bereits während des knapp 10minütigen Vorspiels flimmert eine Überfülle an Bildern vom Bärenmarke-Bären bis zur Friedensbewegung, vom Ersten Weltkrieg bis zu den tollen Zwanzigern über die rückwärtige Leinwand. Das halb moderne, halb historische Spiel der Akteure hat daneben oft etwas unfreiwillig Komisches bzw. wird in dieser Aufzeichnung ungeschickt eingefangen. Doch musikalisch würde man auf einer DVD einfach etwas mehr erwarten als es die elektronischen Klänge des Bayreuth Digital Orchestra zu bieten vermögen, dem Ulrich Leykam dennoch die Farbigkeit und den Formenreichtum dieser Musik abrang. Vor dem oft etwas einkanalig dünnen Klang heben sich die Sänger gut ab, manche, wie Dirk Metzmacher als Hofnarr Gomella, Uli Bützer als Kaiser von Byzanz oder Steven Scheschareg als Wahrsager, liefern runde Porträts. Nie hat man den Eindruck, etwas versäumt zu haben.    R. F.

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Wäre der Kabarettist Otto Reuter (1870-1931) für diese Aufführung wundersamerweise von den Toten auferstanden, vielleicht hätte er dann das Couplet, das er Siegfried Wagner widmete (er sei Komponist wie sein Vater, „nur ein bißchen kleiner“), etwa so umgedichtet: Siegfried Wagner in Bayreuth / Schrieb die Sonnenflammen; / Zwar die Aufführung, so schien’s / Brach in sich zusammen. / Doch frustrieren läßt sich nicht / So wie Pachl einer, / Und er hat es hingekriegt, / Nur ein bißchen kleiner.

Wirklich „ein bißchen kleiner“? Auf dem Plakat für die Aufführung in der Kulturbühne Reichshof Bayreuth von Siegfried Wagners Sonnenflammen (15., 16. 8. 2020) steht: „Szenische Vision einer Oper“, was wohl bedeutet, daß nicht die Oper selbst zu sehen ist, jedenfalls nicht vollständig. Auf der Bühne sitzt kein Orchester (einen Graben gibt es im Reichshof ohnehin nicht), die Klänge werden elektronisch erzeugt (mit einem Verfahren, das dem Profanen wohl ewig ein Buch mit sieben Siegeln bleiben wird). Ein Unterschied zu einem Live-Orchester ist allerdings nicht wahrzunehmen, und weil die Bühne den Sängern gehört, kann die Oper wirklich gespielt werden, auch die Kollektive, die byzantinische Hofgesellschaft, die Kreuzritter, die Venezianer, sind durchaus angemessen repräsentiert. Die Solisten bilden ein homogenes Ensemble, alle werden ihren Rollen vollauf gerecht. Das Bühnenbild wäre in einem anderen Jahr vielleicht etwas üppiger ausgefallen: zusammengebundene grüne (an der Spitze violette) Plastic-Röhren haben den Vorteil, daß man sie sowohl als stilisierte Bäume wie Säulen deuten kann, sind aber doch ein bisschen karg.

Wie in vielen Inszenierungen von Peter P. Pachl laufen parallel zur Bühnenhandlung ununterbrochen Video-Projektionen (Bühnenbild und Videos: Robert Pflanz); großenteils historische Filmausschnitte, die auf die Zeit der Uraufführung der Oper (1918) verweisen; außerdem erscheinen immer wieder ein vom Schriftzug „Byzanz“ umgebenes Medaillon, in dem unterschiedliche Bilder sichtbar werden, eine stilisierte oder verfremdete Friedenstaube und die von den Plakaten der Anti-Atomkraft-Bewegung bekannte rote Sonne, die gelegentlich nicht lächelt, sondern ausgesprochen grimmig und aggressiv dreinschaut – die Flammen der südlichen Sonne, die dem Protagonisten Fridolin Verderben bringen, haben, soviel ist klar, mit Kernenergie zu tun. Es bleibt dem Zuschauer überlassen, wie er das Kaleidoskop von Bildern, die oft nur kurz aufblitzen, in einem Zusammenhang zur Opernhandlung bringt (oder auch nicht).

Erzählt wird die Geschichte der Eroberung und Plünderung von Byzanz während des Vierten Kreuzzugs (1204; u.a. gelangten damals die vier Bronzeplastiken der „Pferde von San Marco“ vom Hellespont nach Venedig). Als sein eigener Librettist (wie immer) folgt Siegfried Wagner den Berichten der Historiker insgesamt getreu, blendet allerdings manche für das Verständnis der Geschichte hilfreichen Details aus: Dass Kaiser Alexios (III.) ein Usurpator ist, der seinen Bruder und Vorgänger, den er im II. Akt für den missglückten Mordanschlag auf ihn verantwortlich macht, hat blenden und ins Gefängnis werfen lassen, wird nicht gesagt; auch nicht, dass dessen Sohn Alexios (IV.) die Kreuzritter zu Hilfe gerufen hat, um den Thron zurückzuerobern. Das entsprach nun ganz den Interessen des Dogen Enrico Dandolo,  dessen Kalkül, im östlichen Mittelmeerraum auf Kosten von Byzanz mehr Einfluss und einen bedeutenden territorialen Zugewinn für Venedig zu erreichen, letztlich aufging. Der mehr als Neunzigjährige steht als Führer des venezianischen Truppenkontigents vor der Stadt, und es ist klar, dass er Alexios III. keineswegs wohlgesonnen ist; daß der sich über den (ein klein wenig grotesken) Namen des Widersachers lustig macht, mag unter diesen Umständen verzeihlich erscheinen. – Dass die Kreuzritter Byzanz (immerhin die Hauptstadt eines christlichen, wenn auch nicht katholischen Reiches!) schließlich plündern und niederbrennen, hängt wesentlich damit zusammen, daß Alexios IV. ihnen für ihre Hilfe bedeutende finanzielle Zuwendungen versprochen hat, die zu leisten die Byzantiner weder fähig noch willens sind – dieser Vierte Kreuzzug erweist sich somit (auch in den Berichten christlicher Chronisten) als ganz und gar nicht frommes Unternehmen.

Die Dekadenz am Hof Alexios III. wird durch farbenprächtige, extravagante Kostüme und ausgelassene Tanzeinlagen unterstrichen. Dieses Milieu wird dem fränkischen Ritter Fridolin (der Tenor Giorgio Valenta; warum ausgerechnet der Sänger der Hauptrolle ein ausgesprochen unattraktives, ja ärmliches Kostüm tragen muss, bleibt unerfindlich) zum Verhängnis: Er hat gelobt, am Kreuzzug teilzunehmen, um eine Schuld zu sühnen (im Duell hat er den Ehemann seiner Geliebten getötet), aber in Byzanz verliebt er sich in Iris, der auch der Schürzenjäger Alexios (der Bariton Uli Bützer) nachstellt, und zieht nicht weiter. Iris (Julia Reznik, die in den Sonnenflammen ihr Operndébut gibt), ist in mancher Hinsicht die interessanteste Figur: Sie drängt Fridolin, Byzanz zu verlassen: „Die Sonne die hier strahlt, / Ihr glühendes Sengen verträgst du nicht!“ Sie selbst allerdings gehört offenbar in diese Welt, auch wenn sie Alexios und seinen Hof verachtet: „Entwurzle den Baum, so tötest du ihn! / Er bedarf der sengenden Sonne Glut!“ Dabei schwärmt sie von „den Recken, von denen uns Sagen melden“, von den Germanen der Völkerwanderungszeit, die „den schon morschenden Prachtbau“ Roms „in Trümmer brachen“! Das schwärmerisch exaltierte Wesen dieser jungen Frau drückt sich in ihrem Gesang aus; Julia Reznik verkörpert sie ungemein packend und präsent. Demgegenüber ist die Rolle der Kaiserin (Rebecca Broberg) ein bißchen undankbar, sie leidet still unter den Demütigungen, die ihr die Kälte und Flatterhaftigkeit des Kaisers auferlegen; so bleibt ihr kaum etwas anderes übrig als – im Gegensatz zu quirligen Iris – wesentlich statisch zu agieren.

Iris ist die Tochter des Hofnarren Gomella. Der Name erinnert an Gonella, der im 15. Jahrhundert Hofnarr bei den Este in Ferrara war; zugleich ist er ein Rigoletto,  der bedenkenlos die Ehre seiner Tochter opfern würde, um der Todesstrafe, die ihm eines Diebstahls wegen droht, zu entgehen: „Wär ich sie, ich tät’s! Aber sie!“ Gomella ist der Geist, der stets verneint: Byzanz, so stellt er fest, sei ein „noch viel größ’rer Abgrund als ich“! Am Ende entkommt er, denn der Kreuzritter Gottfried – dessen Lebensmotto „Raufen! Taufen! Saufen!“ ist – findet, daß es nicht lohnt, ihn zu erschlagen: „Gomellas Geist bleibt der Welt erhalten!“ – Drei Tage, bevor die Proben begannen, verstarb der Sänger, der für diese wichtige Rolle vorgesehen war, plötzlich und unerwartet. In der kurzen Zeit (zweieinhalb Wochen wurde geprobt, sagte Peter P. Pachl) konnte kein Sänger die umfangreiche Tenorbuffo-Rolle lernen. William Wallace sang von der Seite, Dirk Westmacher agierte in einem hermaphroditischen Kostüm (Maske wie das Kasperle im Puppentheater mit entsprechender Kopfbedeckung, dazu Federboa, Strumpfhose und Absatzschuhe). Man kann sich fragen, ob diese Notlösung der Aufführung nicht zugute kam: Wenn Westmacher die Rolle hätte singen müssen, hätte er sich bei seiner grotesken Körpersprache vermutlich nicht so verausgaben können.

Siegfried Wagners „Sonnenflammen“ in Bayreuth 2020/ Foto wie auch oben ISWG

Es gibt herrliche Musik in Sonnenflammen. Vielleicht mehr als alles andere faszinieren Farbenreichtum und stilistische Vielfalt: Auch die Nebenfiguren, der Wahrsager, der den Weltuntergang ankündigt, Fridolins Vater, der seinen Sohn verflucht, haben jeweils ihr eigenes Idiom; wenn Fridolin sich an die für immer verlorene Heimat erinnert, ist sein Gesang ungewohnt schlicht und innig. Manches, wie der Spottchor der Mädchen, die den neuen Hofnarren kahlscheren kommt fast operettig daher.

Zwei der Hauptfiguren in Sonnenflammen enden durch Suizid: Die Kaiserin ertränkt sich und ihren kleinen Sohn, weil sie ihr Leben nicht mehr erträgt; Fridolin stellt seine Ehre wieder her, indem er sich ersticht. Am Ende, bevor das „monderleuchtete Byzanz“ sichtbar wird, erkennt er seinen Irrtum: „Eitles Sonnenstreben! Wahn und Trug! / Brich es ab! Reiße den Faden! / Taumelnd sink in’s Grab hinab / Zur ewigen Nacht!“ – und da sind wir nun sehr nahe bei Tristan, auch wenn Siegfried Wagner dem Paar den Liebestod verweigert. Albert Gier (Mit Dank an den online-Merker)

Ettore Superstar!

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Kurz vor seinem frühen Krebstod vor 55 Jahren soll Ettore Bastianini den Wunsch geäußert haben, nicht in Vergessenheit zu geraten. Dieser Wunsch ist tausendfach in Erfüllung gegangen, jedenfalls wenn man ins Internet schaut und insbesondere bei youtube recherchiert. Da gewinnt man den Eindruck, dass er heute – am 24. September steht sein 100. Geburtstag an – noch viel mehr Verehrer hat als zu Lebzeiten. Einfach unglaublich, was da von Fans aus aller Welt an Ton- und Bilddokumenten zusammengetragen wurde. Wohl kein Bariton der Vergangenheit hat eine solche Gemeinde, und von den Tenören wohl nur Mario del Monaco. Ettore Superstar!

Ettore Bastianini/ Rigoletto in Chicago/ Foto Sorenson/ Chicago Opera Archive

Auch wenn die superlativischen Elogen von Opernfans – und besonders im Netz – oft ins Maßlose gehen und manchmal auch durchaus zweitklassige Sänger zu den größten aller Zeiten ausgerufen werden, so kann ich diese Begeisterung im Falle von Ettore Bastianini doch nachvollziehen, da ich selbst schon im zarten Knabenalter von ihr ergriffen war. Zu meinen ersten Opernplatten gehörten zwei LPs im 17-cm-Format, die ich immer und immer wieder abspielte: ein Recital mit Arien aus La forza del destino und Andrea Chenier und drei Ausschnitte aus Il Barbiere di Siviglia mit Giulietta Simionato und Alvinio Misciano. Vor allem Carlo Gérards Arie „Nemico della patria“ habe ich unmittelbar nach dem Stimmbruch oft mitgegrölt wie auch alle Einsätze des Grafen Luna in dem privat dilettantisch mitgeschnittenen Salzburger Trovatore von 1962. Aber auch heute noch, sechs Jahrzehnte später, nehmen Aufnahmen mit Bastianini einen zentralen Platz in meiner Sammlung ein.

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Die Karriere: Den Rang eines „Jahrhundert-Baritons“ werden ihm Kenner und Liebhaber, die andere Vertreter seines Stimmfachs bevorzugen, kaum absprechen können. Angefangen hat er ganz unspektakulär in der Provinz – als Bassist. Am 24. September 1922 im toscanischen Siena geboren, debütierte Ettore Bastianini 1945 nach kurzem Gesangsstudium in seiner Heimatstadt als Colline in La Bohème am Stadttheater Ravenna. Fünf Jahre lang war er danach an kleinen und auch größeren italienischen Bühnen, so einige Spielzeiten am Teatro Regio in Parma, im Baßfach beschäftigt, sang Partien wie Conte Rodolfo in Bellinis La Sonnambula, Alvise in La Gioconda oder Zio Bonzo in Madama Butterfly. Während des Rollenstudiums am Padre Guardiano soll er bemerkt haben, dass er das falsche Fach sang – bei dem spielerischen Versuch nämlich, auch die Rollen des Don Carlo und sogar des Alvaro mitzusingen.

Ettore Bastianini und Franco Corelli anläßlich von Donizettis „Poliuto“ an der Scala/ Foto Picagliani/ Archivio storico Teatro alla Scala

Dem Rat seiner damaligen Lehrerin folgend, legte er eine Berufspause ein und ließ sich zum Bariton umschulen. Am Silvesterabend 1951 gab er als Germont-père am Teatro Comunale von Bologna sein Debüt im neuen Stimmfach. Man kann sich heute kaum vorstellen, welche schwierige Konkurrenzsituation er in dieser Zeit vorfand: Veteranen wie Carlo Tagliabue, Afro Poli und Giovanni Inghilleri waren noch immer an ersten Bühnen erfolgreich, Enzo Mascherini, Paolo Silveri, Gino Bechi und Giuseppe Valdengo hatten den Höhepunkt ihrer Karriere erreicht, Tito Gobbi und Giuseppe Taddei standen kurz davor und selbst Kollegen seines Alters wie Aldo Protti und Giangiacomo Guelfi waren ihm, dem Bariton-Newcomer, wenigstens um eine Nasenlänge voraus.

Es ist deshalb gar nicht verwunderlich, dass Bastianinis Karriere nicht an der Mailänder Scala, sondern beim durchaus renommierten Maggio Musicale in Florenz begann, und dass er sich zunächst nicht in seinem ureigenen italienischen Fach durchsetzte, sondern in Partien des russischen Repertoires. In einer Inszenierung der berühmten Tänzerin Tatiana Pavlova sang er dort 1952 Jeletzki in Tschaikowskys Pique Dame. Die junge Sena Jurinac war Lisa, Artur Rodzinski dirigierte. Im darauffolgenden Jahr war er am gleichen Ort Prinz Andrej in der Erstaufführung von Prokofjews Krieg und Frieden, die einer szenischen Uraufführung gleichkam. Franco Corelli war als Pierre Besuchow sein Partner. Und noch ein Jahr später übernahm er in Florenz die Titelrolle in Tschaikowskys Mazeppa neben Kollegen wie Boris Christoff und Magda Olivero.

Fast naheliegend, dass er das fällige Debüt an der Scala auch in einer russischen Partie absolvierte, nämlich als Eugen Onegin (neben Renata Tebaldi und Giuseppe di Stefano), und seine große internationale Karriere als italienischer Bariton von New York aus begann. Hier gab er im Mai 1953 als Germont-père seinen Einstand und erhielt nach seiner Arie „Die Provenza“, die er statt an den Bühnenpartner direkt ans Publikum gerichtet haben soll, anhaltenden stürmischen Applaus, der vom Dirigenten entschlossen abgebrochen werden mußte. In der Folgezeit entwickelte er sich trotz der Konkurrenz von Leonard Warren und Robert Merrill rasch zu einem New Yorker Publikumsliebling und trat in den kommenden 12 Jahren an der Met in 89 Vorstellungen auf. Bald erhielt er seine ersten Schallplattenverträge und wurde in Amerika wie in Europa ein viel beschäftigter Sänger. Einen vorläufigen Höhepunkt bedeutete 1958 sein Engagement zu den Salzburger Festspielen als Marquis Posa in der „Don Carlo“-Produktion von Gustaf Gründgens und Herbert von Karajan. Nur wenige Wochen nach der Premiere hatte er sein Debüt an der Wiener Staatsoper, die neben der Scala und der Met sein drittes Stammhaus wurde und wo er bis 1965 nicht weniger als 142 Vorstellungen sang.

Renata Tebaldi und Ettore Bastianini in „Il Trovatore“ in Japan/ youtube

Kein Zweifel, Bastianini hatte jetzt den ersehnten Gipfel erreicht, und er begann, seine Kräfte zu überfordern. Ein frühes Jet-Set-Opfer, pendelte er zwischen Mailand und New York, zwischen Chicago und Wien, zwischen Berlin und London hin und her. Wie ernstzunehmende Kritiker feststellten, ließen infolge dieser Belastungen nicht nur seine stimmlichen Leistungen nach, er verlor auch an gestalterischer Überzeugungskraft. Auf die Serie von Triumphen folgte ein jäher Sturz. Im April 1962 gab er an der Scala sein Hausdebüt als Rigoletto und wurde von der Galerie gnadenlos ausgepfiffen. Nach der Premiere gab er die Partie an den routinierten Aldo Protti ab. Nach diesem Debakel wurde von verschiedenen Seiten bereits das Ende seiner großen Karriere vorausgesagt, doch das war offensichtlich unbegründet, denn nur wenige Monate später zeigte er sich bei den Salzburger Festspielen als Luna in Karajans Trovatore-Inszenierung wieder ganz in der alten Hochform. Doch blieb ihm nur noch kurze Zeit, seine Karriere fortzusetzen. Als er sich im November 1965 als Marquis Posa vom Publikum der Metropolitan Opera verabschiedete, war er bereits von seiner tödlichen Krankheit gezeichnet. In den folgenden Monaten versuchte er seinen Kräften noch einige Bühnenauftritte abzutrotzen. Am 25. Januar 1967 starb er, erst 44 Jahre alt, in Sirmione am Gardasee.

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Künstlerische Eigenart: Dass Ettore Bastianini im historischen Rückblick wenn nicht als der größte, so doch als der prototypischste italienische Bariton seiner Generation erscheint, als ein Nachfolger von Sängern der „Goldenen Ära“ wie Titta Ruffo und Riccardo Stracciari, hängt zunächst einmal mit der außergewöhnlichen Materialqualität und dem unverwechselbaren Timbre seiner Stimme zusammen, deren dunkle Farbe ihre Herkunft aus dem Baßfach nicht verleugnete, die sich in der Mittellage frei verströmen konnte und in der Höhe die Projektionskraft eines Tenors hatte, dabei bruchlos im Wechsel der Register war. Eine Spur von dem „Diamantenregen“, den man Stracciaris Gesang nachrühmte, findet man auch in Bastianinis Vortrag. Der gleichmäßige ruhige Fluß in den weit ausgesponnenen Kantilenen bei Donizetti und Verdi war eine seiner großen Stärken, dabei hatte sein Gesang immer einen Seelenton, den man ähnlich ausgeprägt sonst nur noch bei seinem Tenorkollegen Giuseppe di Stefano findet.

Es ist in Nachrufen auf verstorbene Künstler üblich, sie als unersetzlich zu erklären, und in gewisser Weise stimmt das ja auch, denn jeder ist auf seine Art einzigartig. Im besonderen Falle von Ettore Bastianini hat es zwar einige gegeben, die seinen Platz einzunehmen versuchten, aber tatsächlich keinen echten Nachfolger. In der Gunst Karajans, der Schallplattenfirmen, aber auch des Publikums nahm Piero Cappuccilli diese Position ein, dem eine über mehr als drei Jahrzehnte währende Karriere vergönnt war – ein zweifellos imponierender Sänger, der aber bei allem stimmlichen Glanz immer etwas sachlich und unpersönlich wirkte und nicht über Bastianinis vokales Charisma verfügte. An emotionaler Intensität kam diesem der Grieche Kostas Paskalis, an dunkler Stimmpracht der Rumäne Nicolae Herlea wohl am nächsten.

Sein Nachruhm gründet sich vor allem auf eine Handvoll Partien, in denen er unvergleichlich war. Etwa Carlo Gérard in Giordanos Andrea Chenier, den keiner mit einer ähnlich verzehrenden Intensität zu gestalten wußte. Daneben waren es vier Verdi-Rollen, in denen er für spätere Generationen die Maßstäbe setzte: Graf Luna, Renato, Don Carlo di Vargas und Marquis Posa. Für diese Partien besaß er den weiten Legato-Atem, die warme Tonfülle in der Kantilene und die dramatische Attacke. Offenbar lagen ihm die geradlinigen Charaktere besonders, während er nie ein Meister feiner psychologischer Differenzierungen war wie Tito Gobbi. Hintergründige Rollendeutungen waren seine Sache nicht und so hat er einige der großen Verdi-Partien nur selten oder gar nicht gesungen. Iago beispielsweise nur ein einziges Mal (in Kairo), dessen Credo hatte allerdings einen festen Platz in seinem Konzert-Repertoire.

Ettore Bastianin als Michele in Puccinis „Il Tabarro“ an der Scala/ Foto Picagliani/ Archivio storico Teatro alla Scala

Er war auch kein „begnadeter“ Bühnendarsteller. Anders als Gobbi und der Erzkomödiant Giuseppe Taddei, die ihre Rollen mit einer überaus beredten Körpersprache und ausgefeiltem Mienenspiel gestalteten, zog er sich auf die Position des reinen Steh-Baritons zurück. Das ist in zwei kompletten Trovatore-Videos (einer TV-Version von 1957 und einem Mitschnitt aus Tokyo von 1963) ebenso zu konstatieren wie in der Verfilmung der legendären Forza del destino aus Neapel mit Renata Tebaldi und dem darstellerisch gewandten Franco Corelli oder einem amerikanischen Fernseh-Querschnitt der Traviata mit Beverly Sills. Anders als seine beiden großen Fachkollegen und Konkurrenten hat er auch nie komödiantische Rollen übernommen, ausgenommen Rossinis Figaro, mit dem er 1956 auch sein Debüt in der Arena von Verona absolvierte und den er mit etwas bärbeißigem Humor ausstattete.

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Das diskographische Erbe: Seine diskographische Hinterlassenschaft, etwa 15 komplette Studio-Produktionen und noch weit mehr vollständige Live-Mitschnitte, ist beeindruckend und gibt der posthumen Verehrung ausreichend Nahrung. Ich schmälere nicht das historische Verdienst der Decca-Aufnahmen aus den 50er Jahren, mit denen ich aufgewachsen bin und die in der überwiegenden Konstellation mit Partnern wie Mario del Monaco, Renata Tebaldi, Giulietta Simionato und Cesare Siepi eine Schallplatten-Ära prägten (u.a. La Bohème, La Gioconda), wenn ich den letztgenannten heute den Vorzug gebe. Vieles was nach dem Tod des Sängers auf dem sogenannten „grauen Markt“ erschienen ist, wurde später von großen Firmen wie Deutsche Grammophon, EMI und Orfeo technisch restauriert ganz offiziell veröffentlicht. Darunter befinden sich einige wirkliche Sternstunden der Oper, die in keiner Sammlung fehlen dürfen. Dazu zählen Don Carlo (1958) und Il Trovatore (1962) aus Salzburg unter Herbert von Karajan (Deutsche Grammophon), La Traviata (1955) und Poliuto (1960) aus der Mailänder Scala mit Maria Callas (EMI). Zwei Wiener Sternstunden, Andrea Chenier unter Lovro von Matacic und La forza del destino unter Dimitri Mitropoulos (beide 1960, Orfeo), konkurrieren mit den Studio-Aufnahmen bei Decca, und sind für diejenigen Stimmenfreunde von besonderem Interesse, die in diesen Opern lieber Corelli und di Stefano hören als del Monaco.

Zu den „Unverzichtbaren“ rechne ich aber auch Ernani (Florenz 1957) unter Mitropoulos und natürlich Adriana Lecouvreur aus Neapel (1959), wo Bastianini sich mit Magda Olivero, Giulietta Simionato und Franco Corelli zu einem unübertrefflichen Quartett verbindet. Bei Un ballo in maschera hat man die Qual der Wahl. Renato war seine absolute Glanzrolle. Kein anderer Bariton der Nachkriegszeit hat die Arie „Eri tu“, ein Prüfstein für jeden echten Verdi-Bariton, mit solcher Hingabe, solcher Tonfülle und solcher Imaginationskraft („O dolcezze perdute“) gesungen wie er. In meiner Sammlung befinden sich drei Aufnahmen aus der Mailänder Scala, die Studio-Aufnahme der DG und die vorangegangenen Mitschnitte mit Maria Callas und Antonietta Stella. Daneben der spätere Auftritt an der Covent Garden Opera mit Jon Vickers und Amy Shuard (eine interessante Kombination!) und schließlich – meine Favoritin – die Produktion aus Florenz (1957), da hier nicht nur Bastianini, sondern auch Anita Cerquetti als Amelia in ihren Arien in den siebenten Verdi-Himmel führen. Da muß man den penetranten Gianni Poggi (wie auch in der Studio-Aufnahme) in Kauf nehmen.

Ettore Bastianini als Riccardo in „La Forza del Destino“ in Japan/ youtube

Erfreulicherweise sind auch die frühen Aufnahmen des Sängers, die ihn in einem erweiterten Repertoire präsentieren, unterdessen auf CD erschienen. Zunächst eine Aida von Remington (Naxos) und Il tabarro vom NDR. Dann die erwähnten drei russischen Opern aus Florenz, aber auch französische Opern, wobei besonders Athanael in Thais den Möglichkeiten Bastianinis sehr gut entspricht, Méphisto in Berlioz‘ La damnation de Faust vielleicht etwas weniger, aber da ist die Kombination mit der Marguérite Giulietta Simionatos sehr reizvoll. Valentin in Faust ist eine sichere Bank, auch Escamillo in der Arena-Carmen aus Verona mit den Partnern Corelli und Simionato, denn diese Rolle verlangt einen echten Bassbariton mit sicherer Höhe. Im italienischen Rand-Repertoire ist noch Leoncavallos La Bohème, die ich persönlich sehr mag, von einigem Interesse, vor allem wegen Bastianinis Rodolfo. Dass der auch ein fabelhafter und stimmkräftiger Scarpia sein konnte, habe ich erst jetzt bei youtube in einer Brüsseler Tosca von 1958 (Scala-Gastspiel mit Tebaldi und di Stefano) entdeckt.

Der Autor: Der Musikwissenschaftler und Theatermann Ekkehard Pluta/ epubli/ zu biographischen Angaben s. epubli

Ein privater Sammler hat die Rundfunkübertragung von Bastianinis letztem Auftritt an der Metropolitan Opera (Don Carlo am 11. Dezember 1965) mitgeschnitten und ins Netz gestellt. Der todkranke Sänger zeigt sich da vokal in kaum merklich reduzierter Form, allenfalls bemerkt man, dass ihn das Singen anstrengt. Im gleichen Jahr hat er in Japan eine Platte aufgenommen, die ich bisher nicht kannte: „Ettore Bastianini sings Songs of Italy“, begleitet von einem Philharmonia Orchestra unter Hiroyuki Iwaki. Das Programm reicht von Di Capuas O sole mio über Cardillos Core n’grato bis zu Tostis Marechiare, La Serenata und L’ultima canzone – das ganze Repertoire also, das seit Carusos Tagen vor allem eine Domäne der italienischen Tenöre geworden ist. Dieses populäre Recital läßt noch einmal die Qualitäten dieses Ausnahme-Sängers erkennen, der sich mühelos von bassigen Tiefen bis zu glänzenden Tenorfermaten aufschwingt, und darf als ein würdiges Testament. Ekkehard Pluta

Chansons und Canzoni von Cherubini

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Mit nicht weniger als 68 unterschiedlichen Ave Maria auf fünf CDs vereint erregte die Sopranistin und Produzentin Andrea Chudak vor einiger Zeit Aufsehen, aber auch selten Aufgeführtes von Carl Maria von Weber oder Giacomo Meyerbeer hat sie zu Aufmerksamkeit verholfen und legt nun zwei  CDs mit Chansons und Canzoni von Luigi Cherubini vor, die der Komponist selbst in einer Sammlung zusammenfügte, obwohl sie weder zeitlich noch thematisch einer wahrnehmbaren Ordnung unterworfen wurden. Die CD trägt den Titel The Cracovian Album, weil die Partitur in der polnischen Stadt zu verorten ist, obwohl sie bis 1945 in Berlin beheimatet war. Die Lieder entstanden zwischen 1782 und 1834, sind für ein, zwei oder drei Stimmen und/oder Cembalo, Klavier und Violine geschrieben.

Sämtliche Kompositionen für Solostimme werden von Andrea Chudak gesungen, die auch als Produzentin auftritt, deren solide Gesangsausbildung unter anderem auf Magdalena Hajossyova, einst Primadonna der Lindenoper, zurückzuführen ist. Sie beginnt mit „Blessé par noire perfidie“ in volksliedhaftem Ton, die Stimme verfügt über Farben, die man einem jungen Mädchen zuordnen könnte, eine leichte Melancholie passt gut zum Text. Mit feiner Leichtigkeit wird das Chanson pour une fete vorgetragen, als sanftes Wiegenlied entpuppt sich „Dors, mon enfant“, in dem eine verlassene Mutter fein verschleiert, mit vielen Schattierungen   und doch für manchen Hörergeschmack etwas langatmig an der Wiege singt. Für einen starken Kontrast dazu sorgt die Romance du Phenix mit ihrer hüpfenden Leichtigkeit, ein eher verwaschen klingendes Italienisch offeriert die erste Canzonetta italiana, entschädigend durch feine Koloraturen. In schöner Tristesse wird das Schicksal im Exil beklagt, die folgenden recht umfangreichen Stücke werden vom Sopran so nuancenreich dargeboten, dass beim Hörer keine Ermüdungserscheinungen auftreten. Es folgen drei italienische Duette, in denen sich neben dem Sopran auch die Altstimme von Irene Schneider äußern darf und sich  als schöne Ergänzung des Klangbildes erweist. Den Abschluss der ersten der beiden CDs bildet das Trio pour une Fete, für das der Mezzosopran von Yuri Mizubuchi der Dritte im Bunde der Sängerinnen ist, die von Violine (Liv Migdal) und Klavier (Yuki Inagawa) begleitet werden.

Den gleichen Titel trägt und die gleiche Besetzung erfordert das erste Stück auf der zweiten CD, das mit einem sehr schönen Vorspiel beginnt. Perfekt ist der Zusammenklang der drei Stimmen, die fein instrumental geführt werden. Dann wird die CD erst einmal wieder eine Angelegenheit nur für Andrea Chudak, die auf anmutige Weise dem Chanson aus dem Jahre 1801 viele Nuancen abzugewinnen weiß.  In reizvoller Verschränkung der  Solistinnenstimmen erklingt die Canzone Italiana, für die vier Ottave gibt sich Andrea Chudak einen kokettierend schmachtenden Anstrich,  reizvolle Koloraturen sind für das Notturno aus dem Jahre 1782 gefragt und werden auch geliefert.  Eine umfangreich Ottava del Tasso, von Violine und Klavier begleitet, beschließt die CD, die für angenehme Unterhaltung sorgen kann (Thorofon CTH26732). Ingrid Wanja        

Knackige Arien

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Nicht mal der Titel dieser Serenata ist überliefert – sie bleibt bis heute eins der unbeachtetsten größeren Vokalwerke Vivaldis. Dabei hat diese Kurzoper durchaus etwas zu bieten: Schräge Handlung (Zwei Nymphen, ein Hirte, aber keine Dreiecksgeschichte), knackige Arien, hinreißende musikalische Einfälle. Manches ist genialer auf den Punkt gebracht als in den großen ausschweifenden Opern.

Dazu noch ein Top-Ensemble, das zu den besten Vivadi-Orchestern der Welt gehört. Schade, dass die beiden Sopranistinnen und der Tenor dagegen etwas verblassen – hübsche Stimmen, aber wenig Abenteuerlust in den Auszierungen. Und warum zwischen Rezitativen und Arien sekundenlange Stille herrscht, bleibt ebenso rätselhaft wie Anlass und Ort der Uraufführung (Antonio Vivaldi:Seranata a tre RV 690; Elisabeth Breuer, Sopran | Sonia Tedla, Sopran | Alessio Tosi, Tenor | Ensemble Modo Antiquo | Federico Maria Sardelli, Leitung; Glossa GCD 924602) / 15. 09. 2022) Matthias Käther

Blechs „Alpenkönig und Menschenfeind“

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Es ist tatsächlich eine „unglaublich schöne Musik“, wie Aachens GMD Christopher Ward vor der Premiere behauptete. In romantisch schwärmerischer Manier erklingt das umfangreiche Vorspiel, werden alle Instrumente schwelgerisch vorgestellt, tönen die Hörner so betörend als ginge es gleich in Carl Maria von Webers Wald. Romantisch, spätromantisch, immer wieder ein wenig nach Humperdinck klingt es, bei dem Leo Blech Mitte der 1890er Jahre seine Ausbildung vertieft hatte. Was Oskar Bie über Leo Blechs komischen Einakter Versiegelt von 1908 sagte, gilt im gleichen Maß für den 1903 unter Ernst von Schuch in Dresden uraufgeführten Alpenkönig und Menschenfeind, „Die Musik ist unbeschreiblich gut. … Alles, was wir ersehnten an Leichtigkeit des Rhythmus, liebenswürdiger Melodie, Geistreichtum des Orchesters, lebendiger Charakteristik, war hier gefunden. Kein falscher Ton, keine Verschiebung der Empfindungen, kein Schielen und Renommieren, es ist Champagnerblut darin und schwebende Laune“. Und so geht die Schwärmerei noch eine halbe Seite weiter und lässt sich ebenso auf den Alpenkönig münzen, der nun in Aachen, wo Blech 1871 geboren wurde, erstmals wieder auf eine Bühne gelangte.

Leo Blech auf einer Fotografie, die in der Sammlung Manskopf der Frankfurter Universitätsbibliothek aufbewahrt wird.

Rappelkopf ist, wie der Name verrät, ein rappeliger Hitzkopf und Haustyrann, der es seiner Frau Sabine (Irina Popova), seiner Tochter Marthe und seinen Bediensteten Lieschen und Habakuk alles andere als angenehm macht. Ständig müssen sie sich vor seinen Tobsuchtsanfällen in Sicherheit bringen. Beim österreichischen Volksdichter Raimund wird der Menschenfeind durch Zutun des Alpenkönigs Astragalus geheilt. Der wundertätige Berggeist hält Rappelkopf nicht einfach nur den Spiegel vor, sondern lässt ihn die unhaltbare Situation in seinem Hause hautnah erleben indem er ihm die Gestalt seines Schwagers verleiht, während der Alpenkönig höchstpersönlich in die Rolle des Rappelkopf schlüpft und genauso poltert und wütetet wie der richtige Rappelkopf. „Ich gehe mir lieber aus dem Weg“, witzelt der echte Rappelkopf deshalb, als er auf seinen Doppelgänger-Widerpart trifft. Rappelkopf ist auf einen Schlag geheilt, gibt seine Einwilligung zu Marthes Hochzeit mit dem Musikus Hans (Soon-Wook Ka kann seine tenoralen Trümpfe nur ansatzweise ausspielen), der im ursprünglichen Stück eigentlich ein Maler ist, und lässt Lieschen mit Habakuk glücklich werde. Eine zauberische Besserung. Das Thema von Blechs fünfter Oper war einigermaßen ungewöhnlich, scheinen doch die zutiefst im Wiener Volkstheater verankerten Zauberpossen und Zaubermärchen Ferdinand Raimunds eine speziell österreichische Angelegenheit zu sein, die zudem durch ihre Struktur mit Liedern und Couplets selbst schon halbe Liederspiele sind.

Vielleicht hatte ihn der Prager Librettist und Kritiker Richard Batka darauf gestoßen, der um 1900 ein Libretto nach Nestroys Der Zerrissene verfasst hatte und seit der Dorfidylle Das war ich! (uraufgeführt 1902 Dresden unter Ernst von Schuch) Blechs Hauslibrettist blieb.

Blechs „Alpenkönig und Menschenfeind“/ Szene/ Will van Iersel

Die Musik ist federleicht und gewaltig, zugleich volkstümlich, beispielsweise im Duett Marthe- Lieschen „So viele Blumen ziehen“, das die beiden jungen Frauen parlandierend unterbrechen, um es wieder und wieder aufzunehmen, während die lyrische Koloratursopranistin Netta Or als Marthe ein paar Verzierungen drüberstreut. Den Ton nehmen sie im dritten Akt in „Schön sind Rosen und Jasmin“ nochmals auf. Gefällig, nie einfältig. Hurtig geht es in Marthas Duett mit dem heimgekehrten Geliebten Hans weiter. Der Alpenkönig (würdevoll: Roman Collett) dagegen singdeklamiert geheimnisvoll wie ein Anzengruber‘scher Wotan, und Habakuk verweist mit der wiederkehrenden Zeile „Zwei Jahre war ich Diener in Paris“ nicht nur auf seine berufliche Laufbahn, sondern auch auf seine Herkunft aus der opéra comique, was Joshua Owen Mills mit seinem luftig leichten Tenor, der wie gemacht scheint für solche Partien, bestens gelingt. Sein Duettchen mit Lieschen (soubrettenspitz und flach: Anne-Aurore Cochet) im dritten Akt ist so eingängig wie die Gassenhauer der zeitgenössischen Operette. Altwiener Gemütlichkeit und böhmisches Musikantentum à la Smetana verbreitet die Szene beim Tischler und seiner musizier- und tanzfreudigen Familie. Im Original handelt es sich um eine Köhlerfamilie, doch das „musikalische Faulenzerpack“, wie die von Ayaka Igarashi wunderbar charakterisierte Tischlersfrau ihre Familie beschreibt, wird von Rappelkopf genauso kaltherzig bezahlt und aus seinem Heim vertrieben wie die armen Köhlersleute. Wunderbare Orchestermusik bringen die Vorspiele zum zweiten und dritten Akt, gelungen ist das Sextett am Ende des ersten Akts, großartig das Final-Sextett am Ende der Oper, wobei das Orchester fast schon straussisch anschwillt als ginge es um eine ganz andere Menschen- und Geisterwelt. Überhaupt greift das Orchester oft wirkungsvoller ins Geschehen als es die raschen Dialoge vermögen. Es fehlt, wenngleich die Schwurszene zwischen dem Alpenkönig und Rappelkopf ein wenig Schauerromantik verströmt, an Dramatik und spannender Entwicklung, worunter auch die undeutlich umrissene Figur des Rappelkopf leidet. Paul Armin Edelmann singt den Rappelkopf mit sanftem und weich timbriertem Bariton, fast zu schön als dass man vor ihm Angst haben könnte. Aber im Grund ist damit auch schon der komödienschnelle Heilungsprozess angedeutet, der im balsamischen Schlaflied am Ende des zweiten Aktes, wieder fällt einem Humperdinck und sein „Abendsegen“ ein, eingeleitet wird. Alles sehr gut gemacht, aber nicht unbedingt originell. Biedermeier dritte Zeit, wie es die Dame im Antiquitätenladen ausdrücken würde. Auch auf der Bühne Biedermeier dritte Zeit oder Biedermeier ironisch gebrochen. Schmetterlinge flattern allerliebst über die von Henriette Hübschmann im Kreis verteilten Erdhaufen, ein weißes Pferd erhebt als Statue freudig seine Vorderbeine, die Pferdeköpfe an Rappelkopfs überdimensioniertem Lehnsessel dampfen aus ihren den Nüstern, der Tischler hat Werkzeughände wie Edward mit den Scherenhänden und eine riesige Rose entfaltet zum Finale ihre Blätter. Ute Engelhardt arrangiert das Spiel auf der kreisrunden Fläche so übersichtlich und treffsicher wie es einer bürgerlichen Komödie gut ansteht, die das entfesselte Zaubertheater und die „Schaubühne ohne ideale Ansprüche“ hinter sich gelassen hat.

Christopher Ward hat das mit Pause gerade mal 2 ½ Stunden kurze Stück mit Liebe zum liedhaften Detail wie orchestralen Alpenglühen sorgfältig einstudiert, so dass es dem Sinfonieorchester Aachen im Lauf der Aufführung immer besser gelang der anspruchsvollen Musik gerecht zu werden (11. September 2022).  Ward hatte bereits im Vorjahr pünktlich zu Blechs 150. Geburtstag unter Coronabedingungen eine konzertante Aufführung in nahezu gleicher Besetzung realisiert, die nun bei Capriccio als Mitschnitt vorliegt und das Augenmerk auf den Opernkomponisten Blech lenken könnte, dessen Werke aufgrund seiner jüdischen Herkunft in den 1930er Jahren von den Konzert- und Opernbühnen verschwanden.

Blechs „Alpenkönig und Menschenfeind“/ Szene/ Will van Iersel

Mit Alpenkönig und Menschenfeind versucht das Theater Aachen jetzt eine Wiederentdeckung des vor allem als Dirigenten bekannten Leo Blech. Begonnen hatte er als zweiter, dann erster Kapellmeister in Aachen, wo auch seine erste Oper herauskam. Über Prag, wo er u.a. die UA von d‘ Alberts Tiefland leitete, kam er 1906 an die Berliner Hofoper, die ihn 1913 zum Generalmusikdirektor auf Lebenszeit ernannte. Nachdem er die Staatsoper 1923 wegen eines Zerwürfnisses mit dem Intendanten Max von Schillings verlassen hatte, kehrte er 1926 in seine alte Position zurück, die er unter der schützenden Hand von Göring und Tietjen bis 1937 innehatte. Blech wurde zur Emigration gezwungen. Er dirigierte in Riga, gastierte in Tallinn, Moskau und Leningrad und erlebte in Stockholm, wo er an der Königlichen Oper seit 1925 gastiert hatte und 1935 zum Hofkapellmeister ernannt worden war, eine erfolgreiche Alterskarriere. 1949 kehrte er für wenige Jahre als Generalmusikdirektor der Städtischen Oper nach Berlin zurück, bevor er 1953 nach einem Sturz seine Dirigententätigkeit aufgeben musste. Fünf Jahre später starb er in Berlin, wo er auch beerdigt wurde. Zu seinem 60. Geburtstag hatte ihm das Theater seiner Heimatstadt 1931 die Ehrenmitgliedschaft verliehen, für die er sich artig mit einer Aufführung seines Erfolgsstückes Carmen bedanke. Bereits 1937/38 tilgte das Jahrbuch des Deutschen Bühnenvereins jedoch den Hinweis auf Blechs Ehrenmitgliedschaft. Erst jetzt wurde diese Ehrenmitgliedschaft im Rahmen einer erfreulich gut besuchten Gedenkveranstaltung mit einer Ehrentafeloffiziell wiederhergestellt; Intendant Schmitz-Aufterbeck, die Oberbürgermeisterin und die Musikwissenschaftlerin Jutta Lambrecht beleuchteten dabei Blechs Wirken und Bedeutung und nahmen den Akt der Wiedergutmachung auch zum Anlass einer Aufarbeitung der Aachener Theatergeschichte. Mit zwei Chorwerken stimmte der Opernchor Aachen unter Jori Klomp auf die folgende Premiere und Blechs Musik ein, von der GMD Ward sagte, „Es ist eine unglaublich schöne Musik“.  Rolf Fath

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Halévys Oper „La Tempesta“

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Das 71. Wexford Festival Opera wurde am 21. 2022 Oktober eröffnet, und zwar wie üblich mit faszinierenden Werken, die aus dem Repertoire verschwunden sind (oder nie dazu gehörten), die aber musikalisch wertvoll sind.  Das diesjährige Festival stand unter dem Motto „Magie und Musik“, und die Werke sollen Magie beinhalten – und hervorrufen. Die wichtigsten Opern in diesem Jahr waren  La tempestavon Fromental HalévyLalla-Roukh von Félicien David und Armida von Antonin Dvorák.

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Fromenthal Halévy/ Foto Nadar/ Taschen

Charles Jernigan schreibt: La tempesta, mit der das Festival eröffnet wurde, hat eine interessante, wenn auch kurze Geschichte. In den 1840er Jahren befand sich das Her Majesty’s Theater, das lange Zeit der Schauplatz der italienischen Oper in London war, im Niedergang: Viele der Hauptsänger hatten das Haus verlassen, um ein neues Ensemble zu gründen, aus dem Covent Garden hervorging, und die Zuschauerzahlen am Her Majesty’s Theater gingen zurück. Der Impresario Benjamin Lumley wollte eine neue Oper produzieren, die Aufsehen erregen und das Publikum zurückbringen sollte: Er brauchte einen „Hit“. Er wollte ein Thema aufgreifen, das den Engländern sehr am Herzen lag, indem er das neue Werk auf ein Stück von Englands größtem Dramatiker, William Shakespeare, stützte. Es sollte in italienischer Sprache sein, der Sprache der meisten Opern, die seit Händel in London aufgeführt wurden. Lumley wollte auch einen bedeutenden Librettisten und Komponisten, und er plante, einige der größten Starsänger der damaligen Zeit zu engagieren. Der von ihm bevorzugte Librettist war Felice Romani (Autor von Norma, La sonnambula, Anna Bolena und vielen anderen Werken in den 1820er und 30er Jahren), und der gewünschte Komponist war Felix Mendelssohn. Mendelssohn bevorzugte jedoch Eugène Scribe, den größten französischen Librettisten seiner Zeit, und so beauftragte Lumley Scribe mit der Abfassung des Librettos, das von Pietro Giannone aus dem Französischen ins Italienische übersetzt wurde. Mendelssohn war unbeeindruckt – und verärgert darüber, dass Lumley ihn als Komponisten bekannt gemacht hatte, bevor jemand einen Vertrag unterschrieben hatte, und er starb ohnehin unerwartet im November 1847, bevor die Arbeit beginnen konnte. Lumley wandte sich daraufhin an Halévy, der bereits für La Juive (1835) und viele andere große Opern und Opéra-comiques berühmt war, von denen einige in London zu hören gewesen waren, und Halèvy erklärte sich bereit, Scribes Libretto zu vertonen. Als Starsänger hatte Lumley Jenny Lind für die Rolle der Miranda ins Auge gefasst, die damals auf dem Höhepunkt ihrer Popularität in England stand, und Luigi Lablache für die Rolle des Calibano. Schließlich ließ Linds Popularität nach, und sie zog sich 1849 im Alter von 29 Jahren von der Opernbühne zurück.  Lumley wandte sich an Henriette Sontag, die sich 1829 aus der Oper zurückgezogen hatte, als sie den Grafen Rossi heiratete, und Sontag willigte ein, wieder zu singen, weil sie und ihr Mann das Geld brauchten. Filippo Coletti war der Prospero und Michael Balfe dirigierte.

 

Halevys „La Tempesta“ in Wexford 2022/ Szene/ Foto Clive Barda

Ursprünglich sollte die Rolle der Ariele, Prosperos Zauberin, eine Sängerin sein, und Halévy komponierte die Vokalmusik für sie, doch als die verzögerte Inszenierung 1850 auf die Bühne kam, war Ariele zu einer stummen Rolle geworden, die der Tänzerin Carlotta Grisi, der wohl berühmtesten Ballerina der damaligen Zeit, übertragen wurde. Ein Teil von Halévys Gesangsmusik ging an einen „Air Sprite“, während für Grisi eine neue Tanzmusik komponiert wurde. Die Aufführung, die schließlich am 6. Juni 1850 im Her Majesty’s Theatre stattfand, war ein großer Erfolg und lief etwa dreizehn Vorstellungen lang, bevor Grisis Abgang die Show zur Schließung zwang. Dies reichte jedoch nicht aus, um das Her Majesty’s Theatre zu retten, das ein paar Jahre später geschlossen wurde. Als nächstes übernahm Lumley die Leitung des Thèâtre Italien in Paris und führte dort bald La tempesta ein. Bei der dortigen Erstaufführung stürzte eine neue Tänzerin, Carolina Rosati, die die Rolle der Ariele spielte, durch eine offene Falltür in der Bühne, und obwohl sie die Aufführung beendete, überschatteten der erschreckende Unfall und die dadurch verursachte Verzögerung alle anderen Aspekte der Aufführung, und die Oper fiel durch. Danach wurde La tempesta bis heute nicht mehr aufgeführt und nicht mehr gehört.

Halevys „La Tempesta“/ Henriette_Sonntag war die erste Miranda/Gemöälde von Carl Christian Vogel von Vogelstein 1830 /Blechen Gesellschaft /Wikipedia

Die Story in Scribes Libretto folgt zunächst getreu Shakespeare, weicht dann aber im letzten Teil des Werks davon ab. Prospero, der Herzog von Mailand, wurde von seinem Bruder Antonio mit dem Einverständnis von Alonso, dem König von Neapel, gestürzt, der Prospero mit seiner kleinen Tochter Miranda in einem Boot ausgesetzt hat. Sie haben sich auf einer Insel in Sicherheit gebracht, die von Calibano und seiner Mutter, der Hexe Sicorace, bewohnt wird. Prospero hat mit seiner Magie Sicorace in einem Felsen eingesperrt und den guten Geist Ariele von seiner Macht befreit, während Calibano sein Sklave geworden ist. Die Oper beginnt mit einem Prolog, der den titelgebenden Sturm“ schildert, der von Prospero und Ariele angezettelt wurde, um das Schiff mit Alonso und Antonio sowie Alonsos Sohn Fernando zu zerstören.  Diese Männer werden zusammen mit den Matrosen auf Prosperos Insel an Land geworfen. Im ersten Akt erfährt Miranda von ihrem Vater, wie es auf der Insel aussieht, und sie sieht zum ersten Mal Fernando und verliebt sich in ihn. Im zweiten Akt befiehlt die unsichtbare Stimme von Sicorace Calibano, einige magische Blumen zu sammeln, die ihm drei Wünsche erfüllen sollen. Sie möchte, dass ihr Sohn einen Wunsch benutzt, um sie aus dem Felsen zu befreien, aber er weigert sich. Stattdessen wird der erste Wunsch verwendet, um Ariele einzuschläfern und in einen Baum zu sperren; der zweite wird verwendet, um Miranda in einen Schlaf zu versetzen, weil Calibano sie begehrt und eine Vergewaltigung plant. Als er ihren schlafenden Körper trägt, trifft er auf die Matrosen des Schiffes, die ihn mit Rum betrunken machen; er schläft ein. Im dritten und letzten Akt stiehlt Miranda die Blumen und benutzt den letzten Wunsch, um die Matrosen schlafen zu lassen; sie entkommt.  Prospero befreit Ariele vom Baum (in dieser Inszenierung durch einen riesigen Steinkopf ersetzt) und schickt sie auf die Suche nach Miranda. Miranda begegnet der körperlosen Stimme des in einem Felsen gefangenen Sicorace, die ihr sagt, sie solle Fernando töten, den sie als Feind bezeichnet. Miranda bereitet sich darauf vor, den schlafenden Fernando zu töten, aber er erwacht rechtzeitig und seine glühende Liebe überzeugt sie, dass er kein Feind ist. Prospero, Ariele und die reumütigen Antonio und Alonso treffen ein, und alle versöhnen sich für das Happy End. Sie segeln nach Italien und lassen Calibano und Sicorace auf der Zauberinsel zurück.

 

Halevys „La Tempesta“ in Wexford 2022/ Szene/ Foto Clive Barda

Musikalisch ist Halévys Musik handwerklich einwandfrei und hebt sich gelegentlich von den allgemeinen Klischees ihrer Zeit (oder eigentlich der Zeit von Rossini, Donizetti und Bellini) ab, um in Ensembles und einprägsamen Melodien einen dramatischen Ausdruck zu finden, obwohl die Arien eher aus dem allgemeinen Stoff der Zeit geschnitten sind. Mirandas Auftritt („Parmi una voce il murmure“) spricht von der natürlichen Welt, die Miranda verzaubert, und lässt Insekten singen; die Cabaletta ist stark ausgeschmückt. Prosperos Romanza „Sorge un fiore“ fiel in unserer Aufführung weg, ebenso Fernandos Cavatina „Cara, soave aerea voce“, eine schwierige Arie, die hohe Töne und viel Fioratura des Tenors erfordert. Andererseits war der gesamte Prolog, der den Sturm auf dem Meer schildert und größtenteils aus Chorgesang bestand, gefolgt von dem unvermeidlichen Gebet, eine angemessene Beschreibung des Sturms und des Untergangs des Schiffes mit Alonso, Antonio und Fernando. Ein schönes Duett für Fernando und Miranda, das durch die Hinzufügung von Prospero zu einem Trio wird, beendet den 1 Akt.

Der 2. Akt, in dessen Mittelpunkt Calibans Auffinden der Zauberblumen und seine versuchte Vergewaltigung Mirandas durch das betrunkene Finale stehen, enthält die beste Musik der Oper und ist besonders gut, beginnend mit dem ausgelassenen Trinklied „Ci oppresse abbastanza de‘ mali il pensier“ bis zu der Szene, in der Calibano dem Rum verfällt. Im letzten Akt gibt es ein anmutiges Trio, und Miranda bekommt ein stark verziertes Rondo-Finale („Vinto, la nature e amor“), gerade so, als wäre dies eine Oper von Rossini oder dem frühen Donizetti.

 

Halevys „La Tempesta“ in Wexford 2022/ Szene/ Foto Clive Barda

Leider gelang es der Wexford-Produktion (eine Koproduktion mit dem Teatro Coccia in Novara) nicht, das Festivalthema „Magie und Musik“ zu beleben. Die Inszenierung von Roberto Catalano (Regie), Emanuele Sinisi (Bühnenbild), Ilaria Ariemme (Kostüme) und D. M. Wood (Beleuchtung) hatte keine Magie und stand oft im Widerspruch zu dem Gefühl von Magie, das die Musik haben könnte. Ein kostümierter Stelzenläufer, der die Besucher im Theater begrüßt, und eine als Zauberin verkleidete Dame, die sich im Foyer unter die Besucher mischt, kamen der Magie des Abends noch am nächsten. Das Problem lag sowohl im Gesang als auch in der Inszenierung. Die Sopranistin Hila Baggio (Miranda) und der Tenor Giulio Pelligra (Fernando) waren den Koloraturanforderungen ihrer Rollen einfach nicht gewachsen; insbesondere Pelligra gehört zur „can belto“-Gesangsschule, die vielleicht für den Verismo funktioniert, aber für diese Art von Oper völlig ungeeignet ist. Die junge Jade Phoenix hinterließ als Ariele einen positiven Eindruck, obwohl ihre Perücke und ihr Kostüm eher an eine alternde Witwe als an einen Luftgeist erinnerten, und der georgische Bass Nikolay Zemlianskikh sorgte in seinen beiden Arien für Totenstille. Das Beste an der ganzen Besetzung war der georgische Bass Giorgi Monoshvili als Calibano. Die Inszenierung kam sowohl stimmlich als auch theatralisch nur in den Szenen zur Geltung, in denen er der Hauptdarsteller war. (Die Kritiker des neunzehnten Jahrhunderts hielten Luigi Lalblaches Calibano-Darstellung ebenfalls für das beste Merkmal der ersten Aufführungen). Rory Musgrave, Richard Shaffrey, Gianluca Moro und Dan D’Souza waren gut als Alonso, Antonio, Stefano und Trinculo, und Emma Jüngling sang die unsichtbare Sicorace, wobei ihre Stimme aus zwei verbeulten Lautsprechern kam, die auf einem Metallrohr von oben herabgelassen wurden. Sicorace schien in der Beschallungsanlage eines Highschool-Fußballspiels gefangen zu sein, denn es war kein Rock in Sicht. Francesco Cilluffo, der hervorragende Arbeit mit Verismo-Opern geleistet hat, dirigierte, als ob es sich um ein weiteres veristisches Werk handelte; am Eröffnungsabend war das Festivalorchester laut, ohne viel Subtilität oder Schattierungen, aber es verbesserte sich bei der zweiten Aufführung (Foto oben David O´Brian als Ariel in der Stratforder Aufführung des Tempest/ RSC. Charles Jernigan

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Ehrenrettung

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Jahrzehntelang kam kein deutsches Opernhaus ohne sie aus, jahrzehntelang danach sind sie so gut wie von den Bühnen verschwunden, die Spielopern oder Singspiele der Flotow, Nikolai oder besonders Albert Lortzings, an dessen Undine, Wildschütz, Zar und Zimmermann oder Waffenschmied, etwas weniger an der Revolutionsoper Regine sich Generationen von Opernbesuchern erfreut haben. Nur gelegentlich taucht die eine oder andere wieder auf einem Spielplan auf, so Die Lustigen Weiber von Windsor an der Berliner Staatsoper oder in der kommenden Spielzeit in Brandenburg, doch ins Gedächtnis eingeprägt hat sich Martha in der liebevoll ironischen Inszenierung von Loriot in Stuttgart, auch schon Jahrzehnte her, und der Berliner wird sich an Winfried Bauernfeinds Inszenierungen von Zar und Zimmermann oder Die lustigen Weiber von Windsor an der Deutschen Oper mit ihren wunderschönen Bühnenbildern erinnern. Die heftigen Regie-Opernschlachten tobten um Wagner und Verdi, deren Werke das aushalten können, die Spielopern wurden des Kampfes nicht für wert befunden, hätten ihn wahrscheinlich auch nicht überlebt.

Da ist es schon verwunderlich, dass 2022 eine 2019 entstandene Aufnahme einer unbekannten Lortzing-Oper  mit dem Titel Zum Groß-Admiral auf dem Markt erschienen ist, immerhin gestaltet vom Münchner Rundfunkorchester unter Ulf Schirmer und mit ansehnlicher Solistenbesetzung. Drei Paare bilden außer dem unvermeidlichen Bass à la klug und weisem Bürgermeister van Bett oder für 5000 Taler auf sein Gretchen verzichtendem Baculus das Personal: Prinz Heinrich von England und seine Gattin Catharina von Frankreich, Richard Graf von Rochester und seine allerdings nicht auf der Bühne erscheinende Clara, Betty, seine zunächst unerkannt ins Wirtshaus zum Groß-Admiral und dessen Wirt Copp Mavbrai verschlagene Nichte, und deren Liebhaber Edward, eigentlich Page, gegenüber Betty aber zunächst als Musiklehrer auftretend. Stoff für Irrungen und Wirrungen gibt es also genug, und wie vorauszusehen, gibt es am Ende drei glückliche Paare. Das Libretto nach Alexandre Duval von ist in einem  für uns heute  schwierigen Deutsch, Lortzing selbst anzulasten, gehalten, zu Glück hat sich der gesprochenen Dialoge Paul Esperanza angenommen.

Die Werkgeschichte ist keine glückliche, denn obwohl die Uraufführung in Leipzig 1847 und die Wiener Erstaufführung 1849 den Beifall des Publikums fanden, war der Erfolg kein nachhaltiger, wohl auch wegen der vernichtenden Kritik von Eduard Hanslick.

Die Ouvertüre ist ungeheuer rasant, das Orchester macht also durchaus erst einmal Lust auf das Stück. Amüsant ist auch ein Duett, in dem es ein Hin und Her zwischen Rokoko-Schäferromantik und Biedermeier gibt, Orchester und Chor holen alles an musikalischem Esprit aus dem Stück heraus, was darin zu finden ist. Es gibt aber auch lange, zu lange Duette und Ensembleszenen und nicht die Ohrwürmer, die man aus anderen Lortzing-Opern kennt.  Angemessen ist die Besetzung mit dem angenehmen lyrischen Tenor Bernhard Berchtold als Prinz Heinrich, der, als Seemann verkleidet, eine hübsche Barcarole singt. Jonathan Michie ist mit typischem, damit angemessenem Kavaliersbariton Rochester, Martin Blasius lässt als Capp Mavbrai durchaus  vernehmen, welch große Erfahrung er mit komischen Bassrollen hat, leider aber auch, dass die ermüdete Stimme nicht mehr allen Intentionen gehorcht. Von den drei Sopranen hebt sich die warm timbrierte Stimme von Julia Sophie Wagner in der Hosenrolle des Eduard am stärksten von den beiden anderen beiden Damen ab, von denen Lavinia Dames eher Soubrettenqualitäten als Betty, Anett Fritsch die eines lyrischen Soprans als Catharina aufweist. Höchst angenehm anzuhören sind sie alle drei.

Nach einer Wiederausgrabung einer historischen Aufnahme des Berliner Vorkriegsrundfunks von 1937 (im Tonarchiv des rbb; drastisch gekürzt und bearbeitet und vor ein paar Jahren auch im rbb gesendet) gab es in  Annaberg unter der Ägide von Ingolf Huhn vor einigen Jahren auch eine szenische Aufführung der rekonstruierten Fassung, eine Wiederentdeckung für das Repertoire hat sich daraus nicht ergeben, eher dürften die bekannten, in der letzten Zeit arg vernachlässigten Werke des Komponisten auf ein Revival hoffen (cpo 555 133-2). Ingrid Wanja   

Endlich was Schönes

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Was man in den letzten Jahren und als Berliner gleich an allen drei Opernhäusern schmerzlich vermisst hat, wird dem Betrachter bewusst, wenn er die Falstaff-Produktion des Maggio Musicale Fiorentino aus dem Jahr 2021 betrachtet: eine sorgfältig gemachte Bühne mit historisch wie geographisch getreuen, wenn auch stilisierten Bauten und ebensolchem Interieur, die Sänger in ihrer Interpretation unterstützende und darüber hinaus ihre Träger, deren Stand, die Zeit, in der sie leben, charakterisierende Kostüme, künstlerisch und handwerklich perfekt, ein Verbleiben der Handlung in Zeit und Örtlichkeit, die das Libretto vorsah, und damit eine große Glaubwürdigkeit und zugleich eine Horizonterweiterung weit hinaus über die armseligen Produktionen, die das durchweg miese Hier und Heute widerspiegeln sollen. In ihnen ist Falstaff ein Depp unter Deppen und nicht ein heruntergekommener, adelsstolzer Genussmensch, der sich dem aufstrebenden, um Selbstbewusstsein ringenden Bürgertum überlegen fühlt, sind die vier lustigen Weiber nicht nur partygeile Bourgeoisiezicken, sondern geradezu Vorläuferinnen der Emanzipation, wenn sie Nanetta gegen den Willen des patriarchalisch ehestiftenden Ford zu ihrem Glück verhelfen. Sven-Eric Bechtolf hat das Wunder vollbracht, für das er wahrscheinlich diesseits der Alpen nicht den notwendigen Mut aufbringen würde, einer hämischen Kritik des Feuilletons so gut wie sicher. Eine detailverliebte Personenregie lässt die Sänger auch dann agieren, wenn sie nicht direkt in die Handlung eingreifen, sie können aber auch zu lebenden Bildern erstarren. Julian Crouch ist für die Bühne verantwortlich, und er weiß mit sparsamen Mitteln viel Atmosphäre zu schaffen, lässt mit einem Strohballen hier, einem Fässchen dort dazu beitragen. Die Stadtsilhouette von Windsor in wechselndem Licht (Alex Brok) ist ein Kunstwerk für sich.  Die Kostüme von Kevin Pollard charakterisieren fein ihre Träger, besonders die Ausgehuniform Falstaffs spiegelt perfekt den Widerspruch zwischen Anspruch und Realität, in dem er lebt, wider.

Was zu sehen ist, ist also durchweg erfreulich, was zu hören ist, allerdings weit weniger. Das gilt nicht für das Orchester unter John Eliot Gardiner, der die kammermusikalischen Aspekte des Werks fein herausarbeitet, ungemein präzise ist und so inspiriert wie inspirierend wirkt. Auch mit Nicola Alaimo kommt kein Bedauern darüber auf, dass einmal nicht Ambrogio Maestri der Falstaff vom Dienst ist. Er verbindet eine rollengerechte Körperlichkeit mit viel Gewandtheit, die auch ein  graziöses Tänzlein nicht ausschließt, sein sonorer Bassbariton ermöglicht ein so raumfüllendes „Onore“ wie das „Va vecchio John“ markant rhythmisch klingt. Auch der zweite Barion, Simone Piazzola, ist ein in jeder Hinsicht rollengerechter Ford. Zufrieden sein kann man mit dem Dienerpaar Bardolfo (Antonio Garés) und Pistola (Gianluca Buratto), und von Dr.Cajus erwartet man keinen schönen Tenor, so dass man Christian Collia nichts vorwerfen kann. Ganz anders der Fenton von Matthew Swensen, der darstellerische Unbeholfenheit nicht durch einen recht anämisch klingenden Tenor ausgleichen kann, der seine hübsche Arie verschenkt.

Vokal auch  fast ein Totalausfall ist die adrette Alice von Ailyn Pérez, deren Sopran nicht aufblühen kann, sondern durchgehend zu klein, zu substanzlos erscheint. Francesca Boncompagni ist eine ebenfalls recht blässliche Nanetta, Mutter und Tochter können den beiden stimmlich tiefer gelagerten Damen, Caterina Piva  als Meg und vor allem der vorzüglichen, nie zur Karikatur werdenden Quickly von Sara Mingardo, die bereits bei der ersten Einspielung durch Gardiner im Verdi-Jahr und auf historischen Instrumenten dabei war, nicht das Wasser reichen (Dynamic 37951). Ingrid Wanja

Ideologischer Anspruch zum Zweiten

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Ohne Bekenntnisse und Offenbarungen scheint es nicht mehr zu gehen, kann keine Debüt-CD und sogar eine darauf folgende zweite Aufnahme nicht auskommen, und so bekennt auch die seit 2017 bei der Deutschen Grammophon unter Vertrag stehende amerikanische Sängerin Nadine Sierra im Booklet zu ihrer neuen CD mit dem Titel Made for Opera, die Aufnahmen seien auch im Gedenken an ihre portugiesische Großmutter entstanden, die zwar eine schöne Stimme besaß, aber nie den Beruf einer Sängerin erlernen, geschweige denn ausüben durfte. Im Debütalbum war noch von Diversität und Gleichberechtigung die Rede gewesen, hatte sich der Sopran recht verzottelt aussehend vor allem amerikanischem Liedgut unter dem Titel There’s a place for us gewidmet, nun wehen zwar auch, aber sichtbar gepflegte Haare im Wind, aber nicht über einem braven Krägelchen, sondern über einer Federboa und einem Abendkleid.

Schon bei dem erst drei Monate alten Baby will die Mutter eine besondere Affinität zur Musik entdeckt haben, seit dem zarten Alter von sechs Jahren nahm sie Gesangsunterricht, mit zehn Jahren kam Nadine Sierra zum ersten Mal mit der Oper in Berührung, nachdem ihre Mutter ein Band mit der Zeffirelli-Inszenierung von La Bohéme ausgeliehen hatte. Mit zwanzig Jahren erregte sie die Aufmerksamkeit von Marilyn Horne, die sie unter ihre Fittiche nahm und von da ab errang sie einen Preis nach dem anderen, oft als jüngste Teilnehmerin in der Geschichte des jeweiligen Concorso.

Drei der bekanntesten und beliebtesten Damen der Operngeschichte ist die neue CD gewidmet: Violetta, Lucia und Juliette. Für alle drei hat Nadine Sierra eine frische, helle und doch von einem leichten Schleier der Melancholie geadelten Sopran, der den Konsonanten mehr Aufmerksamkeit schenken könnte, sich für Violettas große Arie einer raffinierten Agogik bedient und dem auch eine gewisse Naivitätsattitüde gut steht, wo es passt. Filigran wird „la delizia“ gestaltet, und ein Wunder an raffinierter Technik ist die Cabaletta der Violetta. Ein sehnsüchtiges „amore“ mischt sich in den Gesang Alfredos, und der Spitzenton ist vollkommen unangestrengt.

Das „Addio al passato“ überzeugt nicht zuletzt durch die Schlichtheit, das schmerzliche Schweben ohne übertreibendes Pathos, aber es fällt einem auch die Mahnung der Callas ein, sich nicht zu einer Wiederholung hinreißen zu lassen, auf den schönen Schwellton am Schluss hätte man trotzdem nicht verzichten müssen.

Leider ist im Booklet nicht vermerkt, wer für das schöne Harfensolo zu Beginn der Lucia-Arie verantwortlich ist. Die Sängerin entzückt durch die Leichtigkeit des Tonansatzes und der Emission, sie wirkt nie angestrengt, sondern eher verspielt. Die Wahnsinnsarie lässt die Sierra die einzelnen Phrasen auskosten, feine Decrescendi bis fast zum Verstummen lassen innerlich jubeln, ein leichter Perlmuttschimmer scheint auf der Stimme zu legen. Eine so virtuose wie die Stimmung treffende Kadenz voller feiner Facetten lässt aufhorchen.

Für Juliettes erste Arie gibt es neben nicht sehr ausgeprägtem französischem Klang einen schönen Glockenton und virtuosen Übermut, die große Szene „Dieu! quel frisson court“ schließt die Aufnahme auf würdige Weise ab. Das Orchestra Sinfonica Nazionale della RAI und Riccardo Frizza sind die Garanten dafür, dass der Sängerin die optimale Unterstützung für ihr Unternehmen zuteil wird (DG 486 0942). Ingrid Wanja

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Und das schrieben wir bei der ersten CD: Eine schöne Stimme und eine einnehmende Optik scheinen nicht mehr die Garantie für den Beginn einer auch erfolgreichen CD-Karriere zu sein. Eine Botschaft muss sie legitimieren, und davon hat die CD von Nadine Sierra gleich eine auf dem Cover und eine weitere auf der Rückseite des Booklets. Bernsteins Maria verkündet : “There’s a place for us und will nach Aussage der amerikanischen Sopranistin mit puerto-ricanischen und portugiesischen Wurzeln allen „a little bit of hope“ geben, die sie hören (wenn sie denn die Gelegenheit dazu haben). Auf der Rückseite des Booklets meint die Sängerin: „Opera belongs to everybody“, was sich an dieser Stelle seltsam ausnimmt, denn auf der CD befinden sich ganze zwei Opernarien, eine gänzlich unbekannte und eine aus Strawinskys The Rake’s Progress. Ansonsten gibt es Musikstücke in englischer/amerikanischer und spanischer sowie portugiesischer Sprache, die, immer Ansicht des Booklets, „nicht nur die Grenzen der Oper sprengen“, sondern offensichtlich auch in ihrer Vielfalt ein Gegenbeweis dafür sein sollen, dass, wie Nadine Sierra in einem Interview erklärt hat, Amerika die Angewohnheit hat, sich von allem abgrenzen zu wollen. Wenn dazu noch, ebenfalls Aussage in einem Interview, der selbstgewählte Auftrag kommt, der klassischen Musik helfen zu wollen, „Mauern einzureißen, die die klassische Musindustrie selbst aufgebaut hat“, dann meint man, dass die sehr ansprechende, aber doch bei weitem nicht sensationelle CD mit dreizehn Titeln  total mit Ideologie überfrachtet sei.

Es beginnt mit Bernsteins „Somewhere“ und der Hörer lernt eine unverwechselbare, aparte, frische und schillernde Sopranstimme mädchenhaften Charakters kennen, die über eine gute Technik verfügt, wie u.a. ein schönes Decrescendo beweist. In Villa-LobosAria kann die Sängerin eine dichte Atmosphäre erzeugen, ein ausgeprägtes Vibrato, eine flirrende Höhe und zarte Tongespinste erfreuen in Gordons Stars, die Extremhöhe erweist sich als strapazierfähig im temperamentvoll gesungenen  Julia de Burgos“ von Bernstein. Mit niedlich naivem Ton wird Villa-Lobos‘ Liebeslied zärtlich schmeichelnd im „Amor, meu amor!“ gesungen, schlicht und innig erklingt Bernsteins „Take care“. Ihre Unschuld noch nicht verloren hat die Sängerin des berühmten Virtuosen-Glanzstücks „ Glitter and be gay“, und manchmal hört es sich noch mehr nach Bewältigung als nach Gestaltung an. Gordons „Morning“ klingt besonders strahlend, in der Höhe, da hört man gern darüber hinweg, wenn in der Tiefe Verhuschtes zu vernehmen ist. Poetisch kommt die Melodia sentimental daher, ekstatisch, die Grenzen des Wohllauts streifend Maia’s Aria von Theofanidis. Mit feinen Pianissimi kann der Sopran in einem Lied von Foster erfreuen, ebenso in Golijovs „blassem Mond“, und  Anne Truelove lässt in ihrer langen Arie zunächst einen keuschen, mädchenhaften Klang, dann ein schmerzliches Erkennen und schließlich eine schöne Entschlossenheit vernehmen. Hochkarätig ist die Begleitung durch das Royal Philharmonic  Orchestra unter Robert Spano (DG 483 5004). Ingrid Wanja        

Verführung durch Musik

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Wer denkt nicht an Klingsors  Zaubergarten, an die schönen Blumenmädchen, an Kundrys sündigen Kuss, wenn er den Titel Parsifals Verführung liest, und wer hat nicht bei einem Verfassernamen wie Laurence Dreyfus das Schicksal des gleichnamigen  zu Unrecht beschuldigten französischen Offiziers vor Augen? Wenn dann noch vom Cover ein Gesicht mit verzerrten Zügen wie das eines E. T. A. Hoffmann nach dem Besuch von Lutter & Wegner guckt, ist die Verwirrung vollkommen. Es geht aber weder um die Verführung von Parsifal, noch um Spionage oder nächtliche Gelage, sondern um die Umgarnung des jüdischen Dirigenten Hermann Levi (Bild oben/ OBA) durch Richard Wagner, der ihn für die Uraufführung seines Bühnenweihfestspiels in Bayreuth und zum Übertritt zum christlichen Glauben bewegen wollte. Ersteres gelang ihm, letzteres nicht.

Wenn das Buch also mit einem „er“ beginnt, sind weder Parsifal noch Richard Wagner gemeint, sondern Levi, außer ihm gibt es eine zweite „Heldin“, die Frauenrechtlerin Anna Ettlinger, die ihren alten Freund Levi aufsucht, um mit ihm über eine Biographie, die sie schreiben will, zu sprechen. Die ihr gewidmeten Kapitel sind nach den Tagen des Aufenthalts im Hause Levi durchnummeriert, die mit Levi im Mittelpunkt tragen als Kapitelüberschriften Jahreszahlen. Der Autor ist bisher nicht als Romanschriftsteller bekannt, sondern vor allem als  Gambenspieler und als Gründer und Leiter der Musikgruppe Phantasm, zudem als Musikhistoriker , verfasste unter anderem Bücher über Bach und Wagner.

Das nun erschienene Buch wird als Roman bezeichnet, auf der Rückseite des Bandes gleich doppelt sogar als Wagner-Roman beworben, was es nicht ist, hat aber durchaus halbdokumentarischen Charakter oder gibt sich als historisch getreu aus, so durch immer wieder eingestreute Briefe zum Beispiel des Freundes Brahms oder des Lehrers Lachner, deren beider Freundschaft Levi seiner Verehrung für nicht nur Wagners Musik , sondern auch für den Maestro selbst opferte. Eine tiefe Verwurzelung des amerikanischen Autors, der mittlerweile in Berlin lebt, in der deutschen Kultur, wie viele Zitate Hölderlins, Novalis‘ oder von Platens beweisen, ist verbunden mit Verbitterung über die antisemitischen Schriften Wagners und Spott über dessen menschliche Schwächen, doch spielt der Komponist eher indirekt eine Rolle in dem Buch, in dem auch gewisse Aspekte jüdischen Lebens in Deutschlands durchaus kritisch gesehen werden. Manchmal erweckt der Autor den Eindruck, er wolle seinen Leser durch die Ausbreitung von Kenntnissen über das letzte Drittel des 19.Jahrhunderts geradezu überwältigen. Eine bedeutende Rolle spielt, und da tritt Fiktion in den Vordergrund, die Homosexualität, die in bezug auf Levi und Brahms nur in einem Traum des Ersteren und da mit Problemen behaftet erscheint, da der eine beschnitten ist, der andere jedoch nicht, oder im Verhältnis zwischen Levi und seinem Masseur und Diener, das ausgerechnet nach der einzigen Liebesnacht mit Anna Ettlinger dieser offenbar wird. Da Siegfried Wagner in der vom Autor beleuchteten Zeit noch ein Kind war, gibt er für dieses Thema wenig her, auch wenn seine späteren Betreuer, der Bühnenbildner für den Parsifal und dessen italienischer Freund, bereits eine Rolle spielen.

Über die Musik Wagners wird wenig gesagt, was wohl der Gattung Roman geschuldet ist, der Verzicht auf eine chronologische Gliederung und auf die strenge Bindung an einen einzigen Romanhelden, nämlich Levi, bringen Abwechslung, aber auch eine gewisse Unruhe in das Werk.

Das Buch wurde von Wolfgang Schlüter übersetzt, dem man Sorgfalt und die Nähe zum Autor unterstellen möchte, so dass manche den Kitsch nicht nur streifende Äußerung, manche gewagte Formulierung nicht ihm anzulasten, ja vielleicht vom Autor so und so wirkend gewollt ist. „Schmälen“ sollte man allerdings nicht für schmähen halten, „Beseelung“ nicht „über Gesichtszüge huschen“ und der „nächtliche Schoß des Verlangens“ lieber verschlossen bleiben. Und als erfahrener Musiker hörte Levi sicherlich mehr als Im Lohengrin Vorspiel als  „ungezwungene Schönheit“, fand das Vorspiel zu Tristan nicht nur „erstaunlich“ und Auszüge aus dem Ring nicht nur „unwiderstehlich“. Aber es handelt sich ja nicht um eine wissenschaftliche Abhandlung, sondern um einen „Roman“.    

Wer, dem Titel glaubend, etwas über Parsifal oder Wagner erfahren will, dürfte enttäuscht sein. Wen Hermann Levi und die Möglichkeiten jüdischen Lebens im Deutschland des späten 19.Jahrhunderts interessieren, kann sich auf eine spannende Lektüre gefasst machen (Faber & Faber 2022, 220 Seiten; ISBN 978 3 86730 226 5). Ingrid Wanja

Ach Trude

Wer oder was ist Hütchen? Ein Taschenspieltrick, bei dem sich unter einem von drei Hütchen oder Nussschalen, die blitzschnell hin- und hergeschoben werden, ein Kügelchen befindet? Ein solcher Taschenspieltrick ist An allem ist Hütchen schuld. In Siegfried Wagners elfter Oper wird das „lustige Märchendurcheinander“ zu dem der Komponist, ausgehend von der Liebesgeschichte von Frieder und dem Katherlieschen, nach eigener Aussage „vierzig Märchen“ neu zusammengefügt hatte, von der Märchenfrau aufgelöst. Es handelt sich um einen unsichtbaren Kobold, dem nur mit Knofel und Bibernellen beizukommen ist. Zuvor waren sich sogar der Komponist höchstselbst, Siegfried Wagner, und Jacob Grimm über Hütchens Machenschaften in die Haare geraten. Eigentlich ist Siegfried Wagners op. 11 ein Stück für das ambitionierte Regietheater, das Licht ins Dunkel bringt und hinter den Märchengeschehen um Frieder und Trude, Katherlieschen und Königsohn, Müller und Müllerin, Wirt und Wirtin, um die drei goldenen Haare des Teufels, drei schwere Fragen, die Zaubergegenstände aus „Tischlein deck dich“, um Spuk, Zauber und Unerklärliches den Zuschauer über Abgründe aufklärt und in Siegfried Wagners Märchenwelt einführt, die 1898 mit Der Bärenhäuter begann.

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Bereits vier nach seiner Bochumer Produktion setzte Peter P. Pachl das Hütchenspiel in Bayreuth fort. An keinem geringeren Ort als in dem wenige Jahre zuvor auf die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes gesetzten Markgräflichen Opernhaus kam es im August 2019 neuerlichen zu Aufführungen des dreiaktigen Märchenspiels, dessen Mitschnitt nun als World Premiere Audio Recording vorliegt (3 CD Marco Polo 8.225378-80) und uns somit Pachls meist überambitionierten szenischen Zierrat vorenthält. Pachls Beschäftigung mit Siegfried Wagners An allem ist Hütchen schuld reicht bis zur partiellen „Aufführung der Tugendmühle aus dem 2. Akt 1979 bei den Maifestspielen in Wiesbaden“ zurück, worauf sich, wie er im Beiheft zur CD ausführt, Aufführungen und Ansätze anschlossen: ein vor der Hauptprobe abgebrochener Versuch in Hof, eine Aufführung 1995 in Hagen sowie ein kurzfristig abgebrochener Aufführungsversuch 2009 in Remscheid.

In Bayreuth steht Pachl mit dem Karlsbader Symphonie Orchester ein sehr präsentabler Klangkörper zur Verfügung, den David Robert Coleman ab dem fast 15minütigen – mit viel Bühnengetrippel, vermutlich vom hüpfenden Niklas Mix als Hütchen, begleiteten – lyrisch spätromantischen Vorspiel vom instrumentalen Naturgezwitscher bis zum weiträumigen orchestralen Schwelgen sicher im Griff hat, dabei Feinheiten betont und Zusammenhänge aufbaut. Siegfried Wagners handwerklich gediegene Musik ist im Hütchen über weite Stellen kleinteilig und liebevoll altmodisch, begleitet die Szenen treuherzig und munter ohne sie allzu stark zu formen oder zu vertiefen. Bei der Überfülle der von Wagner kompilierten Märchen, wodurch Hütchen wie eine Vorwegnahme von Stephen Sondheims Märchenmix in seinem 70 Jahre jüngeren Musical Into the Woods anmutet, fehlt es jedoch an prägnanten Momenten und griffigen Höhepunkten, wird es bei 2 ¾ Stunden Spieldauer auch etwas länglich. Ulrich Schreiber spricht in Bezug auf Siegfried Wagners beide besten Opern Bärenhäuter und Hütchen von „durchschlagender Harmlosigkeit“. Aus dem eingeschworenen Pachl- und Siegfried-Wagner-Ensemble, das sich bereits in Bochum für Hütchen einsetzte, sind in den Hauptrollen des Frieder und des Katherlieschen wieder Hans-Georg Priese und Rebecca Broberg dabei. Broberg singt das Katherlieschen mit schönem und sanftem Ausdruck, klangvollem Sopran, der sich auch dramatisch entfalten kann, dabei auffallend textverständlich. Hans-Georg Priese klingt als Frieder manchmal etwas matt, doch er meistert die Partie mit Durchhaltevermögen und gelegentlich heldentenoralen Tönen. Die Estin Maarja Purga singt die Trude mit farbigem, doch auch dumpfen Mezzosopran, Alessandra Di Giorgio ist Frieders zupackende Mutter und singt auch des Teufels Großmutter und die Sonne. In jeweils mehreren Partien beweisen sich Silvia Mica u.a. als Hexenweibchen, der Bariton Daniel Arnaldos u.a. als Dorfrichter, der Bass Axel Wolloscheck als komödiantischer Tod sowie als Mond und Wort, Ulf Dirk Mädler als Tod und Menschenfresser. Wie in Bochum ließ es sich Peter P. Pachl nicht nehmen, in der vorletzten Szene der Oper, in welcher der Komponist höchstpersönlich (als Siegfried Wagner: der Bariton Joa Helgesson, der auch den Königssohn und Müller übernimmt) auftritt, als Jacob Grimm ins Geschehen einzugreifen. Rolf Fath

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Und vorher die DVD zur Aufführung 2015: Peter P. Pachl ist so etwas wie der Eckermann Siegfried Wagners. Wie er sich in Rudolstadt und andernorts für das Oeuvre des Wagner-Sohnes einsetzte, wurde vielfach gerühmt. Sein aktuellstes Kapitel der Siegfried Wagner-Rezeption befasste sich mit  An allem ist Hütchen schuld, das er im Oktober 2015 an der Bochumer Universität mit dem pianopianissimo-musiktheater München zur Aufführung brachte, wo er unter eingeschränkten Möglichkeiten eine Inszenierung zustande brachte, deren Detailkundigkeit bis hin zu den Anmerkungen im Libretto auf der DVD (Marco Polo 2.220006) möglicherweise besser zu verfolgen ist als live im Auditorium Maximum. Alles in allem fügt sich diese Aufführung mit der vor dem Orchester befindlichen Spielfläche und den vielen Videos – angefangen während des 16minütigen Vorspiels in der Käserei, denn wir erinnern uns, Katherlieschen lässt sechs Käselaibe den Berg hinunterrollen, um die anderen zurückzuholen – dem Filmteam mit Video Live-Zuspielungen und den helfenden Geistern usw. zu einer bemerkenswerten Performance, halb work in progress, halb Siegfried Wagner-Laboratorium, die der Vielschichtigkeit der Handlung gerecht zu werden bemüht ist.

Ich war froh, die deutschen Untertitel eingeschaltet zu haben, denn in der aktionsreichen in die Gegenwart verlegten Handlung (Kostüme: Christian Bruns) bleibt die Deutlichkeit von Siegfried Wagners Text etwas auf der Strecke bzw. folgt man unentwegt den Anspielungen, Verweisen, Zitaten, Einblendungen, Werbebotschaften (Sponsoren?), dem zwischen Parodie und psychologisierendem Fingerzeig, Ironie und Naivität schwebenden Spiel. Lionel Friend unterstreicht mit den vielfach auch solistisch geforderten Bochumer Symphonikern das durchgehend hohe Niveau der spätromantisch schwelgerischen und theatralisch wachsamen Musik (UA Stuttgart 1917), die ihre Stimmungswechsel so reaktionssicher vollzieht wie die Sprünge von Märchen zu Märchen. Die Oper ist lang. Irgendwann werden dann auch Schwächen der hurtig hüpfenden Musik spürbar, erschöpft sich der eigene Klangreiz. Während die jugendlich dramatische Rebecca Broberg und der Heldentenor Hans-Georg Priese als Katherlieschen und Frieder gefordert sind, haben sich Julia Ostertag, Maarja Purga, Ralf Sauerbrey, Axel Wolloscheck, Martin Schmidt, Annamaria Kaszoni in mehrere Partien einzurichten; dazu Regisseur Pachl passenderweise als Jacob GrimmRolf Fath

Schiffreise des Grauens

„Adieu, Europa! Deutschland, adieu!“ Auf der Überfahrt mit dem Ozeandampfer nach Brasilien fordert der deutsche Diplomat Walter seine Gattin Lisa auf, nochmals einen Blick zurückzuwerfen, „Nun schwenk dein Taschentuch und sag dem Land adieu!“ Der Blick zurück gerät für Lisa Franz rasch zu einem Blick in eine unbewältigte und weiter zurückliegende Vergangenheit, der sie nicht entfliehen kann. Denn wenige Augenblicke später erblickt Lisa eine Frau, die sie an ihre verdrängte Tätigkeit als Aufseherin im KZ Auschwitz erinnert. Bereits im kurzen Vorspiel zu seiner Oper Die Passagierin lässt Mieczyslaw Weinberg (1919-96) Gegenwart und Vergangenheit ineinandergleiten und leitet einen Bewusstseinsstrom ein, der die Ereignisse von 1943/44 und 1959/60 in enge Verbindung setzt. Knapp, auf den Punkt gebracht. Die erste Szene der Oper schildert einen Moment, wie er tatsächlich hätte passieren können und wie ihn Zofia Posmysz, deren Vorlage Weinberg den Text zu seiner Oper verdankt, später beschrieb. In einem Gespräch im Umfeld der Uraufführung 2010 schilderte die Ausschwitz-Überlebende, die ab 1962 als Kulturredakteurin beim polnischen Rundfunk arbeitete, ihre Erlebnisse, „Unter diesen Aufseherinnen war eine, die ich noch Jahre später vor Augen hatte, als ich zuerst ein Hörspiel und dann den Roman schrieb: die Aufseherin Franz. Und Marta, in meinem Buch die Passagierin, hatte mit mir am Kochkessel gestanden.“ Den Ausschlag zu dem Hörspiel, aus dem dann ein Roman wurde, gab eine Reise nach Paris, „1959 wurde ich nach Paris geschickt, um über die Eröffnung der Fluglinie Warschau–Paris zu schreiben. Ich sollte berichten, wie man fliegt, welche Passagiere reisen, welche Atmosphäre herrscht. Nach der Landung hatte ich ein paar Stunden frei und lief sofort zur Place de la Concorde. Da gab es viele Touristen, darunter eine deutsche Gruppe. Plötzlich hörte ich eine weibliche Stimme: „Erika, wo bist Du, komm her! Wir fahren weg!“ Erschrocken drehte ich mich um. Das war die Stimme meiner Aufseherin Franz, eine scharfe, hohe Stimme. Natürlich war sie es nicht, aber die Ähnlichkeit der Stimmen war frappierend. Von dieser Aufgewühltheit konnte ich mich nicht mehr befreien“. Alles weitere ist bekannt: auf dem autobiografischen Roman der Posmysz basiert die 1968 vollendete Oper Weinbergs, die erst 2010 in Bregenz szenisch uraufgeführt wurde, drei Jahre später in Karlsruhe ihre deutsche EA erlebte und inzwischen vielfach nachgespielt wurde.

Von der um ein halbes Jahr verschobenen und schließlich im September 2020 in Graz herausgekommenen Produktion liegt nun der Mitschnitt vor (2 CD Capriccio C5455), der die Ereignisse als spannendes Musiktheater aufrollt und einmal mehr die Repertoirefähigkeit der Passagierin beweist. Lisa erkennt in einer elegant gekleideten Mitreisenden die von ihr im KZ schikanierte Gefangene Marta („Ich wollte sie zu meiner Untertanin machen“). Walter ist schockiert, fürchtet nach der Enthüllung um seine Karriere, schreit, „Das ist unglaublich, ungeheuerlich, ungeheuerlich“. Dshamilja Kaiser mit brodelndem Mezzosopran als wütend aufgebrachte, nachdenkliche und zunehmend verwirrte Lisa und Will Hartmann mit scharf akzentuierendem Tenor als Walter bringen die Ängste des Ehepaares, das nach 15jähriger Ehe und den Geständnissen Lisas über ihre Vergangenheit vor den Trümmern ihrer bürgerlichen Existenz steht, eindringlich zum Ausdruck. Aber ist Marta nicht umgekommen? Lisa und Walter planen einen Neuanfang und gehen zu einem Ball auf dem Schiff. Dort bestellt die unbekannte Passagierin einen Walzer, den Martas Verlobter Tadeusz (der Bariton Markus Butter) bei einem Konzert für einen der Kommandanten in Auschwitz spielen sollte. Lisa sieht die Situation vor sich, sieht, wie die SS-Männer Tadeusz‘ Geige zerstören und ihn abführen, weil er statt des geforderten Walzers die Chaconne von Johann Sebastian Bach spielte. Die vielfach in extremen Figuren erlebte Nadja Stefanoff ist eine vorzügliche Wahl für die Marta und setzt deren hohe Gesangslinien mit Würde und Selbstbewusst um. Weinberg hat die Zeitebenen und die Instrumentation gut getrennt, lässt sie auch verschmelzen, die Celesta für Marta, Xylophon, Marimba und großes Schlagwerk für das Pochen in den Ohren der zu Tode verängstigten KZ-Insassen, Trompeten und Posaunen für die Appelle der Kommandanten und schließlich die Walzer, deren Stimmung ständig umzukippen droht und die wie eine Referenz an Weinbergs Freund und Förderer Schostakowitsch klingen. Roland Kluttig und die Grazer Philharmoniker bringen die Orchestrierung, die suggestive Kraft der Musik und die Zitate von Beethoven bis Mahler, vom Jazz, Chanson und Schlager bis zu „Oh, Du lieber Augustin“ und natürlich der Bach-Chaconne plastisch zur Geltung und lassen nie den Eindruck plakativer Filmmusik entstehen  (weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.)Rolf Fath

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Die Produktion ist nun (2022) aus als DVD erschienen: Im weißen Einheitsraum mit leeren Regalen, zahlreichen Schubladen und vielen Türen im hinteren Bereich, wo es zu den Schiffskajüten geht (Bühne: Etienne Pluss), wird eine alte Frau, die stark der vor wenigen Wochen kurz vor ihrem 99. Geburtstag verstorbenen Zofia Posmysz ähnelt, von der Vergangenheit eingeholt. Es ist ein Raum, in dem Gegenwart und Vergangenheit unmerklich ineinanderfließen: Auf der Schiffsreise nach Brasilien erkennt die einstige KZ-Aufseherin Lisa in einer Mitreisenden die tot geglaubte Gefangene Marta. Lastende Erinnerungen, ein Gefühl der Schuld und die Angst vor dem sozialen Aus und der unausweichlichen Konfrontation mit ihrem Gatten Walter treiben Lisa um. Für ihn ist ihr Geständnis „ein Alptraum“, Lisa will die „Gespenster der Vergangenheit“ verscheuchen. In Nadja Loschkys Inszenierung, die die Grazer Aufführung von Mieczyslaw Weinbergs Die Passagierin vom 11. und 12. Februar 2021 jetzt auch auf DVD präsentiert (Naxos DVD 2.110713), kriecht das Grauen unmerklich hinter Türen und aus Schränken und Verschlägen hervor, vor allem in der Konzertszene, in der Leichen in den Regalen lagern und Tadeusz in Unterhosen zum Geigenspiel gezwungen wird. Durchwegs beklemmend die Atmosphäre: ob die SS-Leute ihre Hosen auf dem Abort runterlassen und ihren Alltag resümieren, „Die Feinde des Reiches umzubringen, ist ganz einfach, doch wohin mit den Leichen?“, Lisa und Walter am Tisch vor Süßigkeiten sitzen, während die Lagerinsassen in Auschwitz von den „Schornsteinen des Krematoriums“ wissen oder Lisas Beziehung zu Walter langsam Risse bekommt. Die unaufdringliche Inszenierung, die Abhängigkeiten und soziale Geflecht psychologisch auslotet, und die sorgfältig agierenden Dshamilja Kaiser und Nadia Stefanoff sind sehenswert. Durch die stets gegenwärtige Figur der gealterten Lisa erhält die Inszenierung eine zusätzliche Dimension. R. F.