Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Endlich mal Händel ohne Counter

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An Einspielungen von Händels Opera Seria Serse besteht kein Mangel auf dem Musikmarkt, doch die Neuveröffentlichung bei HDB-SONUS dürfte für alle Barockliebhaber, die eine Besetzung der Kastratenpartien mit Mezzosopranen bevorzugen, sehr willkommen sein – kommt sie doch ganz ohne Countertenöre aus. Es handelt sich um eine Live-Aufnahme aus dem Teatro Municipale Romolo Valli in Reggio Emilia vom 29. und 31. März 2019 (HDB-AB-OP-002, 2 CD). Es musiziert die renommierte Accademia Bizantina, die sich unter Ottavio Dantone zu einem der international herausragenden Barockorchester profiliert hat. Der italienische Dirigent steht auch hier am Pult und sorgt für ein farbenreiches Klangbild und eine Affekt-betonte Lesart.

In der Besetzung finden sich einige hierzulande weniger bekannte Namen, doch sind manche Interpreten dennoch auf hohem künstlerischem Niveau und der Entdeckung wert. Das betrifft besonders die Sopranistin Arianna Venditelli in der Titelpartie – eine überraschende Wahl für den persischen König, hat die Sängerin doch eher Partien wie die Figaro-Susanna, die Semele und die Rinaldo-Armida im Repertoire. Dem Helden fällt gleich zu Beginn die berühmteste Nummer des Werkes zu – das Largo genannte “Ombra mai fu“. Die Italienerin singt es sehr kultiviert, mit schlanker Stimme und feinen Verzierungen. Auch der Arie im 2. Akt, „Più che penso alle fiamme del dolore“, gibt sie prägnante Kontur. Eine Glanznummer der Partie ist die Arie„Se bramate d’amar“, bei welcher der beherzte Zugriff und die stilvolle Variation im Da capo imponieren. Und im 3. Akt gibt es die spektakuläre Furienarie („Crude furie“), in welcher Serse noch einmal dramatische Attacke und Bravour zeigen kann. Vom Orchester glänzend unterstützt und  befeuert, kann Venditelli hier brillieren und den virtuosen Schlusspunkt ihrer Interpretation setzen.

Serses Bruder Arsamene ist neben dem Titelhelden die Partie, welche oft mit einem Counter besetzt wird. Hier singt sie die Mezzosopranistin Marina De Liso mit recht anonymer, auch larmoyanter Stimme. In der schmerzlich getragenen Arie „Quella che tutta fè“ und der energisch auftrumpfenden „Sí, la voglio“ im 2. Akt hinterlässt sie den stärksten Eindruck. Ein prominenter Name in der Besetzungsliste ist Delphine Galou als Prinzessin Amastre, die in ihrer Auftrittsarie („Io le dirò“) mit energischem Impetus gefällt. Auch die Arie zu Beginn des 2. Aktes, „Se cangio spoglia“, empfängt ihre Wirkung aus der Vehemenz des Vortrags. Das schwungvolle Solo „Saprà delle mie offese“ beweist ihre Virtuosität in der Ausformung der anspruchsvollen Koloraturgirlanden. Der italienische Bass Luigi De Donato ist ebenfalls oft in den Besetzungen barocker Opern zu finden. Hier wirkt er mit Gewinn als Ariodate mit und überzeugt sogleich in seinem Auftritt, „Soggetti al mio dolore“, mit resonantem Wohllaut. Auch seine Arie im 3. Akt, „Del Ciel d’amore“, gibt er mit Aplomb.

Seine Töchter Romilda und Atalanta, die Sopranpartien des Werkes, nehmen die Italienerinnen Monica Piccinini und Francesca Aspromonte wahr. Erstere lässt in ihrer lebhaften Arie „Va godendo vezzoso e bello“ eine in der Höhe bohrende Stimme hören, der es im Timbre an Qualität fehlt. Dieser Umstand beeinträchtigt auch die lieblich wiegende Arie „Ne men con l’ombre“. Keifend klingt „Se l’idol mio rapir“ am Ende des 1. Aktes, wo man einen dramatischen Duktus erwarten würde. Nicht besser ist es um „È gelosia“ im 2. Akt bestellt. Versöhnlich gerät „Caro voi siete all’alma“, das letzte Solo des Werkes, in welchem die Sopranistin mit sanften Tönen aufwartet. Gute Figur macht Aspromonte in ihrer getragenen Arie „Sì, mio ben“. Den 1. Akt beendet sie kapriziös mit der reizvoll getupften Arie „Un cenno leggiadretto“.  Der junge Bariton Biagio Pizzuti komplettiert die Besetzung als Arsamenes Diener Elviro. Als Buffo-Figur des Werkes macht er viel Effekt mit lautmalerisch verstellter Stimme. Bernd Hoppe

Akustischer Nachklang

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An prominent besetzten Aufnahmen von Händels Dramma per musica Rodelinda ist kein Mangel auf dem Plattenmarkt – jede Neueinspielung muss sich der Konkurrenz stellen und dagegen behaupten. Jetzt veröffentlicht ACCENT einen Live-Mitschnitt vom 9. September 2021 von den Internationalen Händel Festspielen Göttingen (ACC 26416, 3 CDs). Am Pult des FestspielOrchester Göttingen steht mit Laurence Cummings einer der renommierten Dirigenten der Alte Musik-Szene, der das Festival in Göttingen bis 2021 leitete und danach zum Musikdirektor der Academy of Ancient Music berufen wurde. In der einleitenden Ouverture setzt er energische Akzente und nimmt den Mittelteil in straffem Tempo. Den Sängern ist er ein zuverlässiger Begleiter und wartet auch immer wieder mit eigenen Nuancen auf.

Die im Barock-Repertoire erfahrene Besetzung wird angeführt von Anna Dennis in der Titelrolle. Die Sopranistin eröffnet das Werk mit ihrer klagenden Arie „Ho perduto il caro sposo“ und hat gleich danach ein zweites Solo, das erregte „L’empio rigor del fato“. Zu hören ist eine obertonreiche Stimme mit leuchtender Höhe und starker Empfindung im Vortrag. Berührend ist ihr an den vermeintlich toten Gatten gerichtetes „Ombre, piante“ mit innigem Klang und feinen Trillern. Bei den willensstark-mutigen Nummern besitzt die Stimme weniger Qualitäten, so bei „Spietati“ zu Beginn des 2. Aktes mit greller, heulender Höhe. Bei der flehentlichen Bitte Rodelindas, ihr Gatte möge zurückkehren („Ritorna, oh caro“), hört man dann wieder eine überzeugende Interpretation mit reichem Sopranklang, stilvoller Variation des Da capo und innigem Ausdruck. In ihren wunderbaren Duetten mit ihrem Gatten Bertarido am Ende des 2. („Io t’abbraccio“) und 3. Aktes („D’ogni crudel marti“) knüpft sie an diese Qualitäten an und der amerikanische Countertenor Christopher Lowrey, der international zu den namhaftesten Händel-Interpreten gehört, vereint sich mit ihr in Harmonie und Wohllaut. Sein berühmter Auftritt, „Dove sei“, vom Orchester mit einer Sinfonia gewichtig eingeleitet, gehört zu den Standardnummern aller Countertenöre. Lowrey singt sie sehr sensibel und mit weichen schwebenden Tönen. Den 1. Akt beendet er mit dem resoluten „Confusa si miri“, wo sich eine Tendenz zur Larmoyanz bemerkbar macht. Im 2. Akt hat er mit „Con rauco mormorio“ ein melodisches Glanzstück der Komposition, das er mit zärtlicher Tongebung vorträgt, und mit „Scacciata dal suo nido“ eine Gleichnisarie von einer Schwalbe, die ihr Nest verloren hat. Letztere gelingt dem Sänger besonders überzeugend – sowohl im Klang als auch in der Ausformung der Koloraturen und Triller. Gegen Ende des letzten Aktes kommt dann sein cavallo di battaglia mit der Bravourarie „Vivi tiranno“. Hier hat er starke Konkurrenz, denn jeder renommierte Counter hat diese Nummer interpretiert. Lowrey behauptet sich achtbar, trotz eines gelegentlich heulenden Tones, und findet für das Da capo interessante Varianten.

Bertaridos Schwester Eduige ist mit der Mezzosopranistin Franziska Gottwald besetzt, die sich mit der Arie „Lo farò“ einführt und dafür eine strenge Stimme einsetzt. Das muntere „Quanto più fiera“ im 3. Akt klingt gefälliger. Eduiges Verlobter, der Herzog Grimoaldo, ist die Tenorrolle der Oper, hier mit dem Amerikaner Thomas Cooley besetzt, der seine Auftrittsarie, „Io già t’amai“, entschlossen und nachdrücklich vorträgt. Weniger gelingt ihm „Se per te giungo a godere“ mit bemüht klingenden Koloraturen. Das auftrumpfende „Tuo drudo è mio rivale“ ist dann wieder ein überzeugender Moment. Aufgewühlt-erregt ist der Duktus von „Tra sospetti“ im 3. Akt, wo auch Koloraturläufe gefordert sind. Diese gelingen dem Interpreten etwas besser. Am meisten überzeugt die sanft wiegende Arie „Pastorello d’un povero armento“ in ihrer zärtlichen Stimmgebung.

Als dessen Freund Garibaldo ist mit Julien Van Mellaerts ein weiterer Countertenor zu hören, der in seiner Karriere aber auch Baritonrollen interpretiert. Auch hier ist das zu hören. Das kantable „Di Cupido impiego i vanni“ im 1. Akt stattet er mit lyrischem Wohllaut aus. „Sì, sì, fellon“ im 2. klingt entschlossen und viril.

Die Besetzung komplettiert der Counter Owen Willetts als Grimoaldos Ratgeber Unulfo. Die Stimme ist im Klang nicht unangenehm, im Volumen allerdings recht schmal. Auch „Fra tempeste funeste“ im 2. Akt klingt zaghaft. Zu Beginn des 3. Aktes fällt ihm die zauberhafte Arie „Un zeffiro spirò“ zu, die ihm mit seiner sanften Stimme besonders liegt.

Insgesamt hinterlässt die Live-Aufnahme unterschiedliche Eindrücke und dürfte eher für jene Musikfreunde, die die Aufführung erlebt haben, eine willkommene Erinnerung sein (05. 06. 22). Bernd Hoppe

Bizarre Stratosphären

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Als Paradiesvogel mit spektakulären Roben und Schuhen erscheint Samuel Mariño auf seiner aktuellen CD – nun bei der renommierten Decca (485 29453), nachdem die Debütplatte des Sängers noch bei Orfeo herausgekommen war. Sein extravagantes Outfit ist durchaus berechtigt, denn der Titel des Recitals lautet sopranista – eine seltene Stimmgattung von exotischem Reiz, die im Vergleich zu den weit verbreiteten Countertenören Ausnahmestatus besitzt. In Zusammenarbeit mit seiner Mentorin, der bekannten Sopranistin Barbara Bonney, hat der Solist mehrere Arien ausgewählt, die noch nie von einem männlichen Sopranisten eingespielt wurden. Dazu gehört Cherubinos populäre Arie „Voi che sapete“ aus Mozarts Le nozze di Figaro, welche die Programmfolge eröffnet. Es ist eine träumerische, geradezu zärtliche Interpretation, vom La Cetra Barockorchester Basel delikat begleitet. Der Dirigent Andrea Marcon ist eine bekannte Größe im Barockfach und beweist auch in diesem Repertoire seine Kompetenz. Mozart ist mehrfach vertreten auf der CD – nach eigenen Angaben hat dieser Komponist den Sänger sogar zu seinem Album inspiriert. Der Hirte Aminta in Il re pastore ist eine von den wenigen Kastratenrollen des Salzburger Meisters. Dessen Arien „Aer tranquillo e di sereni“ (1. Akt) und „L’amerò, sarò costante“ (2. Akt) sind in ihrem Charakter sehr verschieden – erstere beherzt und mit munteren Koloraturgirlanden, was dem Sänger Gelegenheit gibt, seine Virtuosität auszustellen und mit Noten in der Extremhöhe zu brillieren, die zweite von innigem Melos und schwärmerischem Ausdruck.

Auch die bekannte Arie des Sesto, „Deh per questo istante solo“, aus La clemenza di Tito wird hier erstmals von einem male soprano interpretiert und mit großer Innigkeit gesungen. Nicht fehlen darf der Sifare – auch dieser eine Kastratenpartie – aus dem Mitridate mit seiner Arie „Lungi date, mio bene“. In diesem Glanzstück Mozartscher Charakterisierungskunst setzt der Interpret einen Höhepunkt seiner Anthologie.

Neben Mozart hat Mariño Musik von Gluck, Cimarosa und Joseph Bologne ausgewählt – von ersterem die sattsam bekannte Arie des Orfeo „Che farò senza Euridice?“, doch hier in einer seltenen Version aus Le feste d’Apollo. Komponiert wurde sie anlässlich einer aristokratischen Hochzeit in Parma und uraufgeführt von dem Kastratensopran Giuseppe Millico. In dieser Fassung hat das Stück keine tragische Dimension, bezieht seinen Reiz eher aus der feinsinnigen Ausformung der musikalischen Linien.

Cimarosas über 80 Opern sind heutzutage nahezu vergessen, nur die Tragödie Gli Orazi e i Curiazi hat überlebt. Daraus singt Mariño die Arie des Curiazio „Resta in pace“ – ein melodisch reizvolles cantabile, welches er sanft ausbreitet. Oreste schrieb der Komponist für die Königin von Neapel. Mit der Arie des Titelhelden „Cara parte del mio core“, einer Weltpremiere, endet die Anthologie mit jener Aufsehen erregenden Bravour, die man mit diesem Sänger in Verbindung bringt. Vorher gab es noch Ausschnitte aus Bolognes L’Amant anonyme, ebenfalls in Weltersteinspielungen. Es ist eine von seinen sechs Opern, welche die Zeit überdauert haben, handelt von der schönen Witwe Léontine, die anonyme Liebesbriefe erhält. Deren Arien „Son amour“ und „Amour devient moi propice“ erklingen nach der lebhaften Ouverture. Beide sind von dramatisch-bravourösem Zuschnitt und stellen das virtuose Vermögen des Interpreten noch einmal ins beste Licht. Bernd Hoppe

Mit Star-Counter

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Der römische Senator Cecilio in Lucio Silla ist eine von Mozarts berühmten Kastratenpartien. Bei der Uraufführung des Dramma per musica 1772 im Teatro Regio Ducale von Mailand hatte sie der gefeierte Venanzio Rauzzini gesungen. Wegen ihres extremen Stimmumfanges ist sie von besonders hohem Anspruch und wurde und wird daher fast immer nur von Mezzosopranen interpretiert. In der ERATO-Neuaufnahme gibt es den Glücksfall, dass der renommierte Countertenor Franco Fagioli in der Lage ist, die hohen Anforderungen der Rolle zu bewältigen. Die Einspielung entstand im Juni 2021 in Boulogne-Billancourt im Rahmen einer europäischen Aufführungsserie und wurde nun von ERATO auf zwei CDs veröffentlicht (0190296377341). Nach der Version unter Nikolaus Harnoncourt ist es erst die zweite in historischer Aufführungspraxis. Am Pult des Insula orchestra steht Laurence Equilbey, die das Werk des jungen Komponisten mit gebotener Frische und in farbiger Vielfalt auffächert. In der dreiteiligen Ouverture gelingt ihr die Balance zwischen graziösem Duktus und dramatischem Aplomb. Die Musiknummern begleitet sie umsichtig und stets die Belange der Sänger beachtend.

Fagioli als Cecilio ist das Ereignis der Aufnahme. Phrasierung und Technik sind makellos, sein unverwechselbares Timbre und die expressive Formung der Rezitative machen ihn zu einer starken Persönlichkeit. Stupend ist die Agilität in den horrend schwierigen Soli, beginnend mit dem Auftritt „Il tenero momento“. Hier gilt es, enorme Unterschiede zwischen baritonaler Tiefe und sopraniger Höhe zu überwinden, zudem virtuoses Zierwerk zu meistern. Die Arie zu Beginn des 2. Aktes, „Quest’improvviso tremito“, ist von Beginn an eine Herausforderung an dramatisches Gestaltungsvermögen und vehement herausgeschleuderte Töne als Zeugnisse von Raserei. „Pupille amate“ im 3. Akt als inniges Liebesbekenntnis lässt die Schönheit und Sinnlichkeit der Stimme zur Wirkung kommen. In diesen Nummern von unterschiedlichem Zuschnitt behauptet sich Fagioli eindrucksvoll als nach wie vor führender Interpret in diesem Genre.

Profilieren kann sich auch Alessandro Liberatore als Titelheld, der von Mozart etwas stiefmütterlich bedacht wurde und nur zwei Arien zu singen hat. In den meisten Einspielungen fällt die Interpretation dieser Figur etwas blass aus. Hier aber gefällt der Sänger mit seinem markanten, männlich timbrierten Tenor, der herrscherliche Autorität verströmt. Gleich in der Auftrittsarie, „Il desio di vendetta“, wird das in der Vehemenz der Stimmführung spürbar. Auch „D’ogni pietà“ im 2. Akt imponiert durch den erregten Duktus. Und er führt autoritär das pulsierende Terzett mit Giunia und Cecilo am Ende des 2. Aktes an.

Die drei Sopranpartien des Werkes dominiert Olga Pudova als Cecilios Braut Giunia, die dramatisches Potential erfordert. Die erste Arie, „Dalla sponda tenebrosa“, gerät in der Tongebung etwas larmoyant, im Schlussteil aber furios auffahrend. Ihr fällt das einzige Duett der Oper zu – mit Cecilio beendet sie den 1. Akt mit „D’Eliso in sen m’attendi“ in schönster stimmlicher Harmonie. Im 2. Akt hat sie mit „Ah se il crudel periglio“ ihr Bravourstück, das ihr schier endlose Koloraturgirlanden abverlangt. Hier wächst die Sängerin mit geradezu unwirklicher Virtuosität über sich hinaus. „Fra i pensier“ im letzten Akt ist nicht weniger anspruchsvoll, weil hier eine verschattete, tragische ombra-Stimmung verlangt wird.

Chiara Skerath nimmt die zweite Rolle en travestie wahr – Cecilios Freund Lucio Cinna. Die Stimme ist klar, aber nicht weiß, der Vortrag beherzt, doch immer kultiviert. Mühelos werden die Koloraturläufe absolviert. Mit leuchtenden Tönen und delikaten Verzierungen wartet sie bei „De’ più superti il core“ im letzten Akt auf.

Ilse Eerens komplettiert das Sopran-Trio als Sillas Schwester Celia. Das Timbre ist in seinem melancholischen Schimmer reizvoll getönt, brillant gelingen die aufsteigenden staccato-Skalen. Mit der munteren Cavatina „Strider sento la procella“ eröffnet sie den 3. Akt und kann hier mit feinen Koloraturen und Trillern brillieren. In drei Szenen kann sich Le jeune choeur de Paris (Einstudierung: Richard Wilberforce) mit engagiertem Gesang bewähren. Bernd Hoppe

Victorin Joncières'“Lancelot“

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Dank der üppig bestückten Leibücherei in meinem kleinen Heimatort nahm die Artus-Sage in meiner jugendlichen Phantasie einen besonderen Platz ein, der durch die ersten amerikanischen Cinemascope-Filme im örtlichen Kino (Stuhlmachers Lichtspiele sonntags nachmittags mit strenger Alterskontrolle) einen zusätzlichen visuellen Glamour erhielt.

Abgesehen von meiner puerilen Begeisterung für Ritterspiele und Tafelrunde war es die Figur des Lancelot in seinem Zwiespalt zwischen Liebe zu Arthus und Liebe zu dessen Frau Guinever, die mich am meisten beschäftigte, vielleicht auch wegen des kleinen Quentchens an homosexueller Spannung zwischen den beiden „besten Freunden“. Was natürlich von Hollywoods Filmmaschienerie total negiert wurde. Dennoch – wenn (wie auf dem Filmplakat oben)  Robert Taylor seine Lippen in die von Ava Gardner tauchte und Mel Ferrer dem grämlich zusah konnte man sich schon Gedanken machen (ich jedenfalls). Erst modernere Verfilmungen zeigen die drei vereint, wenngleich ostentativ angetrunken, im breiten Königsbett, um der Erbfolge nachzuhelfen. 

 

Victorin Joncières/ Foto Nadar/BNF Gallica

Operalounge-Lesern wird meine Begeisterung für die französische Grand-Opéra nicht entgangen sein. Und sie können vielleicht nachvollziehen, dass die Ankündigung einer Lancelot-Oper von Victorin Joncières im fernen Saint-Etienne (gleich neben Lyon) im Mai 2022 mich aufschreckte, wenngleich ich den wenigen Aufführungen nicht beiwohnen konnte. Zumindest versorgten mich tüchtige Freunde mit einer klanglich ordentlichen Hosentaschenaufnahme, sah sich das Theater doch nicht in der Lage, eine Hausaufnahme herauszurücken. Oder für eine Radioübertragung zu sorgen. Oder den an diesen Opern sonst so interessierten Palazetto Bru Zane zu einer CD zu bewegen, nachdem ebendort bereits der hochinteressante Dimitri Joncieres erschienen war. Domage! Dafür lieber die x-te unnötige Saint-Saens-Oper oder Messager-Operette…

Das besonders dürftige Programmheft zur Aufführung in Saint-Etienne (nicht einmal mit Libretto!) sagt so gut wie nichts über die Oper selbst und dafür sehr viel über die Mitwirkenden. Und auch in den regionalen Kritiken finden sich nur die bekannten Daten zur Entstehung 1900 und das übliche Blumige (les Francais…).

Also packte mich mein Ehrgeiz als Opernfan eben diesen Genres, das Werk als eines in einer erstaunlich langen Kette von Lancelot-Opern vorzustellen. Erst jetzt lernte ich, dass es vor allem im späten 19. Jahrhundert recht viele Vertonungen des Stoffes gab und sich in unserer Zeit auch einige namhafte Komponisten wie Paul Dessau (1969), Tancred Dort (1985), Friedrich Burkhard (1962), Boris Vian (1998), Georges Delerue (1957), sogar Francesco Malipero oder Roger Sessions damit befasst hatten.

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Jean Arriet-Bartet (* 13. Dezember 1862 in Gurs; † 1943) hier als Markhoël in Joncieres „Lancelot“1900/ Ipernity. 

Bis 1900 gibt es hingegen erstaunlich viele Lancelot-Opern: Lanzelot vom See von Adolf Emil Büchner, Uraufführung 1856 [nur Ouvertüre]; Lancelot du Lac „Drame musical en trois actes et cinq tableaux‘ von Augusta Mary Anne Holmes; Entstehung um 1870/75 [unveröffent­lichtes Manuskript]; Lancelot von Theodor Hentschel; Uraufführung 30.10.1878, Bremen. Guenever von Charles Hubert Hastings Parry; Entstehung 1884-1886. Eliane „Dichtung in drei Akten nach Tennyson’s Königs-Idyllen‘ von Ödön Peter Jözsef von Mihalovich Hans Herrig; Uraufführung 16.2.1908, Budapest. Guinevere, or Love Laughs at Law von Harry Thomas Pringuer. Lanzelot „Heroische Oper in drei Aufzügen“ von Reinhold Ludwig Herrran 1891, Braunschweig. Etaine „Opera-Legende en 4 actes et 6 tableaux“ von Herman Bemberg, Uraufführung 5.7.1892, London. Lancelot du Lac „Drame lyrique en quatre actes et six tableaux“ von Victorin de loncieres id. i. Felix- Ludger Rossignol] Uraufführung 7.2.1900, Paris. Lancelot von Francis Burdett Money-Coutts Entstehung 1889. Launcelot Oper in 3 Akten von Isaac Manuel Francisco Albeniz/ Fragment 1902-1903. (…)  (nach Michael Waltenberger/ Mittelalterrezeption im Musiktheater, s. nachstehend)

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Der Germanist Michael Waltenberger hat den Topos des Lancelot in der Oper in einem Aufsatz (in Mittelalterrezeption im Musiktheater: Ein stoffgeschichtliches Handbuch, De Gryuter 2021) untersucht und schreibt dort: Die Lancelot-Opern des neunzehnten Jahrhunderts konzentrieren sich in der Mehrzahl auf eine ganz bestimmte Episode aus dem weiten Handlungskreis um Lancelot, nämlich auf die krisenhafte Komplikation seiner heimlichen Beziehung zu Ginover durch die Liebe der Jungfrau von Escalot, die von ihm abgewiesen wird und aus Kummer stirbt (…).

Der Germanist Michael Waltenberger/ Autor des nebenstehenden Artkels/ Professor für Germanistische Mediävistik an der Ludwig-Maximilian-Universität München (hier Einzelheiten zur Person)

Noch vor dem mittelalterlichen Prosaroman wird der Lancelot-Stoff durch einen Versroman Chretiens de Troyes schriftliterarisch manifest: Der um 1170 entstan­dene Chevalier de la charrette exponiert bereits das dilemmatische Liebesdreieck zwischen dem Königspaar und dem besten Ritter der Tafelrunde. Nur wenige Jahr­zehnte später entsteht dann der französische Lancelot en prose, der nicht nur die Geschicke des Helden zu einer vollständigen Biographie erweitert, sondern diese auch noch in eine Gesamtchronik des Artusreichs einbettet und durch die Integra­tion des Gralsstoffs vor einen heilsgeschichtlichen Horizont rückt (… und) wird schon bald durch vorgeschaltete Teile (Estohe del Saint Graal – Estoire de Merlin) zum Lancelot-Gral-Zyklus erweitert. Dutzende von Manuskripten, dann auch eine Reihe von Drucken überliefern den Roman kontinuierlich vom dreizehn­ten bis zum beginnenden sechzehnten Jahrhundert; vielfältige Varianten entste­hen durch Bearbeitungen, Kompilationen und durch Kontamination mit anderen höfisch-ritterlichen Stoffen. Schon im Mittelalter weitet sich die Rezeption durch Ausläufer in mehrere europäische Literaturen aus.(…)

Die Konjunktur dieser Episode als Opernstoff ist ein Epiphänomen ihrer breiten zeitgenössischen Popularität und der reichen literarischen wie bildkünstlerischen Rezeption ihrer Bearbeitung durch Alfred Lord Tennyson (1809-1892/ 1833 und revidiert 1842 Ballade The Lady of Shalott nach einer italienischen Novellenversion des dreizehnten Jahrhunderts). Auf Tennysons Idylle basieren unter anderem die Libretti der Lancelot- Opern von Charles Parry (entstanden 1884-1886) oder auch Victorin de Joncieres (UA 1900 … u. a, ).

In vielen Fällen hat allerdings weniger Tennysons differenzierte romantische Psychologisierung (…) inspiriert, sondern eher das dra­maturgisch hochwirksame Plot-Gerüst. So reichern etwa Edouard Blau und Louis Gallet in ihrem Text für den überzeugten Wagnerianer Joncieres (1839-1903) das Geschehen mit Figuren und Handlungselementen aus anderen Prätexten an und rücken zugleich die Polarität zwischen den beiden Frauenfiguren behutsam der antithetischen Grundkonstellation des Tannhäuser (-> Dichter und Sänger) näher (Joncieres 1899). Musikalische, szenische und strukturelle Annäherungen an Richard Wagner sind selbstverständlich schon vor Joncieres zu finden. (…) (Übrigens gibt es im mittelalterlichen Lancelot en prose zwar keine erotische Spannung zwischen Lancelot und Artus, wohl aber eine enge homosoziale, mit homoerotischen Obertönen versehene Beziehung zwischen Lancelot und seinem besten Freund, dem König Galahot.). Soweit Michael Waltenberger

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Victorin Joncieres „Lancelot“ in Saint-Etienne/ Szene/© Cyrille Cauvet

Seit ihrer Uraufführung am 7. Februar 1900 an der Pariser Oper geriet Victorien Joncieres Lancelot in Vergessenheit, ebenso wie alle seine Werke wie Le Sicilien (1859), Sardanapale (1867), Les derniers Jours de Poimpeji (1869), La Reine Berthe (1878) und Le Chevalier Jean (1885), ohne Dimitri (1876, s. operalounge) zu vergessen, der dank der 2014 erschienenen CDs ein breiteres Publikum gefunden hat, natürlich auf Initiative des Palazetto Bru Zane.

Wie andere Ende des 19. Jahrhunderts entstandene Werke wie Sigurd von Ernest Reyer (1884) verbindet sich in Lancelots Musikstil ein ausgesprochen französisches Flair mit Wagner-Reminiszenzen, die sowohl in der Musik als auch in der Wahl der Handlung präsent sind. Wenn die Eleganz des Beginns von Akt II sie geschickt mit einer feinen verdischen Charakterzeichnung verbindet, bringt die Ballettpantomime von Akt III einen ohrwurm-artigen und farbigen Walzer mit einer spanischen Note, die seit Carmen (1875) als Modell in der französischen Musik präsent ist. Dieses Ballett, dessen brillante Abfolge von sechs kurzen Szenen – kaum mehr als zwanzig Minuten – Applaus garantiert, verleiht dem Geschehen Nachdruck (man denke an Verdis Don Carlos mit seinem unverzichtbaren Handlungsbalett La Peregrina), während sie die musikalische Üppigkeit unterstreicht, die in dieser Komposition noch vor Pelléas et Mélisande vorhanden ist, sowohl in den kraftvollen Chorpartien als auch in ausgiebigen Glockenschlägen (am Ende der beiden Szenen des ersten Akts), die wiederum die große romantische Orgel für ein Finale im Kloster auf eine religiöse Hymne im Gounod-Stil assoziieren (erste Szene des vierten Akts).

Victorin Joncieres „Lancelot“/ die Starsopranistin der Pariser Oper, Marie Delna (Paris, 3 April 1875 – Paris, 24 July 1932), sang die Guinèvre der Uraufführung/ Nadar/ BNF Gallica

Die Oper (wieder eine heroische in der Rückbesinnung auf glorreiches Mittelalter in der Folge des Deutsch-Französischen Krieges und der demütigenden Niederlage für Frankreich) erzählt von der fatalen Liebe der Königin Guinèvre, der Gattin von König Arthus, zu dessen Freund und Mitstreiter Lancelot. Zwischen Markhoël, dem hasserfüllten, heimtückischen Ritter, der dem König diese Untreue verrät, dem reinen jungen Mädchen, das auch in Lancelot verliebt ist (Elaine), dem Vater von Elaine (der Graf Alain de Dinan), einem weisen, edlen und treuen Diener des König Artus, den anderen Rittern der Tafelrunde und den ausladenden Zeremonien fehlt keine Zutat für eine gut konstruierte und effektvolle Handlung. Wie es Tradition war, füllt, während Lancelot schläft, eine große Ballettpantomime, „Der Feensee“, wie bei Rimskys Mlada fast den ganzen 3. Akt. Diese ist in neun Teile geteilt. Die Dame vom See (eine Art Oberfee und mythische Gottheit, aus den diversen Filmen bekannt durch ihre weiße Hand, die aus dem Wasser heraus Arthus das Schwert Excalibur übergibt und dieses nach dessen Tod nach einem spektakulären Sturz ins Wasser wieder an sich nimmt) befehligt die Elfen, die Irrlichter – ein bekannter Topos, oft auf die Bühne gebracht und von Petipa und der Taglioni betanzt (vergl. Le Lac du Fées Offenbachs und anderer).

Die Musik von Victorien Joncieres zeigt viele Einflüsse, zum Beispiel von Wagner, dessen glühender Verteidiger in Frankreich Joncières war. Es gibt ein ständiges Leitmotiv und die Verwendung von dunklen und kriegerischen Blechbläsern bei den Auf- und Abtritten von König Artus. Joncieres´ Musik bezaubert (allerdings ohne dass seine Melodien im Gedächtnis bleiben) durch ihre Leichtigkeit und ihre persönliche Harmonik. So bei der Arie der Guinèvre im 1. Akt „Amour, cruel amour“, die von einem schönen Duett mit Lancelot gefolgt wird. Dann ein Duett zwischen Guinèvre und Elaine, die sich im 4, Akt in ein Kloster zurückgezogen haben, wo sich die Geständnisse ihrer Liebe bald in einen schweren Konflikt verwandeln, als sie erkennen, dass sie beiden denselben Mann lieben. Die Orchestrierung ist reich und zeigt die fachliche Fähigkeit des Komponisten, der in einer Epoche und einem Ästhetizismus, die vielleicht schon überholt waren, verankert war.

Victorin Joncières „Lancelot“ in Saint-Etienne/ Szene/© Cyrille Cauvet

Lancelot erscheint vor allem als die Synthese eines halben (vergangenen) Jahrhunderts französischer Oper, weil sich hier die Klänge des Prophète von Meyerbeer und der durch den französischen Geschmack gedämpften Wagnerismus in einer Oper begegnen, die auf Arien verzichtet, die aber – spät aber doch – eine Ballett-Pantomime, würdig eines Ambroise Thomas (oder auch Verdi) enthält. Trotz desselben Sujets ähnelt die Musik von Lancelot kaum der des Roi Arthus von Chausson (1903), aber, ein mittelalterliches Sujet verpflichtet eben, man hört viele Trompetenstöße; und die schönsten Passagen sind zweifellos die verschiedenen Duette zwischen den Protagonisten.

Wäre Lancelot dreißig Jahre früher geschrieben worden, hätte er sicher einen größeren Erfolg bei Publikum und Kritik gehabt als nur die 7 Vorstellungen, die ihm im Februar 1900 im Palais Garnier zugestanden wurden (wobei die große Marie Delna damals als Guinèvre für Furore sorgte), übrigens in demselben Monat der Uraufführung von Louise von Gustave Charpentier an der Opéra-Comique, einem weitaus zeitgemäßeren Werk, das sofort überall bekannt wurde. Lancelot ist jedoch nicht weniger eine Oper, die eine Wiederentdeckung sehr verdient. Aber keine CD-Ausgabe ist für diese letzte Oper von Joncières ist in Sicht.

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Victorin Joncières „Lancelot“ in Saint-Étienne/ Szene/© Cyrille Cauvet

Zum Komponisten Victorien Joncieres schreibt Alexandre Dratwicki, künstlerischer Direktor des Palazzetto Bru Zane, in der CD-Ausgabe zu Joncieres Oper Dimirtri:  Das Talent von M. Joncière hat eine bemerkenswerte und seltene dramatische Qualität. Im Gegensatz zu einigen der heutigen Komponisten hat er das Verdienst, Opern zu schreiben, die nicht so sehr malerisch sind – indem er Musik verwendet, um eine Szene zu setzen, ein Dekor zu schaffen –, sondern kraftvoll dramatisch. Er hat Meyerbeer und Verdi sehr bewundert und ihre Werke ausgiebig studiert, was für ihn von großem Wert war. Seine Rezitative sind immer gut vorgetragen, sein Orchester ausdrucksstark, seine Melodien immer auf die Bühnenbewegung abgestimmt. Die Absichten des Autors werden getreu und überzeugend wiedergegeben. Wenn ihm eine gute Handlung zur Verfügung gestellt wurde, hat M. Joncières es nie versäumt, sie gut zu verarbeiten, und wenn das Libretto starke Kontraste erfordert, wie zum Beispiel bei Dimitri, hat jeder der verschiedenen Akte seine eigene spezifische Färbung. Der erste ist malerisch, der zweite lebhaft und hell, der dritte und vierte dramatisch, und so vermeidet der Autor zu seinem großen Verdienst Monotonie; schließlich drückt der fünfte Akt Glück und Erfolg aus, die bald zerstört werden, wenn die Katastrophe eintritt. Diese Kunst, die Musik so umzuwandeln, dass sie mit den verschiedenen Tableaus und Szenen des Dramas in Einklang steht, fehlte Hálevy und Félicien David vollständig; sie fehlte bei Wagner, und unglücklicherweise hatte M. Joncières sie verloren, als er anfing, La Reine Berthe zu komponieren. Ich denke, es gibt sehr wenige Opern, in denen der Charakter und die Farbgebung der verschiedenen Tableaus so gut definiert sind (wie bei Dimitri). Dies ist eine der herausragenden Qualitäten von Meyerbeers Les Huguenots und L’Africaine, Berlioz‘ La Damnation de Faust, Gounods Faust (viel Abwechslung, aber sehr uneinheitlich), Reyers La Statue und Massenets Le Roi de Lahore.
(Georges Servières, „La musique française moderne: Victorin Joncières“, La Fantaisie artistique et littéraire, 2. Oktober 1880.)

Joncières „Lancelot“/ Mll.e Mante als Guinèvre/ Atelier Nadar/BNF Gallica

Ludger Rossignol, besser bekannt als Victorin (de) Joncières, wurde 1839 in Paris geboren, wo er 1903 starb. Er studierte zunächst Malerei im Atelier von François-Édouard Picot, wandte sich dann aber der Musik zu und gelangte ans Pariser Konservatorium, wo er an Elwarts Harmonieklasse teilnahm und an Lebornes Unterricht in Fuge und Kontrapunkt teilnahm. Aber er verließ diese Institution vorzeitig, anscheinend nachdem er sich mit letzterer über Richard Wagner zerstritten hatte, dessen Avantgarde-Theorien er viele Jahre lang verteidigen sollte. Ende der 1850er Jahre begann er eine Karriere als Komponist, insbesondere mit Schauspielmusik für Shakespeares Hamlet, dann eine erste Oper, Sardanapale, die 1867 uraufgeführt wurde. Eine weitere Oper, La Dernier jour de Pompéi, wurde 1869 im Théâtre-Lyrique aufgeführt, war aber trotz einiger schöner Momente, denen die Aufführungen nicht ganz gerecht geworden zu scheinen, weder ein Publikums- noch ein Kritikererfolg. Die Kritik empfand vor allem den Umgang des Komponisten mit dem Orchester als zu simpel. So begann Joncières ab 1870 in seiner Symphonie romantique mit neuen Instrumentalklängen zu experimentieren – Experimente, die in seiner Oper Dimitri, 1876 an Vizentinis Théâtre Lyrique National uraufgeführt, einen durchschlagenden Erfolg zeitigten, 1890 dann auch an der Opéra-Comique.

Der Musikwissenschaftlerund Prinzipal des Palazetto, Alexandre Dratwicki (Palazetto Bru Zane)

Das teilweise Scheitern sowohl von La Reine Berthe (Pariser Opéra, 1878) – wahrscheinlich erklärt durch ein zweitklassiges Libretto und eine unterdurchschnittliche Aufführung – als auch von Le Chevalier Jean (Opéra-Comique, 1885) trübte seinen Ruhm. Von dieser schwierigen Zeit erholte sich Joncières nicht. Nach Lancelot (Pariser Opéra, 1900) gab er das Komponieren offiziell auf. Letzteres Werk, das zehn Jahre zuvor komponiert worden war, erschien ihm verspätet, um angemessen gewürdigt zu werden, da es in den 1890er Jahren so viele Veränderungen in der Musikästhetik gegeben hatte. Zu Joncières‘ Werken gehören auch eine unvollendete Symphonie, eine dramatische Kantate mit dem Titel La Mer, mehrere Kunstlieder (mélodies) und einige anspruchslose Genrestücke. Er arbeitete zudem als Journalist: Von 1871 bis 1900 war er Musikkritiker von La Liberté, in dessen Kolumnen er seine Freunde unterstützte, darunter César Franck und Emmanuel Chabrier.

Victorin Joncières „Lancelot“/ zeitgenössische Zeitungsillustration zum Feen-Ballett/ BNF Gallica

Unter den Opernkomponisten ist Joncières insofern außergewöhnlich, als er sich sofort dieser komplexen und anspruchsvollen Gattung zuwandte, ohne zunächst Orchester- oder Kammermusikwerke zu komponieren. Er scheint schon sehr früh seine Berufung zu ernsthaften Werken mit monumentalen (insbesondere mittelalterlichen) Sujets gespürt zu haben. Er komponierte keine Opéras-comiques im eigentlichen Sinne, und alle seine Werke, selbst diejenigen, die nicht in den großen Theatern aufgeführt wurden, waren mit der gleichen Üppigkeit und Pracht konzipiert wie jene, die für die Pariser Opéra bestimmt waren. (…) Alexandre Dratwicki/ Übersetzung Daniel Hauser

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Und schließlich noch eine repräsentative Kritik zur Uraufführung an der Pariser Oper vom 28. Februar 1900 in der Pariser Revue musicale der Revue des deux mondes: Nichts fehlt dem Lancelot von M. Joncières, was einmal eine Oper ausmachte, und sogar eine sehr schöne Oper. Diese sehr ordentliche Arbeit entspricht durchaus, wenn nicht sogar vollkommen, dem Geist und Genie zahlreicher früherer unvergänglicher Meisterwerke. Ich spreche nicht von den wagnerianischen Meisterwerken: Als einer der ersten, die Wagner verstanden und bewunderten, blieb Joncières einer der Letzten und Entschlossensten, die ihn absolut nicht imitierten. Darin hatte er übrigens zweimal recht, und das – vor allem in dieser Angelegenheit – war nicht jedem gegeben.

Victorin Joncieres „Lancelot“/ Starbesetzung der Urauffführung 1900 – extra ausgewiesen das große Ballett „Le Rêve de Lancelot“/BNF Gallica/ Dank an den Palazzetto Bru Zane

Abgesehen vom wagnerianischen Element ist alles Nötige für einen Erfolg im Lancelot vorhanden. Es gibt eine Fülle an Melodien und das Cantabile, ohne falsche Scham, blüht. Tenor, Mezzosopran und Bariton: „sie singen noch“ und einige ihrer Melodien sind nicht zu verachten. Die allgemeine Tonalität, wie die Melodik, hat nichts an sich, das missfällt. M. Joncières hat Sinn für „reiche Töne“. Er gefällt sich – gelegentlich ein wenig banal – in der Opulenz von G-, Des und gis-Moll.

„Es gilt zu singen, um zu singen“, sagte Grétry, „und zu singen, um zu sprechen.“ In keiner dieser beiden Bedingungen könnte man sagen, dass es bei M. Joncières schlecht singt. Eindrucksvoll bezüglich der Stimme, ist seine Musik es nicht weniger bezüglich des Wortes. Überall im Lancelot fällt die Betonung, wo und wie sie sein soll. Und das Orchester klingt ebenfalls nicht anders als es soll, und nach der üblichen Reihenfolge antworten einander Oboe und Klarinette. Die Rhythmen wechseln genauso erwartungsgemäß wie die Klangfarben, und bald folgen Staccato und Legato aufeinander, bald ist ein Violoncello-Solo gefolgt von einem Hornstoß.

Noch einmal, nichts ist hier falsch. Ritterliche und königliche Pracht, Umzüge und Chöre ohne Begleitung, Fanfaren auf der Bühne und Glockenspiele im Orchester. De profundis in der Kulisse und Feenballett mit Walzer, nichts wurde von dem sehr gewissenhaften Kompositeur an diesem vollständigen Werk vernachlässigt. So reproduziert Lancelot mit Genauigkeit das was früher eine „grand opéra“ war und was man heute noch so nennt.

Alles das müsste, wie es scheint, exzellent sein, und doch ist es nur passabel. Warum? Weil der Sinn und das Geheimnis des Genies in der musikalischen Formel fehlen, was sage ich, in der Form selbst. Es liegt nicht am Formalen, weil unterschiedliche, um nicht zu sagen, widersprüchliche Formen, die eines Orpheus und eines Lohengrin beide schön sein können. Weil einander äußerlich sich ähnelnde Werke im Grunde erstaunlich unähnlich sind. Weil ein einmaliges Ideal, zum Beispiel das der französischen Oper und des wagnerianischen Operndramas, Meyerbeer zu seinen Hugenotten oder zum Prophet inspiriert hat, und eben M. Joncières zu Lancelot, Wagner zu seiner Tetralogie oder zum Tristan, und M. d’Indy zu Fervaal.

Joncières „Lancelot“/ Albert Vaguet war der Titelsänger der Uraufführung/ Programnmheft/Libretto/ Dank an den Palazzetto Bru Zane

Die Motivation!  Das ist in der Musik vor allem die Tatsache, dass sie magisch, mysteriös, einmalig und in ihrer Wirkung auch dem Verstand unzugänglich ist. Unter den Äußerlichkeiten entzieht sie sich ständig; sie entflieht den armseligen Forschern, die wir sind, und ihre ewige Flucht, die den Reiz unserer Forschung macht, macht auch ihre Unsicherheit und vielleicht das Nichts.

Ein Schulwerk hat man Lancelot genannt, und das ist nicht schlecht gesagt, unter der Bedingung, dass die Oper nicht ein Werk ohne Erfahrung, noch weniger der Unkenntnis ist, sondern eines von Tradition und Respekt, ein Werk, das nicht im Gegensatz zur Vergangenheit steht, sondern ihr entspricht und das sich mit Weisheit den großen Vorbildern nähert, anstatt sich von ihnen gewaltsam zu entfernen. Lancelot wird den Namen seines Autors wohl nicht berühmt machen; aber gewürdigt. Ich befürchte sogar, wenn ich von dieser Partitur ehrlich und in gutem Glauben mehr sprechen werde als von vielen anderen. Ich befürchte, wenn schon nicht keinen zu großen Respekt, auch zu wenig Sympathie gezeigt zu haben. Camille Bellaigue/ Übersetzung Ingrid Englitsch

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Wie bei vielen Artikeln über Unbekanntes hat auch dieser viele Eltern, und es gilt sich zu bedanken. Vor allem bei Michael Waltenberger, Professor für Germanistische Mediävistik an der Ludwig-Maximilian-Universität München (hier Einzelheiten zur Person), und Autor des Beitrags zu Lancelot in: Mittelalterrezeption im Musiktheater: Ein stoffgeschichtliches Handbuch; herausgegeben von Christian Buhr, Michael Waltenberger. Bernd Zegowitz.; Walter de Gruyter GmbH & Co KG, 06.04.2021 – 652 Seiten, S. 305 pp: Michael Waltenberger hat uns liebenswürdiger Weise die Übernahme seiner Textpassagen gestattet.

Die Anmerkungen von Alexandre Dratwicki zu Joncieres als entnahmen wir der CD-Buchausgabe zu dessen Oper Dimitri, die vom Palazzetto Bru Zane 2013 herausgegeben wurde, Daniel Hauser hat übersetzt. Ingrid Englitsch besorgte die Übertragung der Kritik von 1900 und gab Übersetzungshilfen bei der Recherche. Meinem französischen Tauschfreund G. danke ich für die Bereitstellung der Inhouse-Aufnahme. G. H.

Am 6. Mai 2022 gab es die letzte Oper von Victorin JoncièresLancelot (Lancelot/Thomas Bettinger; Arthus/Tomasz Kumiega; Alain de Dinam/ Frédéric Caton; Markhoël/Philippe Estèphe; Kadio/ Camille Tresmontant; Guinèvre/ Anaïk Morel; Elaine/ Olivia Doray; Orchestre Symphonique Saint-Étienne Loire, Chœur Lyrique Saint-Étienne Loire; Dirigent Hervé Niquet; Regie Jean-Romain Vesperini,  Ausstattung Bruno de Lavenère).

Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

 

Stefan Soltesz

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Mit Schock und Trauer hörten wir vom plötzlichen Tode des Dirigenten Stefan Soltesz. Der magere Beitrag eines seiner (und meiner) Stammhäuser, der Deutschen Oper Berlin, wird im nicht gerecht, denn er kann das aufbrausendes Temperament, die schiere Rasanz seiner Opernleitungen nicht vermitteln. Ich kannte Soltesz recht gut, wir haben einige Male was zusammengetrunken und viel geschwatzt. Manches dringt nun an Mäkeleien über seine weniger liebenswürdige Behandlung der Ensembles ans Ohr, das mag sein. Ich selber habe ihn nur fast privat erlebt, und da war er sehr charmant, sehr österreichisch-ungarisch-K.u.K eben, sehr souverän. Und witzig.

Soltesz war der erste Beste der zweiten Klasse, er selbst bezeichnete sich mal als „Orchester-Schupo“, und er liebte das Einspringen. So ganz ohne Vorbereitung – sagte er – wäre er am besten. Und das hörte man. Er fetzte durch die Musik, ließ den Sängern Luft zum Atmen und hielt „den Laden am Laufen“. Und wie der Laden lief. Ich verdanke ihm viele, viele tolle Abende, vielleicht nicht immer so ungemein subtile, aber immer hochspannende. Und dass er bei der Arbeit starb ist irgendwie doch der richtige Abgang für diesen Workaholik, dem ich für seine Auftritte – namentlich auch an der DOB – bleibend dankbar bin. Oper war bei ihm gut aufgehoben.  G. H.

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Und nun die Deutsche Oper Berlin: Wenn große Künstler sterben, geht manchmal nicht nur ein Leben, sondern auch eine Ära unwiderruflich zu Ende. Der Tod von Stefan Soltesz während einer Aufführung von Richard Strauss’ DIE SCHWEIGSAME FRAU markiert einen solchen Punkt, denn der 1949 geborene Ungar war der wohl letzte Repräsentant der österreichisch-ungarischen Kapellmeistertradition, die den Dirigentenberuf im 20. Jahrhundert nachhaltig geprägt hat. Als Schüler des legendären Dirigierlehrers Hans Swarowsky wuchs Soltesz in Wien in diese Tradition hinein und sog ihren Geist auf – Zeit seines Lebens verkörperte er ein Kapellmeistertum „alter Schule“, das den Anspruch, jedes Werk auf höchstem Niveau dirigieren zu können, mit einem unbedingten Autoritätsanspruch verband. Kein Wunder, dass der Opernbetrieb sehr schnell auf diesen jungen Dirigenten aufmerksam wurde, der für alle Werke von DIE FLEDERMAUS über ELEKTRA bis zu Reimanns LEAR stilsicher den richtigen Ton fand, und es gehörte zu den Glücksgriffen von Götz Friedrich, sich Soltesz für Berlin zu sichern: Zwölf Jahre lang, von 1985 bis 1997, wirkte Stefan Soltesz hier als „Ständiger Dirigent“ und nahm diesen Titel wörtlich: Mehr als 350 Aufführungen leitete er an der Deutschen Oper Berlin in dieser Zeit. Von seinem Debüt am 5. März 1984 mit Verdis IL TROVATORE an zeigte er hier die  Bandbreite seines dirigentischen Könnens: Verdi, Puccini und Wagner, aber auch Mozart, Strawinsky, Henze und Offenbach – dazu auch Meyerbeers (auch auf DVD überlieferte) DIE HUGENOTTEN. Nach diesen zwölf ertragreichen Jahren war Soltesz nur noch sporadisch am Pult der Deutschen Oper Berlin zu erleben, vor allem, weil er sich mit Leib und Seele seiner neuen Aufgabe als Generalmusikdirektor und Intendant des Essener Aalto-Theaters verschrieb.

Die Deutsche Oper Berlin trauert um einen großen Künstler, dem sie Vieles zu verdanken hat, und wird ihm ein bleibendes Andenken bewahren.

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Mehr Details liefert Wikipedia: Stefan Soltész (* 6. Januar 1949 in Nyíregyháza, Ungarn; † 22. Juli 2022 in München), der  österreichischer Dirigent, war 1997 bis 2013 Intendant des Aalto-Musiktheaters sowie Generalmusikdirektor in Essen. Stefan Soltész wurde in Nyíregyháza im Nordosten Ungarns geboren. 1956 kam er nach Wien, wo er Mitglied der Wiener Sängerknaben wurde. An der Wiener Hochschule für Musik und darstellende Kunst studierte er Dirigieren bei Hans Swarowsky sowie Komposition und Klavier. 1971 begann er als Kapellmeister am Theater an der Wien seine Karriere. Es folgten Engagements als Korrepetitor und Dirigent an der Wiener Staatsoper (1973–1983) und als Gastdirigent am Grazer Opernhaus (1979–1981). Während der Salzburger Festspiele (1978, 1979 und 1983) arbeitete er als Musikalischer Assistent bei Karl Böhm, Christoph von Dohnányi und Herbert von Karajan.

Positionen als ständiger Dirigent hatte Soltész an der Hamburgischen Staatsoper (1983–1985) und an der Deutschen Oper Berlin (1985–1997) inne. Als Generalmusikdirektor wirkte er von 1988 bis 1993 am Staatstheater Braunschweig sowie als Chefdirigent von 1992 bis 1997 an der Flämischen Oper in Antwerpen und Gent.

Von 1997 bis zum Ende der Spielzeit 2012/13 war Soltész Intendant des Aalto-Theaters in Essen, das 2008 im Rahmen der Kritikerumfrage der Fachzeitschrift Opernwelt zum „Opernhaus des Jahres“ gewählt wurde, und bis zum Ende der Spielzeit 2012/2013 Generalmusikdirektor der Essener Philharmoniker, das 2003 und 2008 „Orchester des Jahres“ war.

Gastdirigate führten Soltész regelmäßig an die Wiener Staatsoper sowie an die großen Opernhäuser Deutschlands (u. a. nach München, Hamburg, Berlin, Frankfurt, Köln). Weitere Schwerpunkte seiner Arbeit waren das Teatro dell’ Opera di Roma, die Budapester Staatsoper, das Teatr Wielki in Warschau, das Bolschoi-Theater in Moskau und das Grand Théâtre de Genève. Darüber hinaus gastierte er an der Pariser und der Zürcher Oper, De Nederlandse Opera in Amsterdam, dem Teatro Massimo Bellini in Catania, der Oper Bilbao, dem Teatro Colón in Buenos Aires, in Japan, Taiwan, an der Washington und der San Francisco Opera, in Covent Garden, sowie bei den Festivals in Montpellier, Aix-en-Provence und Savonlinna, den Pfingstfestspielen Baden-Baden, anima mundi in Pisa, dem Tongyeong Festival (Korea) sowie dem Glyndebourne Festival.

Sinfoniekonzerte und Rundfunkaufnahmen dirigierte Soltész u. a. in München, Hamburg, Hannover, Dresden, Berlin, Saarbrücken, Bremen, Wiesbaden, Heidelberg, Wien, Rom, Catania, Turin, Mailand, Genua, Verona, Triest, Basel, Bern, Paris, Moskau, Taipei, Nagoya und Budapest.

Seine CD-Einspielungen umfassen u. a. Opern von Giacomo Puccini (La Bohème), Giuseppe Gazzaniga (Don Giovanni) und Alexander von Zemlinsky (Der Kreidekreis) sowie Arien und Lieder mit Grace Bumbry, Lucia Popp und Dietrich Fischer-Dieskau. Seine Aufnahme von Alban Bergs Lulu-Suite und Hans Werner Henzes Appassionatamente plus mit den Essener Philharmonikern wurde für den Grammy und den ICMA nominiert.

Am 22. Juli 2022 brach er während einer Vorstellung der Oper „Die schweigsame Frau“ von Richard Strauss am Nationaltheater München zusammen und starb anschließend.

Sempey & friends

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Florian Sempey ist ein international gefragter Interpret der Titelrolle von Thomas’ Hamlet oder des Posa in der französischen Urfassung von Verdis Don Carlos und des Valentin in Gounods Faust. Aber auch als Figaro in Rossinis Barbiere di Siviglia hat er in London und Paris Triumphe gefeiert. So ist die neue CD bei ALPHA überaus willkommen, denn sie ist ganz Rossini gewidmet (791). Es ist das erste Recital des Sängers, aufgenommen im Januar 2021 in der Opéra National de Bordeaux. Deren Orchestre National Bordeaux Aquitaine begleitet unter Leitung von Marc Minkowski, der neben seinem Einsatz für das Barock-Repertoire immer wieder gern auch die Musik Rossinis interpretiert. Der Titel der Platte Figaro? Sì! verweist auf die Erfolgspartie des Baritons, mit der das Programm auch beginnt. Das „Largo al factotum“ darf als Visitenkarte des Franzosen gelten. Er kann hier mit viriler Stimme übermütig auftrumpfen, demonstriert gebührende Flexibilität und findet auch individuelle Nuancen in der sattsam bekannten Nummer. Danach erklingt das Duett mit Rosina („Dunque io son“), in dem die Mezzosopranistin Karine Deshayes mitwirkt und eine wohllautende Stimme hören lässt, die nur in der exponierten Höhe recht streng klingt. Beide servieren das Duo mit Witz und Ironie, wobei Sempey in den Koloraturläufen etwas Mühe offenbart. Später spielt das Orchester noch die sprühende Overture und brilliert da mit meisterhafter Beherrschung des accelerando.

Im Programm wechseln unbekanntere und populäre Nummern. In erstere Kategorie gehören die Arie des Germano, „Amor dolcemente“, aus La Scala di Seta, welche eine perfekte Atemkontrolle verlangt und vom Solisten mit viel Gefühl, im Schlussteil aber auch mit gebührendem Plappern vorgetragen wird, und die des Don Parmenione, „Che sorte che accidente“, aus L’Occasione fa il ladro. Diese entwickelt sich nach hurtigem Beginn zu einem schönen cantabile und endet in atemlos überstürzter Konfusion.

Zu den Klassikern im Rossini-Repertoire zählt La Cenerentola, aus der Sempey das Duett Dandini/Don Magnifico „Un segreto d’importanza“ ausgewählt hat und in dem Bassisten Nahuel Di Pierro den denkbar besten Partner hat. Beide sind sich ebenbürtig in der Bewältigung von Rossinis vokalen Rouladen. Auch Taddeos Duo mit Isabella „Ai capricci della sorte“ aus der Italiana in Algeri ist ein Hit. Hier kommt noch einmal Karine Deshayes mit kapriziösem Flair zum Einsatz und evoziert gemeinsam mit dem Bariton ein Feuerwerk an musikantischer Lust. In der moussierenden Overture kann Minkowski mit dem Orchester erneut sein Gespür für Dynamik und Klangfarben zeigen und der Choeur de l’Opéra National de Bordeaux im Chor „Viva il grande Kaimakan“ vital auftrumpfen.

Zu erwarten war, dass der Sänger auch eine Arie aus dem französischen Repertoire Rossinis auswählen würde – in  diesem Fall die des Raimbaud, „Dans ce lieu solitaire“, aus Le Comte Ory, mit der die Auswahl endet. Sie ist ein Zungenbrecher, verlangt höchste stimmliche Kunstfertigkeit und gibt dem Sänger Gelegenheit, sein Album im Überschwang und in Fröhlichkeit zu beenden. Als Hörer ist man nun versucht, den Champagner zu öffnen (17. 07. 22). Bernd Hoppe

Metzgers Beste

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„Entweder du bist Wagner-Fan oder du bist es nicht.“ Stimmt. „Um diese Musik zu schreiben, musst du schon ein bisschen irre im Kopf sein.“ Stimmt auch. Und wem haben wir diese Einsichten zu verdanken? Der Metzgersfrau Ulrike Rauch, die gemeinsam mit ihrem Mann Georg eine Fleischerei in Bayreuth betreibt. Würste gehen immer in Franken. Auch Wolfgang Wagner, der Enkel und langjährige Chef der Festspiele, gehörte zur Kundschaft. Der Hügel liebt es offenbar deftig. Katharina, Tochter, Urenkelin und alleinige Herrin hat zur fröhlichen Gartenpartie ins Elternhaus gleich um die Ecke des Tempels geladen. Auf den Bratrost geht es eng zu. Es liegt nahe, dass die Würste aus der Produktion der eingefleischten Fans stammen? Bayreuth und der Rest der Welt. So der Titel eines Films von Axel Brüggemann. Er lief schon im Kino. Jetzt ist er bei Naxos auch auf DVD erschienen (NBD 0146V). Es beginnt in Venedig, wo Wagner am 13. Februar 1883 im Palazzo Vendramin starb.  Die feine Adresse am Canale Grande beherbergt das Casino der Lagunenstadt.  Wagnerverbände treffen sich dort. Mit dabei Katharina, die wie an einem Kapitänstisch Hof hält und sich im Sterbezimmer des Urahnen, wo noch ein paar seiner Schuhspanner überlebt haben, ins Gästebuch einträgt. Die Tagung in historischen Räumen beginnt mit dem Gedenken an verstorbene Mitglieder. Auch die versammelten Damen und Herren sind nicht mehr die Jüngsten. Ein Teilnehmer sagt, dass man Wagners Werk als Religion bezeichnen müsse, weil es viele Fans auch so auslebten. Wieder ein anderer fühlt sich in einem Schaumbad, wenn er Wagner hört. Ein Wohlfühlelement sei das. Eine Art Selbsthilfegruppe nennt eine junge Frau die Gemeinde der Wagnerianer.

Es kommen auch ausgewiesene Fachleute zu Wort wie der der US-amerikanische Wagner Experte Alex Ross, der viel zu sagen hat über Wagner. Vorbereitungen zu Tristan und Isolde in der Inszenierung der Hausherrin, die aus ihrem künstlerischen Alltag plaudert und die nach wie vor gute Arbeitsatmosphäre lobt, führen in den sagenhaften Zuschauerraum. In Proberäumen stimmen sich Sänger ein. Catherine Foster übt mit einem Korrepetitor Brünnhilde. Placido Domingo, der als Dirigent für die Walküre engagiert ist, irrt durch einen Gang. Er ist auf der Suche nach jemandem, und man fürchtet schon, er würde durch die falsche Tür gehen. Es ist ein Film der scharfen Schnitte und der häufig wechselnden Szenen, die nicht alle erwähnt werden können. Es soll keine Langeweile aufkommen. Ein Teil des Publikums, der vor allem angesprochen werden soll, ist das so von anderen Medien so gewöhnt. Die bodenständigen Wurstproduzenten werden gleich mehrmals bemüht und dienen auch als Stichwortgeber. Als sie sich an die „erste schwarze Venus“ auf dem Grünen Hügel erinnern – es war Grace Bumbry – finden sich die Zuschauer ganz plötzlich in der Bethany Baptist Church in New Jersey wieder, wo die farbige Sängerin Manna Knjoi die Hallenarie der Elisabeth anstimmt und später die Brünnhilde in der Götterdämmerung. Dort organisierte der Bassist Kevin Maynor einen Open-Air-Ring mit „people of color“.

Wieder in Bayreuth schreitet Valeri Gergiev heran und wird herzlich umarmt. Er spricht davon, dass Wagner bei seinem Aufenthalt in St. Petersburg dem russischen Publikum die „goldene Tradition deutscher Musik“ nahebrachte, dirigierte Tannhäuser und flog in einem Flugzeug – seinem eigenen? – nach herzlicher Verabschiedung wieder davon. So schnell wird er wohl nicht wiederkommen dürfen. Und was für eine Ironie der Geschichte: Nach Gergiev Auftritt macht das Filmteam in Riga Station. wo der junge Wagner von 1837 bis 1839 als Kapellmeister wirkte. „Er mochte Riga nicht besonders, aber er war hier sehr aktiv“, weiß der ehemaligisch lettische Premierminister Maris Gailis. Es werden ehrgeizige Pläne für ein Theater im Stil der Wagnerzeit und ein Wagner-Museum vorgestellt.

Ein Film über Wagner und Bayreuth kommt auch siebenundsiebzig Jahre nach dem Ende des Hitlerfaschismus nicht ohne umfängliches Eingehehen auf dessen Antisemitismus aus. Anknüpfungspunkte ergeben sich von selbst. 2018 inszenierte der Regisseur Yuval Sharon, der mit Dreizehn mit Siegfried seine erste Oper gesehen hat, Lohengrin. Die Frage, die ihm am häufigsten gestellt würde, ist die, wie er sich in Bayreuth als Jude und Amerikaner fühle. Er habe das teilweise so erwartet, aber die Journalisten hätte wohl nicht erwartet, dass er sich an diesem Ort wohlfühle. Das sei gewiss eine große Überraschung für sie. Die Vergangenheit dürfe nicht vergessen werden, aber man könne versuchen, Neues aufzubauen. Seine Kollege Barrie Kosky ist auch auf der Bühne in seiner Meistersinger-Deutung hart mit Wagners Haltung zu Juden hart ins Gericht gegangen und hat dem Publikum nichts erspart. Rüdiger Winter

Bizarres Cross-over-Album

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Valer Sabadus ist ein renommierter Countertenor unserer Zeit mit einer der schönsten Stimmen der Gattung. In vielen Produktionen mit Barockmusik hat er mitgewirkt und mehrere erfolgreiche Recitals herausgebracht. Sein neues Album bei BERLIN CLASSICS dürfte allerdings gespaltene Aufnahme finden (030176BC). Mit der klassischen Band SPARK hat er Ende 2020 im WDR Funkhaus Köln unter dem Titel „Closer to Paradise“ 15 Titel produziert. Die Spanne reicht vom Barock und Liedern der deutschen Romantik über Songs von Kurt Weill und italienischen Canzonen bis zu französischen mélodies und Chansons. Nicht nur die kühne Mischung des Programms, wo sich sogar ein Titel von Rammstein findet, dürfte für Irritationen sorgen, auch die Arrangements der Kompositionen und deren Interpretation durch die Band sind gewöhnungsbedürftig.

Über jede Kritik erhaben ist die Stimme, welche sich bis in die oberste Region betörend entfaltet, nie grell oder angestrengt wirkt. Die erste Nummer (von Daniel Koschitzki) gab der Platte den Titel. Sie ist melodisch und stimmungsvoll, lässt die Stimme sich aufschwingen in die exponierte Lage, was der Interpret glanzvoll bewältigt. Die folgende Komposition von Eric Satie, „Les Anges“, ist ein angenehmer Ruhepunkt mit nachsinnendem Narrativ. Aus dem Rahmen fällt der nächste Vokalbeitrag mit Anastasios Arie „Vedrò con mio diletto“ aus Vivaldis Giustino. Hier dürfte der Sänger sich in vertrauten Gefilden bewegen, allerdings ist das Arrangement des Stückes befremdlich. Mit seinem Vortrag erweist er sich freilich als versierter Barock-Interpret. Reizvoll ist der Song „One Caress“ von Martin Gore, in dem Sabadus Spitzentöne virtuos antippt, der folgende Titel, „Seemann“, von Oliver Riedel (Edition Rammstein) wirkt sehr eigenwillig durch den Wechsel der Falsett- und Baritonlage. Die Canzone „Caruso“ („Te voglio bene“) haben alle großen Tenöre gesungen, hier erklingt sie in einem angenehmen Arrangement für Klavier von Stefan Belazsovics und Christian Fritz. Auch Sabadus gefällt mit seiner geschmackvollen Interpretation, die immer zurückhaltend bleibt und nie prahlerisch wirkt. „Youkali“ aus Kurt Weills Marie Galante ist unvergessen in der Deutung von Teresa Stratas auf ihrer Weill-Platte. Dagegen ist Sabadus ohne Chance, wenn man ihm auch eine blendende Bewältigung der Tessitura bescheinigen kann. Sehr charmant gelingt dem Sänger Léo Ferrés „Écoutez la Chanson bien douce“, während Schumanns „In der Fremde“ aus dem Liederkreis ein fataler Missgriff ist mit heulender Stimme und ärgerlicher Artikulation. Glücklicherweise kann er mit Gabriel Faurés träumerischem „Au bord de l’eau“ den Eindruck revidieren und mit dem von Chopin inspirierten Schlusstitel „Could it be magic“ von Barry Manilow für einen stimmungsvollen Ausklang sorgen. Nach diesem bizarren Cross-over-Album wünscht man sich bald wieder ein Barockrecital des Sängers. Bernd Hoppe

Mehr als der „russische Brahms“

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Sergej Tanejew (1856-1915) ist neben Alexander Glasunow die prominenteste Gestalt der russischen Komponistengeneration zwischen seinen Lehrern Peter Tschaikowski und Anton Rubinstein auf der einen Seite und seinen Schülern Sergej Rachmaninow und Alexander Skrjabin auf der anderen. Als Professor und zeitweiliger Direktor des Moskauer Konservatoriums hatte er einen maßgeblichen Einfluss auf letztere, neben anderen Schülern wie Reinhold Glière, Paul Juon und Nikolaj Medtner. Umfassend gebildet, interessierte er sich für Philosophie, Geschichte, Mathematik und Naturwissenschaften und kannte Leo Tolstoj persönlich. Die Revolution von 1905 führte zu Tanejews selbstgewähltem Rückzug vom Konservatorium und zur Wiederaufnahme seiner Tätigkeit als Konzertpianist. Sein Werk umfasst neben vier Sinfonien vor allen Dingen die Operntrilogie Oresteia, die Kantate Johannes von Damaskus sowie einiges an Kammermusik. Nachdem er sich weitgehend von der Komposition zurückgezogen hatte, starb Sergej Tanejew mitten im Ersten Weltkrieg 68-jährig an einer Lungenentzündung, die er sich bei der Beerdigung Skrjabins zugezogen hatte.

Naxos bringt nun auf vier CDs eine Kollektion mit Orchesterwerken (Naxos 8.504060), sämtlich interpretiert von Thomas Sanderling und zwei russischen Klangkörpern, dem Akademischen Sinfonieorchester Nowosibirsk sowie dem Russischen Philharmonischen Orchester. Thomas Sanderling, der Sohn des berühmten Kurt Sanderling (1912-2011), ist genuin eng mit Russland verbunden, wurde 1942 in Nowosibirsk geboren und war dem dortigen Orchester zwischen 2017 und 2022 als Chefdirigent vorgestanden. Die Naxos-Aufnahmen erschienen zuvor bereits einzeln zwischen 2008 und 2010. Die nunmehrige Neuauflage als Box ist sehr zu begrüßen, handelt es sich doch um eine künstlerisch wie klanglich astreine Angelegenheit mit einer ansprechenden Idiomatik.

Die 1898 komponierte und Glasunow gewidmete vierte Sinfonie in c-Moll op. 12 ist fraglos das wichtigste Orchesterwerk Tanejews und ganz allgemein eine der wichtigsten russischen Sinfonien an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Von der Kritik hochgelobt – Rimski-Korsakow sprach gar vom „besten zeitgenössischen Werk“ – unterstrich die Vierte den Ruf Tanejews als genialen Beherrscher des Kontrapunkts. Obschon man ihn den „russischen Brahms“ hieß – was er selbst scharf zurückwies –, gemahnt die dem viersätzigen, etwa 40-minütigen Werk innewohnende Dramatik gleichzeitig auch an Beethoven, ohne ihren russischen Charakter zu verleugnen. Bereits zwei Jahrzehnte zuvor animierte der erste Entwurf zu Tanejews zweite Sinfonie in B-Dur (1875-1878) seinen Kompositionslehrer Tschaikowski zur Aussage, dass dies nicht mehr länger das Werk eines bloßen Studenten sei. Trotz der Ermutigung beließ es Tanejew aber bei einem Fragment, vollendete einzig den Kopf- und Schlusssatz, beließ das Andante bruchstückhaft und das Scherzo gänzlich unvollendet. Erst 1977 ging der sowjetische Musikwissenschaftlicher Wladimir Blok daran, das Andante zu orchestrieren und eine erste Edition des nun dreisätzigen Werkes herauszugeben. Dies ist auch der Grund, wieso die Zweite keine Opuszahl trägt. Machtvoll, heroisch und zuweilen episch mutet sie an und ist wie eine Vorahnung auf die Vierte.

Weniger im Fokus des Interesses stehen die erste Sinfonie in e-Moll von 1874 und die dritte Sinfonie in d-Moll von 1884. Ist im Falle der Ersten der übermächtige Einfluss Tschaikowskis nicht zu leugnen (besonders die sogenannte Kleinrussische dürfte Pate gestanden haben), so bezeugt die Dritte doch einen ausgefeilteren eigenen Personalstil. Tanejews Perfektionismus führte indes dazu, dass weder die Erste noch die Dritte zu seinen Lebzeiten publiziert wurden, womit sie das Schicksal der Zweiten teilen. Die Partitur der Sinfonie Nr. 3 hat Tschaikowski auch kritischer beurteilt und seinem ehemaligen Schüler Ratschläge übermittelt, die sich dieser offenbar durchaus zu Herzen nahm. Die Uraufführung im Jahre 1885 des Anton Arenski gewidmeten Werkes blieb über Jahrzehnte hin die einzige; erst 1947 erschien eine Edition.

Bezeichnend ist es, dass in Sowjetzeiten für Melodia einzig die zweite und die vierte Sinfonie eingespielt wurden, wofür Wladimir Fedossejew (Nr. 2), Gennadi Roshdestwenski (Nr. 4) und Jewgeni Swetlanow (Nr. 4) verantwortlich zeichneten. Im direkten Vergleich mit diesen klassischen Aufnahmen unterliegen die für sich genommen sehr guten Lesarten Sanderlings dann doch um Nuancen, auch wenn er für die Sinfonien Nr. 1 und 3 die erste Empfehlung bleibt.

Tanejews einzige Oper Oresteia (Libretto: A. A. Wenkstern nach Aischylos) entstand zwischen 1887 und 1894 und wurde 1895 im Sankt Petersburger Mariinski-Theater uraufgeführt. Die ursprünglich intendierte Ouvertüre datiert bereits auf 1889 und entwickelte sich rasch zu einem eigenständigen Werk, das unabhängig von der Oper zur Aufführung gelangte. Es handelt sich um das einzige programmatische Orchesterwerk, das der Komponist je schuf, und umfasst beinahe sämtliche wichtigen Themen der Oper. Der Entr’acte Der Tempel des Apollon in Delphi ist wiederum das bekannteste Orchesterstück aus der eigentlichen Oper und steht als Zwischenspiel im dritten Akt derselben. In dieser Oresteia-Musik ist Tanejew Wagner so nahe wie nie. Weitere, womöglich nicht ganz so herausragende aber handwerklich ansprechende Orchesterwerke aus der Feder Tanejews umfassen das Adagio C-Dur (1875), die Ouvertüre d-Moll sowie die Ouvertüre über ein russisches Thema (1882). Sie wurden dankenswerterweise für diese Edition berücksichtigt. Mit der Canzona für Klarinette und Streicher (1883) wählte der Komponist ein im späten 19. Jahrhundert bereits aus der Mode gekommenes Genre. Als Solist fungiert Stanislav Jankovsky. Bei der spät entstandenen Suite de concert (1909) handelt es sich schließlich um ein ausgedehntes, dreiviertelstündiges Konzert für Violine und Orchester in fünf Sätzen, wobei der vierte Satz aus einem Thema und sechs Variationen besteht. Solistisch tritt Ilya Kaler in Erscheinung.

Hinsichtlich Tanejews Vokalmusik steht zuvörderst die berühmt gewordene dreisätzige Kantate Johannes von Damaskus (1884), gewidmet dem letzten der Kirchenväter Johannes dem Damaszener (um 675 bis um 750). Das einleitende, sinfonische geprägte Adagio macht mit 15 Minuten das Gros des Werkes aus, gefolgt von einem sehr knappen, kaum dreiminütigen Mittelsatz, der in das stellenweise monumentale Finale überleitet (8 Minuten). Es brilliert kongenial der Akademische Gnessin-Chor. Mit diesem opus 1 schuf Tanejew seine erste seriöse und zugleich vielbeachtete Komposition. Daneben hat Sanderling unter Beteiligung des Kammerchors der Nowosibirsker Staatsphilharmonie auch die vergleichweise unbekannte Kantate auf Puschkins Exegi monumentum (1880) eingespielt, ein außerordentlich kurzes, nicht einmal fünfminütiges Werk, welches auf zwei Versen des besagten Gedichts von Alexander Puschkin beruht, a capella beginnt und recht archaischen Charakters ist.

Der Klang dieser zwischen 2006 und 2008 im Studio des Westsibirischen Rundfunks in Nowosibirsk sowie im Studio 5 des Russischen Staatlichen Fernsehens und Rundfunks in Moskau entstandenen Produktionen ist glücklicherweise auf demselben hohen Niveau wie die künstlerische Darbietung durch alle Beteiligten. Die Textbeilage fällt labeltypisch gediegen und ausreichend aus und stellt angesichts des günstigen Preises keinen Grund zum Tadel dar. Daniel Hauser

„HENRY VIII“ VON SAINT-SAENS

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Odyssey Opera New York ist operalounge.de-Lesern keine unbekannte Firma, haben wir doch von nicht allzu langer Zeit die Neueinspielung der Reine de Saba Gounods vorgestellt. Vor allem der großartige Sound der Einspielung (machtvoll dirigiert von Gil Rose)  wurde gelobt, wenngleich vielleicht die Neuerscheinung als solche wichtiger war als die sängerische Bewältigung, mangelte es doch von dieser Oper an einer seriösen Stereo-Aufnahme aus moderner Zeit und so spannend ist sie auch nicht, von zwei Arien abgesehen).

So ist es auch mit der gerade erschienenen Odyssey-Aufnahme von Henry VIII von Saint-Saens (von 1883 mit einem Libretto von Pierre-Léonce Détroyat und Paul-Armand Silvestre nach Pedro Calderón de la Barcas) unter dem – großartige orchestrale Klanggemälde der Düsternis und pulsierender Spannung zaubernden – Dirigenten Gil Rose am Pult des Odyssey-Orchesters und –Chores. Und es gibt das für das damalige Paris unerlässliche große Ballet, sehr schmissig. Dieser Aspekt der Aufnahme wird hervorragend bedient. Ich bin mir bei den Sängern nicht so sicher. Michael Chioldi, Ellie Dehn, Hilary Ginther, David Kranitz und andere singen tapfer, und man stellt anerkennend fest, wie exzellent junge Amerikaner das französische Idiom beherrschen (Yeghishe Manucharyan hingegen absolut unverständlich) . Und dennoch spürt man hier – im Vergleich zu vorhandenen nationalsprachigen Dokumenten – eher eine Gutgelerntheit als eine idiomatische Verwurzelung im Text, dessen Beherrschung und damit der Rollengestaltung.

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Der tüchtige und exkavationsfreudige Leon Botstein hatte zuletzt  2012 in in einem Konzert in New York die rekonstruierte, originale  Fassung der Oper vorgestellt und mit einer amerikanischen Crew (Jason Howard, Ellie Dehn, Jennifer Holloway, Jeffrey Tucker und anderen) für einen soliden Eindruck gesorgt (youtube bringt´s mal wieder).

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Aber es sind die beiden französischen Dokumente, zu denen man sich wenden muss, wenn man die Oper als eine französische Grand-Oper hören will. Da ist zum einen die frühere szenische Aufführung von 1991 aus dem ehemaligen Mecca der Grand-Opéra, das Théâtre Imperial von Compiegne, damals unter der fruchtbaren Leitung von Pierre Jourdan, wo Alain Guingal eine hochkarätiger nationalsprachige Besetzung dirigierte: Michele Command, Philippe Rouillon, Lucile Vernon und der schönstimmige Tenor Alain Gabriel (den wir in Aubers Königsdrama und anderen Aufnahmen aus diesem Hause wiederfinden). Das ist eine akustisch zwar etwas enge aber rundherum befriedigende Aufnahme des Werkes, nachzuerleben als DOM-Video und CD (allerdings vergriffen/ Amazon, aber bei youtube nachzuhören).

Noch luxuriöser besetzt und natürlich bei Sammlern zu Hause ist die Aufführung von 1999 unter John Pritchard vom französischen Rundfunk mit Francoise Pollet machtvoll als Anne Boleyn neben Magali Damonte (wunderbar) und Alain Fondary in Montpellier (konzertant) und Lyon (dort szenisch). Dazu kommen mit Christian Lara, Claude Meloni und Daniel Galvez-Gallejo weitere erste französische Sänger der Zeit. Also unbedingt bei youtube nachhören. Dies ist die wirklich ultimative Aufnahme einer der für mich wenigen spannenderen Opern von Saint-Saens, die allerdings wie der abgedudelte Samson ihre „gefährlichen Längen“ hat und sich gerne im Dickicht der mäandernden Rezitative verliert.

Auch haben andere diese Oper bestritten, so Sherrill Milnes und Cristina Deutekom in einer englischsprachigen Serie in San Diego 1983 (Legendary Recordings/vergriffen). Montserrat Caballé folgte neben Simon Estes, Nomeda Kazlaus und Charles Workman 2002 am Liceu in Barcelona (wo die Diva als Miteigentümerin des damalsnoch nicht abgebrannten Theaters ja wirklich alles singen durfte), nachzuerleben für die ganz hartgesottenen Fans bei youtube. Mais pas de tout francais …

Anders als beim Samson ist es bei Henry VIII eher schwierig, so etwas wie „Ohrwürmer“ festzumachen. Vielleicht der große Monolog des Königs im 1. Akt: „Qui donc commande, quand il aime?“ (dazu sehr empfehlenswert Michel Dens bei youtube, Bernard Krysen dto), das wirklich tolle Duett der beiden Damen im vierten („Je ne te reverrai jamais“), auch das Männerduett im 1. Akt: „Trop heureux, Don Gomez, de vous revoir ici!“ und der große Monolog/ eher Lamento der Anne Boleyn im letzten Bild. Aber irgendwie bleibt wenig Musik im Kopf hängen, andere Komponisten der Zeit wie Bizet oder Gounod waren da erfolgreicher (naja nicht immer, s. oben).

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Der Bass Jean Lasalle sang Henry VIII in der Pariser Premiere 1883/ Ipernity

Aber angesichts der fehlenden verfügbaren offiziellen Aufnahmen wollen wir auf den hochinformativen Aufsatz des Berlioz- und Grand-Opéra-Kenners Hugh McDonald zurückgreifen, der der Odyssey-Aufnahme beiliegt, und damit die Oper selbst vorstellen, die hier zudem erstmals in der Kritischen Ausgabe von McDonald vorgestellt wird (die aber bizarrerweise nicht in Deutschland vertrieben wird, nicht einmal Amazon streamt sie – da fehlt´s am Vertrieb; dabei liegt mir ein physisches und dazu recht luxuriös ausgestattetes Exemplar vor, allerdings als Direktimport aus New York…immerhin zum stolzen Preis von 65.- $, nur online dann 35.- $) . Deutliche musikalische Unterschiede und zurückgenommene Kürzungen werden hier erklärt. Unser Dank gilt wieder einmal dem großzügigen britischen Autor, uns seinen Text überlassen zu haben. Wieder hat Daniel Hauser übersetzte Daniel Hauser aus dem originalen Englisch. G. H.

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Die große Lucienne Bréval sang Catherine d´Aragon in der Pariser Premiere des „Henry VIII“ 1883 / Ipernity

Und nun Hugh McDonald: Nach Samson et Dalila, der zweiten Oper von Saint-Saëns, war seine fünfte Oper Henry VIII die am häufigsten aufgeführte der elfteiligen Serie. Sie erfreute sich in den vierzig Jahren nach ihrer Premiere im Jahre 1883, also ungefähr den verbleibenden Jahren im langen Lebens des Komponisten, großer Beliebtheit. Um 1900 war sie in ganz Europa zu hören und erlebte bis 1918 Wiederaufnahmen in Paris.

Darauf war Saint-Saëns sehr stolz. Das Werk wurde 1880 von der Pariser Opéra in Auftrag gegeben, und da er kein Glück gehabt hatte, sie davon zu überzeugen, entweder Samson et Dalila (die biblische Geschichte war der Knackpunkt) oder Étienne Marcel (er war nur in Lyon zu hören) aufzuführen, und da seine beiden anderen Opern, La Princesse jaune und Le Timbre d’argent, nur an den kleineren Pariser Theatern zu sehen waren, war es wichtig, einen starken Eindruck zu hinterlassen. Saint-Saëns hätte ein französisches historisches Thema vorgezogen, aber da er zu dieser Zeit mit Konzerten in London beschäftigt war, beschloss er, die Tudor-Dynastie zu erforschen, um der Musik eine authentische englische Note zu verleihen. Jede Woche ging er für zwei Stunden zum Buckingham Palace und erkundete die königliche Musiksammlung. In einem jungfräulichen jakobäischen Buch (ein Jahrhundert zu spät für Heinrich VIII.) fand er einige Melodien, die ihm gefielen, und diese wurden zur Grundlage für das Präludium der Oper und für einige spätere Szenen.

„Henry VIII“ von Saint-Saens: Francoise Pollet/ Catherine d´Aragon und Alain Fondary/Henry VIII  1989/ OBA

Seine Librettisten waren ein Journalist, Léonce Détroyat, der zuvor keine Libretti oder Theaterstücke geschrieben hatte, und ein Dichter, Armand Silvestre, dessen Aufgabe es war, die Verse zu liefern. Die Handlung wurde hauptsächlich von einem Theaterstück des spanischen Dramatikers Calderón aus dem 17. Jahrhundert mit dem Titel The Schisma in England abgeleitet, das die Geschichte der verworrenen Scheidung Heinrichs VIII. von seiner ersten Frau Katharina von Aragon aus spanischer Sicht erzählte. Der spanische Botschafter, Don Gomez de Féria, wird als Anne Boleyns Liebhaber vorgestellt, eine Tenorrolle, und da Katharina von der Vergangenheit ihrer Rivalin weiß und Heinrich unbedingt mehr darüber erfahren möchte, hat sie genau in dem Moment einen starken Trumpf, als Heinrich Anne vorzieht, der Bruch mit Rom droht und ihre eigene Gesundheit kritisch ist. Sie stirbt am Ende der Oper, ohne jemals preiszugeben, was sie weiß. Katharina ist die sympathischste Figur in der Oper, denn Anne setzt Heinrichs amourösen Avancen nichts entgegen, ist sie doch schnell von der Aussicht verführt, Königin zu werden.

Die Handlung stützt sich auf Shakespeares Henry VIII. Dies sorgt für das großartige Finale des ersten Akts, wo eine Prozession hinter der Bühne, die den Herzog von Buckingham zum Schafott führt (uns wird nicht gesagt, warum), auf der Bühne von Heinrichs schamloser Aufmerksamkeit gegenüber Anne kontrapunktiert wird, und dies in Gegenwart von Don Gomez, deren Geliebten, und Katharina, seiner Frau, die sich der bitteren Ironie süßer Worte auf den Lippen eines brutalen Tyrannen bewusst werden. Ebenfalls von Shakespeare stammen die Figuren Norfolk, Surrey, Cranmer und der päpstliche Legat.

„Henry VIII“ von Saint-Saens: 3. Akt, Bild 1, Bühnebild von Mols/Michelet/ BNF Gallica

Im Sommer 1882 war die großangelegte Partitur fertig und es ging an die Proben an der Opéra. Wie Verdi bereits bei Les Vêpres siciliennes und Don Carlos festgestellt hatte, war es nicht einfach, dort (oder in irgendeinem großen Opernhaus) zu arbeiten, wenn so viele willensstarke Menschen mit festen Meinungen beteiligt waren, die Änderungen, Kürzungen und zusätzliche Arien forderten. „Keine einzige Szene blieb unberührt“, sagte Saint-Saëns später. „Nie wieder werde ich mich solchen Belästigungen und Demütigungen aussetzen.“ Umfangreiche Ballette waren an der Opéra obligatorisch, also lieferte Saint-Saëns eine Reihe von Tänzen (ziemlich widernatürlich in den zweiten Akt eingefügt, genau in dem Moment, als der päpstliche Legat mit „ernsten Neuigkeiten“ eintrifft, für die er keine Zeit hat, sie zu überbringen). Der ursprüngliche Plan beinhaltete einen fünften Aufzug, der die Geschichte über Annes Sturz hinaus bis zur Ankunft der nächsten Frau, Jane Seymour, führen sollte, aber dieser wurde in einem frühen Stadium fallen gelassen. Die Synodenszene im dritten Akt, in der der päpstliche Legat die gegensätzlichen Behauptungen von Heinrich und Katharina anhört, bot eine hervorragende Gelegenheit für ein Spektakel und die Beteiligung der Menge, die Heinrichs abrupte Erklärung einer unabhängigen Kirche von England begeistert bejubelt. Im Allgemeinen dient der politische und religiöse Konflikt jedoch nur als Hintergrund für die persönlichen Spannungen, die durch Heinrichs impulsiven und rücksichtslosen Charakter entstehen.

„Henry VIII“ von Saint-Saens: Das Ballett/Méaulle Toussaint 1883/ BNF Gallica

Trotz aller Produktionsprobleme war die Oper ein Erfolg, als sie im März 1883 uraufgeführt wurde. Die Sänger waren die besten auf der Liste der Opéra und die Bühnenbilder und Kostüme wurden von Eugène Lacoste, der wie Saint-Saëns nach London ging, gewissenhaft an zeitgenössische Quellen angelehnt erstellt, um ein authentisches Design zu erzielen. Viele der Kritiker, die mit der Beurteilung des neuen Werks beauftragt waren, beschäftigten sich mit der Frage des Wagnerismus, der grob missverstanden wurde. Saint-Saëns hatte Mozart immer als das perfekte Modell für Präzision und Ausgeglichenheit angesehen, während er etablierte Traditionen der italienischen und französischen Oper akzeptierte, die eine Abfolge separater Szenen und Episoden präsentierten. Dennoch verband er die Hauptfiguren mit einem reichen Netz von Leitmotiven, die unter intensiven inneren Qualen leiden und sie in einer Musik zum Ausdruck bringen, die das ganze Geschick des Komponisten in harmonischer und struktureller Komplexität erforderte. Henry VIII wurde 1886, 1888, 1889, 1891, 1892 und zur großen Zufriedenheit von Saint-Saëns noch 1917 an der Opéra wiederaufgenommen, als der Komponist zweiundachtzig Jahre alt war.

Im Laufe des langen Daseins des Komponisten wurde Henry VIII in Prag, Frankfurt, Gent, Mailand, Moskau, Madrid, London, Den Haag, Antwerpen, Kairo, Barcelona, Algier, Monte Carlo und einem halben Dutzend französischer Städte aufgeführt. Seit seinem Tod 1921 verschwanden alle seine Opern bis auf Samson et Dalila fast vollständig von den europäischen Bühnen, ein bitterer Schicksalsschlag, der dadurch bedingt war, dass er bis in die Nachkriegszeit lebte, als sich Geschmack und Mode radikal änderten. Die Ära der Automobile und Aeroplane bot keinen Platz für Relikte des vorigen Jahrhunderts. Dieses Schicksal teilte Saint-Saëns‘ großer Rivale Massenet, aber während Massenets Opern schließlich die Anerkennung zurückerlangten, die sie verdienen, hatten Henry VIII und seine Gefährten noch nicht so viel Glück.

„Henry VIII“ von Saint-Saens: Montserrat Caballé/ Catherine d´Aragon und Simon Estes/ Henry VIII 2002 in Barcelona/ Liceu

Seit 1921 war Henry VIII nur 1935 in Brüssel, 1983 in San Diego (amerikanische Erstaufführung), 1991 in Compiègne und 2002 in Barcelona auf der Bühne zu sehen. Ein versprochenes Bühnen-Revival in Brüssel 2021 anlässlich des 100. Todestages des Komponisten wurde zwangsläufig verschoben. Darüber hinaus gab es konzertante Darbietungen der Oper in Montpellier im Jahre 1988 und beim Bard Festival im Jahre 2012. Die konzertante Aufführung der Oper durch die Bostoner Odyssey Opera im September 2019, auf diesen CDs aufgezeichnet, war von besonderer Bedeutung, da sie gewisse Passagen und Szenen enthielt, die seit 1883 nicht mehr und in manchen Fällen wahrscheinlich überhaupt noch nie gehört worden waren.

Der Überarbeitungsprozess betraf hauptsächlich den zweiten und dritten Akt, wobei die Akte I und IV mehr oder weniger unverändert blieben. Der erste Akt stellt den spanischen Botschafter Don Gomez vor, der in Anne Boleyn verliebt ist. Heinrich hat sie zur Hofdame von Königin Katharina ernannt, um sie ihm am Hofe näher zu bringen. Gomez hat einen Brief von Anne, der ihre Liebe bestätigt, und hat ihn seiner Landsfrau, der Königin, zur Aufbewahrung übergeben. Belastende Briefe, die aus anderen Opernhandlungen bekannt sind, sorgen für eine entscheidende Wendung am Ende dieser Oper.

Ihr Versagen, einen Sohn zu gebären, erlaubt es Heinrich, die Gültigkeit der Ehe in Frage zu stellen, da sie früher mit Heinrichs älterem Bruder Arthur verheiratet gewesen war, welcher jung starb. Die Königin, die Spanierin und gläubige Katholikin ist, kann sich nicht vorstellen, dass Heinrich eine Scheidung beabsichtigt, und da sie Beweise für Annes Liebe zu Gomez hat, ahnt sie noch nicht, dass Heinrich Pläne für eine neue Ehefrau hegt.

Magali Damont (hier bei einem Konzert als Carmen/youtube) singt die Anne Boleyn in „Henry VIII“ von Saint-Saens in Montpellier 1989

Der zweite Akt spielt im Richmond Park, etwas außerhalb von London. Die Chorszene für Soprane und Tenöre zu Beginn dieses Akts ist ein hervorragendes Beispiel für Saint-Saëns‘ Zartheit und Raffinesse. Anne und Gomez haben jetzt ein unbehagliches Verhältnis, und eine Szene für Heinrich und Anne offenbart seinen Wunsch, sie zur Frau zu nehmen. Die Aussicht auf den Thron bringt ihren zugrunde liegenden Ehrgeiz zum Vorschein, und eine Szene zwischen Anne und der Königin betont das moralische Recht der Königin und Annes unverhohlenen Eifer, sie zu ersetzen. Dieser Akt, der aus einer Reihe von Duetten besteht, benötigt ein Ensemble, um ihn abzuschließen, ein Bedarf, der von Saint-Saëns mit einem beeindruckenden Septett (tatsächlich sind es acht Stimmen, nicht sieben) besorgt wurde, das 1883 als Zugeständnis an den Soprangesang der Königin allerdings gestrichen und nie ersetzt wurde. Es war vor dieser Aufnahme noch niemals aufgeführt worden, obwohl das Publikum sicherlich zustimmen wird, dass es ein starker Kunstgriff ist, der den Akt nobel beschließt.

An dieser Stelle kommt das Ballett, das ein unverzichtbarer Bestandteil aller großen Opern in Paris war, mit sieben abwechslungsreichen Tanzsätzen. Saint-Saëns war besonders begabt auf dem Gebiet der Ballettmusik, die sein Können in verschiedenen Arten von Tanzbewegungen und in farbenfroher Orchestrierung zeigt.

Die erste Szene des dritten Akts, die in allen Aufführungen nach 1883 gekürzt, aber in dieser Aufnahme vollständig zu hören ist, spielt in den Gemächern des Königs. Durch die Wiederherstellung der vollen Rolle des Legaten wird die moralische Position der Königin nachhaltig gestärkt. Heinrich ist entschlossen, sich dem Papst zu widersetzen, indem er sich selbst zum Oberhaupt der englischen Kirche erklärt, was von vielen als undenkbares Schisma mit Gottes Kirche, als Bruch mit Roms Autorität oder unverkennbar als eine frühe Version des Brexit angesehen wird. Die Frage der Unabhängigkeit Englands von europäischer Kontrolle bleibt bis heute ein brennendes Thema.

Michele Command sang die Catherine d´Aragon 1991 in Compiegne/ DOM Video

Der zweite Teil des dritten Akts erforderte eine spektakuläre Inszenierung, da er in der Pracht der Westminster Hall (heute noch unverändert) mit einer großen Gruppe von Sängern, die Würdenträger von Kirche und Regierung sowie das einfache Volk repräsentieren, angelegt war. Der Begehr des Königs, also der Bruch mit Rom und die Scheidung von der Königin, wird von Cranmer, dem Erzbischof von Canterbury, unterstützt, obwohl die Königin sehr bewegend für ihre Sache eintritt. Gomez droht damit, dass Spanien den Krieg erklären würde, ein Schritt, der bei den englischen Lords Empörung hervorruft, da ein Ausländer ihnen dergestalt droht. Die Richter erklären Heinrichs Ehe für nichtig und illegitim, woraufhin der Protest und Bann des Legaten auf taube Ohren stößt. Geballte Stimmen bringen diese gewaltige Szene zum Abschluss.

Der vierte Akt spielt zunächst in Anne Boleyns Gemach. Sie ist jetzt Königin, während Catharine ´Aragon, die Ex-Königin, nach Kimbolton Castle geschickt wurde, sechzig Meilen nördlich von London. Wir erfahren, dass Anne nicht glücklich ist, während der König sich in wilder Eifersucht auf ihre Beziehung zu Gomez ergeht. Die zweite Szene ist in Kimbolton angesiedelt. Das Pathos von Chaterine Schicksal kommt in ihrer Soloszene wunderbar zum Ausdruck. Die Konfrontation zwischen der Königin und Anne in diesem Akt, obwohl historisch dürftig, gibt eine hervorragende Theatralik ab, und der Höhepunkt der Oper erfolgt in der letzten Szene, als Heinrich eintrifft, entschlossen, Catharine den Beweis zu entlocken, dass Anne und Gomez ein Liebespaar sind. Gomez ist auch dabei, also können die Stimmen ein Quartett bilden, das Saint-Saëns widerstrebend aber gekonnt geschrieben hat, um einen denkwürdigen Abschluss der Oper zu bieten. Dies ist zu viel für Catharine, die den schicksalhaften Brief ins Feuer wirft und dann ihr Leben aushaucht.

Der Autor: der Musikwissenschaftler Hugh McDonald/ Hector Berlioz website

Catherines Musik ist durchweg exemplarisch und gewinnt immer unsere Sympathie, während Heinrich, der wahrheitsgemäß als überlebensgroß bezeichnet werden kann, niemals den Qualen des Königtums ausgesetzt ist, die von Shakespeares Heinrich VI. oder Berlioz‘ Herodes beklagt werden. Obwohl Heinrich VIII. ein Mann von hoher Kultur und sogar ein Komponist mit moderatem Talent war, versucht Saint-Saëns, muss man sagen, nicht, ihn in diesen Farben zu zeichnen, uns am Ende mit seiner abschließenden Anrufung der Axt als sein bevorzugtes politisches und persönliches Instrument zurücklassend. Hugh McDonald/ Übersetzung Daniel Hauser

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Camille Saint-Saëns (1835-1921): Henry VIII (Complete, original version, 1883); Henry: Michael Chioldi (baritone); Catherine d’Aragon: Ellie Dean (soprano); Anne Boleyn: Hilary Ginther (mezzo-soprano); Don Gomez de Feria: Yeghishe Manucharyan (tenor); Le duc de Norfolk: David Kravitz (baritone); Cardinal Campeggio, the Legate: Kevin Deas (bass-baritone); Odyssey Opera Orchestra & Chorus/Gil Rose; rec. live, 21 September 2019, Jordan Hall, Boston, USA; French libretto with English translation; First recording of this version; ODYSSEY OPERA 1005 [4 CDs: 224]; https://odysseyopera.bandcamp.com/album/camille-saint-sa-ns-henry-viii

Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Frida Leiders Lebensgefährtin

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Was ist eigentlich mit den Lebensgefährten berühmter Sänger und Musiker, die im  Schatten der Großen von der Öffentlichkeit unbekannt gern vernachlässigt werden und ein Dasein im Schatten führen? Wie oft sind besonders sie es, die den Illustren Halt und die Haftung an der Realität geben. Es ist ein schwieriges Leben für eben diese. Die Ehemänner werden gerne als „Kofferträger“ belächelt, und die Frauen bleiben zu oft (mit und ohne Kinder) zu Hause während der auswärtigen Auftritte oder verbringen zu viel Zeit in Hotels.

Und natürlich gibt es Beziehungen des Gebens und Nehmens, liebevolles Miteinander, enge Verbindungen der intimen Freundschaft bei Nichtverheirateten, Lebensgemeinschaften wie sie die berühmte Sängerin Frida Leider und Hilde Bahl gelebt haben. Ich hatte das ganz große Glück beide noch kennnengelernt zu haben, die Leider kurz vor ihrem Tod und Hilde Bahl in den Jahren danach hin und wieder besucht.

Hilde Bahl, Frida Leiders Lebensgefährtin/ Foto Sommeregger/ Frida-Leider-Gesellschaft

Anlass für meine Wiedererinnerung dieser Begegnungen ist der neue Symposiumsbericht Musik und Homosexualitäten im Testrem Verlag, das Dieter David Scholz für uns rezensierte und in dem Eva Rieger, bekennende lesbische Frauenforscherin und Professorin, sich zwar für die Rehabilitierung von gleichgeschlechtlichen Beziehungen einsetzt, gleichzeitig aber eine intime Beziehung zwischen Leider und Bahl vehement und im Vorfeld auch legalistisch bedrohend abstreitet.  Das Kompendium von Eva Rieger über Frida Leider, das Rüdiger Winter bei operalounge.de besprach (Himmel, ist das Buch banal!), verärgerte neben einer Vielzahl von sachlichen Fehlern auch durch akute Auslassungen eines ganzen Lebens-Bereiches von Frida Leider. Diese betreffen ihre Lebens-Gefährtin Hildegard Bahl, die hier unter die Räder des Nicht-Wahrhabenwollens und Vergessenmachens geraten ist. Sie hat rund 30 Jahre mit der Leider engstens zusammengelebt. Nicht als „Haushälterin“ (wie Frau Rieger en passant erwähnt: in einer 3-Zimmer-Wohnung?). Kein Foto von Hilde im Rieger-Buch natürlich. Aber ein Stein mit dem Namen „Hilde“ steht auf dem Grab der Leider und Gatte Deman auf dem Friedhof am Berliner Olympiastadion! Eben!

Was ich miterlebte, war es eine liebe-volle Beziehung, wie sie sich mir bei meinen Besuchen bei Frida Leider und später bei Hilde Bahl in ihrer gemeinsamen 3-Zimmer-Wohnung in der Oldenburgallee im Berliner Westend offenbarte. Andere Zeitzeugen wurden von der Rieger offenbar ebenso wenig gehört wie ich: Schüler, Freundinnen, Hochschulkollegen oder besonders Liva Lagger, die Frau des Berliner Bassisten, die mit beiden Frauen eng befreundet war und die die Übersiedlung von Hilde Bahl ins Altersheim, die Beerdigung der Bahl und den ganzen Nachlass regelte. Auch sie hätte erhellende Details zum Leben der Leider und der Bahl beibringen können…. Dies aber war ganz offensichtlich nicht gewollt.

Hilde(gard) Bahl ist gemeinsam mit ihren Eltern und einer Schwester auf dem Friedhof in Berlin-Schmargendorf bestattet. Foto: Winter

Ich lernte Frida Leider durch meine Gesangslehrerin Elisabeth Grümmer kennen. Man nahm mich zu einer Geburtstagsfeier mit, wo ich auch Hilde Bahl traf – eine bezaubernde Frau, die wie eine alt gewordene Lillian Harvey aussah und sich auch so mädchenhaft bewegte –, die jugendlich-helle Stimme wie ein Vögelchen, ganz reizend. Ich wurde der Leider vorgestellt und kam mit ihr ins Gespräch,  aber da war Sympathie zwischen uns.

Sie lud mich jungen Musikjournalisten sehr liebenswürdig ein, ohne den Trubel wieder zu kommen. Was ich tat. Otto Gebühr frappierend ähnlich öffnete sie mit Stock und Hochfrisur die Tür (Musikfans erinnern sich an ihren TV-Auftritt beim Bayerischen Rundfunk mit dunkelbraunem Putz auf dem Haupt), sehr herzlich. Es gab Kaffee und Streuselkuchen („Hildchen, die Herren haben sicher Kaffeedurst“, sagte sie mit ihrer dunklen Sprechstimme). Wir saßen in dem kleinen Besuchszimmer vorne links mit den unbequemen 50er-Jahre-Möbeln um den dto. schrägbeinigen Couchtisch herum, die Leider mit tragendem, fabelhaft artikulierendem Alt von der Nachkriegszeit und deren Widernissen erzählend (kein gutes Wort über Konkurrentin Tiana Lemnitz), achselzuckend die Fehlschläge von eigenen Regiebemühungen kommentierend, ganz Generelles zum heutigen/damaligen Opernbetrieb (sie neigte zum Generellen, gab aber doch verschlüsselt Details preis). Sie hatte ein paar vielversprechende Schüler gehabt, wollte eine Stiftung für den Nachwuchs einrichten (die es dann ja auch wohl gab/gibt). Ich war beeindruckt von ihrer sehr starken Persönlichkeit, vor allem aber von der liebevollen und fast etwas amüsierten Nachsicht gegenüber der Bahl. Die zwischen Küche und Zimmer hin und her sauste („Hildchen, nun setz dich doch mal hin!“) und diente. Man spürte die intime, liebevolle Beziehung zwischen beiden. Das war eine gewachsene, enge Verbindung. Ich schied mit einem Kuchenpaket („Nehmen Sie nur, Sie können´s brauchen!“ sagte Otto Gebühr mütterlich, während die Bahl mit dem Staniol knisterte). „Kommen Sie doch wieder!“, was zu zwei weiteren Besuchen und zu einem schönen Interview führte.

Dann war die Leider gestorben (am 4. Juni 1975). Mitte der Achtziger wollte ich einen Artikel über diese große Sängerin schreiben (vielleicht kamen bei Preiser gerade die umgeschnittenen LPs als CDs heraus?), und ich kontaktierte Hilde Bahl. Die sich freute und erinnerte sich an mich. Sie lud mich wieder zu sich nach Hause in die Oldenburgallee ein. Die Wohnung war unverändert. Dasselbe kleine Zimmer, dieselben Fünfziger-Möbel. Fast derselbe Streuselkuchen. Nur der Kaffee diesmal dünner … An der Wand hing wie schon beim ersten Besuch ein Großfoto von Gundula Janowitz („Eine sehr gute Freundin! Brigitte Fassbaender auch“). Es war nicht schwierig, die Bahl zum Sprechen zu bringen – sie gehörte zwar der diskreten Generation an, aber sie sprach doch über manches Persönliche, das ich hier nicht wiedergeben möchte. Sie sprach über ihr langes Zusammenleben mit der Leider (stets „Frau Professor“ oder „Frau Kammersängerin“), dass sie mit ihr den kranken Leider-Ehemann Deman nach dem Krieg gepflegt hätte (Hilde Bahl erinnerte sich an die Hühnerbrühe zur Stärkung). Wie sie die Leider nach dem Tod der Mutter und später Demans gestützt hatte, auch als die Erfahrungen an der Staatsoper weniger nett wurden und die Opernklasse sowie die Regiearbeiten aufgegeben werden mussten. (Tiana Lemnitz hob wieder einmal ihr Haupt – parallel zur kleinen Vogelstimme der Bahl).

Hilde: Der Gedenkstein ist in das Ehrengabe von Frida Leider und Rudolf Deman auf dem Friedhof am Berliner Olympiastadion eingelassen. Foto: Winter

Hilde Bahl, die ich im Ganzen über die Jahre dreimal besuchte und von der es auf der Website der Frida-Leider-Gesellschaft ein schönes Altersfoto gibt, war eine wirklich entzückende alte Dame, deren funkelnde Augen bei schräggelegtem Kopf viel Humor verrieten, die ihrer Generation entsprechend zwar zurückhaltend blieb, aber doch auch über ihre Beziehung zur Leider sprach und durchscheinen ließ, wie eng sie beide verbunden gewesen waren. Da kamen viele Details des gemeinsamen Lebens zur Sprache…

Hildegard Bahl (1908 – 2013) kam aus gutem Hause. Der Vater Johannes Bahl war Ingenieur mit Professoren-Titel bei Siemens gewesen – wenn ich mich recht erinnere, die Familie lebte eine Zeitlang in Japan, wo Bahl-Vater für Siemens arbeitete. Sie wurde – höhere Tochter, die sie war – als Sekretärin ausgebildet (sie sprach Englisch und Französisch und war stolz auf ihre Steno) und arbeitete in einer Anwaltskanzlei, später als Gesellschafterin bei einer Sängerin (Altistin? ich kann mich nicht genau erinnern), bis sie das Ehepaar Leider-Deman kennenlernte und – ostentativ als Sekretärin – 1948 nach dem Tod der Leider-Mutter deren Gesellschafterin wurde (Ehemann Deman starb erst 1960). „Hausdame“ las ich bei der Rieger, was absurd ist angesichts der kleinen Wohnung. Sie war die Freundin, gar kein Zweifel. Nach dem Tod der Leider 1975 blieb sie in der gemeinsamen Wohnung und bewahrte sozusagen das Leidersche Erbe. Es gab ja Dokumente, von der Leider gemalte Bilder, manches mehr, das sie mir zeigte und mit dem sie sich verbunden fühlte.

„Das war mein Teil“: Die Erinnerungen von Frida Leider erschienen erstmals 1959 im Westen bei Herbig. 

Und sie wies noch beim letzten Besuch auf die liebevolle Betreuung durch Liva Lagger hin, die für sie alles regelte, die das kleine Haus im Brandenburgischen Pausin verkauft hatte und die (als spätere Universalerbin nach der Bahl?) das Geld für sie zusammen hielt. Ihr hat sie einen relativ unbeschwerten Lebensabend und die letzten Monate im Altersheim zu verdanken (sie starb 2013 und liegt bei ihrer Familie auf dem Dorffriedhof in Berlin-Schmargendorf, während auf Frida Leiders Efeu-überwachsenem Grab auf dem Friedhof am Olympia-Stadion immer noch der Stein mit dem Namen „Hilde“ die Nähe der beiden auch nach dem Tode dokumentiert). Dass Hilde Bahl und Liva Lagger, die ja im Komplex Frida Leider eine so große Rolle gespielt haben, in Eva Riegers Buch nur ganz nebenbei vorkommen, ist mir unverständlich. Das hat Hilde Bahl auch nicht verdient. Weshalb es mir ein Bedürfnis ist, ihr hier einen Kranz zu winden. Danke für den Streuselkuchen, liebe Frau Bahl. Ich denke gerne und mit Rührung an Sie zurück. Geerd Heinsen

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(Abbildung oben: „In den Dünen. Solkinsdaag paa Stranden“  im Historischen Museum Speyer, Postkartensammlung: Die Vorderseite der Postkarte zeigt den Druck eines Gemäldes von Paul Fischer mit dem Titel  aus der Reihe „Dänische Kunst“. Dargestellt sind zwei Frauen in einer Dünenlandschaft am Meer. Auf der Rückseite befindet sich eine handschriftlich verfasste Nachricht von einer gewissen Pauline, in Speyer (unleserlich), an Fräulein Liesel Leonhardt in Landau (Pfalz) vom 7.8.1917. Der Poststempel ist ebenfalls vom 7.8.1917. Verlag Arthur Schürer & Co., B.-Schöneberg)

Von Franckenstein: „Li-Tai-Pe“

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„Ist die Geschichte zu klein für die große Musik?“, fragt sich die Regisseurin Adriana Altaras. Die „Musik ist so groß, als gäbe es ein Riesenproblem“, denn „die erzählte Geschichte in Li-Tai-Pe ist verhältnismäßig schnell erzählt“.

Recht hat sie. Denn es handelt sich bei Clemens von Franckensteins dreiaktiger Oper, welche die Oper Bonn mit der vorsichtigen Einschränkung wohl „erstmals wieder seit 1944“ vorstellte, um eine hübsche Episode aus dem Leben des chinesischen Dichters Li-Tai-Pe. Der der im 8. Jahrhundert lebende Li-Tai-Pe, auch Li-Bai, ist den meisten bekannt als Verfasser jener Gedichte, die Hans Bethge in (sehr!) freier Nachempfindung in seiner Anthologie Die chinesische Flöte sammelte, die zur Grundlage von Mahlers Das Lied von der Erde wurden.

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Clemens von Franckenstein/ Programmheft Bonn

Fast ebenso entrückt wie der chinesische Dichter scheint uns heute der einem fränkischen Adelsgeschlecht entstammende Clemens von Franckenstein (1875-1942), genauer Clemens Erwein Georg Heinrich Bonaventura von und zu Franckenstein, von seinen Freunden Clé genannt. Gemeinsam mit seinem Bruder Georg, der später die in der Familie übliche Diplomatenlaufbahn einschlug und für das österreichisch-ungarische Reich Positionen in Wien, Washington und London bekleidete, wuchs er in Dresden, Kopenhagen und Wien auf. Seine musikalische Ausbildung genoss er auf Empfehlung von Richard Strauss bei Ludwig Thuille in München, dann bei Iwan Knorr am Hochschen Konservatorium im Frankfurt. Er war Dirigent, Komponist und Intendant. In Berlin unter dem Generalintendanten Grafen Hülsen quasi auf die Tätigkeit des Intendanten vorbereitet, wird er 1912 als Generalintendant der Münchner Hoftheater berufen wurde.

„LI-TAI-PE“ von Clemens von Franckenstein/ Szene Oper Bonn/ Foto wie auch oben Thilo Beu

„Rund 17 Jahre stand Franckenstein insgesamt an der Spitze des Münchner Hof- und später Staatstheaters und hatte damit eine künstlerische Spitzenfunktion inne,“ schreibt Claudia Heine im 250-seitigen Beibuch zur Aufführung. „Durch sein Amt verkehrte er regelmäßig mit den berühmtesten Komponisten, Dirigenten und Dichtern seiner Zeit. Sein beruflicher Werdegang weist zwei auffällige Brüche auf: die zweimalige Abberufung als Intendant in München. Beide Male war sie durch äußere, politische Faktoren bestimmt. Vor allem die zweite Demission aber dürfte dazu geführt haben, dass der Name Franckenstein als (Opern-) Komponist heute weitgehend unbekannt ist. Was folgte, war eine Innere Emigration. Heine resümiert das folgendermaßen, Er gehörte somit zu jenen regimekritischen Künstlern, die eine »innere Emigration« während der Zeit des Nationalsozialismus gewählt haben, während andere die äußere Emigration im Ausland wählten. Auch wenn er sich nicht öffentlich äußerte, hat Franckensteins politische Haltung nicht nur dazu geführt, dass er den Posten der Intendanz der Münchner Staatstheater verlor; mit dem Rückzug aus dem hochangesehenen Amt folgte nach und nach – auch altersbedingt – ein Rückzug als Dirigent und Komponist, der bis heute nachwirkt.“

Franckenstein fünfte und letzte Oper wurde seine bekannteste und meistgespielte: Li-Tai-Pe oder genauer Des Kaises Dichter: Li-Tai Pe, zu dem der Tiefland-Librettist Rudolph Lothar den Text geschrieben hatte, wurde 1920 in Hamburg uraufgeführt und von zahlreichen Bühnen, darunter Berlin, Stuttgart und Köln, ins Repertoire genommen. Allein an der Bayerischen Staatsoper, an der u.a. 1925 Fritz Krauß und 1930 Julius Patzak die Titelrolle sangen, soll es zu mehr als 25 Aufführungen gekommen sein.

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„LI-TAI-PE“ von Clemens von Franckenstein/ Szene Oper Bonn/ Foto Thilo Beu

Zum Inhalt: Li-Tai-Pe wird also an den Hof des Kaisers gerufen, um dessen Liebe zur koreanischen Prinzessin in Worte zu fassen. Aus dem folgenden Sängerwettstreit, eigentlich einem Wettstreit der Dichter, in dem er den intriganten ersten Minister und den nicht weniger intriganten Kommandanten der Garde aussticht, geht Li-Tai-Pe als Sieger hervor. Die Konkurrenten rächen sich indem sie Li-Tai-Pe, der der Braut das Gedicht überreichen und sie dem Kaiser zuführen darf, beschuldigen, diese verführt zu haben. Yang-Gui-Fe, das Mädchen aus dem Volke, das den Dichter liebt und in der Verkleidung als Page bekleidete, wendet das Todesurteil ab und deckt die Verleumdung der Hofbeamten auf. Der Kaiser will den Dichter mit einem Titel und einem Amt am Hofe entlohnen, doch Li-Tai-Pe will nur „ein Lied auf meiner Laute suchen, Und dieses Lied wird ewig leben wie Dein Reich. Ich will kein Gold, ich will keine Schätze! Ich möchte‘ die besten Weine trinken in deinem großen Reich.“

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Man hat die Oper gerne als Künstlerdrama im Umfeld von Schrekers Fernem Klang und Wolf-Ferraris Sly, denen sich Werke wie Busonis Doktor Faust oder Kreneks Jonny spielt auf anschlossen, gedeutet. Auch Pfitzners Palestrina, eine der zentralen Uraufführungen (1917) während Franckensteins Münchner Intendanz, wird in diesem Zusammenhang genannt. Was in Li-Tai-Pe jedoch fehlt, ist ein wirklicher dramatischer Konflikt, denn der ungebunden lebende, freiheitsliebende Dichter, zu dessen ständigem Wegbegleiter der Wein gehörte, bekommt genau das, was er sich wünschte, „Wohlan, so sollst Du trinken dürfen“. Dann fährt er mit Yang-Gui-fe auf dem Boot, das ihm der Kaiser schenkt, davon, während Yang-Gui-Fe das leitmotivisch wiederkehrende Lied vom Kormoran anstimmt.

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„Li-Tai-Pe“. Oper in drei Akten. Rudolf Lothar, Clemens v. Franckenstein; Verlag: Drei Masken-Verlag, 1920

Der erste Akt bildet die wuselige Kleinteiligkeit eines Lebens in einer Schenke ab. Adriana Altaras scheint in ihrem Element und führt ins heutige Peking, das Christoph Schubiger mit einem Blick auf Pekings Straßen, in Kleinbetriebe und Garküchen in einer Mischung aus Phantasie und Realität farbstrotzend entworfen hat. Was gibt es, von der Regisseurin gefällig animiert, vor der Skyline der Wolkenkratzer nicht alles zu sehen von Vogelkäfigen bis kleinen Hunden, Fahrrädern, von Manikürestudio, Nähwerkstatt und Barbierladen bis zu Kleinküchen. Unauffällig dröselt Altaras diesen Flickenteppich auf, lässt allen Beteiligten und der Phantasie des Zuschauers Freiraum und führt die Mandarine mit ihren bunten Anoraks, langen Gewändern und Ketten als satirischen Kontrapunkt ein – und tut nur ein wenig zu viel des Guten, wenn sie diese in der Lichtpause zwischen erstem und zweitem Akt als Pausenclowns ins Parkett schickt. Liebreizend verspielt und ohne Bösartigkeit. Ein schärferer Zugriff hätte der Musik vermutlich nicht gutgetan. Über seiner kleinteiligen Musik wölbt Franckenstein selten den weiten Bogen spätromantischer Pracht, die dann eher korngolden als straussisch glitzert und sich allenfalls im Ensemble am Ende des ersten Aktes aufbauscht. Sinnekitzelnd, doch ohne falsche Chinoiserie, spätimpressionistisch filigran. Der zweite Akt, mit dem „Sängerwettstreit“ , wahrscheinlich der Höhepunkt der Oper, bietet eine kleine dramatische Steigerung.

Der dritte, bei dem Altaras und Schubiger in den Sitzungsraum des Parteibüros blicken, wie sie denn mit der Barche, der Voliere, dem Drachenkostüm, den Tuschzeichnungen und dem roten Turandot-Prunk immer Aktualität und Klischee und Märchen ironisch mischen, wiederum gewinnt durch die immense Autorität des von Joachim Goltz majestätisch und sinnhaft ausgedeuteten Kaisers, dessen Auftritte eine gewisse Operettenhaftigkeit umwehen, ohne in den Brettl-Duktus der 1920er Jahre zu verfallen. Ein Mann mit einer Stimme. Franckenstein hat das alles in ein wiegendes Parlando gekleidet, ungemein geschmackvoll und elegant orchestriert und ausgemalt, mit einem feinsinnigen Hauch an märchenhafter Exotik, die mich an Das Lied der Nacht des von den Nationalsozialisten verbotenen und nach England emigrierten Hans Gál erinnert, ohne sich prononciert modern zu geben, auch wenn man im Palaver der Mandarine manchmal den modernen Song-Stil zu ahnen meint. Juliane Brandes stellt Im Programmheft Franckenstein in einen großen Zusammenhang: „Mit seiner Kompositionsweise zeigt sich Franckenstein durchaus als Komponist seiner Zeit und befindet sich damit in bester Gesellschaft zu Zeitgenossen wie (völlig ungeordnet): Kurt Weill, Erich Wolfgang Korngold, Franz Waxmann, Emmerich Kalman, Paul Abraham, Franz Lehár, Bertold Goldschmidt, Viktor Ullmann, Erwin Schulhoff, Franz Schreker, Ernst Krenek u.a.m.“

Die Münchner Abendzeitung hatte das Werk 1925 mit den Worten der Zeit trefflich charakterisiert, „Dieser ehrlichen, ungekünstelten, aller Gespreiztheit baren Art kann man sich auch dann nicht entziehen, wenn man ruhig feststellt, daß es keineswegs die Größe und Originalität des Einfalls ist, die aus dieser Musik zu uns spricht.“  Ein anderer stellte fest, „daß dem Komponisten hochdramatische Leidenschaft fehlt. Er ist mehr Tonpoet als hinreißender Musikdramatiker“.

„LI-TAI-PE“ von Clemens von Franckenstein/ Szene Oper Bonn/ Foto Thilo Beu

Poetisch sind auch die beiden Hauptfiguren gezeichnet, der von Mirko Roschkowski mit schlanker Höhe und tragfägfäiger Lyrik in der Mittellage gesungene Li-Tai-Pe, der im Preisgedicht „In sanftem Leuchten blicken die Sterne“ auftrumpfen darf, und die in ihrer selbstlosen Hingabe wie eine Vorwegnahme der Liù anmutende Yang-Gui-Fe, für die Anna Princeva ihren dunkel reifen Sopran einsetzte. Giorgios Kanaris gab mit breit gestreutem Bariton den mit Li-Tai-Pe befreundeten Doktor der Akademie, mit dumpfem Bass sang Tobias Schabel den ersten Minister, während Santiagio Sanchez die Chance als kurzfristiger Einspringer nutzte (19. Juni 2022) und den Kommandanten der Garde mit klarem Tenor und schöner Textdeutlichkeit sang (Ruben Michael spielte auf der Bühne). Hatte man anfangs den Eindruck, Hermes Helfricht setze zu sehr auf orchestrale Bravour und Lautstärke und lasse sich von der Entdeckerfreude mitreißen, erwies er sich bald als ökonomisch lenkender Praktiker, der die theatralischen Qualitäten der kunstvollen Partitur aufspürte und mit dem Chor des Bonner Theaters und dem glänzend spielenden Beethoven Orchester bewies. Nachdem ich schon Meyerbeers Feldlager versäumt hatte, war ich froh diese Aufführung erlebt zu haben.

In der kommenden Spielzeit schüttet Opernchef Andreas K. W. Meyers Füllhorn im Rahmen von Fokus ’33, bei dem sich die Bonner Oper mit Werken beschäftigt, „die nach 1933 oder ab 1945 aus den Spielplänen verschwanden“ übrigens Franchettis Azrael und Schrekers Der singende Teufel aus.  Rolf Fath

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Unser Tipp, das gesamte hochinformative Programmheft der Oper Bonn als Beilage von der Bonner Oper zu erwerben oder sich evtl. als pdf schicken zu lassen – es lohnt sich, zumal das gesamte verwendete Libretto dort abgedruckt ist, was das Hören am Radio der WDR-Übertragung sehr erleichterte. Deutschlandfunk Kultur sendet das Werk noch mal am 13. August 2022 um 19.04 Uhr. G. H.

Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

E. T. A. Hoffmanns „Aurora“

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Am 25. Juni 2022 jährte sich der 200. Todestag des Allround-Künstlers E. T. A. Hoffmann. Schriftsteller, Musiker, Theatermann und natürlich (gern vergessen) Jurist in Preußischen Diensten in Bamberg, Posen, Würzburg und Berlin. Die berühmte Darstellung von Hoffmann (eigentlich Ernst Theodor Wilhelm Hoffmann, * 24. Januar 1776 in Königsberg, Ostpreußen; † 25. Juni 1822 in Berlin) und seinem Freund, dem Schauspieler Devrient im Schauspielhaus-nahen Lutter & Wegner ist heute, auch Dank des noch immer verkauften Sektes, allen Weinkennern bekannt, weil auf dem Etikett abgebildet. Und natürlich hat ihm Offenbach ein – wenn auch verzerrendes – Denkmal gesetzt.

Aber Hoffmann als Komponist ist in Vergessenheit geraten. Gelegentlich tauchen Aufführungen seiner kurzen, heiteren Stücke auf, aber seine großen Opern wie Undine oder Aurora oder auch Dirna liegen wie Blei und existieren nur in vergriffenen Einspielungen bei Bayer-Records unter dem verdienstvollen Hermann Dechant (1995) und  und (Dirna) bei cpo als WDR-Übernahme von 1998 unter Johannes Goritzki. Undine gibt es zudem unter Sammlern in einer schönen Rundfunkeinspielung vom BR/1971 mit Rita Streich in der Titelrolle – die CD-Übernahme fiel dem Copyright-Bann zum Opfer. Ähnlich erging es der Radioübertragung unter Robert Heger mit der anmutigen Antonia Fahberg aus Bamberg 1959, die Musikliebhaber natürlich ihr Eigen nennen.  Glaube, Liebe und Eifersucht, eines der lässlicheren Singspiele wurde in Schwetzingen vom Theater Heidelberg 1982 wiederbelebt.

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E.T.A. Hoffmann und sein Zechkumpan, der Schauspieler Ludwig Devrient, im Weinkeller von Lutter und Wegner in Berlin/ Staatsbibliothek Berlin/ E. T. A. Hoffmannportal

Hoffmanns Undine folgt mit Abweichungen dem vom Kollegen Lortzing bekannten Plot. Unbekannt ist hingegen seine Aurora, die wir als Hommage an den genialen Theatermann und Literaten Hoffmann in seinem Todesjahr 2022 vorstellen wollen. Sein Chef und Freund, der Bamberger Theaterleiter Franz von Holbein, verfasste das Textbuch zu Aurora und Cephalus (so der Originaltitel). Auch von dieser Oper sind kaum Aufführungen bekannt, wurde sie doch durch widrige Umstände erst 1933 in Bamberg in malträtierter Fassung erstaufgeführt. Ein Gastspiel aus Posen 2008 ließ in einer drastisch gekürzten Form (neuer Titel: Cephalus und Procris) das Bamberger Publikum ratlos zurück, Rainer Lerwandowskis Inszenierung galt als nicht besonders werkdienlich. Der Bayer-CD unter Hermann Dechant ging eine Konzertante Aufführung in Bamberg 1999 voraus. So war es die geniale Bearbeitung von Librettist und Regisseur Peter Lund an der Neuköllner Oper 1993 (Doppel-l weil nach dem alten Berliner Vorort Neu-Kölln benannt), die dem Berliner Operngänger bleibend im Gedächtnis ist.

Zu dieser Aufführung schrieb Jürgen Maier für das Programmheft den nachstehenden Artikel, den wir mit Dank an den Autor und die Neuköllner Oper Berlin wiederholen. E. T. A. hätte sich darüber sicher gefreut – denn von weiteren Ehrungen an den Opernhäusern von Berlin (wo sein Grabstein auf dem Friedhof am Halleschen Tor und das ehemalige Kammergericht/ heute Jüdisches Museum von seinem Wirken zeugen), Bamberg (immerhin sitzt dort die E. T. A. Hoffmann-Gesellschaft), Posen und anderen Stationen seines Lebens hört man 2022 gar nichts. Deutschland und seine Künstler eben … G. H.

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E. T. A. Hoffmanns Aurora“ an der Neuköllner Oper in Berlin1993/ Szene/ NKO

Und nun eine Einführung von Jürgen Maier: „Zum Musiker bin ich nun einmal geboren, das habe ich von meiner frühesten Jugend an gefühlt und mit mir herumgetragen. Nur der mir innewohnende Genius der Musik kann mich aus meiner Misere reißen – es muss jetzt etwas geschehen, etwas Großes muss ge­schaffen werden im Geiste der Bach, Händel, Mozart, Beethoven!“ So begeistert und überzeugt von seiner mu­sikalischen Sendung äußert sich E.T.A. Hoff­mann noch 1812, dem Jahr der Fertigstellung der Aurora. Aus unserer 180 Jahren späte­ren Perspektive verwundert es immer wieder, wie sehr der Literat Hoffmann sein Schicksal mit der Musik verband und wie spät er erst zur Literatur und damit zum Erfolg fand.

1776 in Königsberg geboren, wächst Hoff­mann nach der Trennung der Eltern unter der Obhut der Familie seiner Mutter auf. Er erhält früh musikalischen Unterricht durch seinen Onkel, später dann durch den Domorgani­sten Podbielski. Aus familiärer Tradition her­aus studierter Jura, vertieft aber parallel seine musikalischen Kenntnisse und versucht sich, der Zeitströmung entsprechend, im Verfassen von Romanen. Nach einer ersten Anstellung am Gericht in Glogau kommt Hoffmann 1798 nach Berlin ans Kammergericht. Hier gerät er erstmals in Kontakt mit den modernen Strö­mungen in der Musik und Literatur und lernt u. a. auch den herumreisenden Gitarristen und späteren Librettisten der Aurora, Franz von Holbein (1779-1855), kennen. 1799 schreibt und komponiert er seine erstes Singspiel Die Maske, das er in der Folgezeit vergebens dem Königlichen Nationaltheater zur Aufführung anbietet.

E. T. A. Hoffmanns „Aurora“ als „Cephalus und Procris“ im Gastspiel aus Posen in Bamberg 2008 / Bayern3

1800 wird Hoffmann nach Posen befördert, von wo er aber nach nur zwei Jahren in das Provinznest Plock strafver­setzt wird. Der Grund hierfür sind von Hoffmann gezeich­nete Karikaturen der Posener Gesellschaft, die auf einer Karnevalsredoute verteilt werden und offenbar so treffend sind, daß die Posener Honoratioren einen Regierungs-As­sessor Hoffmann für nicht mehr tragbar halten. In Plock lernt Hoffmann seine spätere Frau Mischa kennen, mit der er nach dem Tod einer gemeinsamen zweijährigen Tochter alleine bis an sein Lebensende zusammenbleiben wird. 1804 gelingt es Hoffmann, seine Versetzung nach War­schau zu erwirken. Dort bietet sich ihm in der von ihm mit gegründeten „Musikalischen Gesellschaft Warschau“ endlich auch ein weites Betäti­gungsfeld für seine vielseitigen künstlerischen Fähigkeiten. Er besorgt die Inneneinrichtung der neuen Räume, er komponiert und diri­giert, gestaltet Programmzettel und Bühnen­bild und ist bald ein angesehenes Mitglied der Warschauer Gesellschaft.

Das Glück währt aber nur kurz. Ende 1806 marschieren die Franzosen ein, und der preu­ßische Beamte Hoffmann verliert seine Stel­lung. Hoffmann geht deshalb 1807 zum zweiten Mal nach Berlin, wo er ein Jahr großer Not erlebt, gleichzeitig aber versucht, die Kunst zum Mittelpunkt seines Lebens zu machen.

E. T. A. Hoffmann/ Selbstbildnis/ Alte Nationalgallerie Berlin/ Winter

Mit einer 1807 veröffentlichten Anzeige gelingt es Hoffmann, eine Anstellung als Musikdirektor am Bamberger Theater zu be­kommen, die er im Herbst 1808 antritt. Der erhoffte künstlerische Erfolg tritt aber zunächst nicht ein. Das Theater hat finanzielle Proble­me, es gelingt Hoffmann aber auch nicht, das Orchester für sich zu gewinnen, sodass er die Orchesterleitung niederlegt und als Theater­komponist mit geringerem Gehalt angestellt wird. 1810 übernimmt Franz von Holbein die Leitung des Theaters, und es beginnt nun eine fruchtbare Zeit der Zusammenarbeit, in der das Bamberger Theater auch überregionale Bedeutung erhält. Holbein, dem die Leitung des Theaters angetragen wurde, ist ein erfah­rener, weitgereister Theatermann. Er wird später seine Karriere als Direktor des Burgthea­ters und der Hofoper in Wien beschließen. Hoffmann lernt von Holbein viel über die Theatermaschinerie und die Dramaturgie des Theaters. In dieser Zeit beginnt er, seine Theorien zur wahren romantischen Oper zu entwickeln.

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Hoffmann hat umfangreiche Schriften zur Musik hinterlassen. Hier ist er ein Erneuerer, und seine Einflüsse reichen weit ins 19. Jahr­hundert. Mit seinem musikalischem Werk gelingt ihm dies nicht, wenngleich diese Werke in technischer wie künstlerischer Hinsicht durchaus auf der Höhe ihrer Zeit waren und viele Elemente der Romantik beinhalten und vorwegnehmen. 1811, als Hoffmann mit der Aurora beginnt, liegt seine letzte Oper drei Jahre zurück. Er hat in diesen Jahren eine Wandlung durchgemacht, die ihn von Mozart zu Gluck führte und die er erstmals 1 810 in einer Rezension von Glucks Iphigenie in Aulis zum Ausdruck brachte Hoffmann kritisiert dort sicherlich auch sein früheres Schaffen, weshalb die Aurora als ein erster Schritt in jene Richtung zu werten ist, die später mit Wagner ihren Höhepunkt hatte: das Posen als die höchste Verschmelzung von Musik, Wort und Bild.

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E. T. A. Hoffmanns „Aurora“ in der bislang einzigen Aufnahme bei Bayer Records, inzwischen vergriffen/ Hermann Dechant dirigiert in der Folge des Konzertes in Bamberg 1990.

Die Oper: Ob die Aurora damals jene Lust ausgelöst hätte – man weißes nicht. Der Stoff der Aurora, die Geschichte von Cephalus und Procris war damals ein durchaus bekanntes und eingeführtes Theater- und Opernthema. Es ist von Holbein im Stile der Opera seria dahingehend bearbeitet, dass der Ehebruch und die politischen Intrigen völlig fehlen und alle Hauptfiguren recht emotional angelegt sind. Die Liebe, deren Erfüllung und die Entsagung aus Größe sind die Themen des Librettos, ganz im Stile der frühen Romantik. Der dramaturgische Aufbau ist sehr zielsicher auf die damaligen Möglichkeiten der Theatermaschinerie gesetzt, die Handlung ist nicht zwingend, aber einigermaßen logisch, auch wenn die Titelfigur Aurora erst ab dem 2. Akt recht spärlich auftaucht und die Geschichte letztendlich auch ohne ihr Zutun ihre Lösung finden würde. Für unsere heutigen Ohren nur schwerlich nachvollzieh­bar ist das Pathos der Verse und insbesondere der Sprechdialoge. Hoffmann mag aber seinen Gefallen daran gefunden haben, denn „der Plan, die Idee der Oper, wie der Dichter sie gibt, muss den Komponisten begeistern; und war sie dazu geeignet, die Phantasie aufzuregen, so wird ihre im Einzelnen matte oder verfehlte Ausführung ihn nicht aus der Begeisterung reißen“.

Die spärlichen Tagebucheintragungen Hoffmanns aus dem Jahre 1811 zeigen jedenfalls, dass Hoffmann sich mit viel Energie an die Arbeit machte. Ist der Stoff eigentlich ein Opera-seria-Sujet, so weist die Dominanz der Ensemble-Nummern in Richtung Opera buffa. Die Dialoge dürften, da Hoffmann sie eigentlich nicht mochte, dem damaligen Trend zum Singspiel geschuldet sein. Was schon beim ersten Hören für diese Oper einnimmt, sind die Transparenz und Leichtigkeit des Orchestersatzes. Dies wird erreicht durch die meist große Selbständigkeit der Streicher- und Bläsergruppen, die in ständigem Dialog miteinander stehen. Nur selten setzt Hoffmann den vollen Orchesterapparat ein. Auch verzichtet er auf große virtuose Anforderungen an das Orchester. Vielmehr versucht er überzeugend, die Musik in den Dienst des dramatischen Verlaufs zu stellen. Die Singstimmen entfalten sich frei über dem Orchester, die Ensembles sind meist Dialogszenen, in denen die Handlung spannungsreich und musikalisch stringent vorangetrieben wird. Nur selten werden die Stimmen vom Orchester gestützt, unnötige Verzierungen findet man kaum, und die Koloraturen sind ausgeschrieben. Auch zeigt Hoffmann ein sehr genaues Gefühl forden Sprachduktus. Ungewöhnlich vielfarbig ist die Einbindung der großen Chöre. Hoffmann setzt sie zur Erzeugung räumlicher Effekte ebenso ein wie als Hinter­grund-Rahmen und vor allem als handlungshemmendes und damit spannungsförderndes Element. Ungewöhnlich zart und stilistisch neu ist der Einsatz von Orchester und Chor bei der Zeichnung stimmungsvoller Bilder, wie z. B. der Sphärenwelt der Aurora. Nicht nur hier, sondern auch beim Einsatz von Erinnerungsmusiken, die in Richtung Leitmotiv weisen, verlässt Hoffmann seine Vorbilder, so dass die Aurora zu einem spannungsreichen Werk zwischen Klassik und Romantik wird.

E. T. A. Hoffmann und Frau in der Berliner Taubenstrasse/ eigenhändige Zeichnung/ Berliner Staatsbibliothek

Das Scheitern des Ideals: Im Vergleich zu den ersten beiden Aktschlüssen wirkt das große Finale sehr zerfahren und kann überraschenderweise nicht die geweckten Erwartungen erfüllen. Man kann spekulieren, dass Hoffmann, während er die Aurora schrieb, in seine fünfzehnjährige Gesangsschülerin Julia Marc verliebt war, die mit dieser Liebe zwar kokettierte, jedoch nie ernsthaft eine Beziehung in Erwägung zog. Diese Liebe machte ihn, wie sein Tagebuch belegt, ob ihrer Unmöglichkeit in der engstirnigen Bamberger Gesellschaft beinahe wahnsinnig, und Hoffmann konnte sich bei der Fertigstellung der Aurora vermutlich weder in ein erfülltes Liebesgefühl noch in stille Entsagung einfinden.

Das Problem der gebrochenen Darstellung der Erfüllung und des Glücks begegnet uns aber auch in Hoffmanns literarischem Werk. Hier gelingt es ihm jedoch mit den Mitteln der Ironie, die ihm in der Musik seiner Zeit noch nicht zur Verfügung standen, diese Unzulänglichkeit, die zwangsläufig aus dem irdischen Dasein entspringt, zu umgehen und das wahre Empfinden seinen Lesern zu überlassen. Dass nach der Aurora nur noch die Undine folgte, ist neben äußeren Umständen sicher auch der Tatsache geschuldet, dass Hoffmann die Zerrissenheit seiner Existenz, aber auch das nahe Scheitern des rein poetischen Lebensgefühls der Romantik spürte. Dies darzustellen, fiel ihm als Schriftsteller offenbar leichter.

Der überbordende Idealismus der Aurora macht es schwer, heutzutage an eine Inszenierung zu denken. Jedoch bietet das Werk neben seiner wichtigen musikgeschichtlichen Stellung gerade durch sein leises Scheitern viele Ansatzpunkte, die auf das Abgleiten der poetischen Romantik in das Biedermeier verweisen.

E. T. A. Hoffmanns Aurora“ an der Neuköllner Oper in Berlin 1993/ Szene/ NKO/Peter Lund

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Die weitere Geschichte: Dem Bamberger Theater geht das Geld aus, eine geplante Auffüh­rung der Aurora in Würzburg entfällt wegen des Krieges. Hoffmann verlässt 1813 Bamberg und wird Musikdi­rektor der Secondaschen Operntruppe in Leipzig und Dresden. Auch hier eckt er schnell an, offen­bar gibt es Differenzen mit dem Direktor darüber, wie dem Publikumsgeschmack Genüge getan werden kann. Nach der Kündigung nimmt Hoff­mann wieder, zunächst kostenlos, eine Stellung als Staatsbeamter in Berlin an. Mittlerweile eilt ihm durch seine Erzählungen Der goldene Topf und Ritter Gluck schon ein gewisser Ruf voraus, so dass er problemlos weitere Geschichten verkaufen kann. Mit der Aufführung der Undine im August flackert noch einmal kurz die Möglichkeit einer musikalischen Karriere auf, die Hoffnung, eine Kapellmeisterstelle zu bekommen, erfüllt sich aber nicht. Mit dem Brand des Schauspielhauses werden unter anderem die Dekorationen der Undine zerstört und damit offenbar auch alle weiteren Ambitionen Hoffmanns in diese Rich­tung.

Bis zu seinem Tode 1822 schreibt er noch einige Gelegenheitskompositionen. Anerkennung und Ruhm aber wird ihm nun endlich durch sein überaus reges literarisches Schaffen zuteil. Er verbringt seine letzten Jahre als anerkanntes Mit­glied der Künstlergemeinde Berlins und erlangt auch durch seine gesellige Trinkfestigkeit eine stadtweite Bekanntheit. Sein Tod ist überschattet von dem Konflikt um die Novelle Meister Floh, in der er die restaurative Gesinnung der Restauration persifliert. Die sich vermutlich zu Recht getroffen fühlenden juristischen Kollegen Hoffmanns starten eine Kampagne, die der kränkelnde Hoffmann nicht überlebt. Wenn sich die schnöde Wirklich­keit der Poesie annimmt, dann scheint die Poesie verloren.

E. T. A. Hoffmanns Aurora“ / Staatsbibliothek Berlin

Von der Partitur der Aurora verbleibt das Original in Würzburg und wird dort vergessen. Eine Abschrift landet in Wien, geht durch mehrere Hände und ist bis 1962 verschollen, als sie auf einer Auktion auftaucht und von der Staatsbiblio­thek Bamberg erworben wird. Im November 1933 findet eine auf dem Würzburger Material basie­rende Aufführung des „Kampfbundes für Deutsche Kultur“ statt. Musik und Text erfahren dabei aber starke Eingriffe, die das Werk unkenntlich ma­chen, so dass von einer Uraufführung nicht gespro­chen werden kann. Somit ist die Inszenierung der Neuköllner Oper in Berlin 1993 tatsächlich die erste szenische Aufführung, ziemlich genau 180 Jahre nachdem Hoffmann die letzten Stimmen und Ab­schriften fertiggestellt hat.

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Der Seltenheit wegen nun der Inhalt der Oper:  1. Akt: Procris, eine Königstochter, hat auf der Jagd einen flötenden Hirtenjungen kennen und lieben gelernt. Als Pfand überreicht Procris ihm eine Blumengirlande. Der junge Hirte mischt sich unter das Jagdgefolge und folgt Procris.

Im königlichen Garten teilt Erechtheus seinem Feldherrn Polybius mit, daß er Procris mit König Dejoneus vermählen will. Überraschend teilt Poly­bius mit, daß er selbst auch Procris zu heiraten wünscht. Als Procris mit dem Jagdgefolge eintrifft, stellt er sie vor die Wahl. Verzweifelt verlangt Procris Aufschub. In ihrem Gemach offenbart sie Polybius ihre neu gefundene Liebe, der daraufhin großmütig verzichtet und Procrisverspricht, ihrbei der Erfüllung ihrer Liebe zu helfen. Sie solle zum Schein ihn als Bräutigam wählen.

Hoffmanns Grabstein auf dem Friedhof am Halleschen Tor, Berlin/ für uns Heutige überraschend ist das W. als drittes Inizial/ A. für Amadeaus war ein selbstgegebener Vorname, aber auf dem Grabstein musste der originale Wilhelm erscheinen/ Foto Winter

Im Inneren eines prächtigen Tempels sind Volk und Priester anwesend, und alle harren der Ent­scheidung Procris‘. Wie vereinbart wählt sie Poly­bius. Dejoneus will zu den Waffen greifen, der Vater ist entsetzt. Plötzlich tritt der junge Hirte hen/or und will sich in sein Schwert stürzen, da er sich von Procris verraten glaubt. Procris wirft sich in seine Arme. Die Priester sind bestürzt über diese Entweihung des Tempels. Philarcus, Leibwächter des Dejoneus, scheint etwas an dem Hirten zu erkennen, doch wagt er nichts darüber zu sagen. Die Fürsten und Priester fordern den Tod des Hirten, und Polybius bietet sich an, das Urteil zu vollstrecken.

2. Akt: Im Tempel der Aurora am Meeresrand versteckt Polybius den jungen Hirten. Der Hirte bittet die Göttin um Gnade und Schutz. Die Mor­genröte naht, und Aurora steigt aus den Fluten. Sie nähert sich dem Jüngling und verliebt sich sogleich in den Unglücklichen. Sie lockt ihn in ihr Reich, indem sie verspricht, ihm bei der Erlangung seiner Liebe zu helfen, dabei sich selbst meinend. Polybi­us meldet unterdessen Erechtheus den Vollzug des Todesurteils. Der hinzukommende Dejoneus will die erlittene Schmach nur vergessen, wenn ihm Procris als Sklavin übergeben wird. Dies versetzt Erechtheus in Rage, und er will das Schwert ziehen, als Procris, um Gnade für den Hirten flehend, hereinstürzt. Erechtheus verweist auf die Meldung von Polybius, woraufhin Procris sich endgültig verraten glaubt. Es gelingt jedoch Poly­bius, im Verlauf des Streites Procris unauffällig die Wahrheit mitzuteilen. Ihre freudige Reaktion er­klärterden beiden Königen als Geistesverwirrung aus Liebesschmerz. In ihrem Palast gesteht Aurora dem jungen Hirten ihre Liebe, unterstützt von Flötenspiel und Sirenengesang. Der Jüngling bleibt jedoch standhaft, allein Procris gilt seine Liebe. Aurora gibt sich geschlagen. Sie will ihm helfen.

“ L´Aurore“/ Gemälde von Fragonard/ Louvre Paris

3. Akt: Im königlichen Garten findet Dejoneus Philarcus im Schlafe redend. Ersprichtvon Diome- des, der verstorbenen Frau des Dejoneus, die offenbar die Tötung ihres gemeinsamen Sohnes Cephalus befohlen hatte. Ein Leibwächter gesteht, daß Diomedes ihm aufgrund eines Orakels, worin es hieß, der Sohn werde einst dem Vater das Teuerste entreißen, befohlen habe, Cephalus zu töten. Er sei hierzu aber unfähig gewesen und habe das Kind mit einem Brandzeichen versehen in einem Kahn ausgesetzt. Eben dieses Zeichen habe er nun bei dem jungen Hirten wiederent­deckt. Durch das erneute Todesurteil sei der Sohn nun endgültig verloren. Dejoneus will Philarcus daraufhin töten. Die hinzukommenden Procris und Polybius verhindern dies. Im Laufe des Gesprächs gesteht Polybius, daß er Cephalus nicht getötet habe. Für Dejoneus hat sich so sein Orakel erfüllt: Der Sohn entreißt ihm die teure Procris, was er aber nun gutheißt. Cephalus beschließt, als Frem­der aufzutreten und Procris auf die Probe zu stellen. Im Tempel werden schon Hochzeitsvorbe­reitungen getroffen. Cephalus tritt als fremder König auf, der um die Hand der Königstochter anhält. Erechtheus bedeutet ihm, daß seine Toch­ter bereits vergeben sei. Cephalus ziehtdas Schwert, woraufhin sich Dejoneus ihm entgegenstellt. Just in diesem Moment taucht Polybius auf und gesteht, daß er den Tempel der Aurora leer vorgefunden habe. Cephalus hat unterdessen begriffen, daß es um ihn geht, nimmt seinen Helm ab und gibt sich zu erkennen. Vater und Sohn umarmen sich. Cephalus führt Procris zu Aurora, vor der beide niederknien. Die Göttin verwandelt sich, und die Aussicht „zerfließt in einen ganz rothen Horizont, in deßen Milte Aurorens Stern, den ganzen Tem­pel roth überstrahlend, schwebt. Alle sinken auf die Knie, Aurora winkt allen, sich zu erheben“. Jürgen Maier

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Der Autor des Artikels, Jürgen Maier, war zum Zeitpunkt der Aufführung Geschäfts­führer der Neuköllner Oper, die das Werk 1993 in ihrer Originalfassung szenisch uraufführte; Winfried Radecke hatte die musikalische Lei­tung, Peter Lund besorgte die Regie in der Ausstat­tung von Ulrike Reinhard und Daniela Thomas; in den Hauptrollen sangen Regine Gebhard/Auro­ra, Barbara Hoos de Jokisch/Cephalus, Stefan Stoll/Dejoneus, Hans Arthur Falckenrath/Erech­theus, Lothar Odinius/Philacrus, Berthold Kogut/ Polybius und Bettina Eismann/Procris.

Von der Bamberger konzertanten Aufführung 1999 mit dem dortigen Jugendorchester unter Hermann Dechant gibt es einen CD-Mitschnitt bei Bayer Records, inzwischen vergriffen wie auch die Undine und Dirna. Wir danken dem Autor Jürgen Maier und der Neuköllner Oper Berlin. G. H.

Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Durststrecken vom See

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Nerone, mit Blut besudeltem Hemd, auf dem Boden. Fein säuberlich getrennt hat Frank Philipp Schlössmann das kaiserliche und christliche Rom und bereitet damit Olivier Tambosi eine spiegelnde, durch Leuchtstehlen gegliederte und verwandelbare Spielfläche für den jetzt auch auf Bluray erschienenen Nerone Arrigo Boitos, der erst 2022 in Bregenz seine Premiere hatte und entsprechend des Zeitgefühls während der Pandemie viel länger zurückzuliegen scheint (Bluray C Major 761304). Leider ohne Untertitel, was ein schweres Versäumnis ist und ein Verständnis dieses ungemein vielgliedrigen, vielschichtigen und komplizierten Vierakters einigermaßen erschweren dürfte. Ein von Ängsten gepeinigter Kaiser, ein charismatischer heidnischer Priester, ein christlicher Prediger, eine ihm verbundene keusche Vestalin sowie die seltsame Schlangenfrau Asteria, dazu das brennende Rom und der Circus Maximus, den Schlössmann und Tambosi für entsprechende, immer wiederkehrende Zirkusmetaphern nutzen und dabei virtuos mit Bildern und Motiven jonglieren. Großes Theater. Alles ist in dieser Inszenierung beziehungsreich und bedeutungsvoll verschachtelt, manchmal etwas süßlich, oft erlesen pathetisch, dezent gruselig, doch stets prägnant, wobei ich mir häufiger den Blick auf die Totale gewünscht hätte.

Musikalisch konnte Boito nicht alles einlösen, was er ein halbes Leben lang in dieser Oper anstrebte. Grandiosen Chormomenten und orchestraler Wucht, wie gleich in der Eingangsszene “Canto d’amore vola col vento“, stehen rezitativische Durststrecken, wie beispielsweise in der markanten, manchmal arios aufgebrochenen Deklamation Simon Magos gegenüber, den Lucio Gallo mit verzerrtem Mund und dem geballten Ausdruck seines Charakterbaritons gibt und nicht nur im zweiten Akt als schwarzer Engel eindrucksvoll spielt. Der Nero dürfte einer der letzten großen Auftritte des im Januar verstorbene mexikanische Tenor Rafael Rojas gewesen sein, der ebenfalls, u.a. im grünen Kleid und mit der Perlenkette seiner toten Mutter Agrippina, ein hingebungsvolles Porträt liefert und am Ende des ersten Aktes die Gewissensqual und Ekstase des Kaisers mit geschmackvoller Deklamation über die Chormassen wuchtet und im zweiten Akt den langen Tiraden Farbe und Intensität einhaucht. Möglicherweise kann die Bluray nicht ganz die Leistung Dirk Kaftans, seine Souveränität und sein Geschick einfangen, mit denen er die Tempelgesänge und Raumklänge auffächert und mit den Wiener Symphonikern und dem Philharmonischen Chor Prag Boitos Klanggesten Bedeutung und Gewicht verleiht. Auf jeden Fall ist dieser Mitschnitt hochwillkommen, selbst wenn die interessant klingende Sventlana Aksenova als Asteria, Alessandra Volpe mit energischer Mezzoattacke als Rubria und Brett Polegato mit solider Baritonhöhe als Fanuèl ihre Partien stimmlich nicht ausschöpfen; große darstellerische Leistungen zeigen sie alle. (Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.)  Rolf Fath.