Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Durststrecken vom See

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Nerone, mit Blut besudeltem Hemd, auf dem Boden. Fein säuberlich getrennt hat Frank Philipp Schlössmann das kaiserliche und christliche Rom und bereitet damit Olivier Tambosi eine spiegelnde, durch Leuchtstehlen gegliederte und verwandelbare Spielfläche für den jetzt auch auf Bluray erschienenen Nerone Arrigo Boitos, der erst 2022 in Bregenz seine Premiere hatte und entsprechend des Zeitgefühls während der Pandemie viel länger zurückzuliegen scheint (Bluray C Major 761304). Leider ohne Untertitel, was ein schweres Versäumnis ist und ein Verständnis dieses ungemein vielgliedrigen, vielschichtigen und komplizierten Vierakters einigermaßen erschweren dürfte. Ein von Ängsten gepeinigter Kaiser, ein charismatischer heidnischer Priester, ein christlicher Prediger, eine ihm verbundene keusche Vestalin sowie die seltsame Schlangenfrau Asteria, dazu das brennende Rom und der Circus Maximus, den Schlössmann und Tambosi für entsprechende, immer wiederkehrende Zirkusmetaphern nutzen und dabei virtuos mit Bildern und Motiven jonglieren. Großes Theater. Alles ist in dieser Inszenierung beziehungsreich und bedeutungsvoll verschachtelt, manchmal etwas süßlich, oft erlesen pathetisch, dezent gruselig, doch stets prägnant, wobei ich mir häufiger den Blick auf die Totale gewünscht hätte.

Musikalisch konnte Boito nicht alles einlösen, was er ein halbes Leben lang in dieser Oper anstrebte. Grandiosen Chormomenten und orchestraler Wucht, wie gleich in der Eingangsszene “Canto d’amore vola col vento“, stehen rezitativische Durststrecken, wie beispielsweise in der markanten, manchmal arios aufgebrochenen Deklamation Simon Magos gegenüber, den Lucio Gallo mit verzerrtem Mund und dem geballten Ausdruck seines Charakterbaritons gibt und nicht nur im zweiten Akt als schwarzer Engel eindrucksvoll spielt. Der Nero dürfte einer der letzten großen Auftritte des im Januar verstorbene mexikanische Tenor Rafael Rojas gewesen sein, der ebenfalls, u.a. im grünen Kleid und mit der Perlenkette seiner toten Mutter Agrippina, ein hingebungsvolles Porträt liefert und am Ende des ersten Aktes die Gewissensqual und Ekstase des Kaisers mit geschmackvoller Deklamation über die Chormassen wuchtet und im zweiten Akt den langen Tiraden Farbe und Intensität einhaucht. Möglicherweise kann die Bluray nicht ganz die Leistung Dirk Kaftans, seine Souveränität und sein Geschick einfangen, mit denen er die Tempelgesänge und Raumklänge auffächert und mit den Wiener Symphonikern und dem Philharmonischen Chor Prag Boitos Klanggesten Bedeutung und Gewicht verleiht. Auf jeden Fall ist dieser Mitschnitt hochwillkommen, selbst wenn die interessant klingende Sventlana Aksenova als Asteria, Alessandra Volpe mit energischer Mezzoattacke als Rubria und Brett Polegato mit solider Baritonhöhe als Fanuèl ihre Partien stimmlich nicht ausschöpfen; große darstellerische Leistungen zeigen sie alle. (Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.)  Rolf Fath.

Frauenlieder

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Neu ist eine bei Alpha-Classics in Verbindung mit BR Klassik eingespielte CD mit dem Titel This Be Her Verse mit Werken von Komponistinnen dreier Generationen erschienen, mit denen sich Golda Schultz und Jonathan Ware intensiv auseinandergesetzt haben. In einem ausführlichen Vorwort erklärt Golda Schultz selbst, dass sie von der Frage ausgegangen ist, die sie schon länger beschäftigte: „Wie wäre es, wenn eine Frau ihre Geschichte selbst erzählen würde“, das heißt, dass eine Frauenstimme die Musik von Komponistinnen eventuell noch besser ausdeuten kann, möglicherweise am Besten, wenn auch die Texte von einer Dichterin stammen. Ich könnte mir für dieses Konzept vielleicht auch noch eine Begleiterin am Klavier vorstellen, was in keiner Weise Jonathan Ware herabwürdigen soll.

Das Programm beginnt mit vier Liedern von Clara Schumann nach Texten von F.Rückert, W.Gerhard und H.Heine: Bei Liebst du um Schönheit stellt die Sopranistin ihre volltimbrierte, gleichmäßig durch alle Lagen gebildete Stimme vor, wobei Ware ihr am Klavier ein auf alle Nuancen eingehender sicherer Partner ist. Die deutsche Sprache ist für die Südafrikanerin, die seit längerem fest in Augsburg lebt, auch kein Problem. Höhepunkt dieser ersten Lieder ist Lorelei, in dem die Sängerin ihre Ausdruckspalette weit ausbreitet und der Pianist die Wellen brillant aufrauschen lässt.

Etwa zeitgleich mit Clara Schumann profilierte sich Emilie Mayer mit eigenen Kompositionen, von Klaviermusik über Kammermusik, Orchester- und Chorwerken bis zu Liedern mit Klavierbegleitung. Heinrich Heines Du bist wie eine Blume und Helmina von Chézys Wenn der Abendstern die Rosen lohnen das Kennenlernen mit einfallsreichen Melodienfolgen, die Golda Schultz mit wunderbarem Legato und elegant perlenden Verzierungen erfüllt. Sehr interessant ist auch Goethes Erlkönig, bei dem ihr die Zwiegespräche eindringlich gelingen. Offiziell gelistet gibt es zwei unterschiedliche Fassungen dieses Liedes, die etwa 1842 (I) und 1870 (II) entstanden; welche die hier vorliegende ist, wird leider nicht erwähnt.

Rebecca Clarke, Engländerin amerikanisch-deutscher Abstammung, gilt heute als eine der wichtigsten Komponistinnen ihres Landes zwischen den Weltkriegen. Da gibt es neben dem berührenden Down by the Salley Gardens nach W.B.Yeats das ausdrucksstarke The Tiger nach W.Blake, in dem nicht nur die Stimme sondern auch das Klavier das schleichend Gefährliche und Lauernde sehr gut herausarbeitet. Mit ganz eigenwilligen Tonfolgen und Sprüngen begeistert das Wiegenlied Cradle Song, ebenfalls nach W.Blake. Deutliche Anklänge an Britten und Vaughan-Williams sind bei Seal Man nach dem für mystische Lyrik bekannten John Masefield zu erkennen; Jonathan Ware macht das lange Nachspiel zu etwas Besonderem.

Von Nadia Boulanger, Clarkes Zeitgenossin, erklingen 3 Lieder aus der frühen Zeit (1909) Prière nach H.Bataille, Élégie nach A.V.Samain und Cantique nach Maurice Maeterlinck. Sehr einschmeichelnd ist La mer est plus belle gelungen. Im Französischen verschwimmen die Konsonanten bei Golda Schultz allerdings sehr stark, alles ist Klang mit feinen Nuancen. Gut, dass die Texte aller Lieder der CD in Deutsch, Englisch und Französisch im Beiheft aufgelistet sind.

Als Auftragswerk für Schultz und Ware entstand ein drei Lieder umfassender Zyklus der Südafrikanerin Golda Schultz nach Lyrik von Lila Palmer unter Zusammenarbeit mit den beiden Interpreten. Tagg benutzt das Klavier nicht nur von außen sondern auch von innen, durch Anreißen der Saiten, Klopfen auf Holz und ähnliche kleine Mittel, um dem Text Nachdruck zu verleihen; die in New York lebende Tagg verbindet heimatliche Spuren mit Melodien der Neuen Welt in ihren Klangwelten. Schwierige Intervalle und ständig wechselnde Stimmungen zeichnen After Philip Larkin aus, die Sängerin und Pianist sehr gut nahebringen. Wedding zeichnet das satirisch oder humorvoll anzusehende Bild einer bereits direkt nach ihrer Trauung auf ihren Bräutigam wartenden Braut, hier mit einem zwinkernden Auge vorgetragen. Eine angebliche Verteidigung einer Single-Frau ist Single Bed, wobei die unterdrückten Wünsche immer durchschimmern. Insgesamt ist dies eine beeindruckende Einspielung mit hervorragenden Interpreten (Alpha 799/ 19. 06. 22).  Marion Eckels

Hornemans „Aladdin“

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Elfen und Geister scheinen durch die Ouvertüre des Aladdin zu schweben, der Christian Frederik Emil Hornemann mehrere Jahrzehnte beschäftigte, und eröffnen eine hochromantische Märchenwelt. Wenige Jahre nach seinem Studienaufenthalt, der Horneman wie bereits zuvor seinen Landsmann Niels Wilhelm Gade, 1858-60 nach Leipzig führte, scheint das 1864 komponierte, 1866 erstmals aufgeführte und seither im dänischen Konzertrepertoire verbliebene große Orchestergemälde wie ein Nachklang auf Mendelssohn-Bartholdy und Weber zu sein (und ein Blick zu jpc zeigt eine Menge an weiteren orchestralen und kammermusikalischen Hinterlassenschaften).

Doch zunächst hielten Horneman andere Tätigkeiten auf Trab, die Etablierung eines Musikverlags, die Musikgesellschaft Euterpe, die er ebenso wie die Konzertgesellschaft Koncertforeningen mitbegründete, dazu Tätigkeiten als Dirigent und schließlich die Gründung eines eigenen Musikinstituts. Sein Hauptwerk, der Aladdin, zu dem ihm der befreundete Benjamin Feddersen den Text schrieb, begleitete Horneman während seiner Reisen durch Europa, wurde zur Seite gelegt und wiederaufgenommen und schließlich für eine Aufführung anlässlich des 25jährigen Thronjubiläums von Christian IX. 1888 in Betracht gezogen und hurtig in Szene gesetzt.

Über die chaotischen Umstände der unbefriedigend verlaufenen Uraufführung schreibt Inger Sørensen ausführlich in der wie stets bei Dacapo sorgfältig aufbereiteten Einspielung (3 CDs Dacapo 6.200007), bei der nur die Rückseite der Box – blau auf schwarz – absolut unlesbar bleibt. Anerkennung wurde Horneman erst 14 Jahre später am 4. April 1902 mit der überarbeiteten Fassung des Aladdin zuteil. Nach 18 ausverkauften Aufführungen wurde die Oper seit 1903 nicht mehr gegeben und durch die Aladdin-Musik des jüngeren Carl Nielsen, die dieser für Wiederaufführungen von Adam Oehlenschlägers Schauspiel komponierte, verdrängt. Rundfunkaufnahmen 1953 und 1978 konnten die Oper, die in Deutschland, im Gegensatz zu dem 2017 in Braunschweig aufgeführten Gegenentwurf des schwedischen Spätromantikers Kurt Atterberg, nie zu hören war, nicht vor dem Vergessen retten.

Das wird auch der im November 2020 im Konzertsaal des Dänischen Rundfunks entstandenen Aufnahme kaum gelingen, mit der sich Michael Schønwandt mit dem Danish National Symphony Orchestra und dem vornehmlich in den Rahmenakten geforderten Danish National Concert Choir energisch für das musikalische Erbe einsetzt. Natürlich ist es interessant, diese romantische, mit Balletten und Chören recht weitschweifig geratene Oper mit ihren konventionellen Mustern und den Wagner-Reminiszenzen zu hören, die den Aladdin beispielsweise mit seiner Arie im ersten Akt, während er in der Höhle einschläft und von der schönen Gulnare träumt, zu einem Bruder des Siegfried machen. Doch alles in allem werden die drei Stunden und vier Akte, in denen Horneman Episoden aus Tausendundeine Nacht abhandelt und den Gefühlen, Gedanken und Träumen seines Titelhelden, für die der 1993 geborene Bror Magnus Tødenes neben lyrischer Geschmeidigkeit etwas mehr an jugendlich dramatischer Dringlichkeit aufbringen könnte, breiten Raum einräumt, reichlich lang.

Der böse Noureddin schickt Aladdin in eine Höhle, um die geheimnisvolle Wunderlampe zu erlangen. Nachdem ihm Aladdin Gold und Silber aus der Höhle überlassen hat, stößt Noureddin Aladdin in die Höhle zurück. Der Geist des Zauberringes, den ihm Noureddin überließ, führt Aladdin aus der Höhle. Aladdin hofft mit den Schätzen aus der Höhle Gulnare, die Tochter des Sultans, zu erringen. Er putzt die Zauberlampe, worauf der Geist der Lampe die arme Hütte in einen Palast verwandelt und der Sultan einer Hochzeit mit seiner Tochter zustimmt. Die Liebenden sind überglücklich, doch währen der Hochzeitsfeier entführt Noureddin Gulnare und lässt den Palst verschwinden. Wieder hilft der Geist des Ringes. Aladdin gewinnt Gulnare zurück, tötet Noureddin wird nach dem Tod des Sultans zu dessen Nachfolger ernannt. Horneman schweißt die schwermütigen Momente des ersten Aktes und der Friedhofsszene des vierten, das höfische Zeremoniell, die Festmusiken und Ballette durch eine farbig kunstvolle Orchestrierung und packende Ensembles zusammen, doch die Gesangslinien für Stephen Millings mächtigen Märchenbuch-Sultan oder Henning von Schulmans Vizier wirken vorgestanzt und gefriemelt. Auch Hanne Fischer kann als Aladdins Mutter Morgiane ebenso wie der tüchtige Johan Reuter als Bösewicht Noureddin wenig Individualität zeigen. Für die Gulnare steuert Dénise Beck lichten Prinzessinnen-Liebreiz bei. Im Ganzen aber keine Wiederentdeckung; anders als kürzlich August Emil Ennas schöne Kleopatra.    Rolf Fath

Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Vokales von Stradella über Gomes bis Eisler

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.Zu den Jubilaren des Jahres 2022 gehört Ralph Vaughan Williams (1872-1958), der neben bedeutenden sinfonischen Werken und Kammermusik viel für den Bereich des Liedes getan hat. Besonders bekannt ist er durch die Sammlung von Folksongs geworden, ohne auf selbstständige Kompositionen zu verzichten. hyperion hat jetzt drei in den Jahren 1903 bis 1915 komponierte Liedzyklen herausgebracht, die der Tenor Nicky Spence und der Pianist Julius Drake eingespielt haben. Den Anfang machen Four Hymns für Tenor, Viola und Klavier nach frei übersetzten Gedichten aus früheren Zeiten. Zunächst fällt hier die aparte Begleitung auf, weil dem Klavier die Viola, gespielt von dem präsenten Bratscher Timothy Ridout, hinzugefügt ist. Der schottische Tenor gefällt mit schönem Legato in den lyrischen Passagen, aber auch in den spätromantischen hymnischen Aufschwüngen. Im Liederzyklus The House of Life nach Liebesgedichten des britischen Dichters und Malers Dante Gabriel Rossetti kommt die Kunst des Sängers zum Tragen, die vielen Lyrismen intensiv interpretieren zu können; dabei hilft ihm in partnerschaftlichem Mitwirken der besonders im Liedgesang versierte Pianist. Neben drei English Folk Songs aus verschiedenen Sammlungen des Komponisten enthält die empfehlenswerte CD mit dem Zyklus On Wenlock Edge für Tenor, Klavier und Streichquartett ein Hauptwerk aus dem Liedschaffen von Vaughan Williams. Der Zyklus besteht aus sechs Gedichten der 63 Gedichte umfassenden Sammlung A Shropshire Lad des englischen Gelehrten und Dichters Alfred Edward Housman (1859-1936). Alle Gedichte sind durch starken Pessimismus und die ständige Beschäftigung mit dem Tod geprägt. Dem Tenor gelingt es eindrucksvoll, die melancholischen, manchmal schon geradezu depressiven Stimmungen, aber auch die verzweifelten Ausbrüche wiederzugeben, wobei das junge Piatti Quartet gemeinsam mit dem Pianisten der Singstimme passende Klangteppiche unterlegt und so zur eindringlichen Interpretation beiträgt (hyperion CDA68378/ 19. 06. 22)).

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Hierzulande so gut wie unbekannt ist der russische Komponist Nikolay Myaskovsky (1881-1950); Wikipedia macht einen da schlauer: In der Nähe von Warschau geboren, wo sein Vater als Militäringenieur stationiert war, sollte er zunächst nach dessen Willen trotz seines offenkundigen musikalischen Talents eine Militärlaufbahn einschlagen. Nach der militärischen Ausbildung bis 1902 in Nischni Nowgorod und St. Petersburg war er in Moskau als Offizier tätig. Zuvor hatte er bei seiner Tante, einer Sängerin, ersten Musikunterricht erhalten, den er ab 1906 nach Rückkehr nach St. Petersburg am dortigen Konservatorium u.a. bei Rimski-Korsakow fortsetzte. Nach Abschluss der Studien im Jahre 1911 schrieb Myaskovsky Artikel für eine Musikzeitschrift und gab Privatstunden. Jetzt lernte er Sergej Prokofjew kennen, mit dem er in lebenslanger Freundschaft verbunden war. 1907 reichte er seinen Abschied aus der Armee ein und wurde im folgenden Jahr Reservist. Im 1. Weltkrieg wurde er schwer verletzt; nach der Oktoberrevolution trat er in die Rote Armee ein und reichte erst 1921 seinen Abschied ein. Nach dem Krieg beteiligte sich Myaskovsky aktiv an der Neugestaltung des Moskauer Musiklebens, wo er 1921 Professor für Komposition am Konservatorium wurde – eine Position, die er bis zu seinem Tod 1950 inne hatte. Myaskovsky gehörte 1948 zu den im Beschluss des Zentralkomitees der KPdSU als „Formalisten“ kritisierten Komponisten, wurde allerdings bald darauf rehabilitiert. Nachdem in seinen Werken zunächst Spätromantisches wie etwa von Tschaikowski und Rachmaninow spürbar war, er später auch „Westliches“ wie von Ravel aufnahm, änderte sich sein Stil etwa ab 1932 grundlegend. Jetzt  ging er deutlich auf die Forderungen des „Sozialistischen Realismus“ ein und orientierte sich bis zu einem gewissen Grade an der russischen Nationalromantik des 19. Jahrhunderts. In den 1940er-Jahren wurde seine Tonsprache wieder dunkler und melancholischer; insgesamt ist sein Spätstil recht traditionell, indem die Harmonik nicht so scharf ist wie in der mittleren Periode und die Tonalität wieder bekräftigt wird. Myaskovsky hatte eine große Vorliebe für Sinfonien und Streichquartette; sein Werkverzeichnis enthält aber auch Klavierstücke, andere Kammermusik und einiges Vokales.

Zwei Liedzyklen, das 1946 entstandene Notebook of Lyrics op. 72 und die Romanzen op. 40 von 1935/36, sind jetzt erstmals erschienen (TOCCATA CLASSICS TOCC 0355). Das Notebook of Lyrics enthält Vertonungen von vier Gedichten von Mira Mendelson, der zweiten Frau von Sergej Prokofjew, und von zwei von ihr übersetzten Gedichten von Robert Burns. Die ersten vier Lieder sind kompositorisch meist schlicht gehalten; diese interpretiert die russische Sängerin Tatiana Barsukova mit angenehm timbriertem Sopran, den sie sicher durch alle Lagen zu führen weiß. Die beiden Burns-Vertonungen sind dramatisch zugespitzt, was der Sopranistin jedoch keine Probleme bereitet.  Bei beiden Zyklen trägt die Dozentin an der Moskauer Gnessin-Musikakademie Olga Soloviaeva am Klavier zu den jeweils überzeugenden Interpretationen entscheidend bei. Elizaveta Pakhomova gestaltet die Romanzen op. 40, zwölf Lieder nach Gedichten von Mikhail Lermontov (1814-1841), neben Puschkin einem der bedeutendsten russischen Dichter der Romantik. Der unterschiedliche Stimmungsgehalt der Romanzen, die von einem ruhig dahinfließenden Wiegenlied über fröhliches Volkslied-Ähnliches bis zu verzweifelter Trauer reichen, gibt der Sängerin mit ihrem auffallend schlanken Sopran gute Gelegenheit, ihr schon ausgeprägtes Gestaltungsvermögen eindrucksvoll einzusetzen. Beide Liedzyklen werden durch die 1946/47 entstandene zweisätzige Violinsonate op.70 ergänzt, die von der aus der Ukraine stammenden, seit längerer Zeit in den USA tätigen Geigerin Marina Dichenko gemeinsam wieder mit der ausgezeichneten Pianistin aus Moskau ausgedeutet wird.

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Der Österreichische Rundfunk hat 1994 im Wiener Konzerthaus und 1999 im Musikverein Wien Live-Konzerte mit Werken von Hanns Eisler aufgenommen, die CAPRICCIO jetzt herausgebracht hat. Der 2CD-Set enthält auf der CD 1 Lieder, Songs und Couplets aus allen Schaffensperioden von Hanns Eisler, der von 1898 bis 1962 lebte (Die Überschrift der Track-Liste im sonst sehr instruktiven Beiheft enthält falsche Lebensdaten!). Auf der CD 2 sind einige der in den 1930er-Jahren fast durchgehend aus Filmmusiken zusammengestellte Orchestersuiten enthalten, sowie Eislers Bühnenmusik zu Die letzte Nacht, dem Epilog zu dem monumentalen Werk von Karl Kraus Die letzten Tage der Menschheit. Unter der souveränen, fachkundigen Leitung des Komponisten, Dirigenten und Chansonniers HK Gruber musizieren die vorzüglichen Wiener Ensembles die reihe (Orchestersuiten) und Klangforum Wien (Die letzte Nacht). Bei den  Bühnenmusiken wird beeindruckend deutlich, dass es Eisler nicht nur um Illustrierung des Geschehens auf der Leinwand ging, sondern dass seine Musik eine aktive, herausfordernde Rolle einnahm. Am 15. Januar 1930 fand „nachts um 12 Uhr“ im Berliner Theater am Schiffbauerdamm die Uraufführung von Die letzte Nacht statt. Im  flammenden Plädoyer gegen den Krieg steht der beklemmende, erschütternde Text von Karl Kraus im Zentrum, der von Wolfram Berger prägnant und ungemein differenzierend gesprochen wird. Die musikalischen Elemente sind in einer Art Melodram knapp gehalten; hier sind neben dem Klavier (Adolf Henning) je zwei Klarinetten und Trompeten, Posaune und Schlagzeug aus dem Ensemble die reihe im Einsatz.

Die Kompositionen auf der CD 1 „für Gesang und Kammerorchester“ oder „Klavier“, wie es bei Eisler offiziell heißt, sind Vertonungen von Texten von u.a. Kurt Tucholsky, David Weber und natürlich auch Bertolt Brecht. Die Auswahl stammt von dem vielseitigen  HK Gruber, der markant stimmungsgerecht singt und spricht; dabei ist wieder eindrucksvoll, wie perfekt  die Begleitung durch Marino Formenti (Klavier) und das Ensemble Klangform Wien dazu passt. Bertold Brecht ist außerdem vertreten mit Schweyk im zweiten Weltkrieg und Die Rundköpfe und die Spitzköpfe; Couplets aus der der entsprechenden Bühnenmusik interpretiert HK Gruber auf seine unnachahmliche Art, die auch bei Höllenangst und Eulenspiegel nach Johann Nepomuk Nestroy und den zwölftönigen Parodien Palmström von Christian Morgenstern durch textliche Treffsicherheit imponiert (CAPRICCIO C5434/Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.).   Gerhard Eckels

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Erst kürzlich ist bei WARNER CLASSICS (0190295037079) eine CD mit Tenor-Arien des italienischen Barock erschienen; sie trägt den Titel Tormento d’amore und wird von Ian Bostridge mit der Begleitung der Cappella Neapolitana unter Antonio Florio gesungen. Der ausführliche Artikel dazu (in vier Sprachen) von Dinko Fabris über die Entwicklung der italienischen Oper im Barock ist sehr interessant und informativ. Bostridge hat 10 Arien aus den ca. 100 Jahren ausgewählt und vorgestellt, von denen hier zwei ihre Welt-Premiere auf CD erleben: Alessandro Stradellas kurze, fast tänzerische Arie Soffrirà, spererà aus Il Corispero und Cristofaro Caresanas schwungvolle, mit geläufigen Koloraturen ausgestattete Arie Tien ferma Fortuna aus Le avventure di una fede.  Der bekannte Liedsänger beweist auch mit diesen Arien seine sängerischen Fähigkeiten: Da gibt es lautmalerisch gestaltete Legato-Arien wie Antonio Cestis Berenice, ove sei? aus Il Tito oder Francesco Provenzales fein akzentuiertes Deh rendetemi ombre care aus La Stellidaura vendicanteLeonardo Vincis pulsierende Koloratur-Arie Se il mio paterno amore aus Siroe, re di Persia oder das Koloratur-Feuerwerk Nuove straggi, e spaventi aus Nicola Fagos Il faraone somerso bis zur souverän dargebotenen Szene Gelido in ogni vena aus Antonio Vivaldis Il farnace. Als Schmankerl zum Schluss bietet Bostridge in bester italienischer Manier ein Traditional Neapolitain mit dem Titel Lu cardillo. Antonio Florio präsentiert die begleitende Cappella Neapolitana auf hohem technischem und interpretatorischem Niveau, das in den reinen Orchesterstücken von Antonio Sartorio, Antonio Cesti, Giovanni Legrenzi, Franceso Provenzale und Nicola Fago besonders zum Tragen kommt.    Marion Eckels

Heitere Gesellschaftsspiele

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Nicht als „Handlung in drei Aufzügen“ hat Regisseur  Dmitri Tcherniakov Wagners Tristan und Isolde in der Berliner Staatsoper inszeniert, sondern eher als drei Einakter, als erstes Die genervte Brangäne, danach Lehrstunde für Isolde und schließlich Geisterstunde mit den Eltern. Die Aufgeregtheit Isoldes im ersten Akt steht in keinem Verhältnis zum lockeren Gesellschaftsspiel im zweiten, und dieses passt in keiner Weise zum trübsinnigen Naturalismus des dritten.

Wenn sich solche Assoziationen beim Genuss des Werks einstellen, dann ist klar, dass die Regie die großen Gefühle, die die Musik vermittelt, nicht wahrhaben will, was bereits in der Inhaltsangabe von Tcherniakov im Booklet zur DVD deutlich wird, wenn er zu Isoldes Liebestod nur zu schreiben weiß: “Isolde nimmt nicht mehr wahr, was um sie herum vorgeht“, und „O sink hernieder, Nacht der Liebe“ zeigt in dieser Produktion nur die Freude eines Lehrers, dessen Schülerin endlich seine schwierigen Theorien begriffen hat.   Mit  Assistenz  eines Tellers leckerer Häppchen und mit Sektgläsern beginnt er die Lektion über „Allvergessen“ und „Todeserfahrung“ , während derer die beiden kaum einmal die bequemen Sessel verlassen, sich so gut wie nie berühren, eher den Anblick eines heiteren Gesellschaftsspiel bieten als eine der leidenschaftlichsten Szenen der Operngeschichte. Nur ab und zu eingeblendete Schwarzweißfotos vermitteln etwas von Liebesglück- und –leid. Im dritten Akt schließlich tauchen in einer herunter gekommenen  Kleinstbürgerbehausung die toten Eltern Tristans auf und zelebrieren ein spießiges häusliches Glück von Rivalin und Blanchefleur.

Platziert ist die Handlung in die Zwanziger oder Dreißiger des vorigen Jahrhunderts, der erste Akt im eleganten Konferenzraum eines Ozeanriesen, der zweite in einem Saal mit Baumtapete, der dritte siehe oben. Wie bereits beim Parsifal, ebenfalls an der Berliner Staatsoper, wird Natur ausgespart, das Meer ist nur als Videobild zu sehen, der Park oder Garten nur als Teil des Interieurs. Es gibt einen ständigen Wechsel zwischen Banalität und Tiefsinn, verfremdet wird gern, so wenn Tristan „So stürben wir…“ von einem Blatt Papier abliest. Gern wird zu Flasche oder Zigarette (so die von Isoldes Erzählung genervte Brangäne im ersten Akt) gegriffen, oft ist der angestrebte Naturalismus  lächerlich, so wenn bis hin zu den Steckdosen früherer Zeiten alles bis in die kleineste Einzelheit hinein  „stimmen“ muss. Peinlich wirkt immer wieder die Diskrepanz zwischen der Dramatik des Geschehens und der Banalität mancher Handlungen wie die häufigen Griffe zur Flasche, das Betrachten der Nägel, dass Sich-den Staub-Abwischen nach dramatischsten Auseinandersetzungen oder die Tatsache, dass sich am Schluss Isolde in den Alkoven zum toten Tristan legt, nicht ohne vorher sorgfältig den Wecker zu stellen.

Zum Glück wurde das Vorspiel zum ersten Akt nicht inszeniert, und so kann man sich ungestört am bruchlosen An- und Abschwellen des edlen Orchesterklangs, an seiner  schmerzlichen Intensität, seinem Wandel in der Wiederholung unter der Leitung von Daniel Barenboim erfreuen. Vorzüglich ist auch die Besetzung mit Andreas Schager  als vokalebetontem Tristan, dessen Tenor im Vergleich zum Parsifal einige Jahre zuvor als Glanz und Corpo noch gewonnen hat und der den stimmpotentesten dritten Akt singt, den man sich vorstellen kann, ohne jede Einbuße an Wohlklang und ohne jede Ermüdungserscheinung. Dass Anja Kampe eher zickig-beleidigt als zutiefst gekränkt wirken muss, ändert nichts daran, dass sie ein wunderschönes „Er sah mir in die Augen“ singt, dass sie hörbar an Mittellage gewonnen hat und zu dramatischen Ausbrüchen in der Lobpreisung von Frau Minne fähig ist. Ihr Liebestod überstrahlt mühelos die schäbige Optik bzw. lässt diese vergessen. Eine enge Grenze hat Ekaterina Gubanovas Anteilnahme am Geschick Isoldes, aber zum Ausgleich hat sie einen schönen, dramatischen Mezzosopran von herrlichem Ebenmaß. Am Schluss hakt sie sich bei König Marke ein, so dass man sich um ihre Zukunft keine Sorge machen muss. Dieser ist bei Stephen Milling und seinem sonoren Bass bestens aufgehoben und singt ein berührendes „Tatest du’s wirklich?“ Einen kantigen, markanten Heldenbariton hat Boaz Daniel für den treuen Kurwenal, der gern mal mit dem Bürostuhl durch die Gegend fährt oder aufmerksam seine Nägel beschaut, Stephan Rügamer ist als Melot eine Luxusbesetzung. Linard Vrielink ist gleichermaßen gut als Seemann wie als Hirt, das Englischhorn wird im Alkoven von Florian Hanspach-Torkildsen wehmutsvoll gespielt.

Die Optik ist in ihrer Weise perfekt, handwerklich gut gemacht, von großer Sorgfalt, aber leider wenig passend zu Handlung und Musik. Da jedoch Großaufnahmen eher die Regel als die Ausnahme sind, stört sie weniger als beim Besuch im Opernhaus und man kann bei zeitweisem erfolgreichen Ausblenden derselben durch Augenschließen durchaus einen Genuss aus der DVD ziehen (BelAir BAC165). Ingrid Wanja

Versprechen eingelöst

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Mit dem Schumann-Album „Stille Liebe“, das der junge Bariton Samuel Hasselhorn gemeinsam mit dem Pianisten Joseph Middleton bei Harmonia mundi herausgebracht hat, konnte er sich nach übereinstimmender Meinung der Fachkritik einen festen Platz unter den besten Lied-Interpreten unserer Tage sichern. Jetzt hat das Duo mit einem Schubert-Recital bei demselben Label nachgelegt, das wiederum durch Originalität des Programms und reife Interpretationen besticht. In seinem sehr persönlichen Geleitwort bezeichnet der Sänger Glaube, Hoffnung und Liebe als drei zentrale Themen des Menschseins: „Sie sollen uns an die wichtigen Dinge und Werte erinnern, die uns in letzter Zeit aufgrund von Angst, Neid oder Hass verloren gegangen  zu sein scheinen.“

Mit wenigen Ausnahmen bewegen sich die beiden Künstler abseits der ausgetretenen Schubertlied-Pfade. Zwar fehlen einige gängige Titel nicht wie Erlkönig, Der Zwerg, Auf dem Wasser zu singen oder Nacht und Träume, aber wer nicht schon eine Gesamt-Edition der Schubert-Lieder zuhause stehen hat, wird hier mit einer Reihe kaum bekannter Titel konfrontiert und in einigen Fällen staunen, dass sie von Schubert stammen sollen. Schon das in seinem Todesjahr 1828 entstandene Lied Glaube, Hoffnung, Liebe, das dem Album den Titel gibt, lässt eher an Beethoven denken. Und in der Tat: Wie uns die sehr sachkundige Einführung von Stéphane Goldet im Booklet aufklärt, war es eine Art Huldigung an den großen Meister, bei dessen Beerdigung im Jahr zuvor Schubert zu den Sargträgern gehörte. Totengräbers Heimweh (1825) ist ein Selbstgespräch des grimmig seinem ungeliebten Geschäft nachgehenden Mannes, der sich nach seinem eigenen Tod und seinem Eingang ins Paradies sehnt. Die befreiende ewige Ruhe steht auch am Ende der Betrachtungen An den Mond in einer Herbstnacht (1818), in der musikalischen Form (sechs Strophen in unterschiedlicher Länge und Stimmung) die formal originellste Komposition des Albums. Der blinde Knabe (1825) gewinnt in einem piano vorgetragenen, eher heiteren Gesang seinem harten Schicksal positive Seiten ab, weil er ein reiches Innenleben hat und sich frei von Schuld fühlt. In Abschied von der Erde (1826), dem Monolog eines Sterbenden, wählt Schubert die Form des Melodrams, der Deklamation mit Klavierbegleitung.

Vor sieben Jahren hat Samuel Hasselhorn, damals 24 Jahre alt, unter dem Titel „Nachtblicke“ sein erstes Lied-Album herausgebracht, in dem Schubert (neben Pfitzner und Reimann) bereits eine zentrale Rolle spielte. Er zeigte da eine von der Nachahmung großer Vorbilder völlig freie Herangehensweise und weckte mit seinem hellen, schlanken Bariton, der erstaunlich vieler farblicher Schattierungen fähig war, große Hoffnungen für die Zukunft. Hoffnungen, die er mittlerweile eingelöst hat. Natürlicherweise hat sich die Stimme seither verändert, ist breiter, auch dunkler geworden. Und die unterdessen gemachten Bühnenerfahrungen – er ist jetzt Ensemblemitglied der Nürnberger Oper – geben seinem Vortrag eine zusätzliche dramatische Dimension. Intellektuelle Durchdringung der Lieder verbindet sich mit dem Streben nach einem sinnlichen vollen Klang. Kontemplative Momente wechseln sich mit heroischen Attacken ab. Dass der unverwüstliche Erlkönig, den er schon im ersten Recital im Programm hatte, nicht wirklich unter die Haut geht, liegt auch an der nicht ausgewogenen Klangbalance, die Stimme muss sich hier gegen das schweres Geschütz auffahrende Klavier durchsetzen. Doch ansonsten ist das Zusammenwirken von Sänger und Pianist wieder vorbildlich.

Wenn die weitere stimmliche Entwicklung des Sängers so konsequent fortschreitet wie in den letzten sieben Jahren, so ist es durchaus vorstellbar, dass wir in ihm in 10-15 Jahren einen veritablen Wotan haben (harmonia mundi france HMM 902689). Ekkehard Pluta

Hör-Spass mit Irren

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Nach einem Parsifal, in dem Gurnemanz Kundry ein Messer in den Rücken rammt, einem Tristan, in dem Isolde nach dem Liebestod ihren Wecker stellt, nun aus dem Theater an der Wien ein Ange du Feu/ Feuriger Engel von Prokofiev, der vom Beginn des ersten bis zum Ende des fünften Akts in einem Irrenhaus beheimatet ist. Seltsam ist sie zwar die Geschichte von Renata, die glaubt, eine Liaison mit einem Engel zu haben, und die schließlich in den Händen der Inquisition landet, nicht ohne dass so interessante Figuren wie Faust und Mephisto im mittelalterlichen Köln auftauchen, viel von Magie, von Rittertum und sehr sehr viel von Erotik die Rede ist und eigentlich auch zu sehen sein sollte.

Andrea Breth jedoch verortet die gesamte Geschichte in ein Irrenhaus, in dem alles geschieht, was man sich an Schrecklichem nur vorstellen kann, die einzige wirklich sympathische Figur ein Plüschteddy ist, den Renata in Ermangelung menschlicher oder göttlicher Liebhaber an sich presst. Mit einem Aufwand ohne Gleichen ist schließlich, um der Klappsmühle treu zu bleiben, für das Kloster des letzten Akts ein Turm von Krankenbetten  aufgebaut, in dem die Nonnen umher turnen. Martin Zehetgruber  und die Technik haben da als Bühnenbildner und –arbeiter Erstaunliches geleistet und auch Andrea Breth hat minutiös alle möglichen und unmöglichen Behandlungsmethoden wohl studiert und dann auf di Bühne gebracht- nur fragt man sich mehr als einmal, wer so genau wissen will, wenn er in die Oper geht, wie man Patienten be- und misshandeln kann, welche Art von psychischen Störungen  man dem Lehrbuch für Psychiatrie entnehmen und naturalistisch darstellen kann. Leicht konnte es sich Kostümbildnerin Carla Teti machen, denn außer Arztkitteln und Patientenhemdchen musste nichts entworfen werden, und dafür gibt es außerdem Vorbilder im realen Leben genug. Koffer, natürlich, Chirurgenbesteck, Spritzen, Schreibmaschinen und Aktenberge wischen auch schnell noch der Krankenhausbürokratie eins aus, der Höhepunkt der Scheußlichkeiten ist erreicht, wenn Fleisch aus der Brust eines Patienten gerissen, auch Ruprecht ein Brocken davon zugeworfen wird, kurzum, das Ganze ist eine Welt des kalten Grauens, nicht der Buntheit, des Geheimnisvollen, Erotischen und Gespenstischen. Und auch die Titelfigur verliert schnell das Interesse des Zuschauers, da sie lediglich ein klinischer Fall ohne jedes Geheimnis, das sie doch eigentlich umwittern sollte, ist. Irgendwie folgt die Regie der Logik, dass irr ist, was man nicht versteht, was zu einem ständigen Kampf der Musik mit der Szene führt.

Die Frage ist, ob man der Oper, die es nie leicht hatte, mit einer solchen Inszenierung einen Gefallen tut. Das Werk stammt aus dem Jahre 1927. Nach Prokofievs Tod wurde die Oper 1954 zum ersten Mal, aber nur konzertant, in Paris in französischer Sprache aufgeführt, in italienischer Sprache 1955 in Venedig, von da ging die Strehler-Produktion an die Scala, wo Christel Goltz die Renata sang. 1959 sang Leyla Gencer in Triest, 1960 gab es in Köln die deutsche Erstaufführung in der Regie von Oskar Fritz Schuh.   

Vorzüglich ist die Besetzung im Theater an der Wien, so mit Aušriné Stundyté als Renata mit wunderbar geschmeidigem, stets rund und weich bleibendem Sopran, der viel Interesse an der Sängerin, wenn auch nicht an der Figur, die sie darstellt, erwecken kann. Bewundernswert ist auch, wie sie es versteht, trotz der szenischen Agilität, des Herumspringens wie auch des blöd vor sich hin Stierens der Irren eine untadelige vokale Leistung zustande zu bringen. Ein Sänger für die schwierigen Fälle war immer schon Bo Skovhus, der als Ruprecht ebenfalls Insasse des Irrenhauses mit entsprechender Optik ist und der seinen markanten, dabei flexiblen Bariton einmal mehr bewundern lassen kann. Wie wenig Andrea Breth die Geschichte und ihr Personal wirklich interessiert hat, sieht man daran, dass Figuren zusammengelegt werden, so Wirtin und Äbtissin, die beide von Natascha Petrisnky mit warmem, mütterlich klingendem Mezzosopran verkörpert werden, Agrippa und Mephisto, die Nikolai Schukoff mit hochpräsentem Tenor singt, Mathias und Faust, denen Markus Butter, Jakob Glock und Arzt, denen Andrew Owens und schließlich Wirt und Diener, denen Kristjan Johannesson seine Stimme verleiht. Auf eine Partie beschränken darf sich Elena Zaremba, die mit der Rolle der Wahrsagerin Erinnerungen an ihre vielen Carmen wachruft.

Vorzüglich sind die Damen vom Arnold Schoenberg Chor, in vielen Farben schillert das ORF Radio-Symphonieorchester Wien unter Constantin Trinks und macht gemeinsam mit den Sängern die Aufnahme immerhin zu einem Hörvergnügen (Unitel 805908/weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de). Ingrid Wanja      

Peter Maus

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Wenn es eine Konstante in meinem Berliner Opernleben gab war es der Tenor Peter Maus. Ich hatte – vor allem rückblickend – das Gefühl, er war jeden Abend auf der Bühne. Er gehörte zum Inventar sozusagen. Und das meine ich nicht abfällig. Auf ihn war Verlass. Kein Tristan ohne seinen Jungen Hirten, keine heitere Oper ohne ihn, seine Rollen war – mochte man glauben – Legion. Partien wie Belmonte, Pedrillo, Ferrando oder Jaquino, Steuermann und Wenzel. Im Repertoire waren auch viele Partien aus Opern des 20. Jahrhunderts. Sein fester, markanter Chararaktertenor brachte ihn bis Bayreuth (auch dort lange Jahre kein Tristan ohne ihn)  und internationale Häuser. Mit ihm ist für mich eine Ära der Deutschen Oper Berlin verbunden, die im Verein mit Maus´ Kollegen McDaniel, Bernard, Kuchta, Zeumer, Fortune, Borris, Stewart und Lear, Wixel, Driscoll, Dooley und vielen anderen Haus-Qualität auf hohem Niveau garantierte. Das war meine musikalische Lehranstalt. Und ich bin jenen  Sängern wie Peter Maus dankbar für eben diese stete Qualität des Singens und Gestaltens. Er ist für mich aus jenen Jahren nicht wegzudenken. Nun starb er am 17. Juni 2022 (geb am 1. Januar 1948) wie die Oper mitteilt.  G. H.

Dazu ein Nachruf seines Berliner Stammhauses: in einem Gespräch, das 2013 aus Anlass seiner letzten Auftritte als Mime im RHEINGOLD entstand, verriet Peter Maus die Devise seines Sängerlebens: „Überschätze dich nicht, dann werden dich andere schätzen“, lautet dieser Satz, und aus ihm sprechen gleichermaßen Bescheidenheit und die Fähigkeit zur kritischen Selbstreflexion. Im Laufe seiner staunenswert langen Karriere ist Peter Maus diesem Satz nicht nur treu geblieben, sondern hat auch erleben dürfen, dass sich dessen zweiter Teil einlöste. Mehr noch: Peter Maus wurde von den Kollegen wie vom Publikum nicht nur geschätzt, er wurde von allen als ein kaum wegzudenkender Teil der Deutschen Oper Berlin empfunden. Warum das so war, zeigt schon ein Blick auf die Vielzahl der Partien, die der Tenor im Laufe von vierzig Jahren an seinem Haus verkörperte. An die 100 Partien in über 70 Bühnenwerken wurden es, seit er am 26. Februar 1974 hier im Alter von 25 Jahren in Verdis IL TROVATORE debütiert hatte.

Mosaiksteinartig setzt sich das Bild der Künstlerpersönlichkeit so aus vielen Facetten zusammen: Große Partien sind darunter wie Belmonte in Mozarts DIE ENTFÜHRUNG AUS DEM SERAIL und Mime im RHEINGOLD, kleinere Rollen, die gleichwohl starke darstellerische und sängerische Präsenz fordern wie der Narr in Mussorgskys BORIS GODUNOW und der Monsieur Triquet in Tschaikowskys EUGEN ONEGIN, aber auch jene Kleinstrollen, die ein Sänger nur glaubwürdig ausfüllen kann, wenn er jede Eitelkeit beiseitelässt.

Vielleicht lag ihm als gebürtigem Bayreuther Wagner besonders am Herzen: Zwanzig Jahre lang, von 1982 bis 2002, sang er regelmäßig bei den Bayreuther Festspielen und noch sein letzter Auftritt an der Deutschen Oper Berlin am 8. Dezember 2019 fand in einer seiner Paraderollen statt, dem Hirten in Wagners TRISTAN UND ISOLDE. Doch charakteristisch für Maus‘ Zugang zum Gesang ist vor allem die Neugier, mit der er auf jede neue Partie zuging und sie sich zu eigen machte – kein Wunder, dass unter seinen Rollen überdurchschnittlich viele Auftritte in Werken zeitgenössischer Komponisten stehen: Maus stand in Werken von Aribert Reimann und Bernd Alois Zimmermann, Wolfgang Rihm, Mauricio Kagel und Hans Werner Henze auf der Bühne und noch eine seiner letzten Partien am Haus war die Uraufführung einer Kinderoper in der Tischlerei.

Der Stadt Berlin ist Peter Maus, dem 2001 der Titel eines Berliner Kammersängers verliehen wurde, nicht nur durch sein jahrzehntelanges Wirken im Ensemble der Deutschen Oper Berlin verbunden: Seine Kombination aus Offenheit, Kollegialität und vorurteilsloser Beurteilungsfähigkeit machten ihn bald zu einem gesuchten Lehrer, seit 1995 auch als Honorarprofessor an der Berliner Universität der Künste.

 Nun ist Peter Maus am 17. Juni nach kurzer, schwerer Krankheit verstorben. Die Deutsche Oper Berlin trauert um einen prägenden Sängerdarsteller und wunderbaren Kollegen. Quelle/ Foto Peter Maus als Mime im Rheingold Foto Bettina Stöß/ DOB

Sofia: das Bayreuth des Ostens

Längst vorbei sind die Zeiten, da man im Sofioter Opernhaus eine Madama Butterfly erlebte, in der die Titelrolle von einer Russin auf Russisch, der Pinkerton von einem Italiener auf Italienisch und der Chor auf Bulgarisch sangen und die Regie den verrückten Einfall hatte, Butterfly ihren Ex-Geliebten in einer Bodenvase suchen zu lassen. Ideologische Verblendung, die alles Metaphysische verdammte, zwang damals im Don Carlo den Infanten zum Selbstmord, und Wagner war in kommunistischer Zeit ein Unbekannter, ebenso Richard Strauss, was alles nicht mehr wahr ist, denn ausgerechnet im fernen Bulgarien kann man nun erstklassige Aufführungen in deutscher Sprache erleben, und ausgerechnet ein Genueser Label macht es dem deutschen Publikum möglich, musikalisch erstklassige Aufführungen in von Ideologie und Demontage freier szenischer Umsetzung zu genießen. 2013 erlebte mit der Götterdämmerung der letzte Tag des Ring-Zyklus seine Premiere, und nun ist die DVD erhältlich, zwar „nur“ in der um einige Instrumente reduzierten Fassung von Gotthold Ephraim Lessing, der nichts mit dem deutschen Dichter zu tun hat, was man aber nicht als Manko erlebt.

Die Bühne von Nikolay Panayotov lebt von kraftvollen, wechselnden Farben und geometrischen Figuren, so dem Halbkreis als Symbol eines zerbrochenen Ringes, von Zylindern, und auch Requisiten wie der Kahn Siegfrieds folgen diesem Einfall. Manchmal wirkt das auch komisch, so wenn die Nornen wie lebende Strickliesel aussehen, aus deren Kopf sich das unendliche Seil entwickelt. Rot steht natürlich für das Feuer, auch das die Götter und Walhall verzehrende, ein blauer Strahl und die Farbe des Rheins stehen für Natur und Hoffnung. Die Kostüme sind überaus üppig, für Gunther so bunt wie das eines Narren, die der Mannen machen diese zu riesigen Totenvögeln, Brünnhilde hat offensichtlich Teile der schimmernden Wehr zu Haarschmuck umgearbeitet. Respektvoll geht die Regie von Plamen Kartaloff mit den Solisten um, sicherlich in dem Bewusstsein, dass sie schier Übermenschliches zu leisten haben. Ein sehr schöner Einfall ist die Versöhnung zwischen Brünnhilde und Gutrune, die sich in einer langen Umarmung kundtut. Sämtliche weiblichen Mitwirkenden sind von außergewöhnlicher Schönheit, so dass die Rheintöchter in Trikots nichts Peinliches an sich haben, eher schon, dass sie unentwegt, und sie tauchen oft auf, auf Trampolins herumhopsen müssen.

Bulgarien ist bekannt als Lad der gesunden, kraftvollen Stimmen, und die kann man in dieser Produktion auch antreffen. Yordanka Derilovas einziges Manko ist, dass man sie  zu einem Ebenbild von Paris Hilton gemacht hat, und leider verharrt sie oft in Model-Posen, als befinde sie sich auf einem Laufsteg. Bewundernswert ist ihre Diktion, der Sopran verfügt über eine tragfähige mezza voce für „welches Unheils List“, ein strahlende Höhe für das „ ewig währende(s) Glück, ein schneidendes „Jammer, Jammer“, die „starke(n) Scheite“ werden agogikreich und ohne Nachlassen der vokalen Kraft bewältigt. Eine großartige Leistung! Siegfried ist mit Kostantin Adreev eher ein schwarzhaariger Latin Lover mit schlimmer Diktion, der zwar bewundernswert unermüdlich, aber doch zu dauerdröhnend ermüdend singt und sich oft in Ballerinoposen gefällt. Gunther ist in dieser Produktion ein Hobby-Astronom und mit Atanas Mladenov der elegantest geführte, angenehmst timbrierte Bariton, den man sich denken kann. Schrill ist die Gutrune von Tsvetana Bandaloska, wenn es laut werden soll, ansonsten kann ihr Sopran durchaus gefallen. Die Waltraute von Tsveta Sarambelieva zeichnet sich durch engagiertes Spiel und durch einen Mezzosopran von schönem Ebenmaß aus. Den deutschen Zuhörer stört es natürlich, wenn ein Hagen so textunsicher ist wie Petar Buchkov, der zudem, abgesehen von einzelnen kraftvollen Phrasen und einem mächtigen „Hoho“, dumpf verhangen klingt, dem bulgarischen Publikum wird es kaum aufgefallen sein. Markant ist Vater Alberich, d.h. Biser Georgiev, der sich oft und gern blicken lässt. Nornen und Rheintöchter beweisen, dass Bulgarien viele äußerst attraktive und stimmschöne junge Sängerinnen hat.  Mit Erich Wächter hat man sich einen erfahrenen Wagner-Dirigenten nach Sofia geholt, der der Garant für eine authentische Betreuung des Orchesters ist. Am Schluss geschieht etwas, was in Deutschland wohl zu einem Kampf zwischen Bravo- und Buhrufern geführt hätte: Ein riesiges Poster mit dem Konterfei Richard Wagners wird im Bühnenhintergrund emporgezogen (Dynamic 37900). Ingrid Wanja          

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Emsig weiter an seinem Ruf als Bayreuth des Ostens arbeitet die Sofia Opera, hat sie doch in den vergangenen Jahren nicht nur den Ring, sondern auch Tristan und Parsifal aufgeführt und belässt es beim deutschen Repertoire nicht bei Wagner, sondern kann sich auch der ersten bulgarischen Elektra rühmen. Vom Ring gab es nach dem neuen Siegfried bisher BLu-rays von Rheingold und Die Walküre, nun auch den Siegfried von 2012, und dieser enttäuscht ebenso wenig wie seine Vorgänger, bietet er doch nicht nur eine Riege vorzüglicher Sänger, sondern auch eine Optik, die den Betrachter weder verstört, noch langweilt, noch empört. Regisseur Plamen Kartaloff begnügt sich damit, ein wundersames Märchen zu erzählen, zu dem ihm Bühnenbildner Nikolay Panayotov ein in kraftvollen Farben schillerndes Bühnenbild, das zudem auf geometrische Formen setzt, entworfen  und ebensolche Kostüme, manchmal zu sehr in Buntheit schwelgend, geschaffen hat. Schiesser-Feinripp hat also, wie der Betrachter erleichtert feststellt, noch nicht den Weg nach Bulgarien gefunden. Ein wenig will natürlich auch diese Regie eine eigene Handschrift zeigen, aber das erschöpft sich zum Glück mit zwei Dienstbolzen für Mime, die dezent im Hintergrund wirken, dem Paar Siegmund und Sieglinde, das als graue Schatten das Treiben des Sprösslings beobachtet (ob von Walhall oder von Helheim aus, bleibt offen) und die Darstellung  von Geburt und Kindheit und Jugend des Wälsungen im Schnelldurchlauf. Viel Phantasie wurde für Fafner und seine Höhle mit wilden Klettergerüsten aufgewandt,  und niemand im Publikum wird übersehen haben, dass ein Lindenblatt die Ganzkörperunverwundbarkeit des Helden verhindert hat und damit das Regieteam bewies, dass es nicht nur den Ring, sondern auch das Nibelungenlied kennt.

Die Sofioter Oper scheint aus einer Fülle gesunder, potenter und nimmermüder Stimmen schöpfen zu können. Der Siegfried von Martin Iliev ist zudem optisch die ideale Besetzung, die Diktion allerdings straft den deutschen Vornamen Lügen, an ihr müsste noch gearbeitet werden, sollte er nationale Grenzen überschreiten wollen. Die Mittellage ist gut ausgebildet, Metall glänzt in allen Lagen, die Schmiedelieder klingen urgesund und kraftvoll, manchmal wünscht man sich mehr Singen und weniger Deklamieren. Ein schöner Sehnsuchtsruf ist „meine Mutter“, ein denkwürdiges Fortissimo „Erwache“, und der Künstler macht nicht „Pause“, wenn die Partnerin singt, sondern reagiert und agiert. Nicht nur mit einer gellenden Lache beweist Kasimir Dinev, dass er ein vorzüglicher Charaktertenor ist, seine Diktion ist tadellos, die Maske beeindruckend und die Verkörperung des Mime rundum gelungen. Etwas zu basslastig  klingt der Wanderer von Martin Tsonev, eher wie ein Hagen oder Hunding, insgesamt zu dröhnend, wenn er mit Erdkugel und wie ein Mikadostab wirkendem Speer agiert. Eine gute Diktion zeichnet den bis auf gelegentliche Vokalverfärbungen vorzüglichen Alberich von Biser Georgiev aus, dunkeldräuend eindrucksvoll. Wunderbar gähnen kann der Fafner von Petar Buchkov, kristallklar klingt der Waldvogel von Lyubov Metodieva, von schönem, dunklem Ebenmaß ist der Alt von Rumyana Petrova, die die Erda etwas matt verschlafen, aber damit situationsgerecht beginnt. Mit hell strahlendem „Heil dir, Sonne“, nie scharf werdend, allerdings ihre Wirkung allein aus der akustischen Leistung beziehend, ist Bayasgalan Dashnyam eine zumindest den Hörer erfreuende Brünnhilde. Pavel Baleff beweist am Dirigentenpult, dass auch das Orchester der bulgarischen Hauptstadt Wagner kann.

Auf die Götterdämmerung kann man gespannt sein, darauf, ob auch an ihr die geschundene mitteleuropäische Wagnerseele sich laben kann (Dynamic 57899). Ingrid Wanja

Da muss erst ein italienisches Label eine Aufführung aus dem tiefsten Südosten Europas aufnehmen, damit man endlich wieder einmal eine Walküre sehen und hören kann, ohne sich ärgern zu müssen. Wobei der Ärger fast immer durch die lächerliche Optik verursacht wird, die jedoch durchaus auch den Hörgenuss beeinträchtigen kann.

Diese Angst braucht man bei der Aufnahme aus dem Sofioter Opernhaus, das in den letzten Jahren zu einer Hochburg des Wagnergesangs und geradezu ein Bayreuth des Süd-Ostens geworden ist, nicht zu haben, denn der Inszenierung aus dem Jahre 2011, die aber noch immer im Repertoire ist, merkt man an, dass das Regieteam mit Respekt und Liebe ans Werk gegangen ist. Dabei muss die Optik nicht einmal gefallen, sondern sollte nur den Eindruck vermitteln, dass man sich seitens des Regieteams Mühe gegeben hat, dem Werk dienlich zu sein und dem Publikum zu einem beglückenden Opernerlebnis verhelfen zu wollen. Bayreuth des Südens bedeutet nicht, dass man auf ein kundiges Publikum und sein Wissen um das Werk bauen kann, und so ist es eine gute Idee, im Hintergrund während der langen Erzählungen von Wotan oder Siegmund  sich das abspielen zu lassen, wovon sie berichten. Regisseur Plamen Kartaloff scheut ansonsten nicht davor zurück, auch lange Strecken des Nichtsgeschehens zu wagen, vertraut auf die Ausstrahlung seiner Solisten und die Wirkung von Gesang und Orchesterklang, intensives, durchaus auch manchmal stummes Spiel. Der stärkste Eindruck geht sowieso von dem aus, was Bühnen- und Kostümbildner Nikolay Panayotov gezaubert hat. Er setzt auf geometrische Formen und wechselnde Farben, Kreise, die zu Halbkreisen zerbrechen, Halbkreise, die sich erheben, so zum Beispiel, mit lodernden Farben gefüllt, den Schutz Brünnhildes bilden. Ein tiefes Blau trägt wesentlich zum Zaubern einer feierlichen Stimmung bei, Pastellfarben tun dies schon weniger, wirken manchmal etwas kitschig, besonders das pinkfarbene Lager für die Walküre. Geometrie heisst auch Technik, und so kommen die Walküren auf Raketen geritten, die sie am Zügel halten, und es stört den Gesamteindruck nicht, dass man sieht, wie fleißige Techniker die Ungetüme bewegen. Abenteuerlich sind viele Kostüme, so Hundings, der sich gewaltiger Geweihe bedient, um seinen Gegner zu bedrängen, Wotans, das ihn mit Schläuchen mit Lebenskraft zu versorgen scheint, die der Walküren, die eher Robotern gleichen als menschenähnlichen Wesen. Gewiefte Cineasten können diesen Stil vielleicht einem Film zuordnen, dass Sieglinde sehr menschlich wirkt, liegt sicherlich auch daran, dass sie im zweiten Akt ein schlichtes Gewand aus Stoff und keinerlei Metall oder Kunststoff (vieles sieht verdächtig nach Plaste aus) trägt.

Bulgarien ist bekannt für große, gesunde Stimmen, was dieser Aufführung zweifellos zugute kommt. Selten hört man so frische, strahlende Walküren wie die dieser Aufführung, und die Namen zeigen, dass alle und auch die Solisten aus dem Land stammen. Mit einem tollen Hojotoho beginnt die Brünnhilde von Irina Zhekova, mit lustvollen Intervallsprüngen, schöner, ernster Todesverkündigung und einem wunderbaren: War es so schmählich, was ich verbrach. Geradezu endlos wird „vertraut“ gehalten, die Stimme scheint nie zu ermüden und auch darstellerisch kann die Sängerin berühren. Mit guter Diktion und einem helleren Sopran überzeugt die Sieglinde von Tsvetana Bandalovska, in Rage geratend manchmal schrill, aber mit einem intensiven Ausbruch im Hehrsten Wunder, das tief berührt. Nicht nur endlos erscheinende Wälse-Rufe, sondern auch ein baritonales Timbre, Ausflüge in die mezza voce und viel Metall hat Martin Iliev für den Siegmund, in der Optik erinnert er an die attraktiveren Wagnertenöre der Fünfziger. Sein Timbre spreizt zu beängstigender Lautstärke Angel Hristov als Hunding. Nur in höchster Erregung schrill wird die Fricka von Rumyana Petrova, die mit einer tadellosen Diktion erfreut- da braucht man keine Untertitel. Problematisch scheint auf den ersten Blick der Wotan von Nikolay Petrov zu sein, optisch ein alter Mann, aber vokal unverwüstlich bis auf einige Schwachstellen beim Lebewohl an Brünnhilde. Ansonsten aber sind seine Diktion, seine bassbaritonale Kraft, sein Wissen um die Partie, das offensichtlich ist, nur zu bewundern. Man merkt, dass er weiß, worum es in dieser Oper geht.

Das Orchester unter Pavel Baleff spielt angenehm schlank, und man wünscht sich manchmal, dass sich die Sänger, die ab und zu stark deklamieren, sich noch mehr vom Legato, das hier zu hören und durchaus wagnerkonform ist, aneignen würden. Aber das ist Meckern auf hohem Niveau. Bereits erschienen ist das Rheingold, Siegfried und Götterdämmerung folgen (Dynamic 37898/ Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.). Ingrid Wanja

Zerschossene Träume

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Wer erinnert sich, während Horrornachrichten aus der Ukraine und mal steigende, mal fallende Zahlen über die Ausbreitung von Omikron über den Bildschirm flackern, noch an die vor weniger als zwei Jahren die Nachrichten beherrschenden Bilder aus Minsk von manipulierten Wahlen, dem Zorn der Bürger und ihre Versuche, aus Weißrussland einen demokratischen Staat zu machen? Der junge weißrussische Dirigent Vitali Alekseenok hat unter dem Titel Die weißen Tage von MinskUnser Traum von einem freien Belarus ein Buch darüber geschrieben, denn obwohl vor allem in Deutschland tätig, hielt es ihn in den Tagen, in denen seine Landsleute auf die Straße gingen und Leben und Freiheit riskierten, nicht in seinem Gastland, und er versuchte vor allem mit seinen Möglichkeiten, der Musik, in das Geschehen einzugreifen. Im Prolog zu seinem 190-Seiten-Buch schildert er zunächst die Proteste, die in Berlin vor der Belorussischen Botschaft in Treptow und am Mauerpark stattfanden  und  setzt sich mit anderen Intellektuellen und Künstlern erfolgreich dafür ein, dass die Opposition in seinem Heimatland den Sacharow-Preis erhält.

Der Leser wird in die Mentalität der Menschen in Weißrussland eingeführt und erfährt zu seinem Erstaunen, dass die Landbevölkerung bis 1974 keine Pässe erhielt, weil man sie in den Kolchosen halten wollte, nimmt davon Kenntnis, dass Akkordeon und Posaune die ersten Musikinstrumente im Leben des Verfassers waren und dass er seine Ausbildung am Minsker Konservatorium erhielt. Ist der Leser so weit gekommen, hat er auch schon mit dem größten Ärgernis des Buches Bekanntschaft schließen müssen, der gendergerechten Sprache, die zu Ungetümen wie folgenden führt: „Da die_der  Dirigent_in die_der einzige offensichtliche Teilnehmer_in an der Veranstaltung war, waren meine Kolleg_innen und ich die einzigen, die große Anerkennung für den Chor bekamen.“  Das zieht sich natürlich durch das ganze Buch hin und kostet den Autor nicht wenige Sympathien und einige Aufmerksamkeit, ist sogar dem Rechtschreibprogramm, wie man anhand der roten Striche sieht, ein Ärgernis.

Trotzdem liest man mit Interesse über Wahlfälschungen bereits im Jahre 2004 und Proteste dagegen, über „Zwangsanstellungen“ für in Weißrussland Ausgebildete, der man nur durch eine Weiterbildung in Russland entgehen konnte und über den „belarussischen Minderheitskomplex“, die Angst vor Identitätsverlust und dem der Muttersprache, die durch das Russische verdrängt wurde.

Neuer Unmut macht sich breit, als Corona von Staats wegen geleugnet wird, die bevorstehenden Wahlen nichts Gutes ahnen lassen, da Gegenkandidaten gegen Lukaschenko zwar zugelassen, aber behindert werden, so massiv, dass mehrfach Frauen die Stelle der verfolgten Ehemänner einnehmen; man erinnert sich an die vielen jungen Weißrussinnen, die Demonstrationszüge anführten.

Kurz vor den Wahlen hält es den jungen Dirigenten nicht mehr in Deutschland, er erlebt ein Weißrussland, in dem Hupen, Klatschen und weiße Armbänder zu Protestzeichen gegen Unterdrückung und beargwöhnter Wahlfälschung geworden sind, das Protestlied „Veränderungen“ zur Hymne des Widerstands wird. Es folgen viele bedrückende und empörende Berichte von Verhaftungen, Folterungen und sogar Morden durch die Staatsgewalt, die natürlich nicht nachprüfbar, aber sehr wahrscheinlich sind, so wie sich dem Autor auch bei einem Besuch des KZs Erhellendes über die Banalität des Bösen ergibt.

Einige wenige Fotos dokumentieren den persönlichen Einsatz von Alekseenok für die Freiheitsbewegung in seinem Heimatland, der Protestplakate anfertigte, vor allem aber als Musiker, als Chor- und Orchesterleiter unter anderem mit „Va pensiero“ seine Solidarität bezeugte und mit dafür sorgte, dass ganz spontan und dezentralisiert immer und überall Konzerte oder Lesungen stattfanden, die bewiesen, dass die Freiheitsbewegung sich noch nicht geschlagen gegeben hatte. Am 16.8. findet noch einmal ein gewaltiger Protestmarsch gegen die Wahlmanipulationen und die Übergriffe des Staates auf friedliche Bürger statt- mittlerweile hört man nichts mehr aus Weißrussland, was Anlass zur Hoffnung gibt. Allerdings dürfte die auffallende Zurückhaltung des Machthabers im Krieg gegen die Ukraine auch auf dessen Einsicht darin zu sehen sein, dass er nicht auf die Unterstützung seines Volkes bauen kann. Bemerkenswert ist die große Bedeutung der Kunst, insbesondere der Musik bei dem Versuch, auf friedlichem Wege Entschlossenheit und Opferbereitschaft zu zeigen, wenn es um Freiheit und Selbstbestimmung geht. Aus diesem Grund und weil der Verfasser ein Musiker mit einer bereits beachtlichen Karriere ist, dürfte auch der Musikfreund an ihm interessiert sein.

Vitali Alekseenok ist Preisträger des MDR Dirigentenwettbewerbs, arbeitete in Weimar, Karlsbad, Jena, Lemberg, ist Gründer und Leiter des ensemble paradigme und Chef des Abaco-Orchesters der Universität München. Am Schluss des Buches befindet sich eine ausführliche chronologisch Übersicht über die Ereignisse der Weißen Tage von Minsk. Das Vorwort zum Buch stammt von Valzhyna Mort, Dichterin und Professorin an der Cornell University (190 Seiten, Fischer Verlag 2021; ISBN 978 3 10 397098 2/ Foto oben Vitali Akekseenok website ). Ingrid Wanja

Echos einer Legende

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Einen außergewöhnlichen Schuber mit 22 CDs und einem üppigen, vielillustrierten Beiheft hat Warner Classics herausgebracht (0190296477157), der gleichermaßen Freunde des Tanzes wie der sinfonischen Musik begeistern dürfte. Die Anthologie mit dem Titel Diaghilev Ballets Russes dokumentiert die Ära jener legendären Balletttruppe, die von 1909 bis 1929 den Tanz in Paris und London revolutionierte und dominierte. Der 1872 nahe Nowgorod geborene Serge Diaghilev formierte ab 1890 in St. Petersburg einen Kreis von Künstlerpersönlichkeiten, darunter Musiker, Sänger, Choreografen, Maler und Startänzer. Sein Ziel war die Reformierung des zaristischen Balletts. 1908 führte er zunächst das St. Petersburger Opernensemble nach Paris (mit der Bass-Legende Feodor  Chaliapin)  – der immense Erfolg ließ ihn ein Jahr später auch das Ballettensemble des Marijnsky-Theaters nach Paris reisen lassen. Der 9. Mai 1909 war die Geburtsstunde der Ballets Russes de Serge Diaghilev, die zwanzig Jahre (bis zu Diaghilevs Tod 1929 in Venedig) triumphale Erfolge errangen und das Tanzgeschehen in den westlichen Metropolen bestimmten.

Noch heute werden die legendären Choreografien der Balletts Russes international aufgeführt, vor allem beim Hamburg Ballett, dessen Intendant John Neumeier eine besondere Affinität zu dieser Truppe und ihrem Star Vaslav Nijinsky hat. Alljährlich werden die traditionellen Ballett-Tage zum Ausklang der Spielzeit mit einer Nijinsky-Gala beendet, in der internationale Startänzer auftreten und für ein rauschendes Fest sorgen.

Gleich die erste CD der Sammlung mit Nikolai Tcherepnins Drame choréographique Le Pavillon d’Armide, welche sich auf das Debüt der Compagnie 1909 im Pariser Théatre du Chatelet bezieht, hat für uns einen Bezug zum Hamburg Ballett, denn dort wurde das verschollene Ballett 2009 als Hommage an das hundertjährige Jubiläum des Ensembles in den Ballettabend Nijinsky-Epilog integriert. Den legendären Pas de trois in der Choreografie von Michel Fokine mit Nijinsky, Tamara Karsawina und Baldina hat Neumeier gemeinsam mit der russischen Tänzerin Alexandra Danilova rekonstruiert und zur virtuosen Glanznummer des Stückes exponiert. Warner hat eine Einspielung von Naxos mit dem Moscow Symphony Orchestra unter Henry Shek übernommen. Am selben Abend des  9. 5. 2009 wurden in Paris noch Les Danses polovtsiennes aus Borodins Oper Prince Igor gezeigt, die hier in einer rasanten Einspielung des Chicago Symphony Orchestra unter Seiji Ozawa erklingen.

Vaslav Nijinsky in „Le spectre de la rose“/ Wikipedia

Die Entwicklung der Compagnie ist gut zu verfolgen, denn die CDs sind in der Reihenfolge der jährlichen Auftritte von Les Ballets Russes geordnet und die Papphüllen mit seltenen und daher kostbaren historischen Fotos geschmückt. Im Booklet gibt es dazu weitere Foto-Dokumente mit Diaghilev und seinen Tänzerstars (Nijinsky, Anna Pavlova, Bronislava Nijinska, Tamara Karsavina) sowie Komponisten wie Stravinsky, Debussy, Milhaud und bildenden Künstlern wie Pablo Picasso, Henri Matisse und Léon Bakst.

In der Saison 1910 folgte – nun bereits in der Opéra de Paris – Nikolai Rimsky-Korsakovs Schéhérazade, in der Nijinsky mit seiner sinnlich  lasziven Aura triumphierte. Hier ist wieder das Chicago Symphony Orchestra unter Seiji Ozawa mit einer rauschhaft schwelgerischen Interpretation zu hören. Mit Adolphe Adams Giselle gab es in diesem Jahr auch das erste Standardwerk des klassisch-romantischen Repertoires, in welchem Nijinsky als Albrecht Maßstäbe setzte. In die  Warner-Sammlung wurde eine recht unbekannte Aufnahme mit dem Philharmonia Orchestra unter Robert Irving aufgenommen, die gleichwohl nicht der romantischen Atmosphäre entbehrt. Dass die Saison 1910 besonders reich war, bezeugen zwei weitere Werke – Robert Schumanns Ballett-Pantomime Carnaval (wieder mit dem Philharmonia Orchestra unter Robert Irving) und das erste von Igor Stravinskys Balletten –  L’Oiseau de feu –, das sich sogleich als ein Hauptwerk erwies. Die Aufnahme des Boston Symphony Orchestra unter Seiji Ozawa ist ein Klassiker im Katalog und behauptet sich auch hier imponierend.

Impressario und Gründer der Ballets russes: Sergej_Diaghilev_(1872-1929)/ Gemälde von Alexander Serov/ Wiki Commons

Ein Jahr später, für die Saison 1911, komponierte Stravinsky seinen burlesken Petrouchka, der einen gänzlich neuen Stil auf der Ballettbühne einbrachte und auch die Pantomime in den Tanz einbezog. Mit der unglücklichen Jahrmarktspuppe, welche Unterdrückung und Ungerechtigkeit symbolisiert, gelangte Nijinsky zu einer einzigartigen und bis heute unerreichten Interpretation der Titelfigur. Bedeutend ist auch die der Musik durch das City of Birmingham Symphony Orchestra unter Simon Rattle. 1911 gastierte die Compagnie erstmals an der Opéra de Monte-Carlo, wo Nijinsky in zwei weiteren Rollen brillierte und Maßstäbe setzte, die bis heute unübertroffen sind. In dem Tableau choréographique Le Spectre de la rose (auf Webers Einladung zum Tanz in der Orchestrierung von Berlioz) tanzte er als Geist der Rose in der Choreographie von Fokine ein überirdisch ätherisches Wesen, wurde zur Inkarnation der romantischen Empfindsamkeit und faszinierte mit androgyner Aura. Dass Warner hier eine feinsinnige Einspielung mit dem Orchestre de la Société des Concerts du Conservatoire unter André Cluytens ausgewählt hat ist nur zu begrüßen. Eine Woche später kam es in Monte-Carlo zur Premiere von Tcherepnins Ballett Narcisse et Ècho, das als Poème mythologique Narcisse gezeigt wurde. Hier wählte Warner eine Aufnahme von Chandos mit dem Residentie Orchestra unter Gennady Rozhdestvensky aus. Von Monte-Carlo reiste die Compagnie nach London, um am Royal Opera House Tchaikovskys Klassiker Schwanensee als Le Lac des cygnes aufzuführen. Bis heute ist dieses Ballett in der Beliebtheit des Publikums unübertroffen und wird immer wieder in neuen choreografischen Deutungen gezeigt. In der Anthologie findet sich die maßstäbliche Einspielung des London Symphony Orchestra unter André Previn.

Mit Debussys Prélude à l’après-midi d’un faune bringt die Saison 1912 mit dem Titel L’Après-midi d’un faune ein Schlüsselwerk der Compagnie, das für Nijinsky einen weiteren Meilenstein seiner Karriere bedeutete. Er stellte sich mit diesem Stück auch als Choreograf vor und entfachte mit seiner erotischen Darstellung den ersten von noch weiteren folgenden Skandalen. Die gewählte Aufnahme mit den Berliner Philharmonikern unter Simon Rattle ist auch deshalb so willkommen, weil der renommierte Flötist Emmanuel Pahud mitwirkt. Nur eine Woche später gab es am selben Ort, dem Théatre du Chatelet, Ravels Komposition Daphnis et Chloé in der Choreographie von Fokine und der Ausstattung von Léon Bakst. Auch hier ist die flirrende Interpretation durch das Orchestre de la Société des Concerts du Conservatoire unter André Cluytens die richtige Wahl.

Poster für die Pariser Premiere der Ballets russes 1909/ Wikipedia

Die Saison 1913 bringt wieder eine Mischung von Standardwerken und Unbekanntem. Zu ersten Kategorie zählt zweifellos Stravinskys dissonante Komposition Le Sacre du printemps, die in Nijinskys Choreographie bei der Premiere am 29. 5. im Pariser Théatre des Champs-Élysées zu einem der denkwürdigsten Skandale eskalierte. Dankenswerterweise wurde die legendäre Aufnahme mit dem Philharmonia Orchestra unter Igor Markevitch in die Anthologie aufgenommen. Debussys Poème dansé Jeux hatte nur zwei Wochen früher am selben Ort seine Uraufführung in Nijinskys Choreographie erlebt und mit dem reizenden Tennisspiel die Gemüter weit weniger erregt. Die Aufnahme mit dem Orchestre de la Société des Concerts du Conservatoire unter André Cluytens ist in ihrem Esprit genau die richtige Wahl. Eine absolute Rarität ist Florent Schmitts Ballet en deux parts La Tragédie de Salomé, heute fast vergessen, doch hier immerhin in einer Einspielung mit dem Orchestre National de l’O.R.T.F. unter Jean Martinon vertreten.

Von links nach rechts:  Igor Stravinsky, Natalia Gontcharova, Sergei Diaghilev, und Léon Bakst Courtesy, Jerome Robbins Dance Division, The New York Public Library for the Performing Arts

1914 gab es in der Opéra de Paris zwei Werke, die heute nur noch selten gezeigt werden. Strauss’ La Légende de Joseph (Josephslegende, hier in einer exemplarischen Aufnahme mit der Staatskapelle Dresden unter Rudolf Kempe vertreten) choreographierte Fokine, in moderner Zeit erweckte es John Neumeier an der Wiener Staatsoper und in Hamburg zu neuem Leben. Stravinskys Opéra Le Rossignol, gleichfalls von Fokine umgesetzt, erregte besondere Aufmerksamkeit durch die Ausstattung der russischen Künstlerin Natalia Gontcharova, die in der Avantgarde-Szene eine führende Rolle einnahm. Warner hat die neueste Einspielung unter James Conlon mit dem Orchestre de l’Opéra National de Paris und einer prominenten Sängerbesetzung (Natalie Dessay, Violeta Urmana, Laurent Naouri, Marie McLaughlin u.a.) ausgewählt.

1915 pausierte die Compagnie und 1916 trat sie nicht in Paris auf – dafür im Teatro Eugenia Victoria in San Sebastian mit Las Meninas, einer Choreografie von Léonide Massine auf Gabriel Faurés Pavane in f-Moll, die vom Orchestre de chambre de Lausanne unter Armin Jordan gespielt wird. Danach reiste die Truppe nach New York, um Strauss’ Sinfonische Dichtung Till Eulenspiegel zu zeigen. Es ist die letzte Choreografie von Nijinsky, die nie außerhalb der Vereinigten Staaten zu sehen war. Zu hören ist die launische Aufnahme mit dem Philharmonia Orchestra unter Lorin Maazel.

Les Ballets russes: Mikhail Fokin und Vera Fokina in „Scheherazade“/ Glass plate negative/Musik- och Teaterbiblioteket Stockholm/ Wikipedia 

Nach einem Zwischenstopp im Teatro Costanzi in Rom im April 1917 kehrte die Compagnie im Mai dieses Jahres nach Paris zurück, um im Théatre du Chatelet die Sinfonischen Dichtungen „Kikimora“ und „Baba-Yaga“ von Anatoly Liadov in einem Programm mit dem Titel Contes russes zu zeigen. Die heute vergessenen Kompositionen erklingen in einer Einspielung mit dem Bergen Philharmonic Orchestra unter Dmitrij Kitajenko. Ungleich bedeutender war die eine Woche später aufgeführte Parade auf Musik von Eric Satie. Das satirische Ballett wurde von Massine choreografiert und von Picasso ausgestattet. Eine idiomatische Aufnahme mit dem Orchestre du Capitole de Toulouse unter Michel Plasson bringt den ganzen Witz und Esprit der Musik zur Geltung.

Nach einer Pause 1917 gab es 1918 im Londoner Alhambra Theatre zwei von Massine choreografierte Stücke  – Ottorino Respighis La Boutique fantasque (hier zu hören mit dem Philharmonia Orchestra unter Alceo Galliera) und Le Tricorne auf Manuel de Fallas El sombrero de tres picos. Ausgewählt wurde die unerreichte Standardaufnahme des Werkes mit der Sopranistin Victoria de los Angeles und dem Philharmonia Orchestra unter Rafael Frühbeck de Burgos.

1920 kehrte die Truppe nach Paris zurück und zeigte in der Opéra zwei Choreographien von Massine:  Stravinskys Le Chant du rossignol und Pulcinella. Berühmte Interpreten sind hier zu hören – das Orchestre National de France unter Pierre Boulez und die Academy of Saint Martin in the Fields unter Neville Marriner. Spektakulär verlief die Saison 1921 im Londoner Alhambra Theatre, denn dort wurde eines der Wunderwerke der klassischen Ballettliteratur aufgeführt – The Sleeping Princess auf Tchaikovskys Dornröschen. Die Choreografie von Marius Petipa zählt bis heute zu den kunstvollsten und schwierigsten überhaupt, regt immer wieder Choreografen zu Neudeutungen an. Vor allem die Figur der Fee Carabosse steht im Blickpunkt des Interesses – nicht selten wird sie en travestie von einem männlichen Tänzer interpretiert. Eben kam beim Berliner Staatsballett die bekannte Deutung von Marcia Haydée aus Stuttgart heraus, in der gleichfalls ein Tänzer auftrat und für Furore sorgte. Warner hat die Einspielung mit dem London Symphony Orchestra unter André Previn ausgewählt, die in ihrer Eleganz und Delikatesse unvermindert besticht.

Les-Ballets-russes-Programmheft in der Gestaltung von Leon Bakst/ Wikipedia

1922/23 gab es in Paris zwei Stravinsky-Raritäten in den Choreografien von Bronislava Nijinska, der Schwester Vaslavs – das Ballet burlesque Le Renard und die Scènes choréographiques Les Noces. Beide dirigiert in der Anthologie Charles Dutoit. Gänzlich von unbekannten Werken war die Saison 1924 bestimmt. Sie brachte Francis Poulencs Ballet Les Biches, das Tableau choréografique La Nuit des sorcières auf Mussorgskys Nacht auf dem kahlen Berge, das Ballet Les Facheux auf Musik von Georges Auric und das Ballet Le Train Bleu mit der Musik von Darius Milhaud. Hier finden sich Einspielungen unter Mariss Jansons mit dem Oslo Philharmonic Orchestra und Igor Markevitch mit dem Orchestre National de l´Opéra de Monte-Carlo.

1926 und 1927 gab es in Paris wiederum Novitäten, die heute vergessen sind: Jack in the box auf Musik von Erik Satie und La Chatte nach dem Ballet von Henri Sauguet. Hier trat mit George Balanchine als Choreograf eine von Diaghilevs späten Entdeckungen auf den Plan, die bis zum Ende der Ballets Russes eine zentrale Rolle in deren künstlerischen Ausrichtung einnehmen sollte. Auch in den beiden Produktionen des Jahres 1928 in London und Paris war Balanchine für die Choreografie verantwortlich. The Gods go A’Begging ist eine Ballettsuite von Händel, die Thomas Beecham arrangierte. Sie erklingt hier in seiner Einspielung mit dem Royal Philharmonic Orchestra. Dass zweite Stück ist ungleich bedeutender – Stravinskys Ballet Apollon musagète, hier von den Berliner Philharmonikern unter Simon Rattle zu hören. 1929 gab es dann Diaghilevs letztes Projekt für die Ballets Russes – Prokofievs Le Fils prodigue – das wiederum Balanchine choreografierte, trotz einer ernsten Auseinandersetzung mit dem Komponisten, was dem genialen Wirken der Ballets Russes ein getrübtes Finale verlieh. Diaghilev starb nur wenige Monate nach dieser denkwürdigen Premiere und bleibt bis heute eine singuläre Figur in der Welt des Tanzes.

CD 22 bietet einen Bonus, der an Feodor Chaliapins legendäre Interpretation des Boris Godunov erinnert. Außerdem finden sich historische Einspielungen von Stravinskys Le Sacre du printemps mit dem Grand Orchestre Symphonique unter Pierre Monteux und Erik Saties Parade mit dem Philharmonia Orchestra unter Igor Markevitch (Abb. oben/ Leon Bakst für die Ballets russes/ Ausschnitt/ Wikipedia). Bernd Hoppe

Russische Romanzen

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Seit ihrer Salome bei den Salzburger Festspielen ist die litauische Sopranistin Asmik Grigorian ein Star auf den internationalen Opernbühnen. Das Label ALPHA CLASSICS hat eine längerfristige Zusammenarbeit mit der Künstlerin geplant, die mehrere Aufnahmeprojekte umfassen soll. Deren erstes widmet sich überraschend nicht der Oper, sondern bringt ein Recital mit 19 Romanzen von Sergei Rachmaninov, entstanden im April 2021 in Paris (ALPHA 796). Der Titel der Anthologie Dissonance wurde der gleichnamigen Komposition op. 34 Nr. 13 entnommen, welche das Programm eröffnet. Der russisch-litauische Pianist Lukas Geniusas begleitet die Sängerin am Flügel – eine Zusammenarbeit von absoluter Harmonie, die den Titel der Platte Lügen straft.

Die Stimme der Grigorian ist von starker Intensität, im Klang zuweilen gar bohrend, was das Hören nicht leicht macht. Man muss sich auf dieses Organ einstellen, sich ihm öffnen. Man kann diese Platte nicht nebenbei hören – sie verlangt absolute Konzentration und Hingabe.

„Dissonace“ leitet das Klavier energisch ein, dann erhebt sich der Sopran mit klagenden, sich grell steigernden Tönen, denn das Lied handelt von Abschiedsschmerz. Das folgende („Du bist wie eine Blume“) als Verherrlichung kindlicher Schönheit ist dazu ein starker Kontrast, auch durch den sanften, innigen Klang der Stimme. „Ich warte auf dich“ ist Ausdruck von Sehnsucht, „Trauere nicht um mich“ der Trost eines gestorbenen Menschen für den überlebenden. Hier färbt Grigorian ihre Stimme dunkel ein und verleiht ihr den Ausdruck von Entrücktheit. In „Dämmerung“ klingt sie fast mädchenhaft zart, in „Sie antworteten“ leidenschaftlich. Noch expressiver und sich in exponierte Höhen aufschwingend ist „Glaube mir nicht, mein Freund“. Zu den bekanntesten Kompositionen Rachmaninovs zählt „Singe nicht, meine Schöne“ auf einen Text von Puschkin mit ihrer melancholischen Stimmung, welche die Sängerin sehr schön einfängt. In der Popularität wird sie nur noch von den rauschenden „Frühlingsfluten“ übertroffen, die viele Sänger gern als Zugabe in ihren Liederabenden offerieren. Das Lied verlangt Aufschwünge in großer Steigerung, denen die Solistin hinsichtlich der Stimmschönheit Tribut zollen muss.

Danach gibt es in „Der Traum“ wieder zarte Nuancen und in „Welch Glück!“ gefühlsmäßigen Überschwang, bei dem die Spitzennoten  forciert werden und in schmerzender Intensität erklingen. Bei „In der Stille der Heiligen Nacht“ kann die Sopranistin die Töne dann wieder schweben lassen und im letzten Lied der Sammlung, „Lasst uns ruhen!“, einen Schlusspunkt von prophetischer Ruhe setzen (03. 06. 22). Bernd Hoppe

Vokales: Von Bruch bis Schönberg

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Unter dem Titel Auf jenen Höh’n haben sich der Bass-Bariton Hanno Müller-Brachmann und der Pianist Hendrik Heilmann bei MDG mit Gustav Mahlers Kindertotenliedern, den Jedermann-Monologen von Frank Martin und den Vier ernsten Gesängen von Johannes Brahms wahrlich schwere Kost vorgenommen. Denn die drei zyklisch angelegten Gesänge kreisen alle um das Thema Tod. Die Mahler-Lieder nach Gedichten von Friedrich Rückert leben vom Kontrast der tiefen Trauer zur tröstlichen Hoffnung auf ein Leben in der Ewigkeit, an der Rückert und Mahler unerschütterlich festhielten (Sie ruh’n als wie in der Mutter Haus,…von Gottes Hand bedecket.). Der erfahrene Liedsänger führt seine dunkel timbrierte Stimme technisch gekonnt abgerundet durch alle Lagen. Die genannten Kontraste zwischen dramatischem Aufbegehren und lyrischer Ergebung könnten allerdings von stärkerer emotionaler Ausdruckskraft sein. Dies mag zum Teil auch daran liegen, dass es dem versierten Pianisten natürlich nur unvollkommen gelingen kann, den reichen Mahlerschen Orchestersatz in all seinem Farbenreichtum zu ersetzen. Dies gilt in gewisser Weise auch für die Hofmannsthals Jedermann entnommenen Monologe, bei denen man die gewaltigen Klangballungen des Orchesters im Klaviersatz doch vermisst. Müller-Brachmann verfügt jedoch über ausgezeichnete Diktion; so erfahren die zwischen Deklamation und Gesang schwankenden Monologe von trotzigem Widerstand, bei dem mit dem Reichtum geprotzt wird, bis zur sich endlich zufrieden gebenden Ruhe in den beiden abschließenden Gebeten insgesamt eine sehr überzeugende Wiedergabe. In der Interpretation der Vier ernsten Gesänge erweist sich durch Intonationsreinheit und perfektes Legato abermals die auageprägte Gesangskunst des Bassbaritons. So gelingt mit seinem partnerschaftlich mitgestaltenden Pianisten eine tiefgehende Ausdeutung der bedeutenden Brahms-Lieder (MDG 908 2231-6).

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Der 1908/09 entstandene Liedzyklus Das Buch der hängenden Gärten von Arnold Schoenbergnach Gedichten von Stefan George ist alles andere als leicht aufzunehmen und stellt als Schoenbergs erstes Werk in freier Atonalität sehr hohe Anforderungen an Stimme und  Interpretation. Deshalb ist es mehr als mutig, dass die Hongkong-Chinesinnen Jasmine Law (Sopran) und Nancy Loo (Klavier) das selten zu hörende, sperrige Werk im September 2018 in London aufgenommen haben, das BRILLIANT CLASSICS (96503) jetzt herausgebracht hat. Die Aufnahme, die zusätzlich die vier Lieder op.2 sowie je ein Lied aus op.12 und op.14 enthält, leidet darunter, dass man die deutschen Texte nicht versteht, wenn man nicht im Beiheft mitliest. Da werden Konsonanten geradezu verschluckt, und Vokale, vor allem bei den Endsilben, folgen nicht dem natürlichen Sprachduktus. Allerdings gibt sich die junge Sängerin alle Mühe, die komplizierten atonalen Tonfolgen inhaltlich zu gestalten und den Text auszudeuten; trotz manchen allzu braven Heruntersingens der Noten werden meist die jeweiligen Stimmungen deutlich. Weiter ist positiv zu vermerken, dass sie ihren Sopran sauber durch alle Lagen zu führen weiß und auch die schwierigsten Intervallsprünge sicher beherrscht. Dabei ist ihr die ausgezeichnete Pianistin eine zuverlässige Partnerin.

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Etwas mühsam sind verschiedene romantische Werke unter dem Titel Rheingold zusammengefasst, gespielt vom niederländischen Streichorchester Ciconia Consort The Hague String Orchestra unter der Leitung seines Gründers Dick van Gasteren, der im Beiheft die Bezüge der Stücke zum Rhein herzustellen versucht. Da erklingt die Serenade für Streicher von Carl Reinecke (1824-1910), bei dem sich mit Die Ritter vom Rhein immerhin eins seiner 6 Lieder op.27 auf ein Gedicht von Emanuel von Geibel ein Bezug zum Rhein fand; weitere Hinweise sind nicht ersichtlich, auch nicht in seiner gefälligen Serenade. Dass Richard Wagners Ring des Nibelungen mit dem Rhein zu tun hat, kann man nicht bestreiten; aber die Wesendonck-Lieder haben bekanntlich einen Bezug zu Tristan und Isolde und nicht zum Rhein. Sei’s drum, die niederländische Mezzosopranistin Karin Strobos singt die schwelgerischen Lieder mit fließendem Legato und lässt ihre charaktervolle Stimme in den passenden Passagen schön aufblühen; die Streicher begleiten dezent in einer Fassung von  Gerhard Heydt. Bei dem in Köln geborenen und zeitweise in Bonn und Köln lebenden Max Bruch gibt es neben den biografischen Bezügen nur mit seiner Oper Die Loreley einen deutlichen Hinweis auf den Rhein. Sein letztes, posthum erschienenes Werk ist das dreisätzige Streichoktett B-Dur, das vom Ciconia Consort mit vorwärtsdrängender Dramatik gespielt wird, ohne die besinnlichen Momente im Adagio zu vernachlässigen. Schließlich enthält die CD Friedrich Silchers Loreley nach Heinrich Heines bekanntem Gedicht, das die Mezzosopranistin mit einer vom Orchester-Leiter arrangierten Streicher-Begleitung in schlichter Manier zum Klingen bringt  (BRILLIANT CLASSICS 96426).  Gerhard Eckels

Winternächte am Arno

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Was haben Umberto Giordanos Andrea Chénier und seine Fedora, was seine Siberia nicht hat? Die opernübliche Dreickskonstellation Sopran-Tenor-Bariton gibt es auch in Siberia, dem „Improvviso“ Chéniers ist Wassilis „Orride steppe“ durchaus ebenbürtig, der „Mamma morta“ Maddalenas ebenso Stephanas „Infinito dolore!“ , Glébys „La conobbi quand‘ era fanciulla“ kann es getrost mit „Nemico  della patria“ aufnehmen, und Librettist Illica war eigentlich der  Garant für einen Erfolg. Selbst die Ansiedlung zumindest des ersten Aktes von Fedora nach Russland hatte den zumindest vorübergehenden Triumph  des Werkes nicht verhindern können, so dass man sich des Gedankens nicht erwehren kann, es sei die Tatsache, dass Enrico Caruso Chénier ebenso wie Loris aus der Taufe hob, der Grund für den rauschenden Erfolg der beiden ersten Opern Giordanos war.

Allerdings zeigte sich auch Siberia mit Rosina Storchio und Giovanni Zenatello hoch besetzt  bei der Uraufführung 1903 an der Mailänder Scala. 1905 erlebte eine zweite Version ihre Uraufführung in Paris (Lina Cavalieri und Lucien Muratore), 1927 kehrte die Oper in einer dritten Fassung an die Scala zurück. 1931/ 1933/ 1937/ 1938/ 1943 – 43 hielt die Römische Oper Siberia mit verschiedenen Produktionen im Programm. 1947 gab es eine Produktion an der Scala. 1974 dann eine Aufführung durch die RAI Turin (mit Luisa Maragliano; der kluge Celetti gibt allerdings Mailand als Aufführungsort an). 1999 wurde das Werk in Wexford gespielt (Elena Zelenskaia). 2003 erfreute Siberia die Zuschauer im immer experimentierfreudigen Martina Franca (die temperamentvolle Francesca Scaini, ebenfalls bei Dynamic/CD 444/1-2 zu erleben).  Bereits 2017 sang Sonya Yoncheva die Stephana in Montpellier2015  konnte man Siberia am Conservatorio di Milano und 2018 im Teatro Regio di Torino erleben.

Mitten in der Corona-Pandemie entstand die nun auf DVD und CD vorliegende Aufführung vom Maggio Musicale Fiorentino , die in der Regie von Roberto Andò der nicht ganz neuen Idee folgt, das Stück als Theater auf dem Theater oder vielmehr als Herstellung eines Films mit dem Sujet Siberia zu zeigen. So rücken immer wieder Kameraleute, Scriptgirls, Regisseur den Darstellern auf die Haut, ist der Hintergrund mit Video-Szenen aus dem Lagerleben in Sibirien bedeckt, wobei nicht klar wird, ob Zar oder Stalin, dessen Bild als das des im dritten Akt besungenen Erlösers erscheint, der Diktator ist, im ersten Akt Uniformen aus der Zarenzeit, im zweiten und dritten aus der Sowjetzeit getragen werden. Die Kostüme von Nanà Checchi sind natürlich nur für den ersten Akt aussagekräftig und verweisen in die modisch uninteressanten Fünfziger, später trägt man zeitlose Lagerklamotten. Ganz zum Schluss taucht das Logo von Cinecittà auf, und heftige Wolkenformationen unterstreichen gern die Dramatik der Handlung (Bühne und Licht Gianni Carluccio).

Dass Giordano das Russische an seinem Sujet ernst nahm, zeigt sich einmal in der Verwendung russischen Liedguts, so des „Ey uchnem“  der Wolgaschlepper, russischer Instrumente wie der Balalaika, und es wird auch in der weiblichen Hauptfigur, der Stephana, sichtbar, die als Fremdartige mit sündigem Lebenswandel an Gestalten wie die Sonja in Schuld und Sühne, die Gruschenka in Die Brüder Karamasow oder die Katjuscha in Auferstehung erinnert. Ihnen wohnt inne, was Giordani von seinem Librettisten forderte: passione, colore e calore. Die lässt auch Gianandrea Noseda mit dem Orchester des Maggio Fiorentino nicht vermissen, so wie der Chor trotz Maskentragens in der Einstudierung von Lorenzo Frantini die Klagen der nach Sibirien Verbannten wie die Beschwörung der Auferstehung effektvoll zu Gehör bringt.

Vorzüglich ist die Besetzung, allen voran  Sonya Yoncheva als Stephana (erprobt 2017 in Montpellier) mit sanftem, lyrischem Auftrittslied und gleich darauf folgendem hymnischem „Sei giovane! Soldato!“ einer wunderschön timbrierten, ideal fokussierten Sopranstimme, sicherer Höhe im Liebesduett des zweiten Akts  und einer so souverän wie berührend gestalteten Schlussszene. Die Wandlung von der Luxusmätresse zur freiwillig alle Strapazen der Verbannung auf sich nehmenden, wahrhaft Liebenden vermittelt die Sängerin höchst überzeugend.  Ihr Partner ist der junge georgische Tenor Giorgi Sturua, dessen noch lyrische Stimme zu großen Hoffnungen berechtigt, ein sehr schönes Timbre ihr Eigen nennt und in der Höhe noch ausbaufähig erscheint. Ein Routinier im besten Sinn und souverän seine Aufgaben meisternd ist George Petean als der fiese Zuhälter Gléby, den er facettenreich im Spiel und prachtvoll im Gesang darstellt. Es gibt eine Vielzahl kleiner Rollen, darunter die der Haushälterin Nikona, von Caterina Piva mit scharfem Mezzo verkörpert, den Diener Ivan, dem Antonio Garés einen frischen, herben Tenor verleiht, den Prinzen Alexis, Giorgio Misseri mit ausdrucksstarkem Charaktertenor, eine Fanciulla mit dem frischen Sopran von Caterina Meldolesi, während im Lager als Aufseher wie Verbannte viele sonore tiefere Stimmen zu goutieren sind.

Eine „klassische“, traditionelle Inszenierung wäre dem Werk sicherlich dienlicher gewesen, um ihm die wünschenswerte Eroberung weiterer Bühnen zu ermöglichen, auf jeden Fall ist es das Verdienst des Genueser  Labels Dynamic, ein größeres Publikum mit einer durchaus repertoirefähigen Oper bekannt gemacht zu haben (Dynamic 37928, dazu auch der Audio-Soundtrack auf Dynamic CDS7928.02 mit Booklet und Libretto/ weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.). Ingrid Wanja  

Ein neuer Counter-Stern

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In der Neuinszenierung von Glucks Orfeo ed Euridice an der Berliner Komischen Oper in dieser Saison war der italienische Countertenor Carlo Vistoli als männlicher Titelheld die Sensation der Besetzung. Nun veröffentlicht das französische Label la música ein Recital mit dem Sänger, das La Lucrezia betitelt ist und Kantaten von Händel, Porpora und Vivaldi vorstellt (LMU 029). Es wurde im Herbst 2021 in der Scuola di Alto Perfezionamento Musicale de Saluzzo aufgenommen. Die Titel gebende, zehnteilige Kantate La Lucrezia von Händel eröffnet das Programm. Das erste Rezitativ, „O numi eterni“, gestaltet der Sänger mit wehklagendem Ton, die folgende Arie, „Già superbo del mio affanno“, mit schmerzlichem Ausdruck. Von erregtem Duktus mit hektischen Koloraturen ist „Il suol che preme“ geprägt, schon hier kann der Interpret sein virtuoses Vermögen zeigen. Davon zeugt auch das kurze Furioso „Questi la disperata anima mia“, das dem Sänger rasende Koloraturen abverlangt. Die folgende getragene Arie „Alla salma infedel“ ist dazu ein starker und wirkungsvoller Kontrast, wie auch das schwebend verklärte Arioso „Già nel seno“, während das anschließende Furioso „Ma se qui non m’è dato“ die Kantate effektvoll beendet.

Zwei weitere Kantaten von Händel sind dagegen weniger bekannt und werden hier sogar als Weltersteinspielungen präsentiert. Ninfe e pastori besteht aus je drei Rezitativen und Arien, die alle in bewegtem Modus komponiert sind und vom Sänger eine flexible Stimmführung fordern. Deh, lasciate e vita e volo ist von den drei Kompositionen die kürzeste mit einem Rezitativ und zwei Arien. Deren erste, welche der Komposition den Titel gab, ist ein getragenes, inniges Stück, das der Sänger mit bewegendem Ausdruck vorträgt. Auch „Lascia la dolce brama“ ist von kontemplativen Charakter und lässt dem Interpreten Raum für noble Gesangslinien.

Das Programm ergänzen je eine Kantate von Porpora (Oh, se fosse il mio core) und Vivaldi (Pianti, sospiri, e dimandar mercede). Beide bestehen aus zwei Rezitativen und zwei Arien. Bei Porpora betört der Sänger in der Arie „Se lusinga il labbro“ mit zärtlichen, schmeichelnden Tönen, in „Sento pietade“ imponiert er mit bravourösen Koloraturgirlanden. In der Komposition Vivaldis am Schluss der Anthologie sorgt er dann mit deren letzter Arie, „Cor ingrato“, für den Höhepunkt der Platte, entfacht ein Feuerwerk an Virtuosität mit halsbrecherischen Koloraturläufen.

Den Sänger begleitet das Trio Le Stagioni (Paolo Zanzu, der auch die Leitung hat, am Cembalo, Marco Frezzato am Cello und Simone Vallerotonda an der Theorbe) mit kammermusikalischer Delikatesse. Bernd Hoppe