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„Wie viel Erde braucht der Mensch?“, fragte sich einst Leo Tolstoi und kam zu dem Schluss, dass ein Rechteck in den Ausmaßen eines Sarges die richtige Antwort sei. „Wie viel Mozart braucht der Mensch?“, ist der Titel eines von Stephan Mösch anlässlich des Mozartfestes 2021 in Würzburg herausgegebenen Buches, in dem fünf Autoren und eine Autorin zu dem Thema Stellung nehmen. Sechs Kandidaten jeden Geschlechts, Entschuldigung, der beiden am häufigsten vertretenen, waren zur Stellungnahme aufgefordert worden, fünf Damen sagten ab, so dass zwar im Buch selbst peinlich aufs Gendern geachtet wird, inhaltlich jedoch ein Missverhältnis zwischen den Geschlechtern besteht.
Natürlich kann es nicht nur um Mozart und das Fortleben seiner Musik bei kommenden Generationen gehen, sondern, wie der Untertitel sagt, um „Musik im Wertewandel“. Beide Titel drücken ein hohes Maß an Skepsis aus, zurückzuführen vor allem auf die beiden Verdüsterer unserer Zeit, Covid und den Krieg in der Ukraine, die beide allerdings eher offenbarten, wie sehr für traditionell gehaltene Werte wie Solidarität (Maskentragen) und Opferbereitschaft im Einstehen für die Freiheit auch anderer ( Ukraine) in beinahe überraschender Weise auf fast allgemeinen Konsens stießen. Allerdings fand das Mozartfest vor Kriegsbeginn statt, die Vorträge wurden aber erst nach Kriegsbeginn überarbeitet. Ganz anders ging man übrigens zur gleichen Zeit in Italien mit dem Problem, was kann Musik bewirken, um. Der Titel des dort erschienenen Buches ist „La musica ci salverà-riflessioni per una rinascita sociale, culturale ed economica“( „Die Musik wird uns retten-Überlegungen für eine soziale, kulturelle und ökonomische Wiedergeburt“.)
Eine Antwort auf die Mozartfrage gibt es übrigens auf den ca. 180 Seiten des Buches nicht, kaum ein Eingehen darauf. Erst im letzten Beitrag, dem des Historikers Christoph Markschies heißt es, allerdings nicht ohne Infragestellung des Themas als solchem, wenigstens:“ Wir können, allzumal inmitten einer globalen Virus-Pandemie, gar nicht genug davon bekommen.“
Obwohl sie wenig oder gar nicht auf die Fragestellung eingehen, können die einzelnen Beiträge durchaus mit Gewinn gelesen werden. So geht Peter-André Alt unter Verweis auf Hesses Steppenwolf auf das Spannungsverhältnis zwischen Kultur und Lebenswelt ein, sieht Kunst auch als Entlastung vom Bösen, als Narkotikum, als Möglichkeit (nach Freud) zum „Abreagieren von Triebbewegungen ohne Zerstörung“. Kultur ist dem Verfasser ein Instrument zur Selbstbewertung einer Gesellschaft.
Die Komponistin Isabel Mundry bezieht sich auf James Baldwins Erfahrungen in einem Schweizer Dorf , die der Erfahrung des Ausschlusses vom eigenen kulturellen Erbe, auf Francois Jullien mit seiner Leugnung einer kulturellen Identität, erörtert den Unterschied zwischen kultureller Differenz und kulturellem Abstand. Die Komponistin verschafft dem Leser einen Einblick in das Verhältnis ihrer Musik zur Gregorianik, nimmt sogar speziell Bezug auf eines ihrer Werke, „Figura“ für zwei Trompeten.
Peter Gülke betitelt seinen Beitrag mit „Der ferne Mozart“, untermauert seine Ausführungen mit vielen Mozart-Zitaten und setzt sich u.a. mit den Widersprüchen in der Zauberflöte und im Charakter und im Leben Mozarts auseinander. Erfrischend, wenn auch nicht zum Thema gehörend, sind seine Nachbetrachtungen nach Würzburg über „geschichtsvergessene Denunziation“ und über „feige Political Correctness“. Das Mozart-Zitat zum Schluss stimmt hoffnungsfroh.
Noch näher an Mozart ist der Beitrag von Thomas Girst, mit dessen Verhältnis zum Geld und unserem zur Kunst, die seiner Meinung nach als Ware feilgeboten und konsumiert wird. In diesem Beitrag geht es auch um die ungeheuren Summen, um das von Deutschland großzügig für die Kultur ausgegebene Geld, um die Rolle der Wirtschaft als Mäzen. Opernintendanten und Museumsdirektoren fordert der Verfasser zur „Demut“ auf und geißelt die „Kritikunfähigkeit und Beratungsresistenz saturierter Nutznießer des subventionierten Systems“. Mozart für alle ist die etwas überraschende Schlussfolgerung, aber nur gemeinsam mit anderer Musik.
Wieder mehr ins Spiel kommt Mozart im Beitrag von Hans Ulrich Gumbrecht, der von seinem Mozarterleben berichtet, was höchst angenehm berührt, und der, zurückgehend auf Kant, Hegel, Goethe, Kierkegaard, Schopenhauer, Nietzsche und Adorno, schließlich zu sich selbst findet mit der Feststellung:“Nur Mozart lässt mich für einige glückliche Momente die Verkörperung dessen sein, wonach ich mich sehne“.
Hätte man als Lehrer seinen Schülern das Thema „Wie viel Mozart braucht der Mensch?“ gegeben, müsste man unter alle Aufsätze schreiben „Thema weitgehend verfehlt“, doch die Schüler könnten aufmucken:“Saublödes Thema“. Der Leser aber wird wohl zu dem Schluss kommen:“ Nicht das, was ich erwartet habe, aber trotzdem interessant“ (182 Seiten, Bärenreiter Verlag 2022; ISBN 978 3 7618 7275 8). Ingrid Wanja