Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Kein Gewinn

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Vorgewarnt durch Albert Giers (nachfolgend) erschöpfende Besprechung, ernüchtert die DVD der Aufführung von Siegfried Wagners Sonnenflammen aus dem bis 1999 als Kino und seit 2019 als Kulturbühne genutzten Reichshof in Bayreuth doch einigermaßen (1 DVD Naxos 2.22007). Zwar lässt sich Peter R. Pachls Inszenierung, die bei Siegfried Wagners Kreuzfahreroper Sonnenflammen zwischen den 13. Jahrhundert und der Zeit der Entstehung hin- und herpendelt und ihre wackere Ambitioniertheit durch den beredten Einsatz von Film- und Videosequenzen (Robert Pflanz) aufputzt, recht gut erkennen. Großes Kino im ehemaligen Kino: bereits während des knapp 10minütigen Vorspiels flimmert eine Überfülle an Bildern vom Bärenmarke-Bären bis zur Friedensbewegung, vom Ersten Weltkrieg bis zu den tollen Zwanzigern über die rückwärtige Leinwand. Das halb moderne, halb historische Spiel der Akteure hat daneben oft etwas unfreiwillig Komisches bzw. wird in dieser Aufzeichnung ungeschickt eingefangen. Doch musikalisch würde man auf einer DVD einfach etwas mehr erwarten als es die elektronischen Klänge des Bayreuth Digital Orchestra zu bieten vermögen, dem Ulrich Leykam dennoch die Farbigkeit und den Formenreichtum dieser Musik abrang. Vor dem oft etwas einkanalig dünnen Klang heben sich die Sänger gut ab, manche, wie Dirk Metzmacher als Hofnarr Gomella, Uli Bützer als Kaiser von Byzanz oder Steven Scheschareg als Wahrsager, liefern runde Porträts. Nie hat man den Eindruck, etwas versäumt zu haben.    R. F.

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Wäre der Kabarettist Otto Reuter (1870-1931) für diese Aufführung wundersamerweise von den Toten auferstanden, vielleicht hätte er dann das Couplet, das er Siegfried Wagner widmete (er sei Komponist wie sein Vater, „nur ein bißchen kleiner“), etwa so umgedichtet: Siegfried Wagner in Bayreuth / Schrieb die Sonnenflammen; / Zwar die Aufführung, so schien’s / Brach in sich zusammen. / Doch frustrieren läßt sich nicht / So wie Pachl einer, / Und er hat es hingekriegt, / Nur ein bißchen kleiner.

Wirklich „ein bißchen kleiner“? Auf dem Plakat für die Aufführung in der Kulturbühne Reichshof Bayreuth von Siegfried Wagners Sonnenflammen (15., 16. 8. 2020) steht: „Szenische Vision einer Oper“, was wohl bedeutet, daß nicht die Oper selbst zu sehen ist, jedenfalls nicht vollständig. Auf der Bühne sitzt kein Orchester (einen Graben gibt es im Reichshof ohnehin nicht), die Klänge werden elektronisch erzeugt (mit einem Verfahren, das dem Profanen wohl ewig ein Buch mit sieben Siegeln bleiben wird). Ein Unterschied zu einem Live-Orchester ist allerdings nicht wahrzunehmen, und weil die Bühne den Sängern gehört, kann die Oper wirklich gespielt werden, auch die Kollektive, die byzantinische Hofgesellschaft, die Kreuzritter, die Venezianer, sind durchaus angemessen repräsentiert. Die Solisten bilden ein homogenes Ensemble, alle werden ihren Rollen vollauf gerecht. Das Bühnenbild wäre in einem anderen Jahr vielleicht etwas üppiger ausgefallen: zusammengebundene grüne (an der Spitze violette) Plastic-Röhren haben den Vorteil, daß man sie sowohl als stilisierte Bäume wie Säulen deuten kann, sind aber doch ein bisschen karg.

Wie in vielen Inszenierungen von Peter P. Pachl laufen parallel zur Bühnenhandlung ununterbrochen Video-Projektionen (Bühnenbild und Videos: Robert Pflanz); großenteils historische Filmausschnitte, die auf die Zeit der Uraufführung der Oper (1918) verweisen; außerdem erscheinen immer wieder ein vom Schriftzug „Byzanz“ umgebenes Medaillon, in dem unterschiedliche Bilder sichtbar werden, eine stilisierte oder verfremdete Friedenstaube und die von den Plakaten der Anti-Atomkraft-Bewegung bekannte rote Sonne, die gelegentlich nicht lächelt, sondern ausgesprochen grimmig und aggressiv dreinschaut – die Flammen der südlichen Sonne, die dem Protagonisten Fridolin Verderben bringen, haben, soviel ist klar, mit Kernenergie zu tun. Es bleibt dem Zuschauer überlassen, wie er das Kaleidoskop von Bildern, die oft nur kurz aufblitzen, in einem Zusammenhang zur Opernhandlung bringt (oder auch nicht).

Erzählt wird die Geschichte der Eroberung und Plünderung von Byzanz während des Vierten Kreuzzugs (1204; u.a. gelangten damals die vier Bronzeplastiken der „Pferde von San Marco“ vom Hellespont nach Venedig). Als sein eigener Librettist (wie immer) folgt Siegfried Wagner den Berichten der Historiker insgesamt getreu, blendet allerdings manche für das Verständnis der Geschichte hilfreichen Details aus: Dass Kaiser Alexios (III.) ein Usurpator ist, der seinen Bruder und Vorgänger, den er im II. Akt für den missglückten Mordanschlag auf ihn verantwortlich macht, hat blenden und ins Gefängnis werfen lassen, wird nicht gesagt; auch nicht, dass dessen Sohn Alexios (IV.) die Kreuzritter zu Hilfe gerufen hat, um den Thron zurückzuerobern. Das entsprach nun ganz den Interessen des Dogen Enrico Dandolo,  dessen Kalkül, im östlichen Mittelmeerraum auf Kosten von Byzanz mehr Einfluss und einen bedeutenden territorialen Zugewinn für Venedig zu erreichen, letztlich aufging. Der mehr als Neunzigjährige steht als Führer des venezianischen Truppenkontigents vor der Stadt, und es ist klar, dass er Alexios III. keineswegs wohlgesonnen ist; daß der sich über den (ein klein wenig grotesken) Namen des Widersachers lustig macht, mag unter diesen Umständen verzeihlich erscheinen. – Dass die Kreuzritter Byzanz (immerhin die Hauptstadt eines christlichen, wenn auch nicht katholischen Reiches!) schließlich plündern und niederbrennen, hängt wesentlich damit zusammen, daß Alexios IV. ihnen für ihre Hilfe bedeutende finanzielle Zuwendungen versprochen hat, die zu leisten die Byzantiner weder fähig noch willens sind – dieser Vierte Kreuzzug erweist sich somit (auch in den Berichten christlicher Chronisten) als ganz und gar nicht frommes Unternehmen.

Die Dekadenz am Hof Alexios III. wird durch farbenprächtige, extravagante Kostüme und ausgelassene Tanzeinlagen unterstrichen. Dieses Milieu wird dem fränkischen Ritter Fridolin (der Tenor Giorgio Valenta; warum ausgerechnet der Sänger der Hauptrolle ein ausgesprochen unattraktives, ja ärmliches Kostüm tragen muss, bleibt unerfindlich) zum Verhängnis: Er hat gelobt, am Kreuzzug teilzunehmen, um eine Schuld zu sühnen (im Duell hat er den Ehemann seiner Geliebten getötet), aber in Byzanz verliebt er sich in Iris, der auch der Schürzenjäger Alexios (der Bariton Uli Bützer) nachstellt, und zieht nicht weiter. Iris (Julia Reznik, die in den Sonnenflammen ihr Operndébut gibt), ist in mancher Hinsicht die interessanteste Figur: Sie drängt Fridolin, Byzanz zu verlassen: „Die Sonne die hier strahlt, / Ihr glühendes Sengen verträgst du nicht!“ Sie selbst allerdings gehört offenbar in diese Welt, auch wenn sie Alexios und seinen Hof verachtet: „Entwurzle den Baum, so tötest du ihn! / Er bedarf der sengenden Sonne Glut!“ Dabei schwärmt sie von „den Recken, von denen uns Sagen melden“, von den Germanen der Völkerwanderungszeit, die „den schon morschenden Prachtbau“ Roms „in Trümmer brachen“! Das schwärmerisch exaltierte Wesen dieser jungen Frau drückt sich in ihrem Gesang aus; Julia Reznik verkörpert sie ungemein packend und präsent. Demgegenüber ist die Rolle der Kaiserin (Rebecca Broberg) ein bißchen undankbar, sie leidet still unter den Demütigungen, die ihr die Kälte und Flatterhaftigkeit des Kaisers auferlegen; so bleibt ihr kaum etwas anderes übrig als – im Gegensatz zu quirligen Iris – wesentlich statisch zu agieren.

Iris ist die Tochter des Hofnarren Gomella. Der Name erinnert an Gonella, der im 15. Jahrhundert Hofnarr bei den Este in Ferrara war; zugleich ist er ein Rigoletto,  der bedenkenlos die Ehre seiner Tochter opfern würde, um der Todesstrafe, die ihm eines Diebstahls wegen droht, zu entgehen: „Wär ich sie, ich tät’s! Aber sie!“ Gomella ist der Geist, der stets verneint: Byzanz, so stellt er fest, sei ein „noch viel größ’rer Abgrund als ich“! Am Ende entkommt er, denn der Kreuzritter Gottfried – dessen Lebensmotto „Raufen! Taufen! Saufen!“ ist – findet, daß es nicht lohnt, ihn zu erschlagen: „Gomellas Geist bleibt der Welt erhalten!“ – Drei Tage, bevor die Proben begannen, verstarb der Sänger, der für diese wichtige Rolle vorgesehen war, plötzlich und unerwartet. In der kurzen Zeit (zweieinhalb Wochen wurde geprobt, sagte Peter P. Pachl) konnte kein Sänger die umfangreiche Tenorbuffo-Rolle lernen. William Wallace sang von der Seite, Dirk Westmacher agierte in einem hermaphroditischen Kostüm (Maske wie das Kasperle im Puppentheater mit entsprechender Kopfbedeckung, dazu Federboa, Strumpfhose und Absatzschuhe). Man kann sich fragen, ob diese Notlösung der Aufführung nicht zugute kam: Wenn Westmacher die Rolle hätte singen müssen, hätte er sich bei seiner grotesken Körpersprache vermutlich nicht so verausgaben können.

Siegfried Wagners „Sonnenflammen“ in Bayreuth 2020/ Foto wie auch oben ISWG

Es gibt herrliche Musik in Sonnenflammen. Vielleicht mehr als alles andere faszinieren Farbenreichtum und stilistische Vielfalt: Auch die Nebenfiguren, der Wahrsager, der den Weltuntergang ankündigt, Fridolins Vater, der seinen Sohn verflucht, haben jeweils ihr eigenes Idiom; wenn Fridolin sich an die für immer verlorene Heimat erinnert, ist sein Gesang ungewohnt schlicht und innig. Manches, wie der Spottchor der Mädchen, die den neuen Hofnarren kahlscheren kommt fast operettig daher.

Zwei der Hauptfiguren in Sonnenflammen enden durch Suizid: Die Kaiserin ertränkt sich und ihren kleinen Sohn, weil sie ihr Leben nicht mehr erträgt; Fridolin stellt seine Ehre wieder her, indem er sich ersticht. Am Ende, bevor das „monderleuchtete Byzanz“ sichtbar wird, erkennt er seinen Irrtum: „Eitles Sonnenstreben! Wahn und Trug! / Brich es ab! Reiße den Faden! / Taumelnd sink in’s Grab hinab / Zur ewigen Nacht!“ – und da sind wir nun sehr nahe bei Tristan, auch wenn Siegfried Wagner dem Paar den Liebestod verweigert. Albert Gier (Mit Dank an den online-Merker)

Ettore Superstar!

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Kurz vor seinem frühen Krebstod vor 55 Jahren soll Ettore Bastianini den Wunsch geäußert haben, nicht in Vergessenheit zu geraten. Dieser Wunsch ist tausendfach in Erfüllung gegangen, jedenfalls wenn man ins Internet schaut und insbesondere bei youtube recherchiert. Da gewinnt man den Eindruck, dass er heute – am 24. September steht sein 100. Geburtstag an – noch viel mehr Verehrer hat als zu Lebzeiten. Einfach unglaublich, was da von Fans aus aller Welt an Ton- und Bilddokumenten zusammengetragen wurde. Wohl kein Bariton der Vergangenheit hat eine solche Gemeinde, und von den Tenören wohl nur Mario del Monaco. Ettore Superstar!

Ettore Bastianini/ Rigoletto in Chicago/ Foto Sorenson/ Chicago Opera Archive

Auch wenn die superlativischen Elogen von Opernfans – und besonders im Netz – oft ins Maßlose gehen und manchmal auch durchaus zweitklassige Sänger zu den größten aller Zeiten ausgerufen werden, so kann ich diese Begeisterung im Falle von Ettore Bastianini doch nachvollziehen, da ich selbst schon im zarten Knabenalter von ihr ergriffen war. Zu meinen ersten Opernplatten gehörten zwei LPs im 17-cm-Format, die ich immer und immer wieder abspielte: ein Recital mit Arien aus La forza del destino und Andrea Chenier und drei Ausschnitte aus Il Barbiere di Siviglia mit Giulietta Simionato und Alvinio Misciano. Vor allem Carlo Gérards Arie „Nemico della patria“ habe ich unmittelbar nach dem Stimmbruch oft mitgegrölt wie auch alle Einsätze des Grafen Luna in dem privat dilettantisch mitgeschnittenen Salzburger Trovatore von 1962. Aber auch heute noch, sechs Jahrzehnte später, nehmen Aufnahmen mit Bastianini einen zentralen Platz in meiner Sammlung ein.

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Die Karriere: Den Rang eines „Jahrhundert-Baritons“ werden ihm Kenner und Liebhaber, die andere Vertreter seines Stimmfachs bevorzugen, kaum absprechen können. Angefangen hat er ganz unspektakulär in der Provinz – als Bassist. Am 24. September 1922 im toscanischen Siena geboren, debütierte Ettore Bastianini 1945 nach kurzem Gesangsstudium in seiner Heimatstadt als Colline in La Bohème am Stadttheater Ravenna. Fünf Jahre lang war er danach an kleinen und auch größeren italienischen Bühnen, so einige Spielzeiten am Teatro Regio in Parma, im Baßfach beschäftigt, sang Partien wie Conte Rodolfo in Bellinis La Sonnambula, Alvise in La Gioconda oder Zio Bonzo in Madama Butterfly. Während des Rollenstudiums am Padre Guardiano soll er bemerkt haben, dass er das falsche Fach sang – bei dem spielerischen Versuch nämlich, auch die Rollen des Don Carlo und sogar des Alvaro mitzusingen.

Ettore Bastianini und Franco Corelli anläßlich von Donizettis „Poliuto“ an der Scala/ Foto Picagliani/ Archivio storico Teatro alla Scala

Dem Rat seiner damaligen Lehrerin folgend, legte er eine Berufspause ein und ließ sich zum Bariton umschulen. Am Silvesterabend 1951 gab er als Germont-père am Teatro Comunale von Bologna sein Debüt im neuen Stimmfach. Man kann sich heute kaum vorstellen, welche schwierige Konkurrenzsituation er in dieser Zeit vorfand: Veteranen wie Carlo Tagliabue, Afro Poli und Giovanni Inghilleri waren noch immer an ersten Bühnen erfolgreich, Enzo Mascherini, Paolo Silveri, Gino Bechi und Giuseppe Valdengo hatten den Höhepunkt ihrer Karriere erreicht, Tito Gobbi und Giuseppe Taddei standen kurz davor und selbst Kollegen seines Alters wie Aldo Protti und Giangiacomo Guelfi waren ihm, dem Bariton-Newcomer, wenigstens um eine Nasenlänge voraus.

Es ist deshalb gar nicht verwunderlich, dass Bastianinis Karriere nicht an der Mailänder Scala, sondern beim durchaus renommierten Maggio Musicale in Florenz begann, und dass er sich zunächst nicht in seinem ureigenen italienischen Fach durchsetzte, sondern in Partien des russischen Repertoires. In einer Inszenierung der berühmten Tänzerin Tatiana Pavlova sang er dort 1952 Jeletzki in Tschaikowskys Pique Dame. Die junge Sena Jurinac war Lisa, Artur Rodzinski dirigierte. Im darauffolgenden Jahr war er am gleichen Ort Prinz Andrej in der Erstaufführung von Prokofjews Krieg und Frieden, die einer szenischen Uraufführung gleichkam. Franco Corelli war als Pierre Besuchow sein Partner. Und noch ein Jahr später übernahm er in Florenz die Titelrolle in Tschaikowskys Mazeppa neben Kollegen wie Boris Christoff und Magda Olivero.

Fast naheliegend, dass er das fällige Debüt an der Scala auch in einer russischen Partie absolvierte, nämlich als Eugen Onegin (neben Renata Tebaldi und Giuseppe di Stefano), und seine große internationale Karriere als italienischer Bariton von New York aus begann. Hier gab er im Mai 1953 als Germont-père seinen Einstand und erhielt nach seiner Arie „Die Provenza“, die er statt an den Bühnenpartner direkt ans Publikum gerichtet haben soll, anhaltenden stürmischen Applaus, der vom Dirigenten entschlossen abgebrochen werden mußte. In der Folgezeit entwickelte er sich trotz der Konkurrenz von Leonard Warren und Robert Merrill rasch zu einem New Yorker Publikumsliebling und trat in den kommenden 12 Jahren an der Met in 89 Vorstellungen auf. Bald erhielt er seine ersten Schallplattenverträge und wurde in Amerika wie in Europa ein viel beschäftigter Sänger. Einen vorläufigen Höhepunkt bedeutete 1958 sein Engagement zu den Salzburger Festspielen als Marquis Posa in der „Don Carlo“-Produktion von Gustaf Gründgens und Herbert von Karajan. Nur wenige Wochen nach der Premiere hatte er sein Debüt an der Wiener Staatsoper, die neben der Scala und der Met sein drittes Stammhaus wurde und wo er bis 1965 nicht weniger als 142 Vorstellungen sang.

Renata Tebaldi und Ettore Bastianini in „Il Trovatore“ in Japan/ youtube

Kein Zweifel, Bastianini hatte jetzt den ersehnten Gipfel erreicht, und er begann, seine Kräfte zu überfordern. Ein frühes Jet-Set-Opfer, pendelte er zwischen Mailand und New York, zwischen Chicago und Wien, zwischen Berlin und London hin und her. Wie ernstzunehmende Kritiker feststellten, ließen infolge dieser Belastungen nicht nur seine stimmlichen Leistungen nach, er verlor auch an gestalterischer Überzeugungskraft. Auf die Serie von Triumphen folgte ein jäher Sturz. Im April 1962 gab er an der Scala sein Hausdebüt als Rigoletto und wurde von der Galerie gnadenlos ausgepfiffen. Nach der Premiere gab er die Partie an den routinierten Aldo Protti ab. Nach diesem Debakel wurde von verschiedenen Seiten bereits das Ende seiner großen Karriere vorausgesagt, doch das war offensichtlich unbegründet, denn nur wenige Monate später zeigte er sich bei den Salzburger Festspielen als Luna in Karajans Trovatore-Inszenierung wieder ganz in der alten Hochform. Doch blieb ihm nur noch kurze Zeit, seine Karriere fortzusetzen. Als er sich im November 1965 als Marquis Posa vom Publikum der Metropolitan Opera verabschiedete, war er bereits von seiner tödlichen Krankheit gezeichnet. In den folgenden Monaten versuchte er seinen Kräften noch einige Bühnenauftritte abzutrotzen. Am 25. Januar 1967 starb er, erst 44 Jahre alt, in Sirmione am Gardasee.

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Künstlerische Eigenart: Dass Ettore Bastianini im historischen Rückblick wenn nicht als der größte, so doch als der prototypischste italienische Bariton seiner Generation erscheint, als ein Nachfolger von Sängern der „Goldenen Ära“ wie Titta Ruffo und Riccardo Stracciari, hängt zunächst einmal mit der außergewöhnlichen Materialqualität und dem unverwechselbaren Timbre seiner Stimme zusammen, deren dunkle Farbe ihre Herkunft aus dem Baßfach nicht verleugnete, die sich in der Mittellage frei verströmen konnte und in der Höhe die Projektionskraft eines Tenors hatte, dabei bruchlos im Wechsel der Register war. Eine Spur von dem „Diamantenregen“, den man Stracciaris Gesang nachrühmte, findet man auch in Bastianinis Vortrag. Der gleichmäßige ruhige Fluß in den weit ausgesponnenen Kantilenen bei Donizetti und Verdi war eine seiner großen Stärken, dabei hatte sein Gesang immer einen Seelenton, den man ähnlich ausgeprägt sonst nur noch bei seinem Tenorkollegen Giuseppe di Stefano findet.

Es ist in Nachrufen auf verstorbene Künstler üblich, sie als unersetzlich zu erklären, und in gewisser Weise stimmt das ja auch, denn jeder ist auf seine Art einzigartig. Im besonderen Falle von Ettore Bastianini hat es zwar einige gegeben, die seinen Platz einzunehmen versuchten, aber tatsächlich keinen echten Nachfolger. In der Gunst Karajans, der Schallplattenfirmen, aber auch des Publikums nahm Piero Cappuccilli diese Position ein, dem eine über mehr als drei Jahrzehnte währende Karriere vergönnt war – ein zweifellos imponierender Sänger, der aber bei allem stimmlichen Glanz immer etwas sachlich und unpersönlich wirkte und nicht über Bastianinis vokales Charisma verfügte. An emotionaler Intensität kam diesem der Grieche Kostas Paskalis, an dunkler Stimmpracht der Rumäne Nicolae Herlea wohl am nächsten.

Sein Nachruhm gründet sich vor allem auf eine Handvoll Partien, in denen er unvergleichlich war. Etwa Carlo Gérard in Giordanos Andrea Chenier, den keiner mit einer ähnlich verzehrenden Intensität zu gestalten wußte. Daneben waren es vier Verdi-Rollen, in denen er für spätere Generationen die Maßstäbe setzte: Graf Luna, Renato, Don Carlo di Vargas und Marquis Posa. Für diese Partien besaß er den weiten Legato-Atem, die warme Tonfülle in der Kantilene und die dramatische Attacke. Offenbar lagen ihm die geradlinigen Charaktere besonders, während er nie ein Meister feiner psychologischer Differenzierungen war wie Tito Gobbi. Hintergründige Rollendeutungen waren seine Sache nicht und so hat er einige der großen Verdi-Partien nur selten oder gar nicht gesungen. Iago beispielsweise nur ein einziges Mal (in Kairo), dessen Credo hatte allerdings einen festen Platz in seinem Konzert-Repertoire.

Ettore Bastianin als Michele in Puccinis „Il Tabarro“ an der Scala/ Foto Picagliani/ Archivio storico Teatro alla Scala

Er war auch kein „begnadeter“ Bühnendarsteller. Anders als Gobbi und der Erzkomödiant Giuseppe Taddei, die ihre Rollen mit einer überaus beredten Körpersprache und ausgefeiltem Mienenspiel gestalteten, zog er sich auf die Position des reinen Steh-Baritons zurück. Das ist in zwei kompletten Trovatore-Videos (einer TV-Version von 1957 und einem Mitschnitt aus Tokyo von 1963) ebenso zu konstatieren wie in der Verfilmung der legendären Forza del destino aus Neapel mit Renata Tebaldi und dem darstellerisch gewandten Franco Corelli oder einem amerikanischen Fernseh-Querschnitt der Traviata mit Beverly Sills. Anders als seine beiden großen Fachkollegen und Konkurrenten hat er auch nie komödiantische Rollen übernommen, ausgenommen Rossinis Figaro, mit dem er 1956 auch sein Debüt in der Arena von Verona absolvierte und den er mit etwas bärbeißigem Humor ausstattete.

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Das diskographische Erbe: Seine diskographische Hinterlassenschaft, etwa 15 komplette Studio-Produktionen und noch weit mehr vollständige Live-Mitschnitte, ist beeindruckend und gibt der posthumen Verehrung ausreichend Nahrung. Ich schmälere nicht das historische Verdienst der Decca-Aufnahmen aus den 50er Jahren, mit denen ich aufgewachsen bin und die in der überwiegenden Konstellation mit Partnern wie Mario del Monaco, Renata Tebaldi, Giulietta Simionato und Cesare Siepi eine Schallplatten-Ära prägten (u.a. La Bohème, La Gioconda), wenn ich den letztgenannten heute den Vorzug gebe. Vieles was nach dem Tod des Sängers auf dem sogenannten „grauen Markt“ erschienen ist, wurde später von großen Firmen wie Deutsche Grammophon, EMI und Orfeo technisch restauriert ganz offiziell veröffentlicht. Darunter befinden sich einige wirkliche Sternstunden der Oper, die in keiner Sammlung fehlen dürfen. Dazu zählen Don Carlo (1958) und Il Trovatore (1962) aus Salzburg unter Herbert von Karajan (Deutsche Grammophon), La Traviata (1955) und Poliuto (1960) aus der Mailänder Scala mit Maria Callas (EMI). Zwei Wiener Sternstunden, Andrea Chenier unter Lovro von Matacic und La forza del destino unter Dimitri Mitropoulos (beide 1960, Orfeo), konkurrieren mit den Studio-Aufnahmen bei Decca, und sind für diejenigen Stimmenfreunde von besonderem Interesse, die in diesen Opern lieber Corelli und di Stefano hören als del Monaco.

Zu den „Unverzichtbaren“ rechne ich aber auch Ernani (Florenz 1957) unter Mitropoulos und natürlich Adriana Lecouvreur aus Neapel (1959), wo Bastianini sich mit Magda Olivero, Giulietta Simionato und Franco Corelli zu einem unübertrefflichen Quartett verbindet. Bei Un ballo in maschera hat man die Qual der Wahl. Renato war seine absolute Glanzrolle. Kein anderer Bariton der Nachkriegszeit hat die Arie „Eri tu“, ein Prüfstein für jeden echten Verdi-Bariton, mit solcher Hingabe, solcher Tonfülle und solcher Imaginationskraft („O dolcezze perdute“) gesungen wie er. In meiner Sammlung befinden sich drei Aufnahmen aus der Mailänder Scala, die Studio-Aufnahme der DG und die vorangegangenen Mitschnitte mit Maria Callas und Antonietta Stella. Daneben der spätere Auftritt an der Covent Garden Opera mit Jon Vickers und Amy Shuard (eine interessante Kombination!) und schließlich – meine Favoritin – die Produktion aus Florenz (1957), da hier nicht nur Bastianini, sondern auch Anita Cerquetti als Amelia in ihren Arien in den siebenten Verdi-Himmel führen. Da muß man den penetranten Gianni Poggi (wie auch in der Studio-Aufnahme) in Kauf nehmen.

Ettore Bastianini als Riccardo in „La Forza del Destino“ in Japan/ youtube

Erfreulicherweise sind auch die frühen Aufnahmen des Sängers, die ihn in einem erweiterten Repertoire präsentieren, unterdessen auf CD erschienen. Zunächst eine Aida von Remington (Naxos) und Il tabarro vom NDR. Dann die erwähnten drei russischen Opern aus Florenz, aber auch französische Opern, wobei besonders Athanael in Thais den Möglichkeiten Bastianinis sehr gut entspricht, Méphisto in Berlioz‘ La damnation de Faust vielleicht etwas weniger, aber da ist die Kombination mit der Marguérite Giulietta Simionatos sehr reizvoll. Valentin in Faust ist eine sichere Bank, auch Escamillo in der Arena-Carmen aus Verona mit den Partnern Corelli und Simionato, denn diese Rolle verlangt einen echten Bassbariton mit sicherer Höhe. Im italienischen Rand-Repertoire ist noch Leoncavallos La Bohème, die ich persönlich sehr mag, von einigem Interesse, vor allem wegen Bastianinis Rodolfo. Dass der auch ein fabelhafter und stimmkräftiger Scarpia sein konnte, habe ich erst jetzt bei youtube in einer Brüsseler Tosca von 1958 (Scala-Gastspiel mit Tebaldi und di Stefano) entdeckt.

Der Autor: Der Musikwissenschaftler und Theatermann Ekkehard Pluta/ epubli/ zu biographischen Angaben s. epubli

Ein privater Sammler hat die Rundfunkübertragung von Bastianinis letztem Auftritt an der Metropolitan Opera (Don Carlo am 11. Dezember 1965) mitgeschnitten und ins Netz gestellt. Der todkranke Sänger zeigt sich da vokal in kaum merklich reduzierter Form, allenfalls bemerkt man, dass ihn das Singen anstrengt. Im gleichen Jahr hat er in Japan eine Platte aufgenommen, die ich bisher nicht kannte: „Ettore Bastianini sings Songs of Italy“, begleitet von einem Philharmonia Orchestra unter Hiroyuki Iwaki. Das Programm reicht von Di Capuas O sole mio über Cardillos Core n’grato bis zu Tostis Marechiare, La Serenata und L’ultima canzone – das ganze Repertoire also, das seit Carusos Tagen vor allem eine Domäne der italienischen Tenöre geworden ist. Dieses populäre Recital läßt noch einmal die Qualitäten dieses Ausnahme-Sängers erkennen, der sich mühelos von bassigen Tiefen bis zu glänzenden Tenorfermaten aufschwingt, und darf als ein würdiges Testament. Ekkehard Pluta

Chansons und Canzoni von Cherubini

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Mit nicht weniger als 68 unterschiedlichen Ave Maria auf fünf CDs vereint erregte die Sopranistin und Produzentin Andrea Chudak vor einiger Zeit Aufsehen, aber auch selten Aufgeführtes von Carl Maria von Weber oder Giacomo Meyerbeer hat sie zu Aufmerksamkeit verholfen und legt nun zwei  CDs mit Chansons und Canzoni von Luigi Cherubini vor, die der Komponist selbst in einer Sammlung zusammenfügte, obwohl sie weder zeitlich noch thematisch einer wahrnehmbaren Ordnung unterworfen wurden. Die CD trägt den Titel The Cracovian Album, weil die Partitur in der polnischen Stadt zu verorten ist, obwohl sie bis 1945 in Berlin beheimatet war. Die Lieder entstanden zwischen 1782 und 1834, sind für ein, zwei oder drei Stimmen und/oder Cembalo, Klavier und Violine geschrieben.

Sämtliche Kompositionen für Solostimme werden von Andrea Chudak gesungen, die auch als Produzentin auftritt, deren solide Gesangsausbildung unter anderem auf Magdalena Hajossyova, einst Primadonna der Lindenoper, zurückzuführen ist. Sie beginnt mit „Blessé par noire perfidie“ in volksliedhaftem Ton, die Stimme verfügt über Farben, die man einem jungen Mädchen zuordnen könnte, eine leichte Melancholie passt gut zum Text. Mit feiner Leichtigkeit wird das Chanson pour une fete vorgetragen, als sanftes Wiegenlied entpuppt sich „Dors, mon enfant“, in dem eine verlassene Mutter fein verschleiert, mit vielen Schattierungen   und doch für manchen Hörergeschmack etwas langatmig an der Wiege singt. Für einen starken Kontrast dazu sorgt die Romance du Phenix mit ihrer hüpfenden Leichtigkeit, ein eher verwaschen klingendes Italienisch offeriert die erste Canzonetta italiana, entschädigend durch feine Koloraturen. In schöner Tristesse wird das Schicksal im Exil beklagt, die folgenden recht umfangreichen Stücke werden vom Sopran so nuancenreich dargeboten, dass beim Hörer keine Ermüdungserscheinungen auftreten. Es folgen drei italienische Duette, in denen sich neben dem Sopran auch die Altstimme von Irene Schneider äußern darf und sich  als schöne Ergänzung des Klangbildes erweist. Den Abschluss der ersten der beiden CDs bildet das Trio pour une Fete, für das der Mezzosopran von Yuri Mizubuchi der Dritte im Bunde der Sängerinnen ist, die von Violine (Liv Migdal) und Klavier (Yuki Inagawa) begleitet werden.

Den gleichen Titel trägt und die gleiche Besetzung erfordert das erste Stück auf der zweiten CD, das mit einem sehr schönen Vorspiel beginnt. Perfekt ist der Zusammenklang der drei Stimmen, die fein instrumental geführt werden. Dann wird die CD erst einmal wieder eine Angelegenheit nur für Andrea Chudak, die auf anmutige Weise dem Chanson aus dem Jahre 1801 viele Nuancen abzugewinnen weiß.  In reizvoller Verschränkung der  Solistinnenstimmen erklingt die Canzone Italiana, für die vier Ottave gibt sich Andrea Chudak einen kokettierend schmachtenden Anstrich,  reizvolle Koloraturen sind für das Notturno aus dem Jahre 1782 gefragt und werden auch geliefert.  Eine umfangreich Ottava del Tasso, von Violine und Klavier begleitet, beschließt die CD, die für angenehme Unterhaltung sorgen kann (Thorofon CTH26732). Ingrid Wanja        

Knackige Arien

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Nicht mal der Titel dieser Serenata ist überliefert – sie bleibt bis heute eins der unbeachtetsten größeren Vokalwerke Vivaldis. Dabei hat diese Kurzoper durchaus etwas zu bieten: Schräge Handlung (Zwei Nymphen, ein Hirte, aber keine Dreiecksgeschichte), knackige Arien, hinreißende musikalische Einfälle. Manches ist genialer auf den Punkt gebracht als in den großen ausschweifenden Opern.

Dazu noch ein Top-Ensemble, das zu den besten Vivadi-Orchestern der Welt gehört. Schade, dass die beiden Sopranistinnen und der Tenor dagegen etwas verblassen – hübsche Stimmen, aber wenig Abenteuerlust in den Auszierungen. Und warum zwischen Rezitativen und Arien sekundenlange Stille herrscht, bleibt ebenso rätselhaft wie Anlass und Ort der Uraufführung (Antonio Vivaldi:Seranata a tre RV 690; Elisabeth Breuer, Sopran | Sonia Tedla, Sopran | Alessio Tosi, Tenor | Ensemble Modo Antiquo | Federico Maria Sardelli, Leitung; Glossa GCD 924602) / 15. 09. 2022) Matthias Käther

Blechs „Alpenkönig und Menschenfeind“

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Es ist tatsächlich eine „unglaublich schöne Musik“, wie Aachens GMD Christopher Ward vor der Premiere behauptete. In romantisch schwärmerischer Manier erklingt das umfangreiche Vorspiel, werden alle Instrumente schwelgerisch vorgestellt, tönen die Hörner so betörend als ginge es gleich in Carl Maria von Webers Wald. Romantisch, spätromantisch, immer wieder ein wenig nach Humperdinck klingt es, bei dem Leo Blech Mitte der 1890er Jahre seine Ausbildung vertieft hatte. Was Oskar Bie über Leo Blechs komischen Einakter Versiegelt von 1908 sagte, gilt im gleichen Maß für den 1903 unter Ernst von Schuch in Dresden uraufgeführten Alpenkönig und Menschenfeind, „Die Musik ist unbeschreiblich gut. … Alles, was wir ersehnten an Leichtigkeit des Rhythmus, liebenswürdiger Melodie, Geistreichtum des Orchesters, lebendiger Charakteristik, war hier gefunden. Kein falscher Ton, keine Verschiebung der Empfindungen, kein Schielen und Renommieren, es ist Champagnerblut darin und schwebende Laune“. Und so geht die Schwärmerei noch eine halbe Seite weiter und lässt sich ebenso auf den Alpenkönig münzen, der nun in Aachen, wo Blech 1871 geboren wurde, erstmals wieder auf eine Bühne gelangte.

Leo Blech auf einer Fotografie, die in der Sammlung Manskopf der Frankfurter Universitätsbibliothek aufbewahrt wird.

Rappelkopf ist, wie der Name verrät, ein rappeliger Hitzkopf und Haustyrann, der es seiner Frau Sabine (Irina Popova), seiner Tochter Marthe und seinen Bediensteten Lieschen und Habakuk alles andere als angenehm macht. Ständig müssen sie sich vor seinen Tobsuchtsanfällen in Sicherheit bringen. Beim österreichischen Volksdichter Raimund wird der Menschenfeind durch Zutun des Alpenkönigs Astragalus geheilt. Der wundertätige Berggeist hält Rappelkopf nicht einfach nur den Spiegel vor, sondern lässt ihn die unhaltbare Situation in seinem Hause hautnah erleben indem er ihm die Gestalt seines Schwagers verleiht, während der Alpenkönig höchstpersönlich in die Rolle des Rappelkopf schlüpft und genauso poltert und wütetet wie der richtige Rappelkopf. „Ich gehe mir lieber aus dem Weg“, witzelt der echte Rappelkopf deshalb, als er auf seinen Doppelgänger-Widerpart trifft. Rappelkopf ist auf einen Schlag geheilt, gibt seine Einwilligung zu Marthes Hochzeit mit dem Musikus Hans (Soon-Wook Ka kann seine tenoralen Trümpfe nur ansatzweise ausspielen), der im ursprünglichen Stück eigentlich ein Maler ist, und lässt Lieschen mit Habakuk glücklich werde. Eine zauberische Besserung. Das Thema von Blechs fünfter Oper war einigermaßen ungewöhnlich, scheinen doch die zutiefst im Wiener Volkstheater verankerten Zauberpossen und Zaubermärchen Ferdinand Raimunds eine speziell österreichische Angelegenheit zu sein, die zudem durch ihre Struktur mit Liedern und Couplets selbst schon halbe Liederspiele sind.

Vielleicht hatte ihn der Prager Librettist und Kritiker Richard Batka darauf gestoßen, der um 1900 ein Libretto nach Nestroys Der Zerrissene verfasst hatte und seit der Dorfidylle Das war ich! (uraufgeführt 1902 Dresden unter Ernst von Schuch) Blechs Hauslibrettist blieb.

Blechs „Alpenkönig und Menschenfeind“/ Szene/ Will van Iersel

Die Musik ist federleicht und gewaltig, zugleich volkstümlich, beispielsweise im Duett Marthe- Lieschen „So viele Blumen ziehen“, das die beiden jungen Frauen parlandierend unterbrechen, um es wieder und wieder aufzunehmen, während die lyrische Koloratursopranistin Netta Or als Marthe ein paar Verzierungen drüberstreut. Den Ton nehmen sie im dritten Akt in „Schön sind Rosen und Jasmin“ nochmals auf. Gefällig, nie einfältig. Hurtig geht es in Marthas Duett mit dem heimgekehrten Geliebten Hans weiter. Der Alpenkönig (würdevoll: Roman Collett) dagegen singdeklamiert geheimnisvoll wie ein Anzengruber‘scher Wotan, und Habakuk verweist mit der wiederkehrenden Zeile „Zwei Jahre war ich Diener in Paris“ nicht nur auf seine berufliche Laufbahn, sondern auch auf seine Herkunft aus der opéra comique, was Joshua Owen Mills mit seinem luftig leichten Tenor, der wie gemacht scheint für solche Partien, bestens gelingt. Sein Duettchen mit Lieschen (soubrettenspitz und flach: Anne-Aurore Cochet) im dritten Akt ist so eingängig wie die Gassenhauer der zeitgenössischen Operette. Altwiener Gemütlichkeit und böhmisches Musikantentum à la Smetana verbreitet die Szene beim Tischler und seiner musizier- und tanzfreudigen Familie. Im Original handelt es sich um eine Köhlerfamilie, doch das „musikalische Faulenzerpack“, wie die von Ayaka Igarashi wunderbar charakterisierte Tischlersfrau ihre Familie beschreibt, wird von Rappelkopf genauso kaltherzig bezahlt und aus seinem Heim vertrieben wie die armen Köhlersleute. Wunderbare Orchestermusik bringen die Vorspiele zum zweiten und dritten Akt, gelungen ist das Sextett am Ende des ersten Akts, großartig das Final-Sextett am Ende der Oper, wobei das Orchester fast schon straussisch anschwillt als ginge es um eine ganz andere Menschen- und Geisterwelt. Überhaupt greift das Orchester oft wirkungsvoller ins Geschehen als es die raschen Dialoge vermögen. Es fehlt, wenngleich die Schwurszene zwischen dem Alpenkönig und Rappelkopf ein wenig Schauerromantik verströmt, an Dramatik und spannender Entwicklung, worunter auch die undeutlich umrissene Figur des Rappelkopf leidet. Paul Armin Edelmann singt den Rappelkopf mit sanftem und weich timbriertem Bariton, fast zu schön als dass man vor ihm Angst haben könnte. Aber im Grund ist damit auch schon der komödienschnelle Heilungsprozess angedeutet, der im balsamischen Schlaflied am Ende des zweiten Aktes, wieder fällt einem Humperdinck und sein „Abendsegen“ ein, eingeleitet wird. Alles sehr gut gemacht, aber nicht unbedingt originell. Biedermeier dritte Zeit, wie es die Dame im Antiquitätenladen ausdrücken würde. Auch auf der Bühne Biedermeier dritte Zeit oder Biedermeier ironisch gebrochen. Schmetterlinge flattern allerliebst über die von Henriette Hübschmann im Kreis verteilten Erdhaufen, ein weißes Pferd erhebt als Statue freudig seine Vorderbeine, die Pferdeköpfe an Rappelkopfs überdimensioniertem Lehnsessel dampfen aus ihren den Nüstern, der Tischler hat Werkzeughände wie Edward mit den Scherenhänden und eine riesige Rose entfaltet zum Finale ihre Blätter. Ute Engelhardt arrangiert das Spiel auf der kreisrunden Fläche so übersichtlich und treffsicher wie es einer bürgerlichen Komödie gut ansteht, die das entfesselte Zaubertheater und die „Schaubühne ohne ideale Ansprüche“ hinter sich gelassen hat.

Christopher Ward hat das mit Pause gerade mal 2 ½ Stunden kurze Stück mit Liebe zum liedhaften Detail wie orchestralen Alpenglühen sorgfältig einstudiert, so dass es dem Sinfonieorchester Aachen im Lauf der Aufführung immer besser gelang der anspruchsvollen Musik gerecht zu werden (11. September 2022).  Ward hatte bereits im Vorjahr pünktlich zu Blechs 150. Geburtstag unter Coronabedingungen eine konzertante Aufführung in nahezu gleicher Besetzung realisiert, die nun bei Capriccio als Mitschnitt vorliegt und das Augenmerk auf den Opernkomponisten Blech lenken könnte, dessen Werke aufgrund seiner jüdischen Herkunft in den 1930er Jahren von den Konzert- und Opernbühnen verschwanden.

Blechs „Alpenkönig und Menschenfeind“/ Szene/ Will van Iersel

Mit Alpenkönig und Menschenfeind versucht das Theater Aachen jetzt eine Wiederentdeckung des vor allem als Dirigenten bekannten Leo Blech. Begonnen hatte er als zweiter, dann erster Kapellmeister in Aachen, wo auch seine erste Oper herauskam. Über Prag, wo er u.a. die UA von d‘ Alberts Tiefland leitete, kam er 1906 an die Berliner Hofoper, die ihn 1913 zum Generalmusikdirektor auf Lebenszeit ernannte. Nachdem er die Staatsoper 1923 wegen eines Zerwürfnisses mit dem Intendanten Max von Schillings verlassen hatte, kehrte er 1926 in seine alte Position zurück, die er unter der schützenden Hand von Göring und Tietjen bis 1937 innehatte. Blech wurde zur Emigration gezwungen. Er dirigierte in Riga, gastierte in Tallinn, Moskau und Leningrad und erlebte in Stockholm, wo er an der Königlichen Oper seit 1925 gastiert hatte und 1935 zum Hofkapellmeister ernannt worden war, eine erfolgreiche Alterskarriere. 1949 kehrte er für wenige Jahre als Generalmusikdirektor der Städtischen Oper nach Berlin zurück, bevor er 1953 nach einem Sturz seine Dirigententätigkeit aufgeben musste. Fünf Jahre später starb er in Berlin, wo er auch beerdigt wurde. Zu seinem 60. Geburtstag hatte ihm das Theater seiner Heimatstadt 1931 die Ehrenmitgliedschaft verliehen, für die er sich artig mit einer Aufführung seines Erfolgsstückes Carmen bedanke. Bereits 1937/38 tilgte das Jahrbuch des Deutschen Bühnenvereins jedoch den Hinweis auf Blechs Ehrenmitgliedschaft. Erst jetzt wurde diese Ehrenmitgliedschaft im Rahmen einer erfreulich gut besuchten Gedenkveranstaltung mit einer Ehrentafeloffiziell wiederhergestellt; Intendant Schmitz-Aufterbeck, die Oberbürgermeisterin und die Musikwissenschaftlerin Jutta Lambrecht beleuchteten dabei Blechs Wirken und Bedeutung und nahmen den Akt der Wiedergutmachung auch zum Anlass einer Aufarbeitung der Aachener Theatergeschichte. Mit zwei Chorwerken stimmte der Opernchor Aachen unter Jori Klomp auf die folgende Premiere und Blechs Musik ein, von der GMD Ward sagte, „Es ist eine unglaublich schöne Musik“.  Rolf Fath

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge dieser Serie hier

Halévys Oper „La Tempesta“

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Das 71. Wexford Festival Opera wurde am 21. 2022 Oktober eröffnet, und zwar wie üblich mit faszinierenden Werken, die aus dem Repertoire verschwunden sind (oder nie dazu gehörten), die aber musikalisch wertvoll sind.  Das diesjährige Festival stand unter dem Motto „Magie und Musik“, und die Werke sollen Magie beinhalten – und hervorrufen. Die wichtigsten Opern in diesem Jahr waren  La tempestavon Fromental HalévyLalla-Roukh von Félicien David und Armida von Antonin Dvorák.

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Fromenthal Halévy/ Foto Nadar/ Taschen

Charles Jernigan schreibt: La tempesta, mit der das Festival eröffnet wurde, hat eine interessante, wenn auch kurze Geschichte. In den 1840er Jahren befand sich das Her Majesty’s Theater, das lange Zeit der Schauplatz der italienischen Oper in London war, im Niedergang: Viele der Hauptsänger hatten das Haus verlassen, um ein neues Ensemble zu gründen, aus dem Covent Garden hervorging, und die Zuschauerzahlen am Her Majesty’s Theater gingen zurück. Der Impresario Benjamin Lumley wollte eine neue Oper produzieren, die Aufsehen erregen und das Publikum zurückbringen sollte: Er brauchte einen „Hit“. Er wollte ein Thema aufgreifen, das den Engländern sehr am Herzen lag, indem er das neue Werk auf ein Stück von Englands größtem Dramatiker, William Shakespeare, stützte. Es sollte in italienischer Sprache sein, der Sprache der meisten Opern, die seit Händel in London aufgeführt wurden. Lumley wollte auch einen bedeutenden Librettisten und Komponisten, und er plante, einige der größten Starsänger der damaligen Zeit zu engagieren. Der von ihm bevorzugte Librettist war Felice Romani (Autor von Norma, La sonnambula, Anna Bolena und vielen anderen Werken in den 1820er und 30er Jahren), und der gewünschte Komponist war Felix Mendelssohn. Mendelssohn bevorzugte jedoch Eugène Scribe, den größten französischen Librettisten seiner Zeit, und so beauftragte Lumley Scribe mit der Abfassung des Librettos, das von Pietro Giannone aus dem Französischen ins Italienische übersetzt wurde. Mendelssohn war unbeeindruckt – und verärgert darüber, dass Lumley ihn als Komponisten bekannt gemacht hatte, bevor jemand einen Vertrag unterschrieben hatte, und er starb ohnehin unerwartet im November 1847, bevor die Arbeit beginnen konnte. Lumley wandte sich daraufhin an Halévy, der bereits für La Juive (1835) und viele andere große Opern und Opéra-comiques berühmt war, von denen einige in London zu hören gewesen waren, und Halèvy erklärte sich bereit, Scribes Libretto zu vertonen. Als Starsänger hatte Lumley Jenny Lind für die Rolle der Miranda ins Auge gefasst, die damals auf dem Höhepunkt ihrer Popularität in England stand, und Luigi Lablache für die Rolle des Calibano. Schließlich ließ Linds Popularität nach, und sie zog sich 1849 im Alter von 29 Jahren von der Opernbühne zurück.  Lumley wandte sich an Henriette Sontag, die sich 1829 aus der Oper zurückgezogen hatte, als sie den Grafen Rossi heiratete, und Sontag willigte ein, wieder zu singen, weil sie und ihr Mann das Geld brauchten. Filippo Coletti war der Prospero und Michael Balfe dirigierte.

 

Halevys „La Tempesta“ in Wexford 2022/ Szene/ Foto Clive Barda

Ursprünglich sollte die Rolle der Ariele, Prosperos Zauberin, eine Sängerin sein, und Halévy komponierte die Vokalmusik für sie, doch als die verzögerte Inszenierung 1850 auf die Bühne kam, war Ariele zu einer stummen Rolle geworden, die der Tänzerin Carlotta Grisi, der wohl berühmtesten Ballerina der damaligen Zeit, übertragen wurde. Ein Teil von Halévys Gesangsmusik ging an einen „Air Sprite“, während für Grisi eine neue Tanzmusik komponiert wurde. Die Aufführung, die schließlich am 6. Juni 1850 im Her Majesty’s Theatre stattfand, war ein großer Erfolg und lief etwa dreizehn Vorstellungen lang, bevor Grisis Abgang die Show zur Schließung zwang. Dies reichte jedoch nicht aus, um das Her Majesty’s Theatre zu retten, das ein paar Jahre später geschlossen wurde. Als nächstes übernahm Lumley die Leitung des Thèâtre Italien in Paris und führte dort bald La tempesta ein. Bei der dortigen Erstaufführung stürzte eine neue Tänzerin, Carolina Rosati, die die Rolle der Ariele spielte, durch eine offene Falltür in der Bühne, und obwohl sie die Aufführung beendete, überschatteten der erschreckende Unfall und die dadurch verursachte Verzögerung alle anderen Aspekte der Aufführung, und die Oper fiel durch. Danach wurde La tempesta bis heute nicht mehr aufgeführt und nicht mehr gehört.

Halevys „La Tempesta“/ Henriette_Sonntag war die erste Miranda/Gemöälde von Carl Christian Vogel von Vogelstein 1830 /Blechen Gesellschaft /Wikipedia

Die Story in Scribes Libretto folgt zunächst getreu Shakespeare, weicht dann aber im letzten Teil des Werks davon ab. Prospero, der Herzog von Mailand, wurde von seinem Bruder Antonio mit dem Einverständnis von Alonso, dem König von Neapel, gestürzt, der Prospero mit seiner kleinen Tochter Miranda in einem Boot ausgesetzt hat. Sie haben sich auf einer Insel in Sicherheit gebracht, die von Calibano und seiner Mutter, der Hexe Sicorace, bewohnt wird. Prospero hat mit seiner Magie Sicorace in einem Felsen eingesperrt und den guten Geist Ariele von seiner Macht befreit, während Calibano sein Sklave geworden ist. Die Oper beginnt mit einem Prolog, der den titelgebenden Sturm“ schildert, der von Prospero und Ariele angezettelt wurde, um das Schiff mit Alonso und Antonio sowie Alonsos Sohn Fernando zu zerstören.  Diese Männer werden zusammen mit den Matrosen auf Prosperos Insel an Land geworfen. Im ersten Akt erfährt Miranda von ihrem Vater, wie es auf der Insel aussieht, und sie sieht zum ersten Mal Fernando und verliebt sich in ihn. Im zweiten Akt befiehlt die unsichtbare Stimme von Sicorace Calibano, einige magische Blumen zu sammeln, die ihm drei Wünsche erfüllen sollen. Sie möchte, dass ihr Sohn einen Wunsch benutzt, um sie aus dem Felsen zu befreien, aber er weigert sich. Stattdessen wird der erste Wunsch verwendet, um Ariele einzuschläfern und in einen Baum zu sperren; der zweite wird verwendet, um Miranda in einen Schlaf zu versetzen, weil Calibano sie begehrt und eine Vergewaltigung plant. Als er ihren schlafenden Körper trägt, trifft er auf die Matrosen des Schiffes, die ihn mit Rum betrunken machen; er schläft ein. Im dritten und letzten Akt stiehlt Miranda die Blumen und benutzt den letzten Wunsch, um die Matrosen schlafen zu lassen; sie entkommt.  Prospero befreit Ariele vom Baum (in dieser Inszenierung durch einen riesigen Steinkopf ersetzt) und schickt sie auf die Suche nach Miranda. Miranda begegnet der körperlosen Stimme des in einem Felsen gefangenen Sicorace, die ihr sagt, sie solle Fernando töten, den sie als Feind bezeichnet. Miranda bereitet sich darauf vor, den schlafenden Fernando zu töten, aber er erwacht rechtzeitig und seine glühende Liebe überzeugt sie, dass er kein Feind ist. Prospero, Ariele und die reumütigen Antonio und Alonso treffen ein, und alle versöhnen sich für das Happy End. Sie segeln nach Italien und lassen Calibano und Sicorace auf der Zauberinsel zurück.

 

Halevys „La Tempesta“ in Wexford 2022/ Szene/ Foto Clive Barda

Musikalisch ist Halévys Musik handwerklich einwandfrei und hebt sich gelegentlich von den allgemeinen Klischees ihrer Zeit (oder eigentlich der Zeit von Rossini, Donizetti und Bellini) ab, um in Ensembles und einprägsamen Melodien einen dramatischen Ausdruck zu finden, obwohl die Arien eher aus dem allgemeinen Stoff der Zeit geschnitten sind. Mirandas Auftritt („Parmi una voce il murmure“) spricht von der natürlichen Welt, die Miranda verzaubert, und lässt Insekten singen; die Cabaletta ist stark ausgeschmückt. Prosperos Romanza „Sorge un fiore“ fiel in unserer Aufführung weg, ebenso Fernandos Cavatina „Cara, soave aerea voce“, eine schwierige Arie, die hohe Töne und viel Fioratura des Tenors erfordert. Andererseits war der gesamte Prolog, der den Sturm auf dem Meer schildert und größtenteils aus Chorgesang bestand, gefolgt von dem unvermeidlichen Gebet, eine angemessene Beschreibung des Sturms und des Untergangs des Schiffes mit Alonso, Antonio und Fernando. Ein schönes Duett für Fernando und Miranda, das durch die Hinzufügung von Prospero zu einem Trio wird, beendet den 1 Akt.

Der 2. Akt, in dessen Mittelpunkt Calibans Auffinden der Zauberblumen und seine versuchte Vergewaltigung Mirandas durch das betrunkene Finale stehen, enthält die beste Musik der Oper und ist besonders gut, beginnend mit dem ausgelassenen Trinklied „Ci oppresse abbastanza de‘ mali il pensier“ bis zu der Szene, in der Calibano dem Rum verfällt. Im letzten Akt gibt es ein anmutiges Trio, und Miranda bekommt ein stark verziertes Rondo-Finale („Vinto, la nature e amor“), gerade so, als wäre dies eine Oper von Rossini oder dem frühen Donizetti.

 

Halevys „La Tempesta“ in Wexford 2022/ Szene/ Foto Clive Barda

Leider gelang es der Wexford-Produktion (eine Koproduktion mit dem Teatro Coccia in Novara) nicht, das Festivalthema „Magie und Musik“ zu beleben. Die Inszenierung von Roberto Catalano (Regie), Emanuele Sinisi (Bühnenbild), Ilaria Ariemme (Kostüme) und D. M. Wood (Beleuchtung) hatte keine Magie und stand oft im Widerspruch zu dem Gefühl von Magie, das die Musik haben könnte. Ein kostümierter Stelzenläufer, der die Besucher im Theater begrüßt, und eine als Zauberin verkleidete Dame, die sich im Foyer unter die Besucher mischt, kamen der Magie des Abends noch am nächsten. Das Problem lag sowohl im Gesang als auch in der Inszenierung. Die Sopranistin Hila Baggio (Miranda) und der Tenor Giulio Pelligra (Fernando) waren den Koloraturanforderungen ihrer Rollen einfach nicht gewachsen; insbesondere Pelligra gehört zur „can belto“-Gesangsschule, die vielleicht für den Verismo funktioniert, aber für diese Art von Oper völlig ungeeignet ist. Die junge Jade Phoenix hinterließ als Ariele einen positiven Eindruck, obwohl ihre Perücke und ihr Kostüm eher an eine alternde Witwe als an einen Luftgeist erinnerten, und der georgische Bass Nikolay Zemlianskikh sorgte in seinen beiden Arien für Totenstille. Das Beste an der ganzen Besetzung war der georgische Bass Giorgi Monoshvili als Calibano. Die Inszenierung kam sowohl stimmlich als auch theatralisch nur in den Szenen zur Geltung, in denen er der Hauptdarsteller war. (Die Kritiker des neunzehnten Jahrhunderts hielten Luigi Lalblaches Calibano-Darstellung ebenfalls für das beste Merkmal der ersten Aufführungen). Rory Musgrave, Richard Shaffrey, Gianluca Moro und Dan D’Souza waren gut als Alonso, Antonio, Stefano und Trinculo, und Emma Jüngling sang die unsichtbare Sicorace, wobei ihre Stimme aus zwei verbeulten Lautsprechern kam, die auf einem Metallrohr von oben herabgelassen wurden. Sicorace schien in der Beschallungsanlage eines Highschool-Fußballspiels gefangen zu sein, denn es war kein Rock in Sicht. Francesco Cilluffo, der hervorragende Arbeit mit Verismo-Opern geleistet hat, dirigierte, als ob es sich um ein weiteres veristisches Werk handelte; am Eröffnungsabend war das Festivalorchester laut, ohne viel Subtilität oder Schattierungen, aber es verbesserte sich bei der zweiten Aufführung (Foto oben David O´Brian als Ariel in der Stratforder Aufführung des Tempest/ RSC. Charles Jernigan

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Ehrenrettung

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Jahrzehntelang kam kein deutsches Opernhaus ohne sie aus, jahrzehntelang danach sind sie so gut wie von den Bühnen verschwunden, die Spielopern oder Singspiele der Flotow, Nikolai oder besonders Albert Lortzings, an dessen Undine, Wildschütz, Zar und Zimmermann oder Waffenschmied, etwas weniger an der Revolutionsoper Regine sich Generationen von Opernbesuchern erfreut haben. Nur gelegentlich taucht die eine oder andere wieder auf einem Spielplan auf, so Die Lustigen Weiber von Windsor an der Berliner Staatsoper oder in der kommenden Spielzeit in Brandenburg, doch ins Gedächtnis eingeprägt hat sich Martha in der liebevoll ironischen Inszenierung von Loriot in Stuttgart, auch schon Jahrzehnte her, und der Berliner wird sich an Winfried Bauernfeinds Inszenierungen von Zar und Zimmermann oder Die lustigen Weiber von Windsor an der Deutschen Oper mit ihren wunderschönen Bühnenbildern erinnern. Die heftigen Regie-Opernschlachten tobten um Wagner und Verdi, deren Werke das aushalten können, die Spielopern wurden des Kampfes nicht für wert befunden, hätten ihn wahrscheinlich auch nicht überlebt.

Da ist es schon verwunderlich, dass 2022 eine 2019 entstandene Aufnahme einer unbekannten Lortzing-Oper  mit dem Titel Zum Groß-Admiral auf dem Markt erschienen ist, immerhin gestaltet vom Münchner Rundfunkorchester unter Ulf Schirmer und mit ansehnlicher Solistenbesetzung. Drei Paare bilden außer dem unvermeidlichen Bass à la klug und weisem Bürgermeister van Bett oder für 5000 Taler auf sein Gretchen verzichtendem Baculus das Personal: Prinz Heinrich von England und seine Gattin Catharina von Frankreich, Richard Graf von Rochester und seine allerdings nicht auf der Bühne erscheinende Clara, Betty, seine zunächst unerkannt ins Wirtshaus zum Groß-Admiral und dessen Wirt Copp Mavbrai verschlagene Nichte, und deren Liebhaber Edward, eigentlich Page, gegenüber Betty aber zunächst als Musiklehrer auftretend. Stoff für Irrungen und Wirrungen gibt es also genug, und wie vorauszusehen, gibt es am Ende drei glückliche Paare. Das Libretto nach Alexandre Duval von ist in einem  für uns heute  schwierigen Deutsch, Lortzing selbst anzulasten, gehalten, zu Glück hat sich der gesprochenen Dialoge Paul Esperanza angenommen.

Die Werkgeschichte ist keine glückliche, denn obwohl die Uraufführung in Leipzig 1847 und die Wiener Erstaufführung 1849 den Beifall des Publikums fanden, war der Erfolg kein nachhaltiger, wohl auch wegen der vernichtenden Kritik von Eduard Hanslick.

Die Ouvertüre ist ungeheuer rasant, das Orchester macht also durchaus erst einmal Lust auf das Stück. Amüsant ist auch ein Duett, in dem es ein Hin und Her zwischen Rokoko-Schäferromantik und Biedermeier gibt, Orchester und Chor holen alles an musikalischem Esprit aus dem Stück heraus, was darin zu finden ist. Es gibt aber auch lange, zu lange Duette und Ensembleszenen und nicht die Ohrwürmer, die man aus anderen Lortzing-Opern kennt.  Angemessen ist die Besetzung mit dem angenehmen lyrischen Tenor Bernhard Berchtold als Prinz Heinrich, der, als Seemann verkleidet, eine hübsche Barcarole singt. Jonathan Michie ist mit typischem, damit angemessenem Kavaliersbariton Rochester, Martin Blasius lässt als Capp Mavbrai durchaus  vernehmen, welch große Erfahrung er mit komischen Bassrollen hat, leider aber auch, dass die ermüdete Stimme nicht mehr allen Intentionen gehorcht. Von den drei Sopranen hebt sich die warm timbrierte Stimme von Julia Sophie Wagner in der Hosenrolle des Eduard am stärksten von den beiden anderen beiden Damen ab, von denen Lavinia Dames eher Soubrettenqualitäten als Betty, Anett Fritsch die eines lyrischen Soprans als Catharina aufweist. Höchst angenehm anzuhören sind sie alle drei.

Nach einer Wiederausgrabung einer historischen Aufnahme des Berliner Vorkriegsrundfunks von 1937 (im Tonarchiv des rbb; drastisch gekürzt und bearbeitet und vor ein paar Jahren auch im rbb gesendet) gab es in  Annaberg unter der Ägide von Ingolf Huhn vor einigen Jahren auch eine szenische Aufführung der rekonstruierten Fassung, eine Wiederentdeckung für das Repertoire hat sich daraus nicht ergeben, eher dürften die bekannten, in der letzten Zeit arg vernachlässigten Werke des Komponisten auf ein Revival hoffen (cpo 555 133-2). Ingrid Wanja   

Endlich was Schönes

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Was man in den letzten Jahren und als Berliner gleich an allen drei Opernhäusern schmerzlich vermisst hat, wird dem Betrachter bewusst, wenn er die Falstaff-Produktion des Maggio Musicale Fiorentino aus dem Jahr 2021 betrachtet: eine sorgfältig gemachte Bühne mit historisch wie geographisch getreuen, wenn auch stilisierten Bauten und ebensolchem Interieur, die Sänger in ihrer Interpretation unterstützende und darüber hinaus ihre Träger, deren Stand, die Zeit, in der sie leben, charakterisierende Kostüme, künstlerisch und handwerklich perfekt, ein Verbleiben der Handlung in Zeit und Örtlichkeit, die das Libretto vorsah, und damit eine große Glaubwürdigkeit und zugleich eine Horizonterweiterung weit hinaus über die armseligen Produktionen, die das durchweg miese Hier und Heute widerspiegeln sollen. In ihnen ist Falstaff ein Depp unter Deppen und nicht ein heruntergekommener, adelsstolzer Genussmensch, der sich dem aufstrebenden, um Selbstbewusstsein ringenden Bürgertum überlegen fühlt, sind die vier lustigen Weiber nicht nur partygeile Bourgeoisiezicken, sondern geradezu Vorläuferinnen der Emanzipation, wenn sie Nanetta gegen den Willen des patriarchalisch ehestiftenden Ford zu ihrem Glück verhelfen. Sven-Eric Bechtolf hat das Wunder vollbracht, für das er wahrscheinlich diesseits der Alpen nicht den notwendigen Mut aufbringen würde, einer hämischen Kritik des Feuilletons so gut wie sicher. Eine detailverliebte Personenregie lässt die Sänger auch dann agieren, wenn sie nicht direkt in die Handlung eingreifen, sie können aber auch zu lebenden Bildern erstarren. Julian Crouch ist für die Bühne verantwortlich, und er weiß mit sparsamen Mitteln viel Atmosphäre zu schaffen, lässt mit einem Strohballen hier, einem Fässchen dort dazu beitragen. Die Stadtsilhouette von Windsor in wechselndem Licht (Alex Brok) ist ein Kunstwerk für sich.  Die Kostüme von Kevin Pollard charakterisieren fein ihre Träger, besonders die Ausgehuniform Falstaffs spiegelt perfekt den Widerspruch zwischen Anspruch und Realität, in dem er lebt, wider.

Was zu sehen ist, ist also durchweg erfreulich, was zu hören ist, allerdings weit weniger. Das gilt nicht für das Orchester unter John Eliot Gardiner, der die kammermusikalischen Aspekte des Werks fein herausarbeitet, ungemein präzise ist und so inspiriert wie inspirierend wirkt. Auch mit Nicola Alaimo kommt kein Bedauern darüber auf, dass einmal nicht Ambrogio Maestri der Falstaff vom Dienst ist. Er verbindet eine rollengerechte Körperlichkeit mit viel Gewandtheit, die auch ein  graziöses Tänzlein nicht ausschließt, sein sonorer Bassbariton ermöglicht ein so raumfüllendes „Onore“ wie das „Va vecchio John“ markant rhythmisch klingt. Auch der zweite Barion, Simone Piazzola, ist ein in jeder Hinsicht rollengerechter Ford. Zufrieden sein kann man mit dem Dienerpaar Bardolfo (Antonio Garés) und Pistola (Gianluca Buratto), und von Dr.Cajus erwartet man keinen schönen Tenor, so dass man Christian Collia nichts vorwerfen kann. Ganz anders der Fenton von Matthew Swensen, der darstellerische Unbeholfenheit nicht durch einen recht anämisch klingenden Tenor ausgleichen kann, der seine hübsche Arie verschenkt.

Vokal auch  fast ein Totalausfall ist die adrette Alice von Ailyn Pérez, deren Sopran nicht aufblühen kann, sondern durchgehend zu klein, zu substanzlos erscheint. Francesca Boncompagni ist eine ebenfalls recht blässliche Nanetta, Mutter und Tochter können den beiden stimmlich tiefer gelagerten Damen, Caterina Piva  als Meg und vor allem der vorzüglichen, nie zur Karikatur werdenden Quickly von Sara Mingardo, die bereits bei der ersten Einspielung durch Gardiner im Verdi-Jahr und auf historischen Instrumenten dabei war, nicht das Wasser reichen (Dynamic 37951). Ingrid Wanja

Ideologischer Anspruch zum Zweiten

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Ohne Bekenntnisse und Offenbarungen scheint es nicht mehr zu gehen, kann keine Debüt-CD und sogar eine darauf folgende zweite Aufnahme nicht auskommen, und so bekennt auch die seit 2017 bei der Deutschen Grammophon unter Vertrag stehende amerikanische Sängerin Nadine Sierra im Booklet zu ihrer neuen CD mit dem Titel Made for Opera, die Aufnahmen seien auch im Gedenken an ihre portugiesische Großmutter entstanden, die zwar eine schöne Stimme besaß, aber nie den Beruf einer Sängerin erlernen, geschweige denn ausüben durfte. Im Debütalbum war noch von Diversität und Gleichberechtigung die Rede gewesen, hatte sich der Sopran recht verzottelt aussehend vor allem amerikanischem Liedgut unter dem Titel There’s a place for us gewidmet, nun wehen zwar auch, aber sichtbar gepflegte Haare im Wind, aber nicht über einem braven Krägelchen, sondern über einer Federboa und einem Abendkleid.

Schon bei dem erst drei Monate alten Baby will die Mutter eine besondere Affinität zur Musik entdeckt haben, seit dem zarten Alter von sechs Jahren nahm sie Gesangsunterricht, mit zehn Jahren kam Nadine Sierra zum ersten Mal mit der Oper in Berührung, nachdem ihre Mutter ein Band mit der Zeffirelli-Inszenierung von La Bohéme ausgeliehen hatte. Mit zwanzig Jahren erregte sie die Aufmerksamkeit von Marilyn Horne, die sie unter ihre Fittiche nahm und von da ab errang sie einen Preis nach dem anderen, oft als jüngste Teilnehmerin in der Geschichte des jeweiligen Concorso.

Drei der bekanntesten und beliebtesten Damen der Operngeschichte ist die neue CD gewidmet: Violetta, Lucia und Juliette. Für alle drei hat Nadine Sierra eine frische, helle und doch von einem leichten Schleier der Melancholie geadelten Sopran, der den Konsonanten mehr Aufmerksamkeit schenken könnte, sich für Violettas große Arie einer raffinierten Agogik bedient und dem auch eine gewisse Naivitätsattitüde gut steht, wo es passt. Filigran wird „la delizia“ gestaltet, und ein Wunder an raffinierter Technik ist die Cabaletta der Violetta. Ein sehnsüchtiges „amore“ mischt sich in den Gesang Alfredos, und der Spitzenton ist vollkommen unangestrengt.

Das „Addio al passato“ überzeugt nicht zuletzt durch die Schlichtheit, das schmerzliche Schweben ohne übertreibendes Pathos, aber es fällt einem auch die Mahnung der Callas ein, sich nicht zu einer Wiederholung hinreißen zu lassen, auf den schönen Schwellton am Schluss hätte man trotzdem nicht verzichten müssen.

Leider ist im Booklet nicht vermerkt, wer für das schöne Harfensolo zu Beginn der Lucia-Arie verantwortlich ist. Die Sängerin entzückt durch die Leichtigkeit des Tonansatzes und der Emission, sie wirkt nie angestrengt, sondern eher verspielt. Die Wahnsinnsarie lässt die Sierra die einzelnen Phrasen auskosten, feine Decrescendi bis fast zum Verstummen lassen innerlich jubeln, ein leichter Perlmuttschimmer scheint auf der Stimme zu legen. Eine so virtuose wie die Stimmung treffende Kadenz voller feiner Facetten lässt aufhorchen.

Für Juliettes erste Arie gibt es neben nicht sehr ausgeprägtem französischem Klang einen schönen Glockenton und virtuosen Übermut, die große Szene „Dieu! quel frisson court“ schließt die Aufnahme auf würdige Weise ab. Das Orchestra Sinfonica Nazionale della RAI und Riccardo Frizza sind die Garanten dafür, dass der Sängerin die optimale Unterstützung für ihr Unternehmen zuteil wird (DG 486 0942). Ingrid Wanja

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Und das schrieben wir bei der ersten CD: Eine schöne Stimme und eine einnehmende Optik scheinen nicht mehr die Garantie für den Beginn einer auch erfolgreichen CD-Karriere zu sein. Eine Botschaft muss sie legitimieren, und davon hat die CD von Nadine Sierra gleich eine auf dem Cover und eine weitere auf der Rückseite des Booklets. Bernsteins Maria verkündet : “There’s a place for us und will nach Aussage der amerikanischen Sopranistin mit puerto-ricanischen und portugiesischen Wurzeln allen „a little bit of hope“ geben, die sie hören (wenn sie denn die Gelegenheit dazu haben). Auf der Rückseite des Booklets meint die Sängerin: „Opera belongs to everybody“, was sich an dieser Stelle seltsam ausnimmt, denn auf der CD befinden sich ganze zwei Opernarien, eine gänzlich unbekannte und eine aus Strawinskys The Rake’s Progress. Ansonsten gibt es Musikstücke in englischer/amerikanischer und spanischer sowie portugiesischer Sprache, die, immer Ansicht des Booklets, „nicht nur die Grenzen der Oper sprengen“, sondern offensichtlich auch in ihrer Vielfalt ein Gegenbeweis dafür sein sollen, dass, wie Nadine Sierra in einem Interview erklärt hat, Amerika die Angewohnheit hat, sich von allem abgrenzen zu wollen. Wenn dazu noch, ebenfalls Aussage in einem Interview, der selbstgewählte Auftrag kommt, der klassischen Musik helfen zu wollen, „Mauern einzureißen, die die klassische Musindustrie selbst aufgebaut hat“, dann meint man, dass die sehr ansprechende, aber doch bei weitem nicht sensationelle CD mit dreizehn Titeln  total mit Ideologie überfrachtet sei.

Es beginnt mit Bernsteins „Somewhere“ und der Hörer lernt eine unverwechselbare, aparte, frische und schillernde Sopranstimme mädchenhaften Charakters kennen, die über eine gute Technik verfügt, wie u.a. ein schönes Decrescendo beweist. In Villa-LobosAria kann die Sängerin eine dichte Atmosphäre erzeugen, ein ausgeprägtes Vibrato, eine flirrende Höhe und zarte Tongespinste erfreuen in Gordons Stars, die Extremhöhe erweist sich als strapazierfähig im temperamentvoll gesungenen  Julia de Burgos“ von Bernstein. Mit niedlich naivem Ton wird Villa-Lobos‘ Liebeslied zärtlich schmeichelnd im „Amor, meu amor!“ gesungen, schlicht und innig erklingt Bernsteins „Take care“. Ihre Unschuld noch nicht verloren hat die Sängerin des berühmten Virtuosen-Glanzstücks „ Glitter and be gay“, und manchmal hört es sich noch mehr nach Bewältigung als nach Gestaltung an. Gordons „Morning“ klingt besonders strahlend, in der Höhe, da hört man gern darüber hinweg, wenn in der Tiefe Verhuschtes zu vernehmen ist. Poetisch kommt die Melodia sentimental daher, ekstatisch, die Grenzen des Wohllauts streifend Maia’s Aria von Theofanidis. Mit feinen Pianissimi kann der Sopran in einem Lied von Foster erfreuen, ebenso in Golijovs „blassem Mond“, und  Anne Truelove lässt in ihrer langen Arie zunächst einen keuschen, mädchenhaften Klang, dann ein schmerzliches Erkennen und schließlich eine schöne Entschlossenheit vernehmen. Hochkarätig ist die Begleitung durch das Royal Philharmonic  Orchestra unter Robert Spano (DG 483 5004). Ingrid Wanja        

Verführung durch Musik

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Wer denkt nicht an Klingsors  Zaubergarten, an die schönen Blumenmädchen, an Kundrys sündigen Kuss, wenn er den Titel Parsifals Verführung liest, und wer hat nicht bei einem Verfassernamen wie Laurence Dreyfus das Schicksal des gleichnamigen  zu Unrecht beschuldigten französischen Offiziers vor Augen? Wenn dann noch vom Cover ein Gesicht mit verzerrten Zügen wie das eines E. T. A. Hoffmann nach dem Besuch von Lutter & Wegner guckt, ist die Verwirrung vollkommen. Es geht aber weder um die Verführung von Parsifal, noch um Spionage oder nächtliche Gelage, sondern um die Umgarnung des jüdischen Dirigenten Hermann Levi (Bild oben/ OBA) durch Richard Wagner, der ihn für die Uraufführung seines Bühnenweihfestspiels in Bayreuth und zum Übertritt zum christlichen Glauben bewegen wollte. Ersteres gelang ihm, letzteres nicht.

Wenn das Buch also mit einem „er“ beginnt, sind weder Parsifal noch Richard Wagner gemeint, sondern Levi, außer ihm gibt es eine zweite „Heldin“, die Frauenrechtlerin Anna Ettlinger, die ihren alten Freund Levi aufsucht, um mit ihm über eine Biographie, die sie schreiben will, zu sprechen. Die ihr gewidmeten Kapitel sind nach den Tagen des Aufenthalts im Hause Levi durchnummeriert, die mit Levi im Mittelpunkt tragen als Kapitelüberschriften Jahreszahlen. Der Autor ist bisher nicht als Romanschriftsteller bekannt, sondern vor allem als  Gambenspieler und als Gründer und Leiter der Musikgruppe Phantasm, zudem als Musikhistoriker , verfasste unter anderem Bücher über Bach und Wagner.

Das nun erschienene Buch wird als Roman bezeichnet, auf der Rückseite des Bandes gleich doppelt sogar als Wagner-Roman beworben, was es nicht ist, hat aber durchaus halbdokumentarischen Charakter oder gibt sich als historisch getreu aus, so durch immer wieder eingestreute Briefe zum Beispiel des Freundes Brahms oder des Lehrers Lachner, deren beider Freundschaft Levi seiner Verehrung für nicht nur Wagners Musik , sondern auch für den Maestro selbst opferte. Eine tiefe Verwurzelung des amerikanischen Autors, der mittlerweile in Berlin lebt, in der deutschen Kultur, wie viele Zitate Hölderlins, Novalis‘ oder von Platens beweisen, ist verbunden mit Verbitterung über die antisemitischen Schriften Wagners und Spott über dessen menschliche Schwächen, doch spielt der Komponist eher indirekt eine Rolle in dem Buch, in dem auch gewisse Aspekte jüdischen Lebens in Deutschlands durchaus kritisch gesehen werden. Manchmal erweckt der Autor den Eindruck, er wolle seinen Leser durch die Ausbreitung von Kenntnissen über das letzte Drittel des 19.Jahrhunderts geradezu überwältigen. Eine bedeutende Rolle spielt, und da tritt Fiktion in den Vordergrund, die Homosexualität, die in bezug auf Levi und Brahms nur in einem Traum des Ersteren und da mit Problemen behaftet erscheint, da der eine beschnitten ist, der andere jedoch nicht, oder im Verhältnis zwischen Levi und seinem Masseur und Diener, das ausgerechnet nach der einzigen Liebesnacht mit Anna Ettlinger dieser offenbar wird. Da Siegfried Wagner in der vom Autor beleuchteten Zeit noch ein Kind war, gibt er für dieses Thema wenig her, auch wenn seine späteren Betreuer, der Bühnenbildner für den Parsifal und dessen italienischer Freund, bereits eine Rolle spielen.

Über die Musik Wagners wird wenig gesagt, was wohl der Gattung Roman geschuldet ist, der Verzicht auf eine chronologische Gliederung und auf die strenge Bindung an einen einzigen Romanhelden, nämlich Levi, bringen Abwechslung, aber auch eine gewisse Unruhe in das Werk.

Das Buch wurde von Wolfgang Schlüter übersetzt, dem man Sorgfalt und die Nähe zum Autor unterstellen möchte, so dass manche den Kitsch nicht nur streifende Äußerung, manche gewagte Formulierung nicht ihm anzulasten, ja vielleicht vom Autor so und so wirkend gewollt ist. „Schmälen“ sollte man allerdings nicht für schmähen halten, „Beseelung“ nicht „über Gesichtszüge huschen“ und der „nächtliche Schoß des Verlangens“ lieber verschlossen bleiben. Und als erfahrener Musiker hörte Levi sicherlich mehr als Im Lohengrin Vorspiel als  „ungezwungene Schönheit“, fand das Vorspiel zu Tristan nicht nur „erstaunlich“ und Auszüge aus dem Ring nicht nur „unwiderstehlich“. Aber es handelt sich ja nicht um eine wissenschaftliche Abhandlung, sondern um einen „Roman“.    

Wer, dem Titel glaubend, etwas über Parsifal oder Wagner erfahren will, dürfte enttäuscht sein. Wen Hermann Levi und die Möglichkeiten jüdischen Lebens im Deutschland des späten 19.Jahrhunderts interessieren, kann sich auf eine spannende Lektüre gefasst machen (Faber & Faber 2022, 220 Seiten; ISBN 978 3 86730 226 5). Ingrid Wanja

Ach Trude

Wer oder was ist Hütchen? Ein Taschenspieltrick, bei dem sich unter einem von drei Hütchen oder Nussschalen, die blitzschnell hin- und hergeschoben werden, ein Kügelchen befindet? Ein solcher Taschenspieltrick ist An allem ist Hütchen schuld. In Siegfried Wagners elfter Oper wird das „lustige Märchendurcheinander“ zu dem der Komponist, ausgehend von der Liebesgeschichte von Frieder und dem Katherlieschen, nach eigener Aussage „vierzig Märchen“ neu zusammengefügt hatte, von der Märchenfrau aufgelöst. Es handelt sich um einen unsichtbaren Kobold, dem nur mit Knofel und Bibernellen beizukommen ist. Zuvor waren sich sogar der Komponist höchstselbst, Siegfried Wagner, und Jacob Grimm über Hütchens Machenschaften in die Haare geraten. Eigentlich ist Siegfried Wagners op. 11 ein Stück für das ambitionierte Regietheater, das Licht ins Dunkel bringt und hinter den Märchengeschehen um Frieder und Trude, Katherlieschen und Königsohn, Müller und Müllerin, Wirt und Wirtin, um die drei goldenen Haare des Teufels, drei schwere Fragen, die Zaubergegenstände aus „Tischlein deck dich“, um Spuk, Zauber und Unerklärliches den Zuschauer über Abgründe aufklärt und in Siegfried Wagners Märchenwelt einführt, die 1898 mit Der Bärenhäuter begann.

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Bereits vier nach seiner Bochumer Produktion setzte Peter P. Pachl das Hütchenspiel in Bayreuth fort. An keinem geringeren Ort als in dem wenige Jahre zuvor auf die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes gesetzten Markgräflichen Opernhaus kam es im August 2019 neuerlichen zu Aufführungen des dreiaktigen Märchenspiels, dessen Mitschnitt nun als World Premiere Audio Recording vorliegt (3 CD Marco Polo 8.225378-80) und uns somit Pachls meist überambitionierten szenischen Zierrat vorenthält. Pachls Beschäftigung mit Siegfried Wagners An allem ist Hütchen schuld reicht bis zur partiellen „Aufführung der Tugendmühle aus dem 2. Akt 1979 bei den Maifestspielen in Wiesbaden“ zurück, worauf sich, wie er im Beiheft zur CD ausführt, Aufführungen und Ansätze anschlossen: ein vor der Hauptprobe abgebrochener Versuch in Hof, eine Aufführung 1995 in Hagen sowie ein kurzfristig abgebrochener Aufführungsversuch 2009 in Remscheid.

In Bayreuth steht Pachl mit dem Karlsbader Symphonie Orchester ein sehr präsentabler Klangkörper zur Verfügung, den David Robert Coleman ab dem fast 15minütigen – mit viel Bühnengetrippel, vermutlich vom hüpfenden Niklas Mix als Hütchen, begleiteten – lyrisch spätromantischen Vorspiel vom instrumentalen Naturgezwitscher bis zum weiträumigen orchestralen Schwelgen sicher im Griff hat, dabei Feinheiten betont und Zusammenhänge aufbaut. Siegfried Wagners handwerklich gediegene Musik ist im Hütchen über weite Stellen kleinteilig und liebevoll altmodisch, begleitet die Szenen treuherzig und munter ohne sie allzu stark zu formen oder zu vertiefen. Bei der Überfülle der von Wagner kompilierten Märchen, wodurch Hütchen wie eine Vorwegnahme von Stephen Sondheims Märchenmix in seinem 70 Jahre jüngeren Musical Into the Woods anmutet, fehlt es jedoch an prägnanten Momenten und griffigen Höhepunkten, wird es bei 2 ¾ Stunden Spieldauer auch etwas länglich. Ulrich Schreiber spricht in Bezug auf Siegfried Wagners beide besten Opern Bärenhäuter und Hütchen von „durchschlagender Harmlosigkeit“. Aus dem eingeschworenen Pachl- und Siegfried-Wagner-Ensemble, das sich bereits in Bochum für Hütchen einsetzte, sind in den Hauptrollen des Frieder und des Katherlieschen wieder Hans-Georg Priese und Rebecca Broberg dabei. Broberg singt das Katherlieschen mit schönem und sanftem Ausdruck, klangvollem Sopran, der sich auch dramatisch entfalten kann, dabei auffallend textverständlich. Hans-Georg Priese klingt als Frieder manchmal etwas matt, doch er meistert die Partie mit Durchhaltevermögen und gelegentlich heldentenoralen Tönen. Die Estin Maarja Purga singt die Trude mit farbigem, doch auch dumpfen Mezzosopran, Alessandra Di Giorgio ist Frieders zupackende Mutter und singt auch des Teufels Großmutter und die Sonne. In jeweils mehreren Partien beweisen sich Silvia Mica u.a. als Hexenweibchen, der Bariton Daniel Arnaldos u.a. als Dorfrichter, der Bass Axel Wolloscheck als komödiantischer Tod sowie als Mond und Wort, Ulf Dirk Mädler als Tod und Menschenfresser. Wie in Bochum ließ es sich Peter P. Pachl nicht nehmen, in der vorletzten Szene der Oper, in welcher der Komponist höchstpersönlich (als Siegfried Wagner: der Bariton Joa Helgesson, der auch den Königssohn und Müller übernimmt) auftritt, als Jacob Grimm ins Geschehen einzugreifen. Rolf Fath

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Und vorher die DVD zur Aufführung 2015: Peter P. Pachl ist so etwas wie der Eckermann Siegfried Wagners. Wie er sich in Rudolstadt und andernorts für das Oeuvre des Wagner-Sohnes einsetzte, wurde vielfach gerühmt. Sein aktuellstes Kapitel der Siegfried Wagner-Rezeption befasste sich mit  An allem ist Hütchen schuld, das er im Oktober 2015 an der Bochumer Universität mit dem pianopianissimo-musiktheater München zur Aufführung brachte, wo er unter eingeschränkten Möglichkeiten eine Inszenierung zustande brachte, deren Detailkundigkeit bis hin zu den Anmerkungen im Libretto auf der DVD (Marco Polo 2.220006) möglicherweise besser zu verfolgen ist als live im Auditorium Maximum. Alles in allem fügt sich diese Aufführung mit der vor dem Orchester befindlichen Spielfläche und den vielen Videos – angefangen während des 16minütigen Vorspiels in der Käserei, denn wir erinnern uns, Katherlieschen lässt sechs Käselaibe den Berg hinunterrollen, um die anderen zurückzuholen – dem Filmteam mit Video Live-Zuspielungen und den helfenden Geistern usw. zu einer bemerkenswerten Performance, halb work in progress, halb Siegfried Wagner-Laboratorium, die der Vielschichtigkeit der Handlung gerecht zu werden bemüht ist.

Ich war froh, die deutschen Untertitel eingeschaltet zu haben, denn in der aktionsreichen in die Gegenwart verlegten Handlung (Kostüme: Christian Bruns) bleibt die Deutlichkeit von Siegfried Wagners Text etwas auf der Strecke bzw. folgt man unentwegt den Anspielungen, Verweisen, Zitaten, Einblendungen, Werbebotschaften (Sponsoren?), dem zwischen Parodie und psychologisierendem Fingerzeig, Ironie und Naivität schwebenden Spiel. Lionel Friend unterstreicht mit den vielfach auch solistisch geforderten Bochumer Symphonikern das durchgehend hohe Niveau der spätromantisch schwelgerischen und theatralisch wachsamen Musik (UA Stuttgart 1917), die ihre Stimmungswechsel so reaktionssicher vollzieht wie die Sprünge von Märchen zu Märchen. Die Oper ist lang. Irgendwann werden dann auch Schwächen der hurtig hüpfenden Musik spürbar, erschöpft sich der eigene Klangreiz. Während die jugendlich dramatische Rebecca Broberg und der Heldentenor Hans-Georg Priese als Katherlieschen und Frieder gefordert sind, haben sich Julia Ostertag, Maarja Purga, Ralf Sauerbrey, Axel Wolloscheck, Martin Schmidt, Annamaria Kaszoni in mehrere Partien einzurichten; dazu Regisseur Pachl passenderweise als Jacob GrimmRolf Fath

Schiffreise des Grauens

„Adieu, Europa! Deutschland, adieu!“ Auf der Überfahrt mit dem Ozeandampfer nach Brasilien fordert der deutsche Diplomat Walter seine Gattin Lisa auf, nochmals einen Blick zurückzuwerfen, „Nun schwenk dein Taschentuch und sag dem Land adieu!“ Der Blick zurück gerät für Lisa Franz rasch zu einem Blick in eine unbewältigte und weiter zurückliegende Vergangenheit, der sie nicht entfliehen kann. Denn wenige Augenblicke später erblickt Lisa eine Frau, die sie an ihre verdrängte Tätigkeit als Aufseherin im KZ Auschwitz erinnert. Bereits im kurzen Vorspiel zu seiner Oper Die Passagierin lässt Mieczyslaw Weinberg (1919-96) Gegenwart und Vergangenheit ineinandergleiten und leitet einen Bewusstseinsstrom ein, der die Ereignisse von 1943/44 und 1959/60 in enge Verbindung setzt. Knapp, auf den Punkt gebracht. Die erste Szene der Oper schildert einen Moment, wie er tatsächlich hätte passieren können und wie ihn Zofia Posmysz, deren Vorlage Weinberg den Text zu seiner Oper verdankt, später beschrieb. In einem Gespräch im Umfeld der Uraufführung 2010 schilderte die Ausschwitz-Überlebende, die ab 1962 als Kulturredakteurin beim polnischen Rundfunk arbeitete, ihre Erlebnisse, „Unter diesen Aufseherinnen war eine, die ich noch Jahre später vor Augen hatte, als ich zuerst ein Hörspiel und dann den Roman schrieb: die Aufseherin Franz. Und Marta, in meinem Buch die Passagierin, hatte mit mir am Kochkessel gestanden.“ Den Ausschlag zu dem Hörspiel, aus dem dann ein Roman wurde, gab eine Reise nach Paris, „1959 wurde ich nach Paris geschickt, um über die Eröffnung der Fluglinie Warschau–Paris zu schreiben. Ich sollte berichten, wie man fliegt, welche Passagiere reisen, welche Atmosphäre herrscht. Nach der Landung hatte ich ein paar Stunden frei und lief sofort zur Place de la Concorde. Da gab es viele Touristen, darunter eine deutsche Gruppe. Plötzlich hörte ich eine weibliche Stimme: „Erika, wo bist Du, komm her! Wir fahren weg!“ Erschrocken drehte ich mich um. Das war die Stimme meiner Aufseherin Franz, eine scharfe, hohe Stimme. Natürlich war sie es nicht, aber die Ähnlichkeit der Stimmen war frappierend. Von dieser Aufgewühltheit konnte ich mich nicht mehr befreien“. Alles weitere ist bekannt: auf dem autobiografischen Roman der Posmysz basiert die 1968 vollendete Oper Weinbergs, die erst 2010 in Bregenz szenisch uraufgeführt wurde, drei Jahre später in Karlsruhe ihre deutsche EA erlebte und inzwischen vielfach nachgespielt wurde.

Von der um ein halbes Jahr verschobenen und schließlich im September 2020 in Graz herausgekommenen Produktion liegt nun der Mitschnitt vor (2 CD Capriccio C5455), der die Ereignisse als spannendes Musiktheater aufrollt und einmal mehr die Repertoirefähigkeit der Passagierin beweist. Lisa erkennt in einer elegant gekleideten Mitreisenden die von ihr im KZ schikanierte Gefangene Marta („Ich wollte sie zu meiner Untertanin machen“). Walter ist schockiert, fürchtet nach der Enthüllung um seine Karriere, schreit, „Das ist unglaublich, ungeheuerlich, ungeheuerlich“. Dshamilja Kaiser mit brodelndem Mezzosopran als wütend aufgebrachte, nachdenkliche und zunehmend verwirrte Lisa und Will Hartmann mit scharf akzentuierendem Tenor als Walter bringen die Ängste des Ehepaares, das nach 15jähriger Ehe und den Geständnissen Lisas über ihre Vergangenheit vor den Trümmern ihrer bürgerlichen Existenz steht, eindringlich zum Ausdruck. Aber ist Marta nicht umgekommen? Lisa und Walter planen einen Neuanfang und gehen zu einem Ball auf dem Schiff. Dort bestellt die unbekannte Passagierin einen Walzer, den Martas Verlobter Tadeusz (der Bariton Markus Butter) bei einem Konzert für einen der Kommandanten in Auschwitz spielen sollte. Lisa sieht die Situation vor sich, sieht, wie die SS-Männer Tadeusz‘ Geige zerstören und ihn abführen, weil er statt des geforderten Walzers die Chaconne von Johann Sebastian Bach spielte. Die vielfach in extremen Figuren erlebte Nadja Stefanoff ist eine vorzügliche Wahl für die Marta und setzt deren hohe Gesangslinien mit Würde und Selbstbewusst um. Weinberg hat die Zeitebenen und die Instrumentation gut getrennt, lässt sie auch verschmelzen, die Celesta für Marta, Xylophon, Marimba und großes Schlagwerk für das Pochen in den Ohren der zu Tode verängstigten KZ-Insassen, Trompeten und Posaunen für die Appelle der Kommandanten und schließlich die Walzer, deren Stimmung ständig umzukippen droht und die wie eine Referenz an Weinbergs Freund und Förderer Schostakowitsch klingen. Roland Kluttig und die Grazer Philharmoniker bringen die Orchestrierung, die suggestive Kraft der Musik und die Zitate von Beethoven bis Mahler, vom Jazz, Chanson und Schlager bis zu „Oh, Du lieber Augustin“ und natürlich der Bach-Chaconne plastisch zur Geltung und lassen nie den Eindruck plakativer Filmmusik entstehen  (weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.)Rolf Fath

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Die Produktion ist nun (2022) aus als DVD erschienen: Im weißen Einheitsraum mit leeren Regalen, zahlreichen Schubladen und vielen Türen im hinteren Bereich, wo es zu den Schiffskajüten geht (Bühne: Etienne Pluss), wird eine alte Frau, die stark der vor wenigen Wochen kurz vor ihrem 99. Geburtstag verstorbenen Zofia Posmysz ähnelt, von der Vergangenheit eingeholt. Es ist ein Raum, in dem Gegenwart und Vergangenheit unmerklich ineinanderfließen: Auf der Schiffsreise nach Brasilien erkennt die einstige KZ-Aufseherin Lisa in einer Mitreisenden die tot geglaubte Gefangene Marta. Lastende Erinnerungen, ein Gefühl der Schuld und die Angst vor dem sozialen Aus und der unausweichlichen Konfrontation mit ihrem Gatten Walter treiben Lisa um. Für ihn ist ihr Geständnis „ein Alptraum“, Lisa will die „Gespenster der Vergangenheit“ verscheuchen. In Nadja Loschkys Inszenierung, die die Grazer Aufführung von Mieczyslaw Weinbergs Die Passagierin vom 11. und 12. Februar 2021 jetzt auch auf DVD präsentiert (Naxos DVD 2.110713), kriecht das Grauen unmerklich hinter Türen und aus Schränken und Verschlägen hervor, vor allem in der Konzertszene, in der Leichen in den Regalen lagern und Tadeusz in Unterhosen zum Geigenspiel gezwungen wird. Durchwegs beklemmend die Atmosphäre: ob die SS-Leute ihre Hosen auf dem Abort runterlassen und ihren Alltag resümieren, „Die Feinde des Reiches umzubringen, ist ganz einfach, doch wohin mit den Leichen?“, Lisa und Walter am Tisch vor Süßigkeiten sitzen, während die Lagerinsassen in Auschwitz von den „Schornsteinen des Krematoriums“ wissen oder Lisas Beziehung zu Walter langsam Risse bekommt. Die unaufdringliche Inszenierung, die Abhängigkeiten und soziale Geflecht psychologisch auslotet, und die sorgfältig agierenden Dshamilja Kaiser und Nadia Stefanoff sind sehenswert. Durch die stets gegenwärtige Figur der gealterten Lisa erhält die Inszenierung eine zusätzliche Dimension. R. F.    

Massenet, Hahn, Debussy & Mahler

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Songs with Orchestra überschreibtder Palazzetto  Bru Zane seine Ausgabe mit Orchesterliedern von Jules Massenet (BZ 2004). Warum eigentlich nicht „Mélodies avec Orchestre“? Egal. Bei den Recherchen zum Saint-Saens-Festival 2015, so Alexandre Dratwicki, künstlerischer Leiter von Palazzetto Bru Zane, „waren wir bald fasziniert von einer Reihe einzelner Stücke für Stimme und Orchester, von denen nach und nach offenbar wurde, dass sie eine vielfältige und reizvolle Gruppe von Orchesterliedern bilden, die in einer Linie mit den berühmten Nuits d‘ été von Berlioz stehen. Wie konnte es sein, dass dieses Liedreper-toire … so lange unveröffentlicht blieb….?“. Saint-Saens selbst hatte einer Kollegin geraten, „Wenn Sie Lust haben, das Orchester für ihre Lieder einzusetzen, scheuen Sie sich nicht, das Orchesterlied ist eine soziale Notwendigkeit; gäbe es mehr davon, würde man in den Konzerten nicht dauernd Opernarien singen, die dort oft einen jämmerlichen Eindruck erwecken.“ Die Recherchen förderten ungeahnte Mengen zu Tage – Dratwicki spricht von „wahrscheinlich mehr als tausend Titel“. Vermutlich stand die Aufführungs- praxis ihrer Verbreitung entgegen; mit Ausnahme von Berlioz Nuits d‘été und Chaussons Poème de l’amour de la mer. Nun also Massenet. Rund 300 Lieder hat er komponiert, 40 davon soll er orchestriert haben – die Aussagen im Beiheft sind hierzu widersprüchlich – , 22 finden sich auf dieser CD, allesamt Ersteinspielungen mit Ausnahme von drei Instrumentalnummern und „Le poète et le fantôme“.

In „Le poète et le fantôme“ spricht der anonyme Dichter ein Gefühl der Trauer und Wehmut aus – “Je suis l’ombre de tes amours“ – das häufig auch in weiteren Liedern wiederkehrt. Mit den weiten Linien der geborenen tragedienne gestaltet Véronique Gens diesen Klagegesang, der zu den umfangreichsten Liedern der Sammlung gehört. Auch das einzige Duett, „Les fleurs“, erzählt durch das Bild der verblühenden Blumen von Vergänglichkeit, Wehmut und Trauer, was die Sopranistin Nicole Car und der Bariton Étienne Dupuis im farbenreichen Wechselspiel einfangen. Dupuis hat auch merklich Freude an der heiter leichten „Hymne d’amour“. In stimmungsvoll gefälligen Naturbildern erzählt Massenet vom Entstehen der Liebe, so in „Pensée de printemps“ und „Aurore“, beide mit niedlich zärtlicher Beweglichkeit und Stilgefühl von Cyrille Dubois gesungen, der auch den Rausschmeißer, „La Chanson de Musette“ übernimmt, bis zu deren Verschwinden in „Pensée d’automne“ und „Crépuscule“. Schwärmerische Liebeserklärungen, „Hymne d’amour“, „Amoureuse“ und „Je t’aime“, wechseln mit Bildern einer idealisierten Pastorallandschaft und religiöser Inbrunst ab, etwa in dem von Gens wirkungsvoll ausgebreiteten „Souvenez-vous, Vierge Marie“,  Serenaden stehen neben einer kleinen Opernszene und provenzalischen Reminiszenzen, darunter der von Chantal Santon Jeffrey mit Verve vorgetragene „Chant provençal“, die auch das koloraturverzierte „Marquise“ übernimmt, und das von Jodie Devos flirrend gesungene „Pitchounette“. Die sechs sorgfältig ausgewählten Sänger sichern ebenso den besonderen Rang dieser Aufnahme wie das Orchestre de chambre de Paris unter Hervé Niquet.

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Den umgekehrten Weg schlägt eine Veröffentlichung Debussy Hahn  von BR Klassik ein (900529). Claude Debussy hat seine Kantate Le demoiselle“ élue (Die Erwählte) nach einem Gedicht von Dante Gabriel Rossetti für zwei Solistinnen, Frauenchor und Orchester komponiert. In dieser Form wurde sie als sein erstes Werk mit Orchester 1893 uraufgeführt, wobei Debussy selbst daraus eine Fassung für Klavier und Stimme formte. Howard Arman, nach langjähriger Gasttätigkeit seit 2016 auch Künstlerischer Leiter des Chors des Bayerischen Rundfunks, stellte daraus auf der Basis des Klavierauszugs eine Fassung für zwei Klaviere her. Das rund 20minütige Stück steht im Mittelpunkt des Programms mit dem Chor, den Pianisten Gerold Huber und Max Hanft, der Sopranistin Christiane Karg sowie weiteren Gesangssolisten steht. Zeiter Höhepunkt stellten mit 23 Minuten Aufführungsdauer die zehn Études latines von Reynaldo Hahn für Sopran und Klavier mit weiteren Solo-Stimmen und Chor dar. Der 1874 in Caracas geborene Hahn wurde ab 1885 von Massenet ausgebildet und machte bereits 1890 durch seinen Liederzyklus Sept Chansons Grises (nach Texten von Paul Verlaine) auf sich aufmerksam. Durchaus reizvoll stellt das Münchner Programm das sechste dieser Chansons, „Paysage triste“, Debussys Vertonung in seinem Verlaine-Zyklus der Ariettes oubliées gegenüber – jeweils mit Christine Karg und Gerold Huber, wobei Kargs filigraner, fast zerbrechlicher und doch gut fokussierter Sopran dieser Musik gut entspricht. Unter Armans souveräner Leitung bleibt der Chor des Bayerischen Rundfunks weder Debussys expressiver Musik aus der Zeit von dessen Wagner-Bewunderung noch Hahns singdeklamierender Archaik etwas schuldig; neben Karg wirken in den Études latines in jeweils einem Lied Daniel Behle und Tareq Nazmi mit. Die Qualität des Frauenchors wird nochmals in Debussys Les angélus. Cloches chrétiennes pour les matines deutlich, das in einer A-Capella-Transkription des großen Chorleiters Clytus Gottwald erklingt.

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Gut drei Zentimeter dick ist die Klappbox. Le Balcon, das Label des gleichnamigen 2008 gegründeten Kollektivs von Künstlern unterschiedlicher Sparten, macht zumindest mit der Verpackung auf sich aufmerksam. Darauf eine zart gelb-, orangen- und pinkfarbene Illustration von Raphaël Serres. Ich musste unwillkürlich an die dicke Philips-Classics -Box von Hänsel und Gretel samt inne liegendem Puzzle denken. Das Cover findet sich als vielfach gefaltetes Miniplakat in der Box, dazu ein umfangreiches Beiheft samt guten Beiträgen – und einer Bio des Covergestalters -, leider nur auf Englisch und Französisch, die CD in einer Papierhülle und schließlich sechs Faltblätter mit den dazugehörigen passenden Ausschnitten aus dem Großplakat und den Texten der sechs Lieder von Das Lied von der Erde. Letztere braucht man unbedingt, um Kévin Amiel zu folgen, der sich mit unruhigem Tenor und kläglicher Textdeutlichkeit durch „Das Trinklied vom Jammer der Erde“ kämpft; dabei ist die Höhe nicht ungefällig, vermutlich ist das einfach das falsche Repertoire für den Tenor aus Toulouse, der bei den leichteren Partien des italienischen Fachs besser aufgehoben wäre. Der erste Eindruck verzerrt das Bild dieser sorgfältigen und musikalisch ausgefeilten Aufnahme, die im Juli 2020 bei Festival de Saint-Denis in der Kathedrale von Saint-Denis unter dem Kollektiv-Mitbegründer Maxime Pascal entstand. Mit seinem qualligen Ton gefällt mir Stéphane Degout anfangs auch nicht besonders, doch sehr schnell beeindruckt er bei ziemlich gutem Deutsch durch die feine Emission seines klangvollen Baritons, die Wärme des Ausdrucks, die Tiefe der Empfindung und gestische Sensibilität: man atmet den süßen „Duft der Blumen“ und gibt sich dem Abschiedsschmerz in der mit endlosem Atem gespannten „Schönheit dieses Abends“ hin.

Aufmerksam auf diese chinesischen Gedichte wurde Mahler durch einen Freund, Theobald Pollak, der ihm das 1907 erschiene Bändchen Die chinesische Flöte von Hans Bethge schenkte. Es versammelt freie Nachdichtungen von chinesischer Lyrik aus dem 8. Jahrhundert, vor allem von Li-Tai-Po (Li Bai), das auf deutschen Nachdichtungen der französischen Übersetzungen von Hervey de Saint-Denys und Judith Gautier basiert. Im Beiheft wird Das Lied von der Erde in eine Reihe von Werken gestellt, die nach der Pariser Weltausstellung alles Fernöstliche feierten, so in den Bildern der Maler Monet, van Gogh und der Künstlergruppe der Nabis, der Literatur von Gauthier und Pierre Loti und den Musikwerken, wie Saint-Saëns‘ Le princesse jaune, Debussys La mer und Hahns L‘ île de rěve. Der 1908 entstandene Sinfonische Liedzyklus gelangte im Herbst 1911, ein halbes Jahr nach Mahlers, Tod zur Uraufführung. Für die Konzerte des Vereins für musikalische Privataufführungen bereitete Arnold Schönberg, der bereits Strauß-Walzer sowie die Lieder eines fahrenden Gesellen für Kammerorchester eingerichtet hatte, 1920 ein Arrangement von Mahlers Lied von der Erde vor, das aufgrund der finanziellen Situation des Vereins nicht fertiggestellt wurde. Erst Anfang der achtziger Jahre stellte Rainer Riehn diese Bearbeitung fertig, deren Uraufführung im Juli 1983 stattfand. Pascal beeindruckte dabei vor allem die Verwendung des Harmoniums, dem Schönberg wesentliche Stimmen überließ. Nicht nur Sarah Kim am Harmonium, sondern alle 13 weiteren Instrumentalisten spielen farbenreich, mit großer Durchsichtigkeit, stellen Affekte und Effekte aus, ohne sie zu überzeichnen, und inszenieren mit den Solisten ein klangmalerisch intensives Wort-Tongeflecht. Rolf Fath

 

Ah, les petites rats

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Opernballette fristen heute ein tristes Dasein. Gelegentlich tanzen sich die Polowetzer Tänze über die Bühne. Und auf den Tanz der Stunden Ponchiellis oder die Polonaise im Eugen Onegin kann keine Aufführung verzichten. Aber das ist es auch schon. Dabei sind vor allem bei Verdi die Ballette Handlungsträger, so sehr der Maestro auch unter der Obligation der Pariser Oper, La grande Boite, gemurrt haben mag. Man erinnert sich an den Tannhäuser-Skandal bei dem Divertissement im falschen Akt. Die Mädels kamen zu spät, und die Herren vom Jockey-Club randalierten. Tumult.

Das Ballett-Personal der heutigen Oper schwenkt nur mehr oder weniger stützend die Arme und füllt die Bühne als Komparsen. Und es wäre eine eigene Untersuchung wert, wie weit sich die alte Ballett-Tradition in Opern in die Werke der neueren Zeit, etwas zu Strauss oder Puccini zieht, während ein Blick auf ältere Kollegen wie Saint-Saens, Gounod, Masssenet, Meyerbeer, Goldmark, Moniuszko, Mussorsgsky, Schmidt, Thomas, Fibich und viele russische Komponisten einen unerhörten Reichtum an Opernballetten offenbart. Diese rudimentären Einlagen wie Elektras Tanz, Arabellas Ball oder der Auftrritt des Rosenkavaliers sind ja Rückwendungen zum alten Genre. Sogar Rodgers Sound of Music greift mit einem entr´act darauf zurück. Und dieser entr´act findet sich bei vielen, von Schubert, Bizet über Sibelius bis zu Mamma mia – eine tanzgeeignete Orchestereinlage.

Die Pariser Oper beim Besuch von „Robert le Diable“ mit dem Nonnenballett im 3. Akt/ Wikipedia

Eine der ärgerlichsten und häufigsten Kritik an einer heurigen Opernaufführung aus dem französischen Kanon (wie kürzlich die Vêpres siciliennes an der Deutschen Oper Berlin oder Don Carlos an der Opéra de Paris) ist das Fehlen der Ballett-Einlage. Weder die Regisseure noch die Dirigenten vertrauen dem Komponisten und den Umständen der Entstehung bzw des originalen Ortes. Sie vergessen – wie heutzutage wirklich immer – dass Oper in erster Linie ein grand divertissement, also großes Entertainment, war, zumindest bis zum Ersten Weltkrieg. Nicht nur in Paris, dem Mekka der Großen Oper im neunzehnten Jahrhundert, aber auch in anderen Städten Frankreichs wie Lyon oder Marseille, nimmt Oper das noch nicht erfundene Kino voraus, jagten sich die Stücke wie später die B-Movies einer Joan Crawford oder Victor Mature. Und die Ballette in den Opern (fast immer im 3. Akt, man erinnere sich an den Tannhäuser-Skandal) waren einfach de rigeur, unerläßlich. Wie im kürzlich bei uns vorgestellten Lancelot von Joncieres umfassten sie später fast einen ganzen (hier der Lac du Fées wieder als 3.) Akt. Dies finden wir in vielen französischen Opern wie Faust, Dimitri (Joncieres) oder Dom Sébastien (Donizetti).  (Und selbst Rimsky-Korsakoff, oft in Frankreich zu Gast, lässt seine tote Titelheldin Mlada ebenfalls den ganzen dritten Akt umhertanzen…) Auch andere Länder übernahmen, wenngleich seltener, Ballett-Einlagen in Opern, so die preußische Hof-Berlin in Berlin, das Königliche Theater in Stockholm und viele mehr.

Wagners „Tannhäuser“ 1861 an der Pariser Oper führte zum Skandal undf Misserfolg/ Zeitungsillustration BNF/ Gallica

Frankreichs Oper kam vom höfischen Ballett-Theater eines Lully oder Rameau, deren für Paris bzw Versailles geschriebene Opern entstanden aus dieser Tradition oder waren ihnen  verpflichtet. Spätere ausländische Komponisten wie Rossini oder Donizetti, natürlich auch Verdi und vorher Meyerbeer, machten aus dem Pflichtjob eine Kunst und bauten handlungstragend ihre Ballettmusiken in das Ganze ein. Meyerbeer erfand sogar eigene Bühnenkonstruktionen dafür (Les Patineurs auf Rollschuhen schlittschuh-gleich dahingleitend). Verdis Einlage im Don Carlos, La Pérègrina, ist ein Handlungsballett zudem, wenn der Königin mit der Assozation zur wunderbaren Perle gehuldigt wird, während Eboli den Zettel des Infanten  für die Königin in deren Mantel findet – ein wahrhaft idyllische Gegenstück zum grausigen Autodafé und nicht ohne Grund diesem brutalen Schauspiel gegenübergestellt.

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Und natürlich spielte die Tänzerinnen selbst beim Opernbesuch eine immense Rolle, je weiter das 19. Jahrhundert voranschritt. Es wären die „filles„, „les petites rats“, die beineschwenkenden  „Mädels“, die „Ballettratten“, die nicht nur die Abonnés  vom Jockey-Club sehen wollten, auch der vierte und fünfte Rang hatte oft grölend seine Freude. In den langen Pausen nach dem 3. Akt der Opern tat sich in den Logen der Herrengesellschaften des ersten Ranges reges Treiben, zumal auch die verschiedenen Locations der Opéra de Paris mit ausreichenden Separées ausgestattet waren. Es ging also nicht so sehr um die Kunst – wie sehr sich auch Mess. Taglioni oder Petipa anstrengten – sondern ums Vergnügen, zumeist um´s fleischliche. Dieser Aspekt wird bei Opernberichten über die Zeit gerne unterdrückt.  An den kleinen Bühnen Offenbachs & Co., den Funambules auf den Boulevards, ging es noch drastischer zu. Ballett war oft ein Beiname für Prostitution. Sicher waren die Stars wie die Taglioni oder Fanny Elsler davon ausgenommen. Aber das weibliche (und nur das?) Corps de Ballet machte sich durchaus einen Namen mit Nebeneinnahmen.

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Opernballette: „Dans les Scènes““, Jean Béraud 1889/ Utah University School of Dance Salt Lake City/ Wikipedia

Im 19. Jahrhundert wurde Paris von einer rasanten Industrialisierung und einem kulturellen Wandel beeinflusst. Obdachlosigkeit und Armut schossen in die Höhe, aber gleichzeitig hielt die Oberschicht von Paris an ihren vielen kulturellen Gewohnheiten fest. Darüber hinaus konzentrierte sich die Kunstwelt und ihre verschiedenen künstlerischen Formen auf die Weiblichkeit. Um Armut und Obdachlosigkeit zu entkommen, wandten sich viele junge Frauen dem Ballett zu: einer Kunstform, die für die Oberschicht geschaffen und von ihr konsumiert wurde.  Während das Pariser Opernballett jungen Tänzern Sicherheit bot, war dies nicht der Fall bei den Mädchen. Stattdessen schuf das Pariser Opernballett ein äußerst wettbewerbsorientiertes Geschäftsmodell, in dem Tänzerinnen einen schwer fassbaren Vertrag abschließen mussten – mit allen erforderlichen Mitteln.

Friedrich Hackleben: „Europäisches Sklavenleben“; Verlag von Adolph Krabbe, Stuttgart 1854; Das „Europäische Sklavenleben“ Clara Staiger versucht als Tänzerin ihre Unschuld zu bewahren. Sie opfert ihre Tugend der Familie. Dieser umfangreiche Roman  war ein riesiger Erfolg. Die vielen Auflagen und Übersetzungen zeugen noch heute davon.
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So wurden die Frauen im Foyer de la danse oft gewinnbringend eingesetzt. Das Foyer de la danse war ein großzügiger Raum in der Pariser Oper selbst, in dem wohlhabende Gönner gegen Bezahlung mit den Ballerinas in Kontakt treten konnten. Aufgrund vieler sozialer und wirtschaftlicher Bedingungen hatte das Pariser Opernballett in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts finanzielle Probleme. Es ist bekannt, dass der größte Teil der Einnahmen des Balletts im 19. Jahrhundert aus dem Foyer de la Danse stammte, da die Männer bereit waren, zu zahlen, um die Ballerinas kennenzulernen.

Männliche Tänzer durften diesen Raum nicht betreten, doch das Pariser Opernballett „ermutigte“ junge Tänzerinnen, den Gästen zu gefallen – es verkuppelte sie geradezu, oft mit Wissen der Familien. Das Foyer de la danse war ein Mikrokosmos der Sexualität in der Pariser Gesellschaft. Eine Tänzerin des Opernballetts war eine Demi-Mondaine – das heißt: eine ehrgeizige Kurtisane, die in der Gesellschaft unbd Hilfe meist verheirateter Galane aufsteigen wollte. Die Realität war jedoch  düster. Die Frauen wurden oft von den Gönnern, ausgebeutet und von ihren eigenen Familien ermutigt, die Gönner zu verfolgen. Denn es waren oft verarmte  junge Frauen, die vom Ballett rekrutiert wurden.

Nach strengen Tests konnten manche Ballerinas schließlich mit einem guten Vertrag in das Unternehmen aufgenommen werden. Für viele kleinen Ratten kam nie ein guter Vertrag zustande, und sie wurden gezwungen, 10-12 Stunden am Tag, 6-7 Tage die Woche unter extremen Bedingungen zu arbeiten. Sie waren zudem oft notorisch unterernährt und überarbeitet. Wie viele andere kleine Ratten erhielt Marie Van Goethem, Degas Geliebte und sein häufigstes Modell, nie einen guten Vertrag und blieb bis zu ihrem unbekannten Tod in einem Leben in Armut.

Die Herren, die Abonnés, waren eine Gruppe wohlhabender Männer, die das Pariser Opernballett für besondere Privilegien abonnierten. Sie belästigten häufig die Balletttänzerinnen in ihren Umkleidekabinen, in den Flügeln der Oper und im Foyer de la danse. Sie konnten jederzeit sexuelle Gefälligkeiten von ihnen einfordern.

Opernballette – „Les Abonnés: Les Vieux Gagas de l’Opéra“ von  Eugène Oustric, Edouard Jouve & François Tier; Edouard Jouve (Paris, sd) und  illustriert von Faria/ Wikipedia

Wenn die Abonnés ein Mädchen beanspruchten, sponserten sie diese oft beim Ballett, damit sie vielleicht einen Vertrag bekamen. Im Gegenzug sollten sie sexuelle Wünsche erwieder und manchmal die Geliebte werden. Dieses Phänomen war so verbreitet, dass es zu einem literarischen Topus wurde (vergl. Dumas´ Kameliendame). 1859 schrieb die Zeitung Le Figaro: „Es gibt keinen Pariser Roman, der nicht einen Bankier oder reichen Mann vorstellt, der ein Ballettmädchen der Oper aushält.“  Während die Männer jedoch gesellschaftlich nicht verurteilt wurden, stellte  man die Frauen oft als soziale Aufsteiger dar, die ihrer Klasse entkommen wollten – trotz der Tatsache, dass diese Frauen sehr geringe Ressourcen oder Unterstützung hatten, um Nein zu den Abonnés zu sagen.  Vor allem aber reichte die erlebte sexuelle und Arbeitsausbeutung in der Regel nicht aus, um sie aus der Armut zu befreien. Die Beziehung zwischen den Abonnés und den Petit Rats war meiste eine der der Manipulation und Ausbeutung durch sie Oper selbst.

Die Bilder von Degas mit seinen Studien aus dem Ballettsaal der Pariser Oper zeigen diese jungen Dinger.  Robert Jungwirth schreibt in seiner Rezension einer Degas-Ausstellung: „Die Abonnenten in ihren Smokings, die teils als Beschützer auftreten und sich teils wie Raubtiere gebärden. Degas ist also nicht davor zurückgeschreckt, die Tänzerinnen auf seinen Bildern als Prostituierte darzustellen, die manchmal auch von ihren eigenen Müttern dazu gemacht wurden. Er zeigt uns, dass diese Mädchen zu Opfern eines Systems wurden, das nicht allein der Anmut und der Schönheit diente. Man konnte diese Welt auf unterschiedliche Weise erleben. Dégas hat hier etwas deutlich gemacht, vielleicht hat er sogar manches aufgedeckt. Natürlich nicht so, wie man heute etwas aufdeckt. Er war ja keine NGO oder eine Partei. Aber immerhin hat er etwas öffentlich gemacht, was bis dahin noch nie gezeigt worden war. Seine Bilder zeigen keine Nymphen oder Göttinnen, sondern junge Mädchen, die hart arbeiten und sich teilweise prostituieren mussten.“ (zur Ausstellung „Degas in der Oper“ im Pariser Musée d’Orsay, im Deutschlandfunk vom 09.12.2019). Toulouse-Lautrec zeigt die noch grausamere Seite der Pariser Tänzerinnen in seinen grellen Bildern aus dem Moulin-Rouge und anderen Vergnügungsstätten, für die Paris bei unseren Urgroßvätern berühmt war … Geerd Heinsen

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(Zum Thema Ballett und Prostitution an der Pariser Oper im 19. Jahrhundert auch der Artikel von Sebrena Williamson in „The Collector“; bei Amazon gibt es den Nachdruck von Ernest Boyes`Buch „Les Abonnés de l´Opera de Paris“ von 1886)

Ponchiellis „Promessi sposi“

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Durch Zufall grub ich in den Tiefen von youtube nach weiterer Musik von Smareglias Zeitgenossen, dessen Vasallo di Shigeth  wir kürzlich bei operaloung.de vorgestellt hatten. Und ich stieß auf Amilcare Ponchielli und seine Promessi sposi in einer mir bislang unbekannten Video-Aufzeichnung aus Mailand 2015 unter der Leitung des Dirigenten Marco Pace. Junge Sänger („Alle nicht von hier“, würden die Italiener im Publikum gesagt haben) kämpften sich couragiert und in Teilen sogar eindrucksvoll durch den szenischen Abend am Konservatorium Mailand (Baek-Min Ah, Kim Hyuksoo,  Tian Hao,  Victor Sporyshev, Olivia Antoshkina,  Caterina Pisa, Kim Chiyong, Pasquale Conticelli; Orchestra e Coro del Conservatorio „G. Verdi“ di Milano in der Regie von Sonia Grandis und wie erwähnt unter der Leitung von Marco Pace). Zumindest zwei Beteiligte halten die Ehre der Opernnation Italien hoch, wobei die beiden Damen wirklich anerkennenswert singen.

Der Komponist Amilcare Ponchielli/Wikipedia

Dies beiseite war ich ganz aufgeregt, nun endlich diese Oper, die ich schon lange en suite hören wollte, endlich in so gutem Sound und in mehr als passabler vokaler Wiedergabe erleben zu können. Denn die einzige kommerzielle (Live-)Aufnahme bei Bongiovanni war mir durch die Teilnahme des Protegés des Dirigenten Silvano Frontalini, Natalia Margarit, so verleidet, dass ich mich nach einem ersten erschreckten Eindruck nicht mehr zu weiterem Anhören traute. Der blutende Torso, den Magda Olivero und Giuseppe Campora nebst Partnern bei GOP/Bongiovanni bei einem Konzert in San Remo 1973 in Kombination mit Petrellas Ausflug zu Manzoni vorstellen hat eher flüchtige Bedeutung, zumal die Diva wohl nicht die ängstlich-keusche Lucia mit ihren Dauerglottis zum Leben erweckt: ein Kuriosum nur und eine Pioniertat gewiss. Die Verlobten Manzonis adé also? Bis zu meinem Fund bei youtube (ein Hoch auf diese Platform, wo man Ungeahntes findet).

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Mit dem Booklet und dem Libretto der geschmähten Bongiovanni-Ausgabe in der Hand (die sich bemerkenswerter Weise auch online in der von mir so beschwärmten Naxos Music Library neben unendlich vielen klassischen Aufnahmen anderen findet) gab ich mich  ich mich also der erwähnten Videoaufnahme aus hin, die ich zuvor in palatables Audio-only umgewandelt hatte, die Lautsprecher voll aufgedreht.

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Italiens legendärer Dichter Alessandro Mazzoni auf einem Gemälde von Francesco Hayes, der auch das oben abgebildete Bild malte/ Wikipedia

Gewiss, I promessi sposi sind kein rauschvoller Opern-Schinken wie die Gioconda. Und das Libretto scheint noch viel alberner als das des Trovatore und der meisten Opern aus der Zeit. Das Ganze ist eher ein Versuchslabor für Kommendes, aber die finali sind eine Wucht. Zwei große Soloszenen des Tenors und des Baritons beeindrucken zudem. Und diese später so wirksame Eigenart Ponchiellis, aus dem Stand zu machtvollen Chortableaus mit sich steigernder Dynamik zu finden (Finale Akt 1 der Gioconda zum Beispiel) bemerkt man bereits hier. Mir will scheinen, dass Marco Pace in seiner „Edizione originale” im Gegensatz zu der schrappigen und außerordentlich unfreundlichen BG-Einspielung aus der Ukraine gewinnende Änderungen vorgenommen hat. In toto überwiegen der Genuss und die Freude, dieses Frühwerk eines wichtigen Komponisten der Verdi-Zeit einmal richtig kennenzulernen. Daher im Folgenden ein Opernführer zu dieser (meiner) Wieder-Entdeckung.

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Alessandro Manzoni zählt in Italien zu den großen Schriftstellern und wurde von seinen Zeitgenossen, darunter auch Verdi (der für dessen Begräbnis ein Requiem mit Beiträgen vieler berühmter Kollegen organisierte), wie ein Halbgott verehrt Heute beruht sein Ruhm fast ausschließlich auf seinem Roman I promessi sposi, dessen Erstausgabe 1827 erschien und der die Geschichte zweier Liebenden, Renzo und Lucia, angesichts von brutalen Übergriffen des mächtigen Don Rodrigo, von verfolgter Unschuld und der Pest in der Lombardei ausbreitet. Oft haben italienische Komponisten (und nicht nur diese) diese Vorlage in Musik umgesetzt. Vor Petrella und Ponchielli, den renommiertesten, hatte sich daran bereits im Entstehungsjahr ein anonymer Autor in Form eines Singspiels versucht, dann folgte 1830 Luigi Bordes (1815 – 1866) auf ein Libretto von Giuseppe Ceccherini, der auch Donizetti (Emilia di Liverpool), Luigi Mosca, Luigi Ricci, Pietro Raimondi und andere mit Texten belieferte. Danach gab es die Version von Piero Bresciani (1806 – ?) für den Karneval in Parma, und auch diese Fassung ist textlich mit ihren Freiheiten so absurd wie die erste. Der dritte wurde dann im Januar 1834 am römischen Teatro Valle Luigi Gervasi (1804 – ?) zum Libretto von Bidero und mit so bekannten Sängern wie Fanny Tacchinardi Persiani (Donizettis Lucie in Paris) oder Antonio Poggi gegeben – aber dennoch ohne Erfolg, Man muss auch zwei Ballette anmerken: I promessi sposi ossiano le nozze frastornate von Giacomo Piglia in Modena 1833 und das von Salvatore Taglioni (* 1789 in Palermo; † 1868 in Neapel; italienischer Ballett-Tänzer und Choreograf)1836. 1840 erfolgte die letzte Ausgabe der Manzoni-Vorlage, die in mehreren Opern-Umsetzungen resultierte. In Kopenhagen (!) gab man 1849 eine «Opern- Komödie“, Die Hochzeit am Corner See, von Franz Joseph Gläser zum Text von Hans Christian Andersen – diese Version hatte wie die bisherigen auch nur den ersten Teil des Romans als Vorlage.

Ponchiellis „I promessi sposi“: Handlungsort ist der Lago di Lecco in der oberitalienischen Lombardei/anonym

Von all diesen Versuchen unbeirrt (oder vielleicht auch derer ignorant) kam nun die Reihe an den 21jährigen Musiker aus Cremona, Amilcare Ponchielli, der als sein Erstlingswerk ausgerecht dieses schwierige Material wählte, dazu noch auf ein Libretto seiner (anonym gebliebenen) Freunde mit eigenen Zutaten. Und es waren in der Folge stets eben diese, das herbe Kritik auslöste. 1856 konnte er – von regionalem Mäzenatentum getragen – das Cremoneser Teatro Concordia zur Aufführung seiner Oper I promessi sposi überreden, aber die längerfristigen Auspizien standen schlecht, denn die Oper wurde als letzte der Saison im späten August gegeben. Mit einer sehr passablen Besetzung wurde das Werk aufgeführt, hatte immerhin 15 (oder 16) Vorstellungen und verschwand dann. Zwar hatte die Stadt aus verständlichen Gründen patriotisch gejubelt, aber in der Folge blieben die Noten in der Schublade. Dennoch – mindestens vier angesehene italienische Musikzeitschriften hatten wohlwollend darüber berichtet und die solide kompositorische Grundlage der Musik angemerkt – das Libretto aber wurde in den Boden vernichtet. Und die Oper nicht mehr aufgeführt.

Ponchiellis „I promessi sposi“: Der Dirigent Marco Pace erstellte die „Edizione originale“ für seine Aufführung in Mailand 2015/Walter Beloch Artists

Natürlich war Ponchielli über diesen mangelnden Erfolg nach einem ersten, lokalen Triumpf deprimiert, gab aber nicht auf und komponierte fleißig – und erfolglos – weiter: Bertrando 1858 (als Lina umgearbeitet 1877), Roderigo Re dei Goti 1863 und anderes. Angesichts seiner finanziellen Misere musste er sich eine Arbeit suchen und nahm den Posten eines Leiters der lokalen Blas-Kapelle in Cremona an. Ein weiterer Tiefschlag war das sicher auch politisch motivierte Übergehen seiner Bewerbung für einen Lehrposten am Mailänder Konservatorium zugunsten von Frano Facio, Komponisten-Kollege und Freund Arrigo Boitos, dem Drahtzieher in musikalischen Zirkeln und nach einer kurzen Laufbahn als Bariton späterer Komponist und Librettist für Verdi. In der Zwischenzeit hatten sich wieder einige an Manzonis Roman versucht, darunter Andrea Traventi (1825 – 1881)1858 am römischen Teatro Argentina. Elf Jahre später, 1869, aber konzentrierte sich das allgemeine Interesse auf die I promessi sposi des jungen Errico Petrella, dessen Libretto von Antonio Ghislanzoni die Handlung an ihrem Originalschauplatz und nun auch Aufführungsort Lecco spielen ließ. Erstmals folgt die Opernhandlung auch dem Roman Manzonis  akribisch. Die Oper Petrellas war ein ungeheurer Erfolg, vor allem wegen des bukolischen Hintergrunds des Bauernambientes, aber auch wegen einiger zugkräftige Nummern wie Lucias Abschieds-Romanze „O mia stanzetta“ und des nostalgisches Quartetts am Ende von Akt 2. Petrellas Oper wurde zum sensationellen Erfolg, namentlich in der Lombardei, und angeblich war der alte Manzoni selber zur Premiere gekommen.

Ponchellis „I promessu sposi“: Augusto Brogi war der Pater Cristoforo der revidierten Erstaufführung/ Sammlung Koller

Das war natürlich mehr als ein Stachel im Fleische des armen Ponchielli, der so lange auf Anerkennung und auf Wiederaufführung seiner eigenen Promessi sposi gewartet hatte. Er erkannte selber, dass etwas mit dem Libretto geschehen müsste und bat den Konservatoriums-Professor für Dichtkunst, Emilio Praga, um Überarbeitung. Praga war ein berühmter Mann in Mailand und einer der Protagonisten der Scapigliatura-Bewegung, jener Vereinigung progressiver Maler, Dichter und Musiker im Bemühen um realistischere Sujets der Gegenwart. Die Neufassung des {nominal anonym bleibenden) Librettos veränderte drastisch die Darbietung und nahm sich besonders der holperigen Reime an. Praga straffte die Handlung, fügte eine neue Arie für den Pater Cristoforo hinzu (»AI tuo trono, o sommo iddio“), fügte neue Personen ein (Mutter Agnese und einen Kardinal), dämpfte die allzu brutale Geilheit des Don Rodrigo, erweiterte den Part der ohnehin überflüssigen Signora di Monza. Die nun besonders wirkungsvolle Szene des Pest-Lazaretts im vierten Akt wurde wohl neu konzipiert. Seitens der Musik gab es ebenfalls völlig neue Instrumentierungen, die Zeugnis ablegen von der Entwicklung der Musikströmung der Zeit und von Ponchieliis wachsender Meisterschaft.

Ponchiellis „I promessi sposi“: Teresa Brambilla, später Ponchiellis Frau, war die  Lucia der revidierten Fassung 1872/Wikipedia

So überarbeitet gingen die Promessi sposi zum zweiten Mal über die Bretter, diesmal am renommierten Teatro Dal Verme in Mailand, neben der Scala das führende Haus in Italien. Und die Besetzung konnte sich hören lassen: Teresina Brambilla (die Ponchielli später heiratete) als Lucia, Eufemia Bariani Dini, Marcello Junca, der alleits gelobte Tenor Pietro Fabbri als Renzo sowie Augusto Brogi als Rodrigo und andere mehr sorgten unter Raffaele Kuon für einen grandiosen Erfolg am 4. Dezember 1872.

Natürlich merkten auch die Kritiker die Idosynkrasien des Werkes an, das unter dem Einfluss eines Donlzetti und Bellini begonnen und in der Folge eines mittleren Verdi und (eben auch dies!) eines Wagners vollendet worden war. Gelobt wurden die meisterhafte Instrumentierung, das Gespür für die Situationen, der sinfonische Ansatz in manchen Momenten, die organisch fließende Deklamation und die Unverstelltheit der Artikulation im Einklang mit der Handlung.

Das Libretto wurde nach wie vor kritisiert. Mit Recht, wenn man es heute nachliest. Und manches ist stilistisch so absurd altmodisch und rückwärts gewandt (vor allem die Kadenzen und Begleitungen von Arien), dass man meint, die falsche Oper zu hören. Dennoch – wie bei Verdis Überarbeitungen hatte das Werk sehr gewonnen und zeigt in seinen besten Momenten die musikalische Phantasie und Eigenständigkeit, wie man sie wenig später in der Gioconda (1876; eher noch als in den Lituani, 1874) findet.

Ponchielli: „I promessi sposi“/Szene Mailand 2015/Konservatorium Mailand/ youtube

Erwähnen muss man da die beiden finali im zweiten und dritten Akt, die wirklich fabelhaft gestrickte Szene der Signora di Monza im zweiten im Duett mit Lucia und dem kontrapunktisch eingesetzten Chor der Bravi im Hintergrund, die ebenfalls gutgebauten Ouvertüre voller verschiedener Themen aus der Oper und natürlich die nachgeschriebene Lazarett-Szene im vierten Akt mit ihrer atmosphärischen Einleitung und dem großangelegten Ensemble vor dem erhebenden Finale,

Trotz des Erfolges lief die Oper nur für vier Vorstellungen im Dezember 1872, weil sie mit dem Ende der Opernsaison am Teatro Verme zusammenfiel. 1873 wurden die Promessi sposi wiederaufgenommen und liefen mit einer neuen Besetzung für weitere 20 Abende. Zwischen 1873; und 1897 gab es mehr als 70 Aufführungen, die späteren dann in England. Nur wenige andere ausländische Häuser spielten das Werk, darunter Bukarest und Barcelona. Die letzten gab es in Glasgow 1931 und in Sanremo, als dort zum 100. Todestag Manzonis 1973 Magda Olivero und Kollegen Auschnitte aus den Titeln von Petrella und Ponchielli vorstellten (was auf einer alten LP/CD von GOP/Bongiovanni vorliegt und überhaupt keinen Eindruck von den Werken vermittelt). 2015 nun die szenische Aufführung mit Studenten des Mailänder Konservatoriums (youtube). Wie stets muss man die Äpfel im Korb nehmen, wie sie kommen, mit Flecken und ohne. Einmal mehr können wir aber erleben, wie reich die Opernszene abseits der ausgetretenen Pfade ist. Geerd Heinsen

 

 

(Zum Vergleich: Die alte RAI-Aufnahme der Petrello-Version (1950) mit dem Debüt der entzückenden Marcella Pobbe ist von dem Opernliebhaber und Champion namentlich für istrische Komponisten, Roberto Job, technisch hervorragend aufgefrischt und nun endlich durchaus hörbar bei youtube ins Netz gestellt worden, immer noch die einzige Aufnahme dieser Manzoni-Version von Errico Petrella.  Weitere Informationen zu Ponchiellis Oper bieten Colombinis „L’Opera Italiana“ von 1900, der wie stets unersetzliche Grove und in diesem Fall der detaillierte Aufsatz von Franco Battaglia in der zweisprachigen, aber nicht deutschen, Beilage bei Bongiovanni, GB 2356/57.)

Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.