Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Ut desint vires …

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Ob Denia Mazzola Gavazzeni wohl weiß, dass die Protagonistin aus ihrem letzten Debüt, das in Franco Alfanos Madonna Imperia, vor gar nicht langer Zeit einen wütenden Streit bei den Bürgern der Bodensee-Stadt Konstanz auslöste, als eine Statue der Edelkurtisane im Hafen aufgestellt wurde, sie selbst leicht bekleidet, ganz nackt, aber nicht ohne ihre Herrschaftsinsignien, Papst und Kaiser , die sie in ihren Händen hält. Viele fanden das lustig, einige aber auch schamlos und unangemessen, die Stadt Konstanz zu repräsentieren, die von 1414 bis 1418 Tagungsort eines Konzils war, auf dem unter anderem beschlossen wurde, Jan Hus freies Geleit zu gewähren. Daran hielt man sich, wie bekannt ist, nicht, es kam zu Aufständen in seiner Heimat Böhmen, aus der viele Glaubensflüchtlinge auch nach Berlin kamen, wo es noch heute im sonst gar nicht idyllischen Neukölln das böhmische Viertel gibt. 600 Geistliche waren damals am Bodensee versammelt, für ihr erotisches Wohl sorgte eine große Zahl von Prostituierten, von denen Imperia die schönste und kostspieligste gewesen sein soll.

Honorè Balzac hat ihr in seinen Tolldreisten Geschichten als „La belle Imperia“ ein Denkmal gesetzt, das die Vorlage für das Libretto von Arturo Rossato bildete. Es geht um die Liebe  einer Edelprostituierten zu einem armen Schlucker, der ihr Herz durch die Echtheit seiner Gefühle gewinnt, ein Thema , dessen sich bereits ein Vierteljahrhundert zuvor Mascagni mit seiner Oper Zanetto angenommen hatte und von dem es ebenfalls eine Aufnahme mit der Sopranistin gibt, die wie ihr verstorbener Gatte Gianandrea Gavazzeni dem Verismo besonders zugetan ist. Anders als in Zanetto, der schließlich seines Weges ziehen muss, wo Verzicht am Schluss steht, vergnügen sich Imperia und das arme Priesterlein Filippo sinnenfreudig im Alkoven, während die mächtigen und zahlungskräftigen Freier hinters Licht geführt werden.

Ausgesungen, aber glamourös und verdienstvoll: Denia Mazzola/ youtube

Die Aufnahme aus dem Hause Bongiovanni entstand im Januar 2022 im Konservatorium von Mailand und beginnt mit einem deliziösen Vorspiel in reizvoller Instrumentierung. Die Oper trägt zwar den Titel Madonna Imperia, die jedoch weit weniger zu singen hat als ihr Liebhaber. Die Besetzungsliste zeigt eine Reihe asiatischer Namen, so auch den des Tenors Shohei Ushiroda, der über eine solide Technik verfügt, über ein recht anonym klingendes Timbre, mit delikaten colpi di glottide frappiert und der  sich am besten in „Dama, se tanto siete pietosa“ zur Geltung bringt. Sonor klingt Fulvio Ottelli als Principe wie Vescovo, autoritär dunkel Giorgio Valerio als Cancelliere di Ragusa, angenehm leicht Zhu Junkun als Conte, während der Fante von Duan Linxu recht dunpfig erscheint.

Es gibt Sänger und Sängerinnen, die sich die Frische ihrer Stimme bis ins hohe Alter bewahren. Denia Mazzola Gavazzeni gehört leider nicht dazu, und so muss sich der Hörer abfinden mit einer konsonantenverachtenden Textunverständlichkeit, wenn die Stimme sich von einem Vokal zum nächsten    hangelt, mit teilweisem Verfallen in Sprechgesang. Und da Alfano seine Vorstellungen davon, wie die Partie gesungen werden soll, in das Libretto eingearbeitet hat, bemerkt der Hörer, was alles nicht beachtet, einfach unterschlagen wird. Das  kann man nicht damit entschuldigen, dass sich Imperia in einem Fast-Dauerzustand der Exaltiertheit und Hysterie befindet. Ein unbedingter Gestaltungswille kann halt nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Mittel zu einer adäquaten Umsetzung nicht mehr vorhanden sind. 

Sehr ordentlich sind der Coro del Conservatorio di Musica di Vicenza „Arrigo Pedrollo“ und das Orchestra Filarmonica Italiana unter Massimiliano Carraro (GB2601-2 mit informativer Beilage). Ingrid Wanja     

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PS: Das volle Zitat der Überschrift als Echo aus der Lateinstunde lautet „Ut desint vires tamen est laudanda voluntas“, auf Deutsch „Wenn auch die Kräfte fehlen, so ist das Bemühen doch zu loben„. Denn andererseits kämen Opern wie diese sonst vielleicht nicht zur Veröffentlichung. Darin nun  wieder liegt Denia Mazzolas Verdienst, weil sie diese Produktionen sponsort. Immerhin. G. H.

Poems pour toujours

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Nichr nur solistisch, sondern auch als „Duo contraste“ machten die beiden Franzosen, Tenor Cyrille Dubois und Pianist Tristan Raes, bereits mit Wettbewerbserfolgen und Konzerten weit über die Landesgrenzen hinaus auf sich aufmerksam. Mit der Herausgabe der gesamten Liedkompositionen Gabriel Faurés, des führenden Meisters dieses Genres in Frankreich, haben sie nun einen vorgezogenen Beitrag zu dessen 2024 anstehendem 100.Todestag geleistet. Es ist schon wagemutig, die 103 Lieder, die für verschiedene Stimmen und Tonlagen geschrieben wurden, mit nur einem Sänger aufzuführen, fehlen doch bei den Liedern für Frauenstimmen manche charakteristischen Eigenheiten und spezielle Timbren. Auch mussten natürlich Transpositionen mit Folgen für die zusammenhängenden Tonarten bei Liederkreisen vorgenommen werden. In einem ausführlichen Vorwort gehen die beiden Interpreten auf all diese möglicherweise entstehenden Einwendungen der Hörer ein und warum sie diese Aufnahmen gemacht haben. In einem weiteren interessanten Artikel des Beiheftes von Nicolas Southon wird man über den Stellenwert Faurés und seiner Melodies informiert. Für die 3 CDs umfassende Einspielung wurde die Schaffenszeit Faurés in vier Abschnitte eingeteilt: 1.Teil 1861-1878, der kürzere 2.Teil 1878-1886, der lange 3.Teil 1887-1906 und schließlich der 4.Teil 1906-1921.

Gabriel Fauré mit Dolly Bardac, Tochter seiner Geliebten Emma Bardac, nach der er die „Dolly-Suite“ benannte/ Wkipedia

Danach wurde jede CD in sich chronologisch gestaffelt, so dass man jeweils einen „Liederabend“ mit über 30 Liedern hat, an dem man die stilistische Entwicklung der Kompositionen vom Einfachen bis zum Kompliziert-Artifiziellen gut nachvollziehen kann. Von der ersten Liedgruppe der CD 1 überzeugt vor allem das todtraurige L’Absent (Victor Hugo) von 1871; die hier musikalisch verarbeitete Trauer über den Krieg und seine Folgen wird von den Interpreten ausdrucksstark geboten. Cyrille Dubois verfügt über eine kräftige, sicher durch die Lagen geführte Stimme, die eine große Farbpalette abdeckt, beste Schwelltöne und Legato beherrscht und die manchmal notwendige Attacke nicht vermissen lässt. Technisch brillant und einfühlsam passt das stets unterstützende Klavierspiel von Tristan Raes sehr gut dazu. Deutlich moderner ist dann schon der Liederkreis Cinq mélodies „de Venice“ (1891). Zu den variantenreicheren Melodien wird auch die Begleitung spannender, wie z.B. En sourdine, wenn die Singstimme allmählich aus den Arpeggien aufsteigt und schließlich wieder zart verklingt. Aus dem Liederkreis La Bonne Chanson (1892-4) sind besonders gelungen J’ai presque peur, en vérité, das die Angst fast greifbar macht, und das dagegen schlichte Lob einer still-genügsamen Liebe N’est-ce pas?

CD 2 umfasst 20 Lieder und zwei Liederkreise. Bei dem zu durchgehendem Quintmotiv der Begleitung intensiv gesungenen Les Berceaux (1879) wurde das Schaukeln der Kinderwiegen und der Schiffe besonders gut herausgestellt; dagegen huscht La Fée aux chansons (1882) spitzbübisch durch die Büsche, auch im Klavierpart. Der Liederkreis Shylock (1889) umfasst 5 Lieder, die Fauré zu der gleichnamigen Komödie von Edmont Haraucourt schrieb: Bei Madrigal fällt die auffällig eigenständige Klavierbegleitung auf; Dans la forêt de septembre kann man – hoch aktuell – als Lied auf den sterbenden Wald allgemein auffassen. Der weitere Liederkreis La Chanson d’Ève (1906-10) umfasst 10 Lieder zu Eva, dem Paradies und Gott. Der Stil wird insgesamt kantiger, es wird noch mehr Wert auf Sprachmelodie gelegt. Comme Dieu rayonne über Gottes Atem in der Natur wie auch Crépuscule sind Höhepunkte dieses Kreises.

Von den Einzelliedern der CD 3 ist Hymne à Apollon (1884) hervorzuheben, das als Einziges auf einer Übersetzung aus dem Griechischen in das gefälliger singbare Französisch beruht; hier läuft die Melodie noch häufig in der Klavierbegleitung parallel zur Bildung einer Einheit. Eine starke Interpretation ist auch mit En prière (1890) gelungen. Poème d’un jour (1878, drei Lieder) wird mit freier Höhe des Tenors und fließender Klavierbegleitung von den Protagonisten zu einer kleinen Kostbarkeit geformt. In La Messagère aus Le Jardin clos (1914, 10 Lieder) ist die Unruhe des Herzens mit vielen Farben in der Stimme wie mit vorwärts strebendem Tempo des Klaviers wunderbar getroffen worden. Auffällige harmonische Rückungen verdeutlichen in Jardin nocturne aus Mirage (1919, vier Lieder) eine Besonderheit der späten Kompositionen Faurés. Von 1921 stammen die letzten vier Lieder der CD, L’Horizon chimérique, von denen besonders das Lied Diane, Séléné endlose Traurigkeit verströmt. Es sind also durchweg auch die politischen Ereignisse und ihre Folgen in der Musik erkennbar geworden.

Diese Sammlung ist für alle Freunde des französischen Lieds eine Bereicherung (APARTÉ, AP 284, 3 CDs/8. 10. 22).   Marion Eckels

Alberto Franchettis „Asrael“

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Wieder einmal überraschte die Oper Bonn mit einer Sensation und modernen Erstaufführung: Alberto Franchettis Asrael, eine „musikalische Legende in vier Akten“ (Libretto von Ferdinando Fontana, Uraufführung am 11.02.1888 am Teatro Municipale di Reggio nell’Emilia mit einer Illustren Besetzung, die unter anderem den polnischen Tenor Ladislao Mierzwinski, die Sopranistin Virginia Damerini sowie den Basss-Bariton Lodovico Contini aufwies; es dirigierte der Komponist selbst). Franchetti und sein Umfeld der Jahrhundertwende sind ja ein Lieblingsthema des Bonner Operndirektors Andreas Meyer, der bereits zuvor in Berlin als dortiger Chefdramaturg der DOB Franchettis Germania zu einer vielbeachteten Aufmerksamkeit verhalf, aber auch Gnecchis Cassandra und anderes mehr fand durch ihn den Weg auf die Bühne. In letzter Zeit staunten Fans über Meyerbeers Feldlager in Schlesien oder Franckensteins Li-Tai-Pe auf dem BonnerTheater – wahrlich eine bedeutende Repertoireerweiterung.

Alberto Franchettis „Asrael“: Poster der Premiere am Teatro Comunale in Reggio Emilia/ Archivio Storico Ricordi

Jedem Interessierten rate ich den Kauf des ungemein vielseitigen Programmheftes an, denn die dortigen Aufsätze musikhistorischer Fachkräfte machen spannende Lektüre (das Ganze als Bestandteil der Serie Fokus’33  / Forschungsreise zu den Ursachen von Verschwinden und Verbleiben, Band 6 und in Teilen mehrsprachig). Reich bebildert mit den entzückenden Figurinen aus dem Liebig-Bilder-Programm finden sich Beiträge von Barbara Dallheimer, Alessia Ferraresi, Anselm Gerhard, Richard Erkens (einem der wichtigen Franchetti-Spezialisten), Hans Joachim Wagner sowie Emanuele D´Angelo, ungemein lohnend.

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Vorab ein kurzer Blick auf den Komponisten, der erst durch seine Germania an der DOB einem breiteren deutschen Publikum bekannt wurde und der bis dahin eher im Umfeld Puccinis mitlief (was ihm Unrecht tut).  Alberto Franchettis Vater war der Großgrundbesitzer Baron Raimondo Franchetti, seine Mutter Sara Louise von Rothschild entstammte der Bankiersdynastie Rothschild. Der Vater lehnte zunächst Franchettis musikalische Studien ab. Doch er begann dennoch ein Musikstudium, zunächst in Turin, später in Venedig, wohin seine Familie übersiedelt war. Seine Lehrer waren Nicolò Coccon (1826–1903) in Harmonielehre und Fortunato Magi (1838–1882) in Kontrapunkt. Mit zwanzig Jahren ging er nach München. Hier studierte er bei Josef Rheinberger und anschließend in Dresden bei Felix Draeseke und Edmund Kretschmer. Seine Abschlussarbeit in Dresden war die viersätzige Symphonie e-Moll. Er arbeitete in verschiedenen oberitalienischen Städten als Musiklehrer und Komponist. Im Jahr 1888 fand die Uraufführung seiner ersten Oper Asrael statt (im Plot dem Dämon Dargomyschkis nicht unähnlich: Der gefallene Engel Asrael wird durch die reine Liebe seiner Mit-Engelin nach Höllenfahrt und Erden-Ausschweifungen dem Himmel zurückgegeben, Happy-end). Zur 400-Jahr-Feier der Entdeckung Amerikas erhielt Franchetti auf Empfehlung Giuseppe Verdis den Kompositionsauftrag für eine Kolumbus-Oper in Genua. Nach Cristoforo Colombo (uraufgeführt 1892) entstanden noch Fior d’Alpe (1894), Il Signor di Pourceaugnac (1897), Germania (UA 11. März 1902 unter Arturo Toscanini), La Figlia di Jorio (Libretto: D’Annunzio) (1906), Notte di Leggenda (1915) und Glauco (1922). Zwischen 1926 und 1928 war er Direktor des Konservatoriums von Florenz.

Alberto Franchettis „Asrael“: Pietro Mascagni, Alberto Franchetti und Giacomo Puccini/ Wikipedia

Franchetti gehörte zum Verehrerkreis von Richard Wagner und war – neben anderen Ehrenämtern – Vorsitzender der Wagner-Gesellschaft Bologna.

Er war zweimal verheiratet. 1888 heiratete er Margherita Levi, von der er 1897 wieder geschieden wurde. Zu diesem Zweck war Franchetti für einige Jahre deutscher Staatsbürger geworden, weil in seinem Heimatland eine Scheidung nicht möglich war.

Seine Opern wurden auf der ganzen Welt gespielt (so auch in Hamburg). Im Dritten Reich erhielten seine Werke wegen Franchettis jüdischer Abstammung Aufführungsverbot. Auch in Italien verschlechterte sich seine Situation durch die Einführung der italienischen Rassengesetze ab 1938. So zog er sich 1934 aus der Öffentlichkeit nach Viareggio zurück, wo er 1942 vereinsamt starb.  (Wikipedia)

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Franchettis „Asrael“: Ladislao Mierzwinski sang die Titelrolle in der Uraufführung/ Ipernity

Zu den Dokumenten: 1992 erschien in einer CD-Produktion des Hessischen Rundfunks eine Gesamtaufnahme der Oper Christoforo Colombo mit Renato Bruson in der Titelrolle (Koch). Eine Aufführung derselben Oper in Montpellier von 1992 gab es in einer Sonderpressung des Archivio Sonoro del Teatro Municipale di Reggio Emilia (mit der wunderbaren Michele Lagrange und einem wirklich bewegenden Paolo Coni, bei Discorps antiquarisch). Germania nahm die rührige RAI bereits 1951 auf und ist als großer Querschnitt auf „grauen“ LPs erschienen.  1985 gab es die Oper in New York konzertant (Sammler haben das). 2006 brachte die Deutsche Oper Berlin das Werk heraus, eine Produktion, die auch auf DVD bei Capriccio veröffentlicht wurde (als Pressebeilage gab es besagten alten RAI-Mitschnitt). Die RAI nahm sich weiterer seiner Opern an: 1988 die Figlia di Iorio, dto Ausschnitte aus seinem Glauco. Sinfonisches und Kammermusik findet sich bei Bongiovanni, Naxos und anderen Firmen. Nun hoffen wir, dass Asrael nicht nur im Radio wiedergegeben wird sondern auch seinen Weg auf die CD findet…

Franchettis „Asrael“: Bühnenbild zum 3. Akt der Urauffühgrung/ Archivio Storico Ricordi

Soweit Kurzes zum Komponisten und seinen greifbaren Dokumenten. Nachfolgend ein Auszug (der Schluss) aus dem Artikel von Richard Erkens („Von der Hölle durch die Welt zum Himmel – Franchettis Gesellenstück ›de luxe‹ von 1888“) im erwähnten Bonner Programmheft zur Aufführung am 16. Oktober 2022.  G. H.

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Szenisch fragwürdig und kurzschlüssig: Rolf Fath über die Bonner Aufführung. Es sei das schönste Opernhaus der Region, versicherte uns kürzlich noch die Leiterin des Theatermuseums des Teatro Municipale in Reggio Emilia. Schließlich sei es, im Gegensatz zu den anderen Bühnen in der Umgebung, beispielsweise dem prächtigen Teatro Regio im nicht mal 30 Kilometer entfernten Parma, von den Bürgern der Stadt errichtet worden. Der Bau am Rande der Altstadt mit seinen markanten zwölf rustikalen Säulen, den auf vier Ränge verteilten 106 Logen und einer Galerie wurde 1857 eröffnet. In der Spielzeit 1887/1888 übernahm Baron Raimondo Franchetti die Leitung des Hauses, um die Begleitumstände für den Bühnenerstling seines ältesten Sohnes so vorteilhaft als nur möglich zu gestalten. Wenn Alberto schon Komponist werden wollte, sollte ihm der Weg zum Erfolg in jeder Hinsicht geebnet werden. Zunächst in seiner Geburtsstadt Turin, dann in Venedig, wohin die Franchettis 1871 in ihren aus dem 16. Jahrhundert stammenden, von Arrigo Boitos älterem Bruder Camillo im neogotischen Stil umgewandelten Palazzo Cavalli-Franchetti zogen, erhielt Alberto Franchetti seinen ersten Musikunterricht, bevor dem 20jährigen ab 1860 der Aufenthalt in München und der Unterricht bei Josef Rheinberger und anschließend in Dresden bei Felix Dreaseke ermöglicht wurde. Vater Raimondo managte die Karriere seines Sohnes so umsichtig wie seine landwirtschaftlichen Betriebe im Veneto, bei Mantua, Florenz und Reggio Emilia und bot das Beste und Teuerste auf, um einen Premierenerfolg zu sichern, dabei vorsichtig genug, es nicht an einer ersten Bühne zu wagen, sondern in der Provinz. Das fiel dem zwei Jahre nach seiner Heirat mit einer Wiener Rothschild-Erbin in den erblichen Adelsstand erhobenen zweitreichsten Mann Italiens nicht schwer.

Franchettis „Asrael“ an der Oper Bonn/ Szene/ Foto Thilo Beu

Die Widmung „A mio padre“ begleitet denn auch die Produktion der Oper Bonn, die den Asrael erstmals seit hundert Jahren wieder auf die Bühne holt und mit Albertos artiger Dankadresse auf dem Zwischenvorhang jeden Akt der gar nicht so artigen Inszenierung von Cristopher Alden beginnt. Alberto enttäuschte nicht und setzte seinerseits auf der Bühne für den Kampf zwischen Gut und Böse, sprich den Pakt des Engels Asrael mit Luzifer, Himmel und Hölle in Bewegung. Chöre der Dämonen, verdammten Seelen, Engel, Cherubim, Seraphim, Heiligen, Jungfrauen, Märtyrer und Patriarchen umrahmen die im 13. Jahrhundert spielende und auf der 1832 in Paris publizierten Erzählung Asraël et Nephta. Histoire de province von Samuel-Henri Berthoud basierende Leggenda, deren erster Akt aus der Hölle in den Himmel schwenkt, während die weiteren drei Akte in Flandern spielen. Dort stößt Asrael auf die heiratsunlustige Prinzessin Lidoria, die ihre Verehrer durch eine unlösbare Aufgabe à la Turandot in die Flucht schlägt. Asrael löst die Aufgaben, verschmäht aber die Prinzessin. Als nächste erscheint die Zigeunerin Loretta, eine Verwandte der Carmen, die sich ihrerseits in Asrael verliebt. Schließlich taucht Nefta in Gestalt von Schwester Clothilde auf; mit Nefta lebte Asrael im Himmel, bevor sich Asrael gegen Luzifer wandte. Die Suche nach der Geliebten Nefta ist der Motor seines Handelns. Die Frist für den Pakt mit dem Teufel ist fast abgelaufen, als Asrael im Kloster mit Schwester Clothilde das „Ave Maria“ betet, worauf sich der Himmel öffnet. Asrael und Clothilde, in der er nun endlich Nefta erkennt, dürfen als liebende Engel in den Himmel zurückkehren. Asrael: „Ich kehre zur ewigen Freude zurück! Ich kehre zu meinen Brüdern zurück! Du bist nun mein für immer! Du, Nefta, bist mein Himmel!“. Dazu die schlichte Bühnenanweisung: „Der Altar und die Madonnenstatue leuchten plötzlich in hellstem Licht: es regnet Blumen. –  Apotheose“.

Wie soll man das inszenieren? Christopher Alden, dessen Peter Grimes und Tristan und Isolde mir zuletzt in Karlsruhe ausgesprochen gut gefielen, entzog sich dem Himmelfahrtskommando durch eine banale Familienaufstellung. Kein großes Spektakel, sondern Tristesse im ranzig geworden Palais (Bühne: Charles Edwards), wo der Kriegsveteran seine Frau schikaniert und ihre Harfe zertrümmert, worauf sie den Freitod wählt und fortan als Maria durch die Handlung geistert, der die drei Töchter merkwürdig behandelt und dem Sohn die Engelsflügel stutzt, ihn drillt und in den Krieg schickt. Eine Tochter umgibt sich als Künstlerin an der Staffelei mit schmucken Soldaten, die andere verteidigt an der Schreibmaschine die Rechte der Frau und setzt sich für La revolta femminile ein, die dritte, Nefta, wandert schließlich aus der Dachstube als Rotkreuzschwester aufs Schlachtfeld. Warum Alden die Kriegsmetapher wählt, die bei der Gleichsetzung des Vates mit Luzifer und dem Bild der Hölle als „Hölle des Krieges“ noch plausibel wirkt, will sich nicht erschließen. Der Erste Weltkrieg, die Schlachtszenen, die Soldaten und Gewehre sind kaum mehr als wohlfeile Accessoires, ebenso unnötig, wie der Gang durch die Etagen der Villa vom Dachgeschoss-Himmel in die Keller-Hölle und in den Salon, wo Asrael ein kindisches Ritterspiel aufführt und der alte Vater mit Gehhilfe und später im Rollstuhl zunehmend dahindämmert und schließlich am Ende mit den Trauerkränzen des Chores zu Grabe getragen wird.

Franchettis „Asrael“ an der Oper Bonn/ Szene/ Foto Thilo Beu

In Asrael spielt alles hinein, was sich Mitglieder der Giovane scuola und Scapigliatura erdachten, um der Agonie zu entgehen, in welche die italienische Oper nach Verdis Aida zu verfallen schien. Nicht zuletzt der Wagnerismo, dessen der in Deutschland ausgebildete Franchetti verdächtig war, wobei Wagnerismo in Italien gleichbeutend mit einer tragendenden ausgedehnten Rolle des Orchesters war. Von alledem hat Franchettis Oper etwas, auch von der französischen Grand opéra, der Faszination an Übersinnlichem und der Begeisterung für deutsches Mittelalter, dem frühen Wagner, etwa des Lohengrin und Tannhäuser, vom Mystischen des Parsifal, den er in Bayreuth erlebte. Alles auf dem Boden der italienischen Melodik. Anselm Weber resümiert im 230-Seiten-Programmheft, Franchettis Partitur müsse „als eine der gelungensten Opern des italienischen Fin-de-siècle gelten und damit als Markstein in der Operngeschichte des späten 19. Jahrhunderts. Trotz aller ihrer Qualitäten eignet ihm als Erstlingswerk manche Unwucht, gleichwohl fasziniert auch fast 135 Jahre nach der Uraufführung die Sorgfalt der Ausarbeitung und der Schmelz der melodischen Erfindung“. Vor allem war Asrael ein grande spettacolo, dessen Erfolg weitreichend, aber erstaunlich kurz war. Asraels Höhenflug – allerletzte Aufführungen 1925/26 in Genua und Treviso – war zur Zeit des Ersten Weltkriegs vorüber und er war längst vergessen, als Franchetti, der sich zunehmend von der Öffentlichkeit zurückgezogen hatte,1942 in Viareggio starb. Wegen seiner jüdischen Abstammung hatten seine Werke ab 1933 in Deutschland Aufführungsverbot, ebenso in Italien durch die Einführung der italienischen Rassengesetze ab 1938.

Das grande spettacolo, dem sich die Bühne trotzig entzog,  lieferte der 30jährige Hermes Helfricht, der die Musik – mit dem „eigens für die Bonner Produktion erstelltem Material“ – mit dem Beethoven Orchester derart mit Herzblut erfüllte und mit Leidenschaft agierte, dabei neben den Solisten auf der Bühne hingebungsvoll die im ersten Rang platzierten Chöre (Chor des Theaters Bonn und Extrachor) und die in den Seitenbalkonen aufgestellten Fanfaren organisierte, dass man in Momenten gerne glauben wollte, dass es sich um großartige Musik handelt. Am besten – etwa in den „Pape Satan, Pape Satan, Aleppe“-Chören, den schneidenden Bläsersignalen oder in den Duetten Asraels mit Loretta „Soavi accenti, d’amor frementi!“ und mit Nefta/Clotilde „L’idea torva, infernal“ – ist Asrael, wenn er sich als exakte Mefistofele-Kopie gibt. Die schillernden Vor- und Zwischenmusiken und das zeremonielle Stimmungsgezwischer sind gekonnt gemacht, nehmen die späteren Schwarzwald-Impressionen in Nella Foresta Nera vorweg, üppige Vorjahrhundertwendmusik, doch ohne dramatische Entwicklung, oft geradezu zähbreiig, überwältigend nur in der Ballung und Schichtung der Chöre: Massierung des Klangs statt dramatischer Entwicklung.

Franchettis „Asrael“ an der Oper Bonn/ Szene/ Foto Thilo Beu

Wie in den Wiederentdeckungen der letzten Jahre, darunter Faccios Amleto, Boitos Nerone und letztlich auch Giordanos Siberia, die im Frühjahr von Bregenz nach Bonn transferiert wird, schwingt der Gesang selten arios aus, herrscht ein rezitativisch markantes Sing-Agieren vor, unbequem oder undankbar geschrieben für die Stimmen. Tamara Gura scheint sich mit der Tessitur der Lidoria nicht wohl zu fühlen und kann nichts aus der Prinzessin von Brabant machen, die als Turandot-Vorläuferin doch zu hoch gehandelt wird. Der (stumme) Hausvater übernimmt auch die kleinen Episodenrollen des Luzifers und des Königs von Brabant, wodurch Pavel Kudinov mit verschlucktem Bass vor allem darstellerisch punkten kann. Mit leuchtenden Farben, feurigem Elan und festem Mezzosopran macht Khatuna Mikaberidze aus der Bohemienne Loretta so etwas wie eine Figur, sie hat denn mit der Arie, in der sie zu Beginn des dritten Aktes vom Leben der Zigeuner singt, auch eine der dankbarsten Nummern. Mit glockig dunklem, teilweise etwas unruhigem Sopran singt Svetlana Kasyan die Nefta/ Clotilde; eine gewisse veristische Schärfe und Nervosität sind nicht unrecht für die Partie. Keinen guten Tag hatte Peter Auty. Ein paar hübsche lyrische Passagen und die Leichtigkeit in der Überganslage mögen ihn für kleinere italienische Partien qualifizieren. Doch am Premierenabend mühte er sich als blutloser Asrael mit verstocktem Tenor, ohne Glanz und Strahl in der Stimme, durch eine Partie, die bedeutend mehr stimmliches Rückgrat verlangt (16. 10. 22).  Rolf Fath

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Franchettis „Asrael“: Bühnenbild zur Urauffühgrung/ Archivio Storico Ricordi

Richard Erkens zur Oper selbst: Asrael als Momentaufnahme. Franchettis Debütwerk von 1888 ist ein prall gefüllter Kosmos all dessen, was das europäische Musiktheater der 1880er Jahre beinhaltete, zu bieten hatte, bieten wollte – eine Momentaufnahme. Genau daraufhin war Franchettis musiktheatraler Startschuss angelegt. Der synoptische Charakter des Werks ist Konzept, eine Aufstellung des Möglichen, eine Zusammenschau musikdramatischer Ausdrucksoptionen. Der familiäre Hintergrund des Komponisten, seine musikästhetische Orientierung und die Exklusivität des Entstehungskontexts sind historische Erklärungen dafür. Die Aneignungsleistung Franchettis und sein kompositorisches Vermögen, diese opulenten Bilder adäquat in Musik zu setzen, sind bemerkenswert, für ein Debütwerk sogar außergewöhnlich. Die Partitur ist auf einer konsistenten Stilhöhe geschrieben, sie schwächelt nicht und bedurfte daher auch keiner grundlegenden Revision nach der Uraufführung – wie so manch andere Erstlinge von Kollegen. Dies war förderlich für den sofortigen Nachspielerfolg außerhalb des ›Exklusivraumes‹ Reggio Emilia. Die wenigen Modifikationen, die Franchetti für Folgeproduktionen vornahm, fallen kaum ins Gewicht. Somit gelang ihm ein Gesellenstück, das eine international rezipierte Opernnovität wurde, was kaum einer derjenigen Komponisten erreichte, die noch heute in aller Munde sind. Der historische Erfolg von Asrael spiegelt somit unmittelbar auch die Geschmacksnerven einer prosperierenden wie sozial brüchigen Zeit, die – wie unsere – unablässig auf ästhetische Veränderungen und Novitäten anspringt. Daher kann ein Werk, stark gebunden an historische Aktualität, nach vielen Jahrzehnten ausbleibender Aktivierung wieder aktuelle Funken versprühen. Warum aber Asrael noch kein Meisterstück ist, das einen nachhaltigen, zeitenthobenen Charakter besitzt? – Franchetti komponierte es anschließend mit Cristoforo Colombo.

Franchettis „Asrael“: Giuseppe Russitano in der Titelpartie/ Milward Adams Photograph Collection/ historicaltenors

Wie kaum ein anderes Bühnenwerk dieser Epoche ließe sich  Asrael erklären, indem man Opern, dramatische Beziehungskonstellationen oder Figurentypen aufruft, die mit gutem Recht als Vorbilder gelten können. Der szenische wie dramaturgische Zitatcharakter des Werks ist so dicht, dass er nicht als ästhetische Verlegenheit, sondern als konzeptionelle Struktur gelesen werden muss. Franchetti und (und sein Librettist Ferdinando) Fontana eigneten sich gleichsam alles an, was bis Mitte der 1880er Jahre als neu, innovativ und effektsicher gelten konnte. Anders formuliert: sie boten alles auf, was sich an szenischen und dramatischen Wirkmitteln bewährt hatte im Sinne eines fast synoptischen Konstruktionsprinzips von Musiktheater. Auf diese Weise wurde inhaltlich eingelöst, was Franchetti durch den exklusiven Produktionshintergrund seines Operndebüts ermöglicht wurde, nämlich ein Gesellenstück de luxe zu komponieren, das den Beweis antrat, sich der europäischen Diversität musiktheatraler Formen bemächtigt zu haben.

Asrael als Opernsynopse: So wurde mit »Teufelspakt« und »Seelenhandel« ein alter literarischer Topos aktiviert und auf die eher seltenen Vertragspartner von Teufel und Dämon umgemünzt. Für das Figurenprofil der selbstbewusst liebenden Loretta stand die exotische Carmen Patin, die 1875 in Paris einen Skandal auslöste. Die zum kurzen, magischen »Blickkampf« umfunktionierte Rätselprobe bei der Brautwerbung der männerscheuen Königstochter Lidoria ist dem Turandot-Stoff entlehnt, durch Gozzi und Schiller bearbeitet und längst popularisiert. Er gelangte bereits durch Puccinis Lehrer Antonio Bazzini 1867 als Turanda auf die Bühne der Mailänder Scala. Der unbekannte Fremde, der plötzlich vor das instabile Gefüge eines Hofstaates tritt und die legitime Thronerbin erotisch herausfordert, verweist auch auf den ersten Lohengrin-Akt. Und die Ahnung um eine verheimlichte, wahre Identität des Fremden im Verein mit Zweifeln an der Aufrichtigkeit seiner Liebesbekundung sind gleichfalls Elsa- und Ortrud-Themen, die auf Loretta und Lidoria übertragen wurden. Sie motivieren die eigentliche, auf den dritten Akt beschränkte Intrigenhandlung. Das abendliche Stimmungsbild des Zigeunerlagers am Fluss, der Liebesnacht vorangestellt, ist eine Referenz an das breite Repertoire exotistischer Szenen, ohne die die Oper im 19. Jahrhundert nicht zu denken ist. Der metaphysische Kampf zwischen Gut und Böse, den die kontrastierenden Chöre im dritten Finale über dem verwundeten Asrael gleichsam stellvertretend führen, steht im Erbe des wankelmütigen, unentschiedenen Antihelden, wie ihn Scribe und Meyerbeer in der Figur des Robert entworfen hatten. Und nicht zuletzt erscheint der Klosterakt als eine dramaturgische Inversion jener berühmten Nonnenszene aus Robert le diable, indem Schwester Clotilde Asrael zum Guten verführt, nicht zur Freveltat wie die zuvor von den Toten erweckte, sündige Geister-Äbtissin Hélène. Hier wie dort ist es eine Statue (der Hl. Rosalie bzw. der Madonna), an welcher sich der dramatische Höhepunkt vollzieht. Wenn schließlich in Asrael die Klostermauern zusammenbrechen, ist ein weiterer szenischer Topos aufgerufen, nämlich ein sogenanntes Katastrophenfinale, meist durch zusammenbrechende Steinarchitektur oder Feuer- und Weltenbrände realisiert – ein typischer Schaueffekt historischer Opern dieses Jahrhunderts. Hier bleibt er hintergründig, führt nicht in den Untergang, sondern wird zum Rückprospekt von Transzendenz und Weltüberwindung, da der (private) Konflikt des Engelspaars glücklich gelöst ist: Asrael und Nefta erkennen sich wieder, um sie herum wird es abermals paradiesisch.

Franchettis „Asrael“: Alberto Franchetti mit seiner Frau  Margherita Levi in Reggio Emilia in 1888/ Associazione Alberto Franchetti

Motivisches Komponieren und Klangdramaturgie: Franchettis frühe Auseinandersetzung mit dem Werk Wagners machte zwangsläufig die Technik motivischen Komponierens auch für Asrael bedeutsam. Natürlich brauchte es nicht Wagner, um eine motivgebundene Opernmusik kennenzulernen, denn das war in französischen Operngenres seit langem als erinnerungsmotivisches Verfahren etabliert: ein charakteristisches Motiv erhält für die Hörenden eine feste Bedeutung und ›erinnert‹ bei jedem weiteren Erklingen an diese. Neu war für die italienische Operngeschichte, und dafür stellt Asrael ein herausragendes Beispiel dar, dass die Anzahl solcher dramengebundenen Motive sprunghaft anstieg, komplexer wurde, sich ein ganzes Motivnetz bildete. Mit der Traumszene des dritten Akts ist eine dramatisch zentrale Passage gegeben, in welcher tatsächlich der gesamte musikalische Satz, also alles, was klingt, aus semantisch eindeutig bestimmbaren Motiven gebildet ist und mit zusätzlicher Bedeutung ›aufgeladen‹ wird. Damit war Franchetti einer der ersten in Italien – neben Luigi Mancinellis in seiner glücklosen Isora di Provenza (Bologna 1884) –, die das strenge leitmotivische Verfahren Wagners in Ansätzen imitierten. Denn hierbei wird auch die musikalische Form durch Motive gebildet, ohne in ein konventionelles Formgerüst lediglich ›eingehängt‹ zu sein. In der Traumszene wird das Orchester zum autonomen Kommentator des Bühnengeschehens, es weiß ›mehr‹ als die Protagnisten und verdichtet den Sinngehalt des Ganzen – ein wirklicher »Beziehungszauber«, wie Thomas Mann formulierte. Einem unmittelbaren Vergleich zu Wagners Motivik im Ring mag diese Stelle kaum standhalten, dennoch bewies Franchetti musikdramatisches Feingefühl: Die verschleierten Erinnerungen Asraels an Nefta, sein wahres Gefühlsleben, das er träumend an Loretta verrät, werden über das musikalische Motivnetz sprechend.

Franchettis „Asrael“/ Liebig/ Archivio Storico Ricordi

Was die Traumszene verdichtet, durchzieht sonst als offenes, lockeres Motivgewebe die gesamte Partitur – genauer: verbindet sich als zusätzliche semantische Schicht mit einem musikalischen Satz, dessen Bauprinzip weiterhin die geschlossene Form ist, also Arie, Duett, Ensemble oder Chorpassage kennt. Durch elaborierte Überleitungen sind diese miteinander verbunden, subtil verschmolzen. Der Eindruck konventioneller Vertrautheit vieler Passagen liegt an der weitgehend regelmäßigen Periodenstruktur, welche gerade die Melodiebögen Franchettis zu klassisch anmutenden Kantilenen formt. Ein kompositorisches Aufbrechen traditioneller Periodizität, ein Sprengen von Linien und Proportionen hin zu einer musikalischen Prosa gibt es – wie auch in vielen anderen Partituren dieses Jahrzehnts – nur in Ansätzen. Der ›Hörzugang‹ ist bei aller formalen Vielfalt, allem harmonisch-melodischem Reichtum und üppigem Schauangebot dadurch ›niedrigschwellig‹: kein verrätseltes Klanglabyrinth drängt sich auf, Franchetti spricht eine ausbalancierte, feinsinnige wie eloquente musikalische Sprache.

Die personen- und situationsgebundenen Motive sind leicht wahrnehmbar. Franchetti komponierte kein assoziierendes Motivnetz, das sich erst nach analytischer Arbeit erschließt, sondern verband sie als deutlich voneinander abgesetzte musikalische Chiffren mit den vertrauten Formmodellen. Alle wichtigen Personen und für das Drama relevanten Themen treten als Motivplastik hervor. In derber Intervallstruktur und harmonischer Instabilität ist das ›Dämon‹-Motiv gleich am Beginn der Höllenszene hörbar und erhält spätestens bei der chorischen Exklamation »Pape Satan, Aleppe!« seine feste Sinnzuschreibung. Es wird sich meist in den tiefen Orchesterstimmen immer dann hineinschlängeln, wenn auf Asraels dämonische Identität bzw. die Macht des Bösen verwiesen wird. Komplementär dazu erklingt das Nefta-Motiv als lyrische Kantilene in harmonischer Geschlossenheit nicht erst bei ihrem Auftritt im Himmelsbild, sondern bereits als melodisch-fragmentiertes Vorzitat im Klagemonolog Asraels, in welchem er sich an das für immer verloren geglaubte Paradies erinnert. Lidoria, Königstochter und Schwarzkünstlerin, erhält zu Beginn des zweiten Akts ein prägend-pochendes Motiv, das im erzählenden Chorrefrain der Bauern auch textlich auf sie bezogen ist (»All’arte magica Lidoria diè«). Im Weiteren steht es auch für den irdischen Gegenzauber, der Asrael im dritten Finalbild schwächen wird. Lorettas tänzerische Motivfloskel über einem Polacca-Rhythmus mit Staccatobegleitung und einem stereotypisch ›zigeunerischen‹ Klangidiom aus kleiner Flöte, Schellentrommel und Kastagnetten ist musikalische Anverwandlung der exotistischen Carmen-Welt, der sie entspringt.

Franchettis „Asrael“/ Liebig/ Archivio  Storico Ricordi

Die Motive ließen sich noch weiter aufschlüsseln und den dualistischen Sphären von Höllen- und Himmelsraum zuordnen: chromatische Dichte und tänzerisch-rauschhafte Gestik für das dämonische Unten, harmonische Balance und schwebender Klangvokal für das göttliche Oben. Mit der Verwandlungsmusik zwischen Höllen- und Himmelsbild des ersten Akts, gleichsam eine Nibelheimfahrt von Wotan und Loge aus Wagners Rheingold in Gegenrichtung, komponierte Franchetti eine imaginär-musikalische ›Kamerafahrt‹ zwischen den Welttheaterebenen, die dem Orchesterklang Wagners, besonders des Tannhäusers, abgehört erscheint. Den massiven Instrumentalpassagen besonders der Höllen- und Erdensphäre stehen die vokalen, nahezu statischen Fernklang-Gebilde der sich bis zu zwölf Stimmen auffächernden Himmelschöre gegenüber. Ähnliche Sakralklänge sind bekannt aus Boitos Mefistofele und Wagners Parsifal, doch nicht zuletzt lässt sich hier auch der Rheinberger-Schüler vernehmen. Wenn Schwester Clotilde als dritte Partei in die irdischen Konflikte eingreift, hebt Franchetti die Klangsphären voneinander ab und lässt – wie im zweiten Finale – die noch unerkannte Engelsgattin mit einer schwerelosen Klanggloriole zwischen die streitenden Erd- und Dämonenarmeen treten. Franchetti setzt auf klangliche Kontrastdramaturgie, nicht auf Zwischen- oder Grautöne.

Franchettis „Asrael“: der Librettist Ferdinando Fontana und Giacomo Puccini/ Wikipedia

Neues in Altes integrieren: Duette und Ensembles: Die Kombination aus Motivnetz und konventionellem Formgerüst spiegelt das synthetische Konzept von Asrael auch auf musikalischer Ebene. Die chorischen Erzähllieder am Beginn der Lidoria- und Loretta-Handlung (zweiter und dritter Akt) beschwören einen Romanzenton, der für das Jahr 1888 bereits aus der Zeit gefallen scheint, aber vor dem Hintergrund des so präsenten Verdi’schen Œuvres in Italien, der dieses Idiom kaum bediente, als ästhetisch unverbraucht und neu wirken konnte. Franchettis vielleicht beeindruckendste Integrationsleistung ist das große Ensemble am Ende des zweiten Akts, welches ganz nach der dramaturgischen Logik von Schock und Stillstand gebaut ist wie viele Finali mit kontemplativem Ensemble. Asrael weist den Brautring Lidorias nicht nur zurück – Ehe ohne wahre Liebe könne nicht sein –, sondern wirft ihn der Königstochter, begleitet vom markant hervortretenden Ring-Motiv, gar noch vor die Füße. Nicht weniger plötzlich tritt Schwester Clotilde dazwischen und beschwichtigt die kampfbereiten Parteien. Nun endlich ist Raum für Reflexion und emotionale Selbstklärung im sogenannten pezzo concertato gegeben (»De’ suoi detti il suon mi parve«): Clotilde/Nefta erkennt Asrael wieder, Asrael entflammt in Begierde zu Loretta, diese, nicht weniger erotisiert, ersinnt einen Fluchtplan, Lidoria ahnt das dämonische Wesen des Fremden, der König beklagt den erbenlosen Zustand seines Staates, während die verschiedenen Chorgruppen (Nonnen, Ritter, Bauern, Flusszigeuner) aus der Warte ihrer sozialen Zugehörigkeit heraus die Situation kommentieren.

Franchettis „Asrael“: Leon Gritzinger in der Titelrolle in einer Aufführung in Hamburg/ Ipernity

Das Ensemble ist große Klangmassierung und individuelle Ausdifferenzierung zugleich. Franchetti monierte geschickt zwei wichtige Motive in den geschlossenen musikalischen Satz hinein, die zunächst nur suggestiv zu hören waren, nun aber bedeutsam werden. Mit Lidorias Einsatz (»No, il rossor sulla mia fronte«) erklingt ihr zweites, sich expressiv-schlängelndes Personalmotiv deutlich und prägnant, das ihren stolzen ›Turandot‹-Charakter nach schmachvoller Niederlage abbildet. Und Asrael lässt sich mit einer leidenschaftlich aufschwingenden Kantilene vernehmen, die seine Augenblickslust auf Loretta als körperlichen Drang und begehrliches Schmachten ausdrückt (»Di Loretta negli sguardi«). Wie Verdi in seinem zeitgleich komponierten Spätwerk Otello das Finale des dritten Akts durch simultane Aktionsebenen bereicherte, ist auch Franchettis Frühwerk ein Beispiel von Bemächtigung und Skepsis gegenüber einer Konvention, deren geschlossene Form, absolute Statik und Handlungslosigkeit zunehmend als problematisch empfunden wurde. Franchettis Erneuerungsansatz in Asrael war eine motivische Durchdringung, die zu individueller Modellierungen innerhalb der Klangmassierung führte.

Franchettis „Asrael“: der Autor des Artikels, der Musikwissenschaftler Richard Erkens, zu seiner Biographie s. nachstehend

Das eigentliche Drama der Leidenschaften und Emotionen vollzieht sich im dritten Akt in einer Folge von Duoszenen. Die Crux dabei: in dieser Liebesnacht findet nicht das ›richtige‹ Paar zueinander, ihre Störung am Ende wird durch die ›uneigentliche‹ Spannung herbeigeführt, die Loretta spürt. Eifersucht ist der Motor ihrer Handlung, doch den Zündfaden der Intrige hatte zuvor Lidoria ausgelegt, als sie der Asrael erwartenden Loretta auflauerte. Ihrer Vorfreude auf körperliche Glücksmomente mischt Lidoria die Angst vor Vernichtung und Tod bei, motivisch in sich verästelnden Orchesterstimmen gespiegelt, und reicht ihr doch zugleich auch ein magisches Gegenmittel für den Notfall. Loretta wird in dieser Szenenfolge zur eigentlichen Identitätsfigur des Dramas. Sie zeigt menschliche Regungen, Sehnsüchte und Hoffnungen, denen Franchetti in der vorgeschalteten lyrischen Soloszene (»Io t’amo… sapere non bramo«) einen adäquaten musikalischen Ausdruck zu geben verstand. Wenn Asrael dann endlich erscheint, verdichtet sich der musikalische Satz, als wollten sich nun tristanhafte Klangwellen im ekstatischen Rausch auftürmen. Die drängende Kantilene Asraels aus dem Finalensemble wird jetzt als ›Liebesmotiv‹ zum signifikanten melodischen Ereignis, eingebettet in einen orchestralen Satz, der tatsächlich Wagners Tristan-Welt abgehört und ausschnitthaft imitiert erscheint. Die liegenden, synkopisch-rhythmisierten Klangflächen der Streicher zu Lorettas Worten »Quando lo sguardo mio« sind gleichsam die italienische Vorankündigung von »O sink hernieder, Nacht der Liebe«. Denn erst im Juni 1888 konnte man in Bologna Tristan und Isolde erstmals südlich der Alpen hören – ein halbes Jahr nach Asrael.  Richard Erkens

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Franchettis „Asrael“/ Das Teatro Valli, 1895 das Teatro Municipale Reggio Emilia/ Wikipedia

Dazu noch ein Augenzeugenbericht eines Musikkritikers anlässlich der Premiere in Reggio Emilia: Ein großer Abend im Teatro Valli/ Reggio Emilia: Asrael, eine Oper von Baron Alberto Franchetti – Ein Bericht von Pio Benizzi, La grande serata di Asrael, aus „Interessi Locali“, Bologna, 20. Februar 1888. Pünktlich um 8 Uhr betritt Maestro Alberto Franchetti das Dirigentenpult und wird von einem allgemeinen, lang anhaltenden Applaus begrüßt. Dann herrscht eine tiefe, feierliche Stille, die die Bedeutung des bevorstehenden großen Ereignisses treffend wiedergibt. Das Vorspiel, das sorgfältig und exquisit ausgearbeitet ist und eine wunderbare Wirkung hat, deutet die beiden Hauptthemen der Oper an: das infernalische, das mit einer schrillen – wirklich infernalischen – Trompetenstimme verblüffend dargestellt wird, und das ätherische, das an die Szene im Paradies erinnert. Am Ende des Vorspiels bricht ein allgemeiner Beifall aus, der natürlich wiederum den Vorboten des großen, ohrenbetäubenden Beifalls darstellt, mit dem der neue Glanz der Oper gefeiert wird.

Das Urteil war feierlich, imposant, enthusiastisch, mit einstimmigem Votum und führte zu einer so glorreichen Bescheinigung der Verdienste, dass nicht nur der junge Maestro Franchetti, sondern auch jeder andere Maestro, selbst ein erfahrener und nicht neu in den glanzvollen Triumphen der Kunst, geehrt wurde. Asrael hat seinem Komponisten zweifellos einen hervorragenden Platz unter den erlesensten Kennern der musikalischen Oper gesichert; und diesen hervorragenden Platz – das möchten wir in hohem Maße bekräftigen – hat sich Baron Franchetti nicht mit den Millionen, deren glücklicher und immer noch beneideter Besitzer er ist, erobert, sondern durch eine nie laue Beständigkeit in Studium und Arbeit. Es ist bedauerlich, dass es nicht viele Menschen gibt, die sich, nachdem sie mit einem auffälligen Geburtsrecht und einem beträchtlichen Einkommen geboren wurden, mit einer solchen Liebe und Beharrlichkeit der Kultur der Wissenschaften und der Künste widmen, und aus diesem Grund ist der am Abend des 11. Februar 1888 für den jungen Baron Alberto Franchetti verhängte Triumph noch immer eine besondere Erwähnung wert, weil es weit über den Kreis dessen hinausgeht, was heute eine Sitte, ja die Bildung des Landes ausmacht – zumindest würde das edelste Beispiel Franchettis zahlreiche und wie er, würdige Nachahmer finden!

Franchettis „Asrael“/ Zeitschriften-Illustration der Schluss-Szene/ L´Opera italiana illustrata 1903/ Archiv Heinsen

Der Beginn des künstlerischen Lebens von Maestro Alberto Franchetti war triumphal, prächtig und schmeichelhaft. Aber die Kunst ist selbstsüchtig und ruht sich nicht auf den Verheißungen der Morgenröte aus, wie üppig sie auch sein mag, sie beansprucht für sich den ganzen Tag ihrer Verehrer und einen einzigartigen und triumphalen Arbeitstag. Baron Franchetti hat die Faser, den Einfallsreichtum, das Genie und das Studium, um die anspruchsvollen Hoffnungen der Kunst nicht zu enttäuschen, und Baron Franchetti lächelt strahlend auf die Zukunft des Künstlers. Und wie könnte Alberto Franchetti nicht über diese aufstrebende Zukunft eines Künstlers lächeln, wenn die Zukunft selbst von dem edlen Fräulein Margherita Levi geleitet wird, die mit den rosigen Knoten des Hymen im Begriff ist, ihre eigene mit ihrer Existenz zu identifizieren? Wir schmeicheln nicht, aber wir schreiben die Wahrheit, weil sie eine tief verwurzelte Überzeugung nahelegt. Haben Aristokratie, Geburt, Volkszählung, Tugend und Genie jemals zu einer glücklicheren und homogeneren Einheit verschmolzen, wie sie uns das höchst liebenswürdige und noble Paar Margherita Levi und Alberto Franchetti bietet?… Wir glauben nicht. Pio Benizzi/ Übersetzung DeepL Translate

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Richard Erkens Artikel ist ein Auszug aus seinem Beitrag im Bonner Programmheft  („Von der Hölle durch die Welt zum Himmel – Franchettis Gesellenstück ›de luxe‹ von 1888“), den wir mit großem Dank an den Autor übernahmen. Zum Autor: Richard Erkens studierte Theater-, Musik- und Literaturwissenschaft an der Universität Bayreuth, dann an der Freien Universität Berlin. Dort promovierte er 2010 mit einer Monografie über Alberto Franchetti: Werkstudien zur italienischen Oper der langen Jahrhundertwende. Bis 2015 war er Leitender Konzert- und Musikdramaturg sowie Stellvertreter der Operndirektion am Theater Lübeck. Danach wechselte er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter an die Musikgeschichtliche Abteilung des Deutschen Historischen Instituts in Rom, wo er u. a. Quellenstudien für sein Habilitationsprojekt über den Opern-Impresario im Italien des frühen 18. Jahrhunderts betrieb. Ab 2020 folgten weitere Stationen als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Musikwissenschaft und Medienwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin, eine zweisemestrige Vertretungsprofessor am Institut für Musikwissenschaft Weimar- Jena und aktuell ein Fritz-Thyssen-Stipendium am Deutschen Studienzentrum in Venedig. Als freier Kulturjournalist schrieb er Aufführungskritiken und führte Interviews für Fachmagazine. Das von ihm herausgegebene Puccini Handbuch (Stuttgart/ Kassel 2017) wurde in der Kritikerumfrage der Opernwelt als ≫Opernbuch des Jahres≪ ausgezeichnet. (Biographie Programmheft Bonn)

Der Artikel von Pio Benizzi stammt von der Website der Comune di Reggio Emilia Eventi a Reggio Emilia.

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge dieser Serie hier

Zigeunerliebe

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Ruggero Leoncavallos Pagliacci sind ein Repertoire-Hit, auch seine Bohème wird gelegentlich gespielt, kaum aber die Zingari. Im Rahmen ihrer Aktivitäten, unbekannte oder vergessene Opernwerke vorzustellen, hat die britische Firma Opera Rara dieses Dramma lirico Ende 2021 in Croydon aufgenommen und auf einer CD mit illustriertem Booklet veröffentlicht (ORC61). Das Stück in zwei Episoden, die durch ein Intermezzo verbunden sind, basiert auf einer Dichtung von Alexander Puschkin, die von Enrico Cavacchioli und Guglielmo Emanuel zum Libretto geformt wurde. 1912 fand die Uraufführung im Hippodrome von London statt, OR hat die Originalversion für die vorliegende Einspielung rekonstruiert.

Am Pult des Royal Philharmonic Orchestra steht der im italienischen Repertoire versierte Dirigent Carlo Rizzi, der in der kurzen Ouverture einen munteren, tänzerisch orientierten Ton anschlägt. Der Opera Rara Chorus (Eamonn Dougan) nimmt diese Stimmung mit lebhaftem Gesang auf. Dem Intermezzo gibt Rizzi zunächst eine elegische Tönung, lässt die Musik aber dann rauschhaft aufblühen. Die gespenstische Dramatik der Schlussszene mit der Brandstiftung malt er in grellen Farben aus.

Die Handlung bedient einen klassischen Dreieckskonflikt. Die junge Zigeunerin Fleana wird von dem Dichter Tamar geliebt, geht aber eine Beziehung mit einem Fremden, Radu, ein. Nach einem gemeinsamen Jahr ist ihre Liebe zu ihm abgekühlt, sie trifft sich mit Tamar in einer Hütte, die Radu in Brand steckt. Alle fordern seinen Tod, doch ein alter Zigeuner plädiert für dessen Freiheit angesichts seines verwirrten Geisteszustandes.

Die bulgarische Sopranistin Krassimira Stoyanova versucht sich mit der Fleana an einer Verismo-Partie – nach ihren Erfolgen im Belcanto-Repertoire sowie als Verdi- und Strauss-Interpretin ist das ein Schritt in ungewohntes Terrain. Im Liebesduett mit Radu in der ersten Episode weiß ihr Sopran mit visionären, blühenden Tönen zu betören und sich mit der schwelgerischen Stimme des Tenors zu rauschhaftem Gesang zu vereinen. Ihren Tanz vor dem Hochzeitsfest untermalt sie mit verführerischen Vokalisen. In der zweiten Episode quält sie Radu, zu dem die Liebe erloschen ist, mit höhnischem Gelächter und einem temperamentvollen Gesang, der ganz die Zigeunerin erkennen lässt. Insgesamt zeigt ihre Interpretation einen gelungenen Einstieg in dieses Genre.

Der armenische Tenor Arsen Soghomonyan machte in der letzten Saison in Baden-Baden als Herman in Pique Dame auf sich aufmerksam. Die heldische Stimme (vom Bariton zum Tenor gewechselt) von enormem Potential ist auch für den Radu eine stimmige Besetzung. Schon in der schwelgerischen Auftrittsarie „Principe! Radu io son“ prunkt er mit strömender Kantilene und glänzenden Spitzentönen. Seine Verzweiflung, Fleana verloren zu haben, äußert sich in erregtem, hektischem Gesang  und leidenschaftlichen Ausbrüchen, führt dann noch einmal in kantable Zonen. Der anschließende Monolog „Perduto! Tutto!“ erinnert in seiner Zerknirschtheit an den Otellos und der existentielle Schluss an die Tragik Canios.

Der amerikanische Bariton Stephen Gaertner ist ein viriler Tamar, der in seiner Auftrittsszene „Ah! taci! Non lo dir“ eine düstere Stimmung verbreitet, die an den Michele in Puccinis Il tabarro erinnert. Mit sehnsüchtiger Inbrunst besingt er in „Ah! Canto notturno“ seine Liebe zu Fleana. In der zweiten Episode hat sich diese erfüllt, wovon das schwärmerische Duett „Bella! Bella!“ kündet. Der polnische Bassbariton Lukasz Golinski komplettiert die Besetzung als Der alte Mann, der für einen starken Effekt in der dramatischen Schlussszene sorgt. Bernd Hoppe

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PS.: Man kann sich allerdings fragen, ob die Ausflüge von Opera Rara in Nicht-Belcanto-Gefilde zu begrüßen sind. Opera Rara verlässt ihr Kernrepertoire. Es war stets das Markenzeichen des englischen Labels, Seltenes aus eben diesem Feld zu entdecken – namentlich Donizett, Rossini et al. Die Firma begibt sich in Gefahr, ihr Image für eben dieses Repertoire zu verlieren, denn diese Ausweitung zum Allgemeinen auch auf dem Gebiet der Mitwirkenden scheint planlos  (oder anderen Interessen verpflichtet), nachdem Belcanto-Opern bei Opera Rara mit so etwas wie einer „Hausbesetzung“ erfolgreich eingespielt wurden .Schade eigentlich. G. H.

Italienische Hinterlassenschaften

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Bei Brilliant Classics gibt es eine neue CD mit vier relativ unbekannten Kantaten aus Händels früher Schaffenszeit in Italien. Die Thematik dieser sogenannten, auf italienische Libretti geschriebenen Rom-Kantaten ist zumeist feierlich, pastoral oder amourös; sie sind häufig für ein, zwei oder drei Stimmen mit Instrumentalbegleitung besetzt. Für die Einspielung dieser vier Kantaten stand das erfolgreiche, seit 2000 bestehende, auf italienische Musik des 17.und 18. Jahrunderts spezialisierte Gesangs- und Instrumental-Ensemble Fantazyas unter der stringenten Leitung seines Gründers Roberto Balconi zur Verfügung.

Den Auftakt bildet die recht kurze Jagd-Kantate Diana Cacciatrice (HWV 79) für Sopran, Echo-Sopran, Trompete, 2 Violinen und B.c.  Das Besondere dieses kleinen Werkes ist eine Arie mit Echo-Sopran und Trompetensolo. Mit letzterem geht es auch zu Beginn im Marsch frisch auf zur Jagd. Carlotta Colombo stellt die Kantate mit lockerem, klarem Sopran vor. In der ersten Arie Foriera la tromba wird nur die Solo-Trompete auch als Echo eingesetzt, wobei Gabriele Cassone mit eleganter Tongebung seiner Barock-Trompete und kaskadenartigen Läufen brilliert.  Erst bei der Arie Alla caccia, alla caccia gesellt sich klanglich passend Maria Dalia Albertini als Sopran-Echo dazu.

Die Kantate für Sopran, zwei Violinen und B.c. Alpestre Monte (HWV 81) dagegen ist eine grausame Geschichte von Verrat und Selbstmord. Da hat Carlotta Colombo Gelegenheit zu zeigen, dass sie auch dramatische Aufschwünge, verbunden mit melancholischem Schmelz, beherrscht. Große Intervallsprünge gelingen ihr ebenso leicht wie kleine Schnörkel und Verzierungen, die im Barock-Gesang unerlässlich sind.

Das wohl bekannteste Werk dieser Aufnahme ist Tu fedel? Tu costante? (HWV 171) für Sopran, zwei Violinen und B.c., in der die Treue wieder einmal zum Thema gemacht wird. Da kommen vor allem blitzsaubere, brillante Koloraturen Carlotta Colombos zum Tragen, die sie in eine Reihe mit Emma Kirkby stellen.

Die Serenade genannte Kantate für 2 Soprane, Alt, 2 Solo-Violinen und B.c. Olinto pastore arcade alle glorie del Tebro (HWV 143) ist das längste Werk dieser CD. Die drei Solosänger stellen eine allegorische Diskussion dar zwischen dem Hirten Olinto (Carlotta Colombo), dem Fluss Tiber (Marta Fumagalli) und der Verkörperung des Ruhmes (Maria Dalia Albertini); dabei geht es darum, dass der bescheidene Hirte (eine versteckte Anspielung auf Händels damaligen Gönner) Rom wieder zu alter Größe führen wird. Hier wechseln sich viele kurze Rezitative – einzeln oder im Zwiegespräch – mit ebenfalls kurzen Arien ab (die längste dauert 4’16 Min.), die den einzelnen Sängerinnen dennoch genügend Raum zur Entfaltung ihrer Stimmen geben. Da ist Carlotta Colombo besonders effektvoll in der kriegerischen, mit schwierigen Koloraturen gespickten Bravour-Arie Alle voci del bronzo guerriero, punktet aber auch mit weichen Bindungen in Oh! Come chiare e belle. Marta Fumagalli führt ihren fülligen Alt im piano besonders schlank und erfreut mit der koloraturreichen, vorwärtsdrängenden Wiedergabe von Io torno a sperare sowie mit entschiedener Dramatik in Piu non spero di lauro guerriero. Der etwas lyrischere Sopran von Maria Dalia Albertini fügt sich gut zu den beiden anderen Stimmen: Mit den ruhig und klangvoll ausgesungenen Verzierungen in Caro Tebro, amico fiume überzeugt sie ebenso wie mit der flotten Arie Tornami a vagheggiar. Alle drei verbinden sich in einem Art „statement“ als kurzes Fazit des Ganzen mit Viva un astro si bello.

Das Instrumentalensemble mit allen Solo-Instrumentalisten unterstützte die Sängerinnen durchweg aufs Beste, so dass es eine Freude ist, diese CD zu hören, wobei die Leistung des alle inspirierenden Dirigenten Roberto Balconi dazu entscheidend beiträgt (BRILLIANT CLASSICS 96478). Marion Eckels

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Während seines Aufenthaltes in Italien (ca. 1706–1710) schrieb Georg Friedrich Händel (1685-1759) mehr als 80 Kantaten, zwei davon sind auf der vorliegenden CD zu hören. Trotz Händels Berühmtheit gibt es wenige Aufnahmen der Kantaten, die meisten davon sind schwer zu finden. Diese Einspielung macht die frühen Werke leicht zugänglich und ist somit eine Referenz, wenn auch nur standardmäßig.

Der dramatische Monolog, Armida abbandonata, (HWV 105; 1707), der Armidas Kummer darstellt, nachdem Rinaldo sie verlassen hat, ist ein interessanter Kontrast zu der Geschichte ihrer unmöglichen Liebe in Händels Oper Rinaldo (1711). Das Epos La Gerusalemme liberata (1575) von Torquato Tasso ist die Quelle dieses Themas, das häufig im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts von Komponisten wie Jean-Baptiste Lully und Christoph Willibald Gluck vertont wurde.

Händels Kantate für Solosopran schildert Armidas wechselnde Gefühle, als sie über ihren verlorenen Geliebten nachdenkt: Wut, Sehnsucht, Liebe und Verzweiflung. Armida wurde von Kathryn Lewek mit ausreichender Expressivität und technische Kompetenz gesungen. Ein größerer Kontrast zwischen Armidas emotionalen Zuständen würde diese Aufnahme überzeugender machen.

Der unbekannte Librettist erzählt die Geschichte Apollo e Dafne, HWV 122 (1709-1710), ursprünglich aus Ovids Metamorphosen (8 n. Chr.), auf ungewöhnliche Weise. Diese zweistimmige Kantate thematisiert die erbärmlichen Versuche des Gottes, die Nymphe zu verführen, während Amor, der Auslöser für Apollos leidenschaftliches Verlangen, von der Handlung ausgeschlossen ist. Apollos Enttäuschung steht im Mittelpunkt: Ein Gott kann von einer sterblichen Frau nicht bekommen, was er will, weil ihre Keuschheit durch die Verwandlung in einen Baum geschützt wird.

Durch ihre bewundernswerten Darstellungen verleihen John Chest (Apollo) und Kathryn Lewek (Daphne) ihren Figuren Lebendigkeit. Da diese Aufnahme im Januar 2020 in Lonigo (Italien) entstand wäre es wünschenswert gewesen, zwei Muttersprachler für diese Rollen zu engagieren, um den Text den zusätzlichen Hauch von Flüssigkeit zu verleihen.

Il pomo d’oro spielt tadellos mit Klarheit, Lebendigkeit und schnellen aber keineswegs gehetzten Tempi. Das kleine Ensemble vermittelt instrumentale Farbigkeit und Abwechslung, sodass weder Monotonie noch Trockenheit aufkommen. Francesco Corti dirigiert vom Cembalo mit Intelligenz und Urteilsvermögen für Tempi, Pausen und Dynamik, und es gelingt ihm eine dramatische Spannung zu erzeugen.

Die Verpackung ist adäquat: ein zweiteiliges Digipak mit einem 27-seitigen Begleitheft auf der rechten Innenseite eingeklebt sowie der CD auf der linken Seite. Das Heft umfasst das italienische Libretto mit englischer Übersetzung und einen ausführlichen Aufsatz von Suzanne Aspden ausschließlich auf Englisch. Der Einführungstext erklärt die thematischen Beziehungen zwischen der Ouvertüre B-Dur, HWV 336 und den Auszügen aus der Almira-Suite, HWV 1. Wäre die ganze Suite aufgenommen worden, dann gäbe es noch mehr Gründe, diese Veröffentlichung zu loben (Georg Friedrich Händel Armida abbandonata und Apollo e Dafne mit Kathryn Lewek, John Chest, Il pomo d’oro, Francesco Corti; Pentatone PTC 5186 965). Daniel Floyd

Vokale Opulenz

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In Christof Loys erfolgreicher Inszenierung von Riccardo Zandonais Francesa da Rimini an der Deutschen Oper Berlin war Jonathan Tetelmans als Paolo ein Mann wie aus dem Bilderbuch. Schon bei der ersten Begegnung war Francesca seiner Schönheit und sinnlichen Ausstrahlung verfallen. Zur Erscheinung korrespondierte der baritonal getönte, virile Tenor mit potenten Spitzentönen. Aus gutem Grund hat die DG den chilenischen Sänger exklusiv verpflichtet und mit ihm nun das erste Recital veröffentlicht (aufgenommen Ende 2021 in Las Palmas). Es trägt schlicht den Titel „Arias“ und offeriert bekannte Hits neben einigen Raritäten (002894862927). Erwartungsgemäß finden sich im Programm auch zwei Ausschnitte aus Zandonais Oper – die Szenen Francesca/Paolo aus dem 3. Akt „Paolo, datemi  pace“ und „Perchè volete voi“. Die Sopranistin Vida Mikneviciuté ist dem Tenor eine inspirierende Partnerin mit flirrender Stimme, die den Rausch des Schlussduettes mit ihm bis zur Neige auskostet. Tetelman kann den starken Eindruck seines Live-Auftrittes hier wiederholen und mit sinnlicher Pracht seiner Stimme prunken sowie mit spannender Gestaltung imponieren.

Eingeleitet wird die CD mit Enzos „Cielo e mar“ aus Ponchiellis La Gioconda – schon beim ersten Ton ist man gefangen von der puren Schönheit des Klanges von Tetelmans Stimme. Sie vereint maskuline Potenz mit lyrischer Empfindsamkeit, was weiche Bögen und träumerische piani bezeugen.

Das Verismo-Repertoire ist die Spezialität des Tenors, was auch der nächste Titel, Loris’ „Amor ti vieta“ aus Giordanas Fedora, bestätigt. Schwelgerisch vom Orchester eingeleitet, nimmt der Sänger diese Vorgabe auf und lässt die Stimme in breitem Fluss strömen. Später folgen noch Maurizios „La dolcissima effigie“ aus Cileas Adriana Lecouvreur, das er wunderbar schwärmerisch beginnt und mit betörender dolcezza beendet,„Come un bel dì di maggio“ aus Giordanos Andrea Chénier in visionärer Trunkenheit und Turiddus fiebrig bebendes „Mamma, quel vino è generoso“ aus Mascagnis Cavalleria rusticana.

Mit drei Titeln ist Verdi der am häufigsten vertretene Komponist. Aus seinem Frühwerk I due Foscari erklingt die Arie des Jacopo, „Non maledirmi“. Sie ist von erregtem Duktus, was der Sänger in seiner dramatischen Interpretation übernimmt. Die große Szene des Alvaro, „La vita è inferno“/“O tu che in seno agli angeli“, aus La forza del destino demonstriert Tetelmans dramatisches Potential auf dem Wege zu Otello, Manricos Arie „Ah! Sì ben mio“ und die Stretta „Di quella pira“ aus dem Trovatore seine belkantistischen Fähigkeiten. Die Verve der Stretta ist überwältigend, nicht weniger überrumpelnd sind die Spitzentöne, mit denen er seine Interpretation krönt. Wo Verdi ist, darf Puccini nicht fehlen, der hier mit Pinkertons „Addio, fiortito asil“ aus Madama Butterfly vertreten ist. Es ist eine Nummer, in welcher der Tenor seine Stimme generös strömen lassen kann. Zwei französische Beiträge ergänzen das Programm – Josés berühmte Blumenarie aus Bizets Carmen und Werthers „Pourquoi me réveiller“ aus Massenets gleichnamiger Oper. Beide stattet er mit reichen lyrischen Valeurs aus. Bleibt Lionellos (Lyonels) „M’apparì tutt’amor“ aus Flotows Martha, welches den Fremdkörper der Anthologie darstellt, denn dafür fehlen dem Sänger Schmelz und Süße. Offenbar wollte er die Nummer ins Programm aufnehmen, weil sie von den berühmtesten Tenören bis hin zu Caruso interpretiert wurde. In seiner Interpretation wirkt sie zu dramatisch und in der Schlussphase forciert. Aber das ist ein marginaler Einwand angesichts von Tetelmans überwältigendem Material und seines gestalterischen Vermögens. Schon jetzt ist man gespannt auf die nächsten Zeugnisse seiner Kunst.

Das Orquesta Filarmónica de Gran Canaria leitet Karel Mark Chichon, der die fiebrig-nervöse Musik Zandonais, aber auch das Schillern Puccinis und Schwelgen Verdis effektvoll ausbreitet. Bernd Hoppe

Mitreissend

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Trotz der heftigsten Corona-Turbulenzen nie aus der Ruhe und von der Gestaltung eines anspruchsvollen Programms abbringen ließ sich das alljährlich im Herbst stattfindende Donizetti-Festival der oberitalienischen Stadt Bergamo, und das Genueser Label Dynamic wird nicht müde, die  Produktionen auf CD und als Video auf den Markt zu bringen. Zu ihnen gehört auch die Claudio Toscani zu verdankene neue kritische Edition von La Fille du Régiment, für Paris als opéra comique mit gesprochenen Rezitativen komponiert und den Zuschauer mit einigen Überraschungen, so einer hochvirtuosen Kadenz von Tonios Arie im zweiten Akt, konfrontierend. Diese war vom Komponisten kurz nach der Uraufführung, wohl wegen der unzulänglichen Gestaltung durch den damaligen Tenor, gestrichen worden.

Befremdlich wirkt auf den Tiroler Berge erwartenden Zuschauer erst einmal das mittelamerikanischen Einfluss suggerierende Bühnenbild von Angelo Sala, ebenso die Kostüme von Maykel Martinez in grellen Farben, beides der Tatsache zu verdanken, dass es sich um eine kubanisch(!)-italienische Gemeinschaftsproduktion handelt, die auch am Teatro Lirico Nacional de Cuba gezeigt wurde, ehe sie im November 2021 nach Bergamo kam. Es geht also nicht mehr um den Kampf des napoleonischen Heeres gegen Tiroler Bauern und Adel, sondern um den kubanischer Revolutionäre gegen die einheimische Oberschicht und deren Verbindung zu nordamerikanischen Geldgebern. So sind Soldaten und Volk nicht nur bunt gekleidet, sondern schwingen außer Harken oder Gewehr auch den Pinsel, um großflächige Gemälde à la Raul Martinez aus dem Volksleben zur Vollendung zu bringen, während die Oberschicht schwarz-weiß gewandet ist, die Kostüme reichlich mit stars and stripes wie auch Dollarzeichen versehen sind, um die Abhängigkeit von der US-Währung zu dokumentieren. Das alles verrät allerdings eine leichte, nie grobklotzig daherkommende Hand, so dass man sich als Zuschauer nie unangenehm berührt oder gar indoktriniert fühlt. Auch der zusätzliche Einsatz einer Trommel (Ernesto López Maturell) fügt sich sich gut ins Gesamtkonzept ein, und wenn am Ende nicht nur Marie und Tonio miteinander vereint werden, sondern auch la Marquise mit Sulpice klammheimlich in einen versteckten Winkel verschwindet, ist der Beweis erbracht, dass die sozialen Klassen zumindest in der Oper nicht unversöhnlich einander nach dem Leben trachten müssen, sondern eine vielleicht sogar fruchtbare Verbindung miteinander eingehen können. Irgendwie nimmt das Stück offenbachische Züge an, was sich ein wenig auch auf die musikalische Gestaltung überträgt, hat doch Dirigent Michele Spotti unmittelbar vor der Aufgabe in Bergamo dessen Musik dirigiert, und bereits die Sinfonia sprüht Esprit, Temperament und Präzision, dass das Publikum aus dem Häuschen gerät.

Vorzüglich ist die Sängerbesetzung, bei der man natürlich zuerst auf die Besetzung der Tenorpartie schaut, die den bestens aus Pesaro bekannten, aber auch sonst überall, wo Belcanto gefragt ist, hochwillkommenen amerikanischen Tenor John Osborn ausweist. Nicht nur die Spitzentöne sind tadellos, er versieht zudem die Wiederholung mit raffinierten Verzierungen und lässt sich tatsächlich, nachdem das lautstark danach geäußerte Verlangen des Publikums kein Ende nehmen wollte, auch noch zu einem Bis verleiten. Auf die Gestaltung seiner zweiten Arie mit der bereits erwähnten Kadenz hat das zum Glück keine negativen Auswirkungen, und nicht nur die wahrlich stupende Höhe, sondern auch eine farbige Mittellage und eine ungemein geschmeidige Stimmführung erfreuen neben einem burschikosen, der Partie angemessenen optischen Eindruck den Zuschauer. Entzücken ruft auch der Auftritt der farbigen Altistin Adriana Bignagni Lesca mit dem von Bizet für Carmens Habanera benutzten Musikstück von Sebastián de Yradier hervor, in dem sie satte Farben leuchten und erglühen lässt. Charmant in jeder Hinsicht ist Sara Blanch als Marie mit frischem, präzise geführtem, koloratursicherem und auch vokalen Kraftausbrüchen gewachsenem Sopran. Nicht zurückstehen will Paolo Bordogna als Suplice mit manchmal zu präpotent eingesetztem Bariton. Den Coro dell‘ Accademia Teatro alla Scala würde man eher in Asien als in Kuba vermuten, aber vokal macht er seine Sache vorzüglich. Die Optik der vom Publikum zu Recht begeistert aufgenommenen Produktion ist Luis Ernesto Donas zu verdanken, der beweist, dass man eine Opernhandlung zeitlich wie  geographisch verlegen kann, ohne dem Stück Gewalt anzutun und die Zuschauer zu verärgern.

Zu DVD wie CD gehört ein informationsreiches Booklet mit der Wiedergabe eines Gesprächs, an dem Regisseur und Dirigent teilnahmen (DVD Dynamic 37943/ CD S7943). Ingrid Wanja  

Zum 300. Geburtstag

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Seit dem Jahre 1975 erfreut das nunmehr 48. Festival della Valle d’Itria Martina Franca im tiefen Apulien, mitbegründet und lange Jahre lang betreut vom Opernpapst Rodolfo Celletti,  das Publikum mit Ausgrabungen von Opernschätzen, so trotz Corona auch im Jahre 2021 mit Alessandro Scarlattis Oper La Griselda, opernhistorisch bemerkenswert durch den Verzicht auf zu des Komponisten Zeit übliches komisches Personal und durch das ungewohnt häufige Vorkommen von Duetten und Terzetten neben den allgemein üblichen Arien. Bisher zugänglich war dem Opernfreund eine Aufnahme des Werks mit René Jacobs, seltsam mutet heutzutage in Zeiten historischer Aufführungspraxis die in Starbesetzung unter anderem mit Mirella Freni und Veriano Lucchetti an.

Das Thema ist das der unbeirrbaren, alle Prüfungen mit Bravour bestehenden Gattinnenliebe, hier herausgefordert nicht durch den Ehepartner, sondern durch das Volk, dass es nicht hinnehmen will, dass sein König sich als Gefährtin eine einfache Hirtin wählte. Die Verbannung in die Wüstenei, die Bereitschaft, der eigenen Tochter, die die neue Gemahlin des Königs werden soll, demütig zu dienen, alles wird ertragen, erst als Griselda die Ehe brechen, sich anderweitig vermählen soll, wählt sie lieber den Tod und beweist damit auch dem Volk, dass sie würdig ist, Königin von Sizilien zu sein.

Die Aufführung fand im Hof des Palazzo Ducale der Barockstadt Martina Franca, statt, benachbart übrigens Alberobello, der Stadt der Trulli, und somit auch touristisch höchst attraktiv. Die Inszenierung von Rosetta Cucchi in den Bühnenbildern von Tiziano Santi ist moderat „modern“, stark stilisierend und trägt auf phantasievolle Weise der Tatsache Rechnung, dass man nur wenige technische Mittel zur Verfügung hat, auch stets damit rechnen muss, dass der Strom wegen Überlastung des Netzes ausfällt. So steht ein romantisches Segelschiff neben einem profanen Fluchtkoffer, trägt der König zum Businessanzug Krone (Kostüme Claudia Pernigotti) , wankt ein Priester genau so unmotiviert über die Bühne wie ein Fotograf. Echter Sand und echtes Wasser sprechen von Naturalismus, in Plastikfolie verpackte Mädchen von Stilisierung, ein Schuss Dekadenz lässt alles noch reizvoller erscheinen.

Immer wieder erstaunenswert ist, wie des dem Festival gelingt, für wenige Aufführungen unbekannte Opern außergewöhnlich gute Sänger zu verpflichten, worüber man sich auch bei dieser Aufnahme freuen kann. Raffaele Pe ist ein bemerkenswert guter Countertenor mit tragfähigem Piano, strahlender Höhe und dazu noch ein guter Schauspieler im Hin- und Hergerissensein des Königs Gualtiero zwischen Gattenliebe und den Verpflichtungen, die ihm sein Amt auferlegt. Prominent besetzt ist die Titelpartie mit Carmela Remigio, die hoch virtuos ihr „Di che sogno“ singt, sich schattierungsreich zwischen echtem Gefühl und Stilisierung in „Se il mio dolor“ bewegt und die sich dazu noch sehr gut zu bewegen weiß. Mit rundem, warmem Mezzosopran und koloraturgewandt singt Francesca Ascioti den von der Liebe zu Griselda besessenen Ottone und macht eine hochinteressante Figur aus ihm. Ein idealer Cherubino mit reichem Mezzosopran könnte Miriam Albano sein, die als Roberto auch mit ihrer leidenschaftlichen Darstellung bezaubert. Etwas weniger gefallen, weil manchmal sehr spitz und in der Höhe flach klingend, kann Mariam Battistelli als Costanza mit allerdings bezaubernder Optik. Zunächst nur Stichwortgeber, dann aber auch mit zwei Arien bedacht, ist Krystian Adam das dunkle Element in der Aufführung. In früheren Jahren waren Chöre und Orchester aus Osteuropa gern gesehene Teilnehmer am Festival. Nun sind sie wohl auch mittlerweile zu teuer geworden, so dass mit La Lira di Orfeo unter George Petrou und dem Coro Ghislieri unter Giulio Prandi einheimische Kräfte  zum Einsatz kommen und 300 Jahre nach seiner Erstaufführung einem bemerkenswerten Werk zum Erfolg verhelfen. Nicht verschwiegen werden soll, dass Raffaele Pe und La Lira di Orfeo durch viele Einspielungen von Barockmusik miteinander verbunden sind. (Blu-ray Dynamic 57935). Ingrid Wanja

Zufriedenstellend

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Wer Ende der Siebziger und Anfang der Achtziger das große Glück hatte, Cileas Adriana Lecouvreur mit Raina Kabaivanska und in der Regie von Mauro Bolognini zu erleben, der hat seit Jahrzehnten das Pech, dass ihm keine Aufführung des Werks mehr so recht gefallen kann. Zwischen Triest (allerdings in anderer Besetzung) und Palermo, zwischen 1979 in Verona und 1985 in Modena konnte man im Sterbezimmer der Adriana sanft die Gardinen wehen, den vergifteten Veilchenstrauß im Kamin verglühen sehen, eine Adriana erleben, die tatsächlich von raffinatissima semplicità wie semplicissima raffinatezza und einfach in Gesang wie Darstellung die vollkommene Verkörperung der unglücklichen Attrice war.

Tempi passati. Inzwischen haben sich viele andere Sängerinnen der dankbaren Partie angenommen, und keine der schlechteren ist Maria José Siri aus Uruguay, die 2021 beim Maggio Musicale Fiorentino in der Regie von Frederic Wake-Walker dem Publikum nach langer Corona-Abstinenz endlich wieder zu Life-Theater-Genuss verhelfen konnte.

Natürlich kann es sich nicht einmal in Italien ein Regisseur erlauben, ein Werk librettogetreu auf die Bühne zu bringen, und so spielt diese Adriana, die Kostüme (Julia Katharina Berndt) bezeugen es, in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts, wobei verwundert, dass Moliere im Publikum sitzen soll, ein Aufenthalt in der längst geschliffenen Bastille befürchtet wird und zwei immerhin historische Persönlichkeiten wie Moritz von Sachsen und die Titelfigur flugs ein Jahrhundert übersprungen haben. Anstelle der vier unterschiedlichen Schauplätze (Bühne Polina Liefers) gibt es nur einen einzigen, den des ersten Akts hinter der Bühne, was zu allerlei Lächerlichkeiten besonders im zweiten Akt, führt, wenn die beiden Damen einander umschleichen,  und wenn die arme Adriana im vierten Akt nicht auf bequemem Diwan ihr Leben aushauchen kann. Stattdessen geht sie einfach nach hinten ab, während Michonnet und Maurizio sich in eine andere Richtung verabschieden. Dazu vollführt im Hintergrund ein Pierrot allerlei Armbewegungen à la sterbender Schwan. Die vom Libretto abweichenden Regieeinfälle führen also in keinem Fall zu einer größeren Überzeugungskraft, zu mehr Intensität, sind aber zum Glück so dezent, dass sie nicht besonders stören, das Stück nicht entstellen.

Maria José Siri ist eine attraktive Adriana mit dunkel getöntem Sopran, dessen Vibrato selten zu heftig wird, der farbigen Mittellage steht eine sichere Höhe gegenüber, der man nur ab und zu ein geschmeidigeres Aufblühen wünscht. Die heiklen Prosatexte meistert sie gut, so dass es nicht zu Peinlichkeiten kommt. Leider ist auch sie zu sinnlos erscheinendem Armeschwenken ohne Ende verdammt, insgesamt ist sie weit mehr schlicht liebende Frau als gefeierte Diva. Nach den eigentlich vorgesehenen Jekaterina Gubanowa und  danach Anita Rachvelishvili war Ksenia Dudnikova die dritte Principessa mit sehr schönem, vollmundigem, nur in der Höhe leicht scharfem Material. Recht eigenartig gewandet war Martin Mühle als Maurizio mit Uniformhose zum Zivilmantel. Sein sehr präsenter, wenn auch oft steif und trocken klingender Tenor bevorzugte das Dauerforte, seine Schlachtenschilderung klang weit überzeugender als sein „L’anima ho stanca“, wo es keine Spur von Pianissimo, weder ein Diminuendo noch ein Crescendo, sondern nur ein Einheitsforte gab. Sehr viel machte Nicola Alaimo aus der Partie des Michonnet durch den Einsatz eines so geschmeidigen wie farbigen Baritons, der ihn trotz ungünstiger Optik weit liebenswerter erscheinen ließ als den Tenorrivalen.  Als Witzfiguren sah die Regie den Fürsten und den Abbate, beide auch stimmlich nicht an Comprimari früherer Zeiten, man denke nur an Piero de Palma,  heranreichend. Sehr hübsch und vokal ansprechend waren die beiden „Kolleginnen“ der Adriana mit Chiara Mogini (Jouvenot) und Valentina Corò (Dangeville), rollendeckend Davide Piva (Quinault) und Antonio Garrés (Poisson). Daniel Harding am Dirigentenpult setzte mehr auf  Transparenz und Eleganz als auf üppige Überwältigung und damit auf eine schlüssige Lesart, mit der auch die Sänger zufrieden sein konnten. Und wer die RAI-Aufnahme von 1979 aus Verona nicht besitzt, wird es auch als Zuschauer mit dieser Aufnahme sein (Naxos  NBDO153V). Ingrid Wanja  

Glanzvoll nach Corona

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Schlimmes erdulden müssen die Opern von Mozart und Verdi und vieler anderer Komponisten durch die moderne Regie, weitgehend verschont davon bleiben die Werke von Leoš Janáček, denen allerhöchstens die Verwurzelung in einer Landschaft, in einem Milieu abhanden kommt, deren Grundkonflikt und Personal hingegen intakt bleiben. Das mag daran liegen, dass hochtrabende Ideale wie la patria, l’onore, l’amor eterno sowieso bereits im Libretto außen vor bleiben, das Personal sich weder in göttlichem noch aristokratischem Milieu bewegt und ein end, wenn nicht mit dem Tode der Hauptpersonen verbunden, doch nie so richtig happy ist. Janaceks Jenufa liefert den Beweis dafür, wenn ihr zwar oft die farbigen volkstümlichen Trachten, nicht aber die Integrität ihres Charakters, der der Küsterin und die aus einem gesellschaftlichen Konflikt erwachsende Tragik genommen wird. So auch geschehen in der Inszenierung von Claus Guth für Covent Garden, deren erster Akt in einer Anstalt, in der die Frauen vor ihren Betten sitzend Kartoffeln schälen, im Hintergrund Männer die Pissoirs benutzen, spielt, der zweite in einem riesigen Käfig und der dritte schließlich in einem Riesenraum, dessen Fußboden mit gelben Blüten bedeckt ist (Bühne Michael Levine). Ganz in Schwarz gekleidet ist auch die an sich feierbereite Gesellschaft im ersten Akt, dafür im letzten in übermäßig farbige, fröhliche Kostüme, die den Kontrast zu der furchtbaren Entdeckung im schmelzenden Eis umso stärker werden lässt (Kostüme Gesine Völlm), die quasi obszön wirken. Bedrohlich wirken im zweiten Akt nicht nur die den Käfig umgebenden Frauen, sondern zusätzlich die eine unter ihnen, die sich als Krähe entpuppt. Mit Beginn jeden Akts muss erst ein Vorhang aus schwarz-weißen Lamellen emporgezogen werden, um den Blick auf das Geschehen frei zu geben, wodurch eine zusätzliche Distanz zwischen Bühnenpersonal und Publikum konstruiert wird. Den Eindruck von auswegloser Düsternis verstärkt noch die Tatsache, dass sich die Massen wie unter einem Zwang stehend bewegen, dass Jenufa wie besessen in der am Bühnenrand aufgeschütteten Erde wühlt. Ob es  dem frischvermählten Paar gelingen wird, sich eine gemeinsame Zukunft aufzubauen, bleibt offen und lässt den Zuschauer nachdenklich zurückbleiben.

Für die beiden weiblichen Hauptrollen, und es gibt nur solche, standen zwei wunderbare Singschauspielerinnen zur Verfügung. Asmik Grigorian ist eine schöne, stolze Jenufa, die alle Gefühlsregungen, mit denen das Stück sie so reich ausgestattet hat, in Darstellung wie Gesang an das Publikum vermitteln kann. Der flexible, klare Sopran überstrahlt die Ensembles und kennt keine Ermüdungserscheinungen. Jahre lang am gleichen Haus ebenfalls eine sehr gute Jenufa war Karita Mattila, die nun als Küsterin wunderschöne Klagelaute, viel vokale Überredungskunst und so eindrucksvolle wie kontrollierte Ausbrüche der Verzweiflung hören lässt. Ein mondänes Äußeres wie bemerkenswerte Stimmreste offeriert die ewige, aber immer charaktervolle Comprimaria Elena Zilio als Großmutter. Kontrastreich in Optik und Stimme sind die Enkel Laca und Steva, der eine, Nicky Spence,  blond, rundlich und mit einem schönen Zwischenfachtenor dem Schöngesang huldigend, der andere, Saimir Pirgu, als Latin Lover auf denselben verzichtend, obwohl er eigentlich im italienischen Fach zu Hause ist. Der bildungswillige Jana ist hier ein Mädchen und wird als solches von Yaritza Veliz mit frischer junger Stimme gesungen, ganz wie in weiteren kleinen Rollen Jacqueline Stucker als Karolka, April Koyejo-Audiger als Barena und Renata Skarelyte als Tetka. Ob der als Principal Guest Concert Master aufgeführte Vasko Vassilev für einen authentischen „slawischen“ Klang sorgen sollte, lässt sich nicht erschließen. Ursprünglich war für die für März 2020 vorgesehene Premiere Vladimir Jurowski , inzwischen in München tätig, engagiert gewesen. Nun konnte man feststellen, dass Hendrik Nanasi durchaus die Partitur zum Leuchten bringen konnte, gleichzeitig den Sängern ein rücksichtsvoller Begleiter war. Der Jubel des Publikums war grenzenlos (Opus Arte BD7302D). Ingrid Wanja                  

Zigeunerlieder

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In Zeiten, wo „Zigeuner“ ein Unwort ist, wagt das wenig bekannte Label AVIE die Veröffentlichung eines Recitals mit dem Titel „La Zingarella“ (ital.: die Zigeunerin). Solistin ist die Sopranistin Isabel Bayrakdarian, deren Wurzeln im Libanon und in Armenien zu finden sind. Man erinnert ihr denkwürdiges Album „Cleopatra“ mit barocken Arien rund um die ägyptische Königin.

Auch bei ihrer neuen CD ist die dramaturgische Konzeption vorbildlich, denn die Anthologie umfasst Lieder und Liedzyklen sowie Arien aus Opern und Operetten. Sie beweist die Fülle und Vielfalt der Werke, in denen sich eine Zigeuner-Thematik findet. Und wenn beispielsweise das Staatsballett Berlin in seiner Produktion des Don Quichotte die im 2. Akt auftretenden Zigeuner in „Gitanos“ umbenennt, ist das einfach nur lächerlich, weil das Wort im Spanischen nichts anderes bedeutet als eben „Zigeuner“. Auch deshalb ist die Veröffentlichung der CD verdienstvoll und kann nicht hoch genug gelobt werden (AV2506). Streitbar sind allerdings die von Peter Tiefenbach und John Creer erstellten Arrangements für Geige (Mark Fewer), Viola (Juan-Miguel Hernandez) und ein Klavier-Trio (Annalee Patipatanakoon/Violine, Roman Borys/Cello, Jamie Parker/Klavier), die den Titeln ein ganz neues Gewand verleihen, das freilich zuweilen in die Nähe von Kaffeehausmusik rückt.

Der Einstieg in das Programm mit deutschsprachigen Liedern ist nicht glücklich, denn für Liszts „Die drei Zigeuner“ und Brahms’ „Zigeunerlieder“ fehlt es der Interpretin an idiomatischem Einfühlungsvermögen. Die verwaschene Artikulation macht die Texte nahezu unverständlich. Und der Brahms-Zyklus liegt einem Mezzosopran ohnehin besser in der Kehle. Es lag nahe, danach Dvoráks Zyklus „Cigánske melodie“ (Zigeunermelodien) folgen zu lassen, der einen günstigeren Eindruck hinterlässt. Inwieweit der tschechische Text authentisch wiedergegeben ist, kann man freilich nicht einschätzen. Mit drei canciónes von Sebastián Iradier (1809 -1865) stellt die Sängerin einen heute nahezu vergessenen Tonsetzer vor. Zuerst erklingt das übermütige „Juanita“ mit ausgelassenen Koloraturen am Ende. Das zweite ist eine Serenata andaluza, welche die Schönheit einer Zigeunerin besingt, das letzte ein Canción habanera, welches das Thema von Carmens berühmter Habanera, „L’amour est un oiseau rebelle“; aus Bizets Oper vorwegnimmt. Da verwundert es nicht, dass diese danach folgt. Der chansonhaften Interpretation kommt die kammermusikalische Begleitung entgegen. Das nächste Lied, die Zambra gitana „Clavelitos“ von Valverde, liegt in legendären Interpretationen von spanischen Diven vor: Victoria de los Angeles, Montserrat Caballé, Teresa Berganza. Gegen diese historische Übermacht behauptet sich Bayrakdarian achtbar.

Von Henry F.B. Gilbert sind 2 South American Gypsy Songs zu hören. Sie wurden in spanischer Sprache komponiert und atmen durch und durch mediterranes Flair, was die Sängerin mit ihrer Sinnlichkeit bestens bedient.

Der Titel des Albums ist dem gleichnamigen Air d’entrée aus der Operette Chanson gitane von Maurice Yvain entnommen. In diesem Titel in französischer Sprache schwelgt die Sängerin in Wohlklang und Temperament. Drei deutschsprachige Operettenmelodien beenden das Programm. Aus Lehárs Zigeunerliebe erklingen Zorikas Lied „Hör ich Cymbalklänge“ und der Csárdás. Sie gehören in ihrer überschäumenden Verve insgesamt zu den besten Titeln der Platte. Es folgt die Arie der Sylva „Heia, heia, in den Bergen“ aus Kálmáns Die Csárdásfürstin, der man ähnliche Qualitäten bescheinigen kann. Der Gipsy Love Song aus Herberts The Fortune Teller ist ein melancholischer Ausklang des Programms. Bernd Hoppe

Cio-Cio-Sans Metamorphosen

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Puccinis berühmteste Oper, die Belasco-Story von der Kleinen Japanerin, die vom gemeinen Ami-Offizier verlassen wird, dessen Kind zur Welt bringt und sich zum Schluss angesichts der geplanten Adoption mit dem Schwert ihrer Ahnen ersticht, bewegt seit ihrer musikalischen Umsetzung 1904 die ganze Welt. Millionen haben in ihre Taschentücher geweint, und unzählige Sopranistinnen haben in der Partie Erfolge erzielt. Wobei noch einmal gesagt werden muss, dass Cio-Cio-San ebenso wenig für eine asiatische Interpretin geschrieben wurde wie Aida für eine Farbige. Das ist opportunistischer Unfug. Und die Auseinandersetzung um „black-facing“, wie sie gerade wieder mal tobt und wie sie von der selbst von Grace Bumbry zurechtgewiesenen Angel Blue publikumswirksam geführt wird, sind genauso unsinnig, wie nun stereotyp jede Chinesin, Thailänderin, Japanerin oder Koreanerin in der Rolle der trippelnden Geisha zu casten.

Puccinis „Madama Butterfly“: Die Macher David Belasco, Arturo Toscanini und Giacomo Puccini/ Dober Press

Nur wenige erinnern sich, dass Madama Butterfly (nach Belascos erfolgreichem Bühnenstück in New York 1900) an der Scala 1904 einen ganz schlechten Start hatte und erst wenig später überarbeitet in Brescia einen rauschenden Erfolg verbuchen konnte. Nur wenige erinnern sich zudem, dass es bei diesen beiden Versionen nicht blieb. Viel spannender finde ich die Fassung für Paris 1906, die für mein Empfinden viel weicher, konventioneller und weniger von den damals aufkommenden Japanoiserien durchzogen ist, als die beiden Fassungen davor. Es ist das große Verdienst der bislang einmaligen Ver-Sammlung aller drei/ bzw. vier Versionen in einer 3-CD-Box, den Hörer per Programmierung in die Lage zu versetzen, nach- und nebeneinander eben diese zum Teil sehr voneinander abweichenden Versionen zu hören. Zumal hier auch die vierte, (ursprünglich englisch gesungenen) Variante für Washington 1908 mit eingeschlossen ist.

Es handelt sich um die inzwischen leider vergriffene Vox-Einspielung unter Charles Rosecranz am Pult des Ungarischen Staats-Opernorchesters mit der fulminanten Maria Spacagna in der Titelpartie neben Richard Di Benzi, Erich Parce und Sharon Graham in den weiteren Hauptpartien – alle kompetent und werkdienlich, weniger Met-Stars als würdige Interpreten, die man für ihre Flexibilität bewundern muss. Rosecrans und die Spacagna haben ja einige tolle Aufnahmen darüber hinaus herausgebracht (L´Arlesiana et al). Also rate ich, die regionalen Bibliotheken zu stürmen oder die wenigen verbliebenen, leider drastisch überteuerten Exemplare bei Amazon oder ebay zu kaufen. Es lohnt sich, schon weil das exzellente, dicke (nur englischsprachige) Booklet viele Informationen und eben den Progammierschlüssel für die einzelnen Änderungen und Einschübe bietet..

Der Musikwissenschaftler Michael Kaye hat zu dieser spannenden Ausgabe in dem üppigen Beiheft (alle Libretto-Versionen nebst Programmieranleitungen zu den einzelnen Tracks der jeweiligen Fassungen) einen ebenso spannenden Artikel geschrieben, brillant wie stets und kundig wie eh. Man erinnert sich an seine überzeugende Recherche zu Offenbachs Hoffmann.

Aus diesem erwähnten Beiheft bringen wir mit Dank an den inzwischen verstorbenen Autor in unserer eigenen deutschen Übersetzung (Daniel Hauser) Michael Kayes Aufsatz in großen Auszügen (namentlich die zitierten Briefstellen und ein Interview mit einer damaligen Augenzeugin wurden ausgelassen; zu Albert Carrés Bühnenanweisungen der Produktion 1906 an der Pariser Opéra-Comique s. auch Albert Carré’s Staging Manual for «Madama Butterfly» (1906) von GIRARDI, Michele 2016). G. H.

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 Nun also Michael Kaye: Es ist schwer zu glauben, dass eine Oper wie Madama Butterfly, die heute einen so wichtigen Platz im Repertoire aller Opernhäuser der Welt einnimmt und die Opernliebhaber als eine ihrer Lieblingsopern betrachten, eine der ungünstigsten Reaktionen des hochkarätigen Premierenpublikums bei der Premiere an der Mailänder Scala am 17. Februar 1904 provoziert hat.

Wie seltsam muss es den an der Uraufführung beteiligten Künstlern vorgekommen sein. Die Proben waren so gut verlaufen, in einer Atmosphäre voller Enthusiasmus und emotionaler Hingabe. „Es war ein schrecklicher Abend“, sagte Puccini zu einem seiner Biographen, Arnaldo Fraccaroli. Arturo Toscanini hatte jedoch das Scheitern der ersten Version von Madama Butterfly vorausgesagt.

Tito Ricordi, der bei der ersten Fassung von Madama Butterfly Regie führte, war maßgeblich an der Gestaltung der ersten Überarbeitung nach der Mailänder Scala für eine Produktion am Teatro Grande in Brescia beteiligt. Er bestand darauf, im ersten Akt das zu entfernen, was er als „viele nutzlose Episoden“ bezeichnete; die Aufspaltung des zweiten Aktes in zwei Teile, den Abschluss des ersten Teils mit dem „Summchor“ und das Hinzufügen von Pinkertons Arie „Addio fiorito asil“ (basierend auf bereits im Orchester-Intermezzo vorhandener Musik). Tito Ricordi gab Puccini zwei Monate Zeit, um die Überarbeitungen für Brescia durchzuführen, mit der ermutigenden Nachricht, dass Toscanini darauf warte, die Oper in Buenos Aires zu dirigieren.

Puccinis „Madama Butterfly“: Giovanni Zenatello war der erste Pinkerton/ Wikipedia

Drei Monate später, am 28. Mai 1904, war die revidierte Fassung von Madama Butterfly in Brescia ein triumphaler Erfolg. Das Publikum hörte aufmerksam zu, und alles gefiel ihm. Bevor Pinkerton seine erste Arie beenden konnte, war der Applaus ohrenbetäubend und das Publikum verlangte nach einer Zugabe; man forderte Puccini auf, sich während der Aufführung unzählige Male zu präsentieren, um den Beifall entgegenzunehmen. Der zweite Aufzug war ein noch größerer Triumph. Einen Monat später war die Brescia-Version ein großer Erfolg in Buenos Aires am Teatro de la Opera, später bekannt als Teatro de la Plata (nicht das Teatro Colón), am 2. Juli 1904 mit Toscanini und der Storchio.

Die Vox-Aufnahme unter Rosecranz bietet nun Zuhörern die Möglichkeit, Puccinis Modifikationen, Überarbeitungen, Änderungen und Errungenschaften für alle wichtigen Überarbeitungen von Madama Butterfly zu hören und zu vergleichen. Sie endeten nicht mit Brescia; tatsächlich basiert die traditionelle Version, die das zeitgenössische Publikum wahrscheinlich im Opernhaus sehen wird, auf der Fassung, die Puccini Albert Carré 1906 an der Opéra Comique in Paris zur Verfügung stellte. Vielleicht kommen Sie zu dem Schluss, dass nicht alle Änderungen, die an der Originalfassung vorgenommen wurden, Verbesserungen waren.

Puccinis „Madama Butterfly“: Rosina Storchio war die erste Cio-Cio-San/ Dover

Die Oper wurde in der Brescia-Fassung in Montevideo, Alexandria und Kairo aufgeführt. Ricordi veröffentlichte eine neue Partitur der Oper in italienischer Sprache zusammen mit einer singbaren englischen Übersetzung von R. H. Elkins für die Uraufführungen in London in Covent Garden (in italienischer Sprache am 10. Juli 1905) mit Emmy Destinn, Enrico Caruso und Antonio Scotti unter der Leitung von Kleofonte Campanini.

Die sogenannte „Neuausgabe“ (nuova edizione) von Madama Butterfly wurde am 12. Oktober 1905 erfolgreich am Teatro dal Verme in Mailand unter der Leitung von Tullio Serafin aufgeführt; das Publikum forderte eine Zugabe von Butterflys Einstiegsauftritt. Puccini nahm einige kleine Änderungen an der ersten Produktion am Teatro Comunale in Bologna unter der Leitung von Toscanini am 29. Oktober 1905 vor. Diese Änderungen sind im Verlauf des vorliegenden Librettos notiert. Puccini war um jeden Aspekt der Produktion seiner Opern besorgt. Aus London schickte er Toscanini detaillierte Anweisungen bezüglich der gewünschten Beleuchtung für die letzte Szene von Madama Butterfly.

Im Februar 1906 waren die Vorkehrungen für die ersten Aufführungen von Madam Butterfly in Amerika abgeschlossen: Eine von Henry W. Savage und Tito Ricordi organisierte Tourneeproduktion, die auf Englisch gesungen werden sollte, und die Premiere einer anderen Produktion auf Italienisch an der Metropolitan Opera. Dies führte zu Ricordis Veröffentlichung einer dritten Aufführungsfassung für Nordamerika.

Im Mai 1906 reiste Puccini für eine Woche nach Budapest, um Aufführungen von La Bohème, Tosca und Madama Butterfly beizuwohnen, die auf Ungarisch gesungen wurden. In diesem Sommer tauschte Puccini ständig Briefe mit Tito Ricordi über geplante Überarbeitungen der Butterfly für Produktionen in Berlin und Paris aus. Neue Partituren wurden in französischer und deutscher Fassung vorbereitet, damit die Künstler ihre Rollen einstudieren konnten. Vier verschiedene Klavierauszüge und zahlreiche Ausgaben des Librettos waren im Druck, aber eine „endgültige“ Version von Madama Butterfly musste noch erstellt werden. Im Juni 1906 beschloss Ricordi, die vollständige Orchesterpartitur zu stechen, was jedoch aufgrund von Tito Ricordis Verhandlungen für die französische Erstaufführung mit Albert Carré, dem einfallsreichen Bühnenregisseur und Impresario der Opéra Comique, verschoben wurde.

Puccinis „Madama Butterfly“:Bühnenbild für Paris 1906/ core.ac.uk

Carré glaubte, dass Butterfly dem französischen Publikum nicht gefallen würde und bestand auf einigen wesentlichen Änderungen. Puccini erklärte sich bereit, sich mit Carré in Paris zu treffen, um die Aufführungsfassung zu besprechen. Er kam am 11. Juli an, war schnell von Carrés Ideen beeindruckt und erklärte sich bereit, daran mitzuarbeiten. Puccini löschte alle beleidigenden Bemerkungen im ersten Akt an und über die Japaner. Er entfernte auch das meiste Material, das sich auf Butterflys Familie in der Hochzeitsszene bezog, was einige lebhafte Episoden mit Lokalkolorit lieferte. Er erweiterte auch das Blumenduett, indem er einen kurzen Abschnitt Orchestermusik hinzufügte, um Carrés Inszenierung Rechnung zu tragen.

Carrés Überarbeitung des Textes umfasste viel mehr als nur das Entfernen bestimmter Passagen, die einige als irrelevante Details betrachteten. Ihm und seinem Übersetzer Paul Ferrier war es letztlich zu verdanken, dass Butterflys kraftvolle Arie im zweiten Akt „Che tua madre“ (von Ferrier zunächst nach italienischem Text übersetzt) den Charakter komplett veränderte. Wie dem vergleichenden Libretto zu entnehmen ist, war auch Carrés Inszenierung der Todesszene deutlich anders. Darüber hinaus verwandelten Carré und Ferrier, indem sie die Stimmen änderten, aber die Orchesterbegleitung unverändert ließen, Kate Pinkertons Persönlichkeit von gefühllos zu sympathisch, was zu einer völlig anderen Konfrontation mit Butterfly führte.

Puccinis „Madama Butterfly“: Marguerite Giraud-Carré war die Butterfly in Paris 1906, hier als Phryné/ Ipernity

Obwohl Butterflys zweite Aktarie „Là un bravo giudice“ bei der Pariser Premiere im Dezember 1906 weggelassen wurde, begründete Carrés Inszenierung die heute als traditionell angesehen Partitur der Oper. Die Pariser Änderungen wurden aus dem Französischen ins Italienische, Deutsche und Englische übersetzt und in die Ausgaben der Partitur von 1907 eingearbeitet, obwohl ein paar verwirrende Überbleibsel widersprüchlicher Regieanweisungen und früherer Fassungen in der jüngsten Druckausgabe erhalten geblieben sind. (Der englische Dirigent und Musikwissenschaftler Julian Smith entdeckte, dass einige der Original-Zinkplatten, die zum Stich von Ricordis erster französischer Ausgabe von Butterfly verwendet wurden, an eine Baufirma verkauft wurden und als Dachmaterial für ein Gebäude in Treviso endeten. Dies ist nicht so überraschend wenn man bedenkt, dass viele der originalen Druckplatten zu Wagners Parsifal als Briefbeschwerer verkauft wurden!)

Wenn er nicht nach Stoffen für neue Opern suchte, verbrachte Puccini viel Zeit damit, seine anderen Werke zu überarbeiten. (…)  1920 hat Puccini möglicherweise Änderungen an der Aufführungsversion von Madama Butterfly für eine Produktion im Teatro Carcano in Mailand genehmigt. Die Partitur der „Carcano-Version“ in den Ricordi-Archiven (basierend auf einem Klavierauszug vom März 1908) wurde von Ricordis hoch angesehenem Hausredakteur Maestro Roberto Tenaglia erstellt, der das Cover der Carcano-Version auf den 12. Januar 1920 datierte (…) Die Carcano-Version macht mehrere Kürzungen in der traditionellen Aufführungsausgabe. Die Phrasierung des Summchors wurde verändert, und die Begleitmusik zum Vogelgezwitscher im Morgengrauen, das bei der Scala-Premiere so gnadenlos verspottet wurde, wurde aus dem Intermezzo herausgeschnitten. Vor allem hat die Carcano-Fassung drei Teile der Brescia-Fassung wiederhergestellt, die auch in diesem vergleichenden Libretto angedeutet sind.

Puccinis „Madama Butterfly“: Eine Zigarrenschachtel zeugt von der immensen Popularität der Oper zum Anfang des 20. Jahrhunderts/ Malta

Vielleicht versuchte Puccini einiges von dem, was er 1904 als seine modernste Oper betrachtete, wiederherzustellen. Wie man hören kann, gibt die Originalfassung von Madama Butterfly eine Vorschau auf musikalische Idiome, die Puccini in seinen späteren Werken entwickeln würde. Zum Beispiel der erste Auftritt von Onkel Yakusidé; die erweiterte Hochzeitsszene; die ursprüngliche Version des Erscheinungsbilds des Bonze; Butterflys „pensavo se qualcuno mi volesse“; ihr „la maggior fiamma e nell’anima mia“ und „non piangete, signore … quelli no, non dan pace“; Suzukis „non vi voglio lasciar“; und die Originalversion der letzten Szene, all diese angedeuteten Musiken, die Puccini für La Fanciulla del West, Il Tabarro, Gianni Schicchi (insbesondere das Thema für „addio peranza bella“), La Rondine und Turandot geschrieben hat.

Julian Smith, der die für diese Vox-Aufnahme verwendete Aufführungsausgabe der Originalversion von Madama Butterfly an der Mailänder Scala vorbereitete und die Orchestrierung für den achttaktigen Übergang vom Summchor zum Intermezzo rekonstruierte, bemerkte gegenüber der Royal Musical Association, dass „die originale Butterfly eine gewagte Oper war, unkonventionell in ihrer Struktur und schonungslos in der Übermittlung einer für ihre Zeit ungewöhnlich pointierten moralischen und sozialen Botschaft. Das Mailänder Publikum von 1904 lehnte ersteres ab, und Albert Carré verwässerte im Namen der Pariser Bourgeoisie erfolgreich letzteres. Und so durchlief Puccinis Original-Butterfly eine tragische Metamorphose, mittels derer sie einem sentimentalen Melodram gefährlich nahe kam.“

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Puccinis „Madama Butterfly“: Louise Homer und Geraldine Farrar an der Met 1906/ Met Opera Archives

Bei der Premiere an der Opéra Comique wurde die Rolle der Butterfly von Albert Carrés Ehefrau Marguerite Giraud gesungen. Obwohl sie eine gute Sängerin war, bekannt für ihre Interpretationen von Massenets Manon und Puccinis Mimì, vertraute Puccini in Briefen an seine Freundin Sybil Seligman dieser einige seiner wahren Gefühle über sie an: „Die Proben liefen heute gut – aber Madame Pomme de terre wird dem nicht gerecht… Ich habe Angst um Mme Carré; sie ist schwach und hat wenig Intelligenz, aber ich muss mich mit ihr abfinden(…).“ Albert Carré bestand auf einer langen Probenzeit, während der Puccini sehr ungeduldig. Schließlich wurde die Uraufführung an der Opéra Comique auf den 28. Dezember 1906 festgesetzt. Illica fand sie „ganz anders als unsere … logisch, praktisch und poetisch“. Puccini wohnte den meisten Proben bei und berichtete begeistert Giulio Ricordi aus Paris.

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Puccinis „Madama Butterfly“: Der Entrepreneur Henry Savage brachte die Oper in die USA/ photo icon

Während seines Aufenthalts in Paris erhielt Puccini Nachrichten über die erfolgreiche Tourneeproduktion von Madam Butterfly, die mit dem Segen von Ricordi von Henry W. Savage organisiert wurde, einem ehemaligen Immobilienmakler aus Neuengland, der die Henry Savage Grand Opera Company gründete, die viel bewirkte um die Oper in Amerika bekannt zu machen. Die Madam Butterfly-Tournee war beispiellos in der Operngeschichte: sechs Monate lang Auftritte in großen amerikanischen Städten, mit vier Sopranen in der Titelrolle, zwei Besetzungen der anderen Hauptdarsteller, Zweitbesetzungen, Chor und Orchester mit 60 Spielern, alles unter der Leitung von Tito Ricordi. Die aufwändige Produktion wurde achtmal pro Woche aufgeführt, gesungen in englischer Übersetzung von R. H. Elkins. Sie begann am 15. Oktober 1906 in Washington, D.C., am Columbia Theatre. Am nächsten Tag berichtete die Washington Post begeistert über die Produktion. (…)

Für die Aufführungen in Washington (in englischer Sprache 1906) engagierte Savage mehrere Sopranistinnen für die Titelrolle, darunter die ungarische Sopranistin Elza Szamosy (die die Uraufführung sang), Rena Vivienne, Florence Easton, Louise Janssen und Estelle Bloomfield. Laut einem Artikel in der New York Times vom 14. Oktober 1906 wurde Mme Szamosy „von Puccini speziell als diejenige ausgewählt, die die Rolle in Washington geben sollte (…).  Mme Szamosy sang an der Königlichen Oper in Budapest, und auf Empfehlung des Komponisten wurde sie für die amerikanische Produktion engagiert.“ Eine andere amerikanische Sopranistin, Rena Vivienne, „ließ alles beim ersten Anzeichen einer Gelegenheit, in Puccinis exquisiter Oper aufzutreten, fallen“. Sie studierte die Rolle in Europa bei ihrem Lehrer, dem renommierten Bariton Victor Maurel, und spielte in Mailand für Puccini und Tito Ricordi vor. Florence Easton kam später an die Metropolitan Opera, wo sie 1918 die Rolle der Lauretta in Puccinis Gianni Schicchi kreierte. Andere Künstler, die bei der Premiere in Washington auftraten, waren Harriet Behnee (Suzuki), Joseph Sheehan (Pinkerton) und Thomas Richards (Sharpless), dirigiert von Walter H. Rothwell.

Puccinis „Madama Butterfly“: Die ungeheure Pupolarität der Oper schwappte auch auf den Film über und war eine gute Vorlage dafür, zahlreiche Versionen beschäftigten sich mit dem Sujet, hier Anna May Wong (bekannt neben der Dietrich in „Shanghai Express“) mit Kind und „Kate Kinkerton“ in Chester Franklins „The Toil of the Sea“ 1922/ Wikipedia

Um nicht übertroffen zu werden, kündigte Hans Conried am 11. November 1906, dem Tag vor der Eröffnung der Savage-Produktion im Garden Theatre in New York, in der New York Times an, dass Puccini selbst die Premiere von Madama Butterfly in italienischer Sprache an der Metropolitan Opera in dieser Spielzeit (1906/07) beaufsichtigen würde. Am Tag nach der Met-Premiere am 11. Februar 1907 mit Geraldine Farrar, Louise Homer, Enrico Caruso und Antonio Scotti beschwerte sich der New York Daily Tribune darüber, dass „Signor Puccini, der in der Stadt ist und aktiv an der Produktion seiner Werke arbeitet, die unser Publikum liebt, es bedauerlicherweise für nicht angebracht hielt, einige der Makel zu entfernen, die Madama Butterfly entstellen. Die völlig unnötige und schmerzlich beunruhigende Gestalt von Madame Pinkterton sollte entfernt werden; die beiden Szenen des letzten Aktes sollten durch das Intermezzo zusammengeführt werden, wie sie erstmals 1904 in Mailand dargestellt wurden. Völlig verderblich für die Wirkung der Szene der Nachtwache ist diese Pause von Korridorpromenade und Klatsch.“ (Auch nachdem Puccini beschlossen hatte, den zweiten Akt in zwei Teile zu spalten, bezeichnete er die Orchestermusik zur Nachtwache der Butterfly als „Intermezzo“ oder „mezzo preludio scenico“.)

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Puccinis „Madama Butterfly“: der „Erfinder“ des Ganzen, der Romanautor John „Luther“ Long schrieb die Kurzgeschichte „Madame Butterfly“/ tumgir

Puccini diskutierte die Entstehung seiner Madama Butterfly in einem Interview mit Carlo Paladini, das im Giornale d’Italia vom 14. September 1902 veröffentlicht wurde (es wurde mit einigen Änderungen im Artikel der New York Times vom 11. November 1906 nachgedruckt): „John Luther Long, ein origineller und mutiger Romanautor, schrieb Madame Butterfly, welche David Belasco, ein Arrangeuer französischer Theaterstücke (der [Simon und Bertons] Zazà ins Englische übersetzte), für die Bühne adaptierte. Eines Abends, als ich [1900] in London war, ging ich zufällig zum Duke of York’s Theatre und sah dort Madame Butterfly. Diese unvergleichliche Künstlerin, das wunderschöne Wesen, Miss Evelyn Millard, spielte darin mit. Ich war sofort mit Herz und Seele ergriffen. Ich kehrte immer wieder zurück und schleppte auch meine Freunde [die Komponisten Luigi Denza, Paolo] Tosti und andere mit, die bald genauso begeistert waren wie ich. Das war das Libretto für mich. Obwohl ich Englisch nicht sehr gut verstehe, habe ich genug verstanden. Davon wollte Giulio Ricordi nichts wissen, und auch Giacosa war dieser Meinung. Aber ich bestand darauf. Jetzt, wo sie auch so verliebt in Madame Butterfly sind, bin ich fast neidisch darauf.“

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Puccini und seine Librettisten Illica und Giacosa waren auch mit Pierre Lotis Roman Madame Chrysanthème (1887) vertraut, der Quelle für André Messagers einst populäre gleichnamige Oper (1893). Der Loti-Roman beeinflusste Illicas orientalisches Libretto für Mascagnis Iris (1898) und Teile von Madama Butterfly. Puccini integrierte authentische japanische Musik in die gesamte Oper. Er kannte auch die von den deutschen Musikethnologen und Komponisten Georg Capellen und Rudolf Dittrich für diese japanischen Melodien realisierten Arrangements und Begleitungen. Puccini hatte die Gelegenheit, die erste japanische Kabuki-Theatergruppe zu sehen, die durch Europa tourte, die Kaiserliche Japanische Theatergesellschaft unter der Leitung von Otojiro Kawakame und der Schauspielerin Sada Yacco, deren Meisterleistungen in The Geisha und The Cavalier von 1902 auf dem Kontinent das Gespräch waren.

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Puccinis „Madama Butterfly“: Und selbst Cary Grant nahm an einer Verfilmung des Stoffes 1932 teil/Wikipedia

Die Kurzgeschichte von John Luther Long mit dem Titel Madame Butterfly wurde erstmals 1898 im Century Magazine veröffentlicht. Das gleichnamige Stück, das in Zusammenarbeit mit David Belasco geschrieben wurde, erlebte seine Erstaufführung am 5. März 1900 in New York City am Herald Square Theatre. Die Japan Times and Mail vom 15. März 1931 stellte klar, dass die Quelle für John Luther Long und David Belascos interrassische Tragödie auf einem Teehausmädchens namens O-Cho (Butterfly/Schmetterling) oder Cho-San basierte, das von einen amerikanischen Marineoffizier verlassen wurde:

Am 27. Dezember 1903 um 23.10 Uhr unterzeichnete Puccini zu Hause in Torre del Lago das „fertige“ Manuskript von Madama Butterfly. „Es ist nicht schlecht“, schrieb er an Carlo Clausetti in Neapel. „Wir werden sehen.“ Wenn der Opernfreund das nächste Mal Gelegenheit haben, einer Produktion von Madama Butterfly beizuwohnen, und diese im zweiten Akt ihr Spiegelbild anstarrt und singt „non son più quella“ („Ich bin nicht mehr dieselbe“), verstehen er womöglich besser, was das auch für Puccini bedeutete.

Kein Gewinn

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Vorgewarnt durch Albert Giers (nachfolgend) erschöpfende Besprechung, ernüchtert die DVD der Aufführung von Siegfried Wagners Sonnenflammen aus dem bis 1999 als Kino und seit 2019 als Kulturbühne genutzten Reichshof in Bayreuth doch einigermaßen (1 DVD Naxos 2.22007). Zwar lässt sich Peter R. Pachls Inszenierung, die bei Siegfried Wagners Kreuzfahreroper Sonnenflammen zwischen den 13. Jahrhundert und der Zeit der Entstehung hin- und herpendelt und ihre wackere Ambitioniertheit durch den beredten Einsatz von Film- und Videosequenzen (Robert Pflanz) aufputzt, recht gut erkennen. Großes Kino im ehemaligen Kino: bereits während des knapp 10minütigen Vorspiels flimmert eine Überfülle an Bildern vom Bärenmarke-Bären bis zur Friedensbewegung, vom Ersten Weltkrieg bis zu den tollen Zwanzigern über die rückwärtige Leinwand. Das halb moderne, halb historische Spiel der Akteure hat daneben oft etwas unfreiwillig Komisches bzw. wird in dieser Aufzeichnung ungeschickt eingefangen. Doch musikalisch würde man auf einer DVD einfach etwas mehr erwarten als es die elektronischen Klänge des Bayreuth Digital Orchestra zu bieten vermögen, dem Ulrich Leykam dennoch die Farbigkeit und den Formenreichtum dieser Musik abrang. Vor dem oft etwas einkanalig dünnen Klang heben sich die Sänger gut ab, manche, wie Dirk Metzmacher als Hofnarr Gomella, Uli Bützer als Kaiser von Byzanz oder Steven Scheschareg als Wahrsager, liefern runde Porträts. Nie hat man den Eindruck, etwas versäumt zu haben.    R. F.

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Wäre der Kabarettist Otto Reuter (1870-1931) für diese Aufführung wundersamerweise von den Toten auferstanden, vielleicht hätte er dann das Couplet, das er Siegfried Wagner widmete (er sei Komponist wie sein Vater, „nur ein bißchen kleiner“), etwa so umgedichtet: Siegfried Wagner in Bayreuth / Schrieb die Sonnenflammen; / Zwar die Aufführung, so schien’s / Brach in sich zusammen. / Doch frustrieren läßt sich nicht / So wie Pachl einer, / Und er hat es hingekriegt, / Nur ein bißchen kleiner.

Wirklich „ein bißchen kleiner“? Auf dem Plakat für die Aufführung in der Kulturbühne Reichshof Bayreuth von Siegfried Wagners Sonnenflammen (15., 16. 8. 2020) steht: „Szenische Vision einer Oper“, was wohl bedeutet, daß nicht die Oper selbst zu sehen ist, jedenfalls nicht vollständig. Auf der Bühne sitzt kein Orchester (einen Graben gibt es im Reichshof ohnehin nicht), die Klänge werden elektronisch erzeugt (mit einem Verfahren, das dem Profanen wohl ewig ein Buch mit sieben Siegeln bleiben wird). Ein Unterschied zu einem Live-Orchester ist allerdings nicht wahrzunehmen, und weil die Bühne den Sängern gehört, kann die Oper wirklich gespielt werden, auch die Kollektive, die byzantinische Hofgesellschaft, die Kreuzritter, die Venezianer, sind durchaus angemessen repräsentiert. Die Solisten bilden ein homogenes Ensemble, alle werden ihren Rollen vollauf gerecht. Das Bühnenbild wäre in einem anderen Jahr vielleicht etwas üppiger ausgefallen: zusammengebundene grüne (an der Spitze violette) Plastic-Röhren haben den Vorteil, daß man sie sowohl als stilisierte Bäume wie Säulen deuten kann, sind aber doch ein bisschen karg.

Wie in vielen Inszenierungen von Peter P. Pachl laufen parallel zur Bühnenhandlung ununterbrochen Video-Projektionen (Bühnenbild und Videos: Robert Pflanz); großenteils historische Filmausschnitte, die auf die Zeit der Uraufführung der Oper (1918) verweisen; außerdem erscheinen immer wieder ein vom Schriftzug „Byzanz“ umgebenes Medaillon, in dem unterschiedliche Bilder sichtbar werden, eine stilisierte oder verfremdete Friedenstaube und die von den Plakaten der Anti-Atomkraft-Bewegung bekannte rote Sonne, die gelegentlich nicht lächelt, sondern ausgesprochen grimmig und aggressiv dreinschaut – die Flammen der südlichen Sonne, die dem Protagonisten Fridolin Verderben bringen, haben, soviel ist klar, mit Kernenergie zu tun. Es bleibt dem Zuschauer überlassen, wie er das Kaleidoskop von Bildern, die oft nur kurz aufblitzen, in einem Zusammenhang zur Opernhandlung bringt (oder auch nicht).

Erzählt wird die Geschichte der Eroberung und Plünderung von Byzanz während des Vierten Kreuzzugs (1204; u.a. gelangten damals die vier Bronzeplastiken der „Pferde von San Marco“ vom Hellespont nach Venedig). Als sein eigener Librettist (wie immer) folgt Siegfried Wagner den Berichten der Historiker insgesamt getreu, blendet allerdings manche für das Verständnis der Geschichte hilfreichen Details aus: Dass Kaiser Alexios (III.) ein Usurpator ist, der seinen Bruder und Vorgänger, den er im II. Akt für den missglückten Mordanschlag auf ihn verantwortlich macht, hat blenden und ins Gefängnis werfen lassen, wird nicht gesagt; auch nicht, dass dessen Sohn Alexios (IV.) die Kreuzritter zu Hilfe gerufen hat, um den Thron zurückzuerobern. Das entsprach nun ganz den Interessen des Dogen Enrico Dandolo,  dessen Kalkül, im östlichen Mittelmeerraum auf Kosten von Byzanz mehr Einfluss und einen bedeutenden territorialen Zugewinn für Venedig zu erreichen, letztlich aufging. Der mehr als Neunzigjährige steht als Führer des venezianischen Truppenkontigents vor der Stadt, und es ist klar, dass er Alexios III. keineswegs wohlgesonnen ist; daß der sich über den (ein klein wenig grotesken) Namen des Widersachers lustig macht, mag unter diesen Umständen verzeihlich erscheinen. – Dass die Kreuzritter Byzanz (immerhin die Hauptstadt eines christlichen, wenn auch nicht katholischen Reiches!) schließlich plündern und niederbrennen, hängt wesentlich damit zusammen, daß Alexios IV. ihnen für ihre Hilfe bedeutende finanzielle Zuwendungen versprochen hat, die zu leisten die Byzantiner weder fähig noch willens sind – dieser Vierte Kreuzzug erweist sich somit (auch in den Berichten christlicher Chronisten) als ganz und gar nicht frommes Unternehmen.

Die Dekadenz am Hof Alexios III. wird durch farbenprächtige, extravagante Kostüme und ausgelassene Tanzeinlagen unterstrichen. Dieses Milieu wird dem fränkischen Ritter Fridolin (der Tenor Giorgio Valenta; warum ausgerechnet der Sänger der Hauptrolle ein ausgesprochen unattraktives, ja ärmliches Kostüm tragen muss, bleibt unerfindlich) zum Verhängnis: Er hat gelobt, am Kreuzzug teilzunehmen, um eine Schuld zu sühnen (im Duell hat er den Ehemann seiner Geliebten getötet), aber in Byzanz verliebt er sich in Iris, der auch der Schürzenjäger Alexios (der Bariton Uli Bützer) nachstellt, und zieht nicht weiter. Iris (Julia Reznik, die in den Sonnenflammen ihr Operndébut gibt), ist in mancher Hinsicht die interessanteste Figur: Sie drängt Fridolin, Byzanz zu verlassen: „Die Sonne die hier strahlt, / Ihr glühendes Sengen verträgst du nicht!“ Sie selbst allerdings gehört offenbar in diese Welt, auch wenn sie Alexios und seinen Hof verachtet: „Entwurzle den Baum, so tötest du ihn! / Er bedarf der sengenden Sonne Glut!“ Dabei schwärmt sie von „den Recken, von denen uns Sagen melden“, von den Germanen der Völkerwanderungszeit, die „den schon morschenden Prachtbau“ Roms „in Trümmer brachen“! Das schwärmerisch exaltierte Wesen dieser jungen Frau drückt sich in ihrem Gesang aus; Julia Reznik verkörpert sie ungemein packend und präsent. Demgegenüber ist die Rolle der Kaiserin (Rebecca Broberg) ein bißchen undankbar, sie leidet still unter den Demütigungen, die ihr die Kälte und Flatterhaftigkeit des Kaisers auferlegen; so bleibt ihr kaum etwas anderes übrig als – im Gegensatz zu quirligen Iris – wesentlich statisch zu agieren.

Iris ist die Tochter des Hofnarren Gomella. Der Name erinnert an Gonella, der im 15. Jahrhundert Hofnarr bei den Este in Ferrara war; zugleich ist er ein Rigoletto,  der bedenkenlos die Ehre seiner Tochter opfern würde, um der Todesstrafe, die ihm eines Diebstahls wegen droht, zu entgehen: „Wär ich sie, ich tät’s! Aber sie!“ Gomella ist der Geist, der stets verneint: Byzanz, so stellt er fest, sei ein „noch viel größ’rer Abgrund als ich“! Am Ende entkommt er, denn der Kreuzritter Gottfried – dessen Lebensmotto „Raufen! Taufen! Saufen!“ ist – findet, daß es nicht lohnt, ihn zu erschlagen: „Gomellas Geist bleibt der Welt erhalten!“ – Drei Tage, bevor die Proben begannen, verstarb der Sänger, der für diese wichtige Rolle vorgesehen war, plötzlich und unerwartet. In der kurzen Zeit (zweieinhalb Wochen wurde geprobt, sagte Peter P. Pachl) konnte kein Sänger die umfangreiche Tenorbuffo-Rolle lernen. William Wallace sang von der Seite, Dirk Westmacher agierte in einem hermaphroditischen Kostüm (Maske wie das Kasperle im Puppentheater mit entsprechender Kopfbedeckung, dazu Federboa, Strumpfhose und Absatzschuhe). Man kann sich fragen, ob diese Notlösung der Aufführung nicht zugute kam: Wenn Westmacher die Rolle hätte singen müssen, hätte er sich bei seiner grotesken Körpersprache vermutlich nicht so verausgaben können.

Siegfried Wagners „Sonnenflammen“ in Bayreuth 2020/ Foto wie auch oben ISWG

Es gibt herrliche Musik in Sonnenflammen. Vielleicht mehr als alles andere faszinieren Farbenreichtum und stilistische Vielfalt: Auch die Nebenfiguren, der Wahrsager, der den Weltuntergang ankündigt, Fridolins Vater, der seinen Sohn verflucht, haben jeweils ihr eigenes Idiom; wenn Fridolin sich an die für immer verlorene Heimat erinnert, ist sein Gesang ungewohnt schlicht und innig. Manches, wie der Spottchor der Mädchen, die den neuen Hofnarren kahlscheren kommt fast operettig daher.

Zwei der Hauptfiguren in Sonnenflammen enden durch Suizid: Die Kaiserin ertränkt sich und ihren kleinen Sohn, weil sie ihr Leben nicht mehr erträgt; Fridolin stellt seine Ehre wieder her, indem er sich ersticht. Am Ende, bevor das „monderleuchtete Byzanz“ sichtbar wird, erkennt er seinen Irrtum: „Eitles Sonnenstreben! Wahn und Trug! / Brich es ab! Reiße den Faden! / Taumelnd sink in’s Grab hinab / Zur ewigen Nacht!“ – und da sind wir nun sehr nahe bei Tristan, auch wenn Siegfried Wagner dem Paar den Liebestod verweigert. Albert Gier (Mit Dank an den online-Merker)

Ettore Superstar!

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Kurz vor seinem frühen Krebstod vor 55 Jahren soll Ettore Bastianini den Wunsch geäußert haben, nicht in Vergessenheit zu geraten. Dieser Wunsch ist tausendfach in Erfüllung gegangen, jedenfalls wenn man ins Internet schaut und insbesondere bei youtube recherchiert. Da gewinnt man den Eindruck, dass er heute – am 24. September steht sein 100. Geburtstag an – noch viel mehr Verehrer hat als zu Lebzeiten. Einfach unglaublich, was da von Fans aus aller Welt an Ton- und Bilddokumenten zusammengetragen wurde. Wohl kein Bariton der Vergangenheit hat eine solche Gemeinde, und von den Tenören wohl nur Mario del Monaco. Ettore Superstar!

Ettore Bastianini/ Rigoletto in Chicago/ Foto Sorenson/ Chicago Opera Archive

Auch wenn die superlativischen Elogen von Opernfans – und besonders im Netz – oft ins Maßlose gehen und manchmal auch durchaus zweitklassige Sänger zu den größten aller Zeiten ausgerufen werden, so kann ich diese Begeisterung im Falle von Ettore Bastianini doch nachvollziehen, da ich selbst schon im zarten Knabenalter von ihr ergriffen war. Zu meinen ersten Opernplatten gehörten zwei LPs im 17-cm-Format, die ich immer und immer wieder abspielte: ein Recital mit Arien aus La forza del destino und Andrea Chenier und drei Ausschnitte aus Il Barbiere di Siviglia mit Giulietta Simionato und Alvinio Misciano. Vor allem Carlo Gérards Arie „Nemico della patria“ habe ich unmittelbar nach dem Stimmbruch oft mitgegrölt wie auch alle Einsätze des Grafen Luna in dem privat dilettantisch mitgeschnittenen Salzburger Trovatore von 1962. Aber auch heute noch, sechs Jahrzehnte später, nehmen Aufnahmen mit Bastianini einen zentralen Platz in meiner Sammlung ein.

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Die Karriere: Den Rang eines „Jahrhundert-Baritons“ werden ihm Kenner und Liebhaber, die andere Vertreter seines Stimmfachs bevorzugen, kaum absprechen können. Angefangen hat er ganz unspektakulär in der Provinz – als Bassist. Am 24. September 1922 im toscanischen Siena geboren, debütierte Ettore Bastianini 1945 nach kurzem Gesangsstudium in seiner Heimatstadt als Colline in La Bohème am Stadttheater Ravenna. Fünf Jahre lang war er danach an kleinen und auch größeren italienischen Bühnen, so einige Spielzeiten am Teatro Regio in Parma, im Baßfach beschäftigt, sang Partien wie Conte Rodolfo in Bellinis La Sonnambula, Alvise in La Gioconda oder Zio Bonzo in Madama Butterfly. Während des Rollenstudiums am Padre Guardiano soll er bemerkt haben, dass er das falsche Fach sang – bei dem spielerischen Versuch nämlich, auch die Rollen des Don Carlo und sogar des Alvaro mitzusingen.

Ettore Bastianini und Franco Corelli anläßlich von Donizettis „Poliuto“ an der Scala/ Foto Picagliani/ Archivio storico Teatro alla Scala

Dem Rat seiner damaligen Lehrerin folgend, legte er eine Berufspause ein und ließ sich zum Bariton umschulen. Am Silvesterabend 1951 gab er als Germont-père am Teatro Comunale von Bologna sein Debüt im neuen Stimmfach. Man kann sich heute kaum vorstellen, welche schwierige Konkurrenzsituation er in dieser Zeit vorfand: Veteranen wie Carlo Tagliabue, Afro Poli und Giovanni Inghilleri waren noch immer an ersten Bühnen erfolgreich, Enzo Mascherini, Paolo Silveri, Gino Bechi und Giuseppe Valdengo hatten den Höhepunkt ihrer Karriere erreicht, Tito Gobbi und Giuseppe Taddei standen kurz davor und selbst Kollegen seines Alters wie Aldo Protti und Giangiacomo Guelfi waren ihm, dem Bariton-Newcomer, wenigstens um eine Nasenlänge voraus.

Es ist deshalb gar nicht verwunderlich, dass Bastianinis Karriere nicht an der Mailänder Scala, sondern beim durchaus renommierten Maggio Musicale in Florenz begann, und dass er sich zunächst nicht in seinem ureigenen italienischen Fach durchsetzte, sondern in Partien des russischen Repertoires. In einer Inszenierung der berühmten Tänzerin Tatiana Pavlova sang er dort 1952 Jeletzki in Tschaikowskys Pique Dame. Die junge Sena Jurinac war Lisa, Artur Rodzinski dirigierte. Im darauffolgenden Jahr war er am gleichen Ort Prinz Andrej in der Erstaufführung von Prokofjews Krieg und Frieden, die einer szenischen Uraufführung gleichkam. Franco Corelli war als Pierre Besuchow sein Partner. Und noch ein Jahr später übernahm er in Florenz die Titelrolle in Tschaikowskys Mazeppa neben Kollegen wie Boris Christoff und Magda Olivero.

Fast naheliegend, dass er das fällige Debüt an der Scala auch in einer russischen Partie absolvierte, nämlich als Eugen Onegin (neben Renata Tebaldi und Giuseppe di Stefano), und seine große internationale Karriere als italienischer Bariton von New York aus begann. Hier gab er im Mai 1953 als Germont-père seinen Einstand und erhielt nach seiner Arie „Die Provenza“, die er statt an den Bühnenpartner direkt ans Publikum gerichtet haben soll, anhaltenden stürmischen Applaus, der vom Dirigenten entschlossen abgebrochen werden mußte. In der Folgezeit entwickelte er sich trotz der Konkurrenz von Leonard Warren und Robert Merrill rasch zu einem New Yorker Publikumsliebling und trat in den kommenden 12 Jahren an der Met in 89 Vorstellungen auf. Bald erhielt er seine ersten Schallplattenverträge und wurde in Amerika wie in Europa ein viel beschäftigter Sänger. Einen vorläufigen Höhepunkt bedeutete 1958 sein Engagement zu den Salzburger Festspielen als Marquis Posa in der „Don Carlo“-Produktion von Gustaf Gründgens und Herbert von Karajan. Nur wenige Wochen nach der Premiere hatte er sein Debüt an der Wiener Staatsoper, die neben der Scala und der Met sein drittes Stammhaus wurde und wo er bis 1965 nicht weniger als 142 Vorstellungen sang.

Renata Tebaldi und Ettore Bastianini in „Il Trovatore“ in Japan/ youtube

Kein Zweifel, Bastianini hatte jetzt den ersehnten Gipfel erreicht, und er begann, seine Kräfte zu überfordern. Ein frühes Jet-Set-Opfer, pendelte er zwischen Mailand und New York, zwischen Chicago und Wien, zwischen Berlin und London hin und her. Wie ernstzunehmende Kritiker feststellten, ließen infolge dieser Belastungen nicht nur seine stimmlichen Leistungen nach, er verlor auch an gestalterischer Überzeugungskraft. Auf die Serie von Triumphen folgte ein jäher Sturz. Im April 1962 gab er an der Scala sein Hausdebüt als Rigoletto und wurde von der Galerie gnadenlos ausgepfiffen. Nach der Premiere gab er die Partie an den routinierten Aldo Protti ab. Nach diesem Debakel wurde von verschiedenen Seiten bereits das Ende seiner großen Karriere vorausgesagt, doch das war offensichtlich unbegründet, denn nur wenige Monate später zeigte er sich bei den Salzburger Festspielen als Luna in Karajans Trovatore-Inszenierung wieder ganz in der alten Hochform. Doch blieb ihm nur noch kurze Zeit, seine Karriere fortzusetzen. Als er sich im November 1965 als Marquis Posa vom Publikum der Metropolitan Opera verabschiedete, war er bereits von seiner tödlichen Krankheit gezeichnet. In den folgenden Monaten versuchte er seinen Kräften noch einige Bühnenauftritte abzutrotzen. Am 25. Januar 1967 starb er, erst 44 Jahre alt, in Sirmione am Gardasee.

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Künstlerische Eigenart: Dass Ettore Bastianini im historischen Rückblick wenn nicht als der größte, so doch als der prototypischste italienische Bariton seiner Generation erscheint, als ein Nachfolger von Sängern der „Goldenen Ära“ wie Titta Ruffo und Riccardo Stracciari, hängt zunächst einmal mit der außergewöhnlichen Materialqualität und dem unverwechselbaren Timbre seiner Stimme zusammen, deren dunkle Farbe ihre Herkunft aus dem Baßfach nicht verleugnete, die sich in der Mittellage frei verströmen konnte und in der Höhe die Projektionskraft eines Tenors hatte, dabei bruchlos im Wechsel der Register war. Eine Spur von dem „Diamantenregen“, den man Stracciaris Gesang nachrühmte, findet man auch in Bastianinis Vortrag. Der gleichmäßige ruhige Fluß in den weit ausgesponnenen Kantilenen bei Donizetti und Verdi war eine seiner großen Stärken, dabei hatte sein Gesang immer einen Seelenton, den man ähnlich ausgeprägt sonst nur noch bei seinem Tenorkollegen Giuseppe di Stefano findet.

Es ist in Nachrufen auf verstorbene Künstler üblich, sie als unersetzlich zu erklären, und in gewisser Weise stimmt das ja auch, denn jeder ist auf seine Art einzigartig. Im besonderen Falle von Ettore Bastianini hat es zwar einige gegeben, die seinen Platz einzunehmen versuchten, aber tatsächlich keinen echten Nachfolger. In der Gunst Karajans, der Schallplattenfirmen, aber auch des Publikums nahm Piero Cappuccilli diese Position ein, dem eine über mehr als drei Jahrzehnte währende Karriere vergönnt war – ein zweifellos imponierender Sänger, der aber bei allem stimmlichen Glanz immer etwas sachlich und unpersönlich wirkte und nicht über Bastianinis vokales Charisma verfügte. An emotionaler Intensität kam diesem der Grieche Kostas Paskalis, an dunkler Stimmpracht der Rumäne Nicolae Herlea wohl am nächsten.

Sein Nachruhm gründet sich vor allem auf eine Handvoll Partien, in denen er unvergleichlich war. Etwa Carlo Gérard in Giordanos Andrea Chenier, den keiner mit einer ähnlich verzehrenden Intensität zu gestalten wußte. Daneben waren es vier Verdi-Rollen, in denen er für spätere Generationen die Maßstäbe setzte: Graf Luna, Renato, Don Carlo di Vargas und Marquis Posa. Für diese Partien besaß er den weiten Legato-Atem, die warme Tonfülle in der Kantilene und die dramatische Attacke. Offenbar lagen ihm die geradlinigen Charaktere besonders, während er nie ein Meister feiner psychologischer Differenzierungen war wie Tito Gobbi. Hintergründige Rollendeutungen waren seine Sache nicht und so hat er einige der großen Verdi-Partien nur selten oder gar nicht gesungen. Iago beispielsweise nur ein einziges Mal (in Kairo), dessen Credo hatte allerdings einen festen Platz in seinem Konzert-Repertoire.

Ettore Bastianin als Michele in Puccinis „Il Tabarro“ an der Scala/ Foto Picagliani/ Archivio storico Teatro alla Scala

Er war auch kein „begnadeter“ Bühnendarsteller. Anders als Gobbi und der Erzkomödiant Giuseppe Taddei, die ihre Rollen mit einer überaus beredten Körpersprache und ausgefeiltem Mienenspiel gestalteten, zog er sich auf die Position des reinen Steh-Baritons zurück. Das ist in zwei kompletten Trovatore-Videos (einer TV-Version von 1957 und einem Mitschnitt aus Tokyo von 1963) ebenso zu konstatieren wie in der Verfilmung der legendären Forza del destino aus Neapel mit Renata Tebaldi und dem darstellerisch gewandten Franco Corelli oder einem amerikanischen Fernseh-Querschnitt der Traviata mit Beverly Sills. Anders als seine beiden großen Fachkollegen und Konkurrenten hat er auch nie komödiantische Rollen übernommen, ausgenommen Rossinis Figaro, mit dem er 1956 auch sein Debüt in der Arena von Verona absolvierte und den er mit etwas bärbeißigem Humor ausstattete.

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Das diskographische Erbe: Seine diskographische Hinterlassenschaft, etwa 15 komplette Studio-Produktionen und noch weit mehr vollständige Live-Mitschnitte, ist beeindruckend und gibt der posthumen Verehrung ausreichend Nahrung. Ich schmälere nicht das historische Verdienst der Decca-Aufnahmen aus den 50er Jahren, mit denen ich aufgewachsen bin und die in der überwiegenden Konstellation mit Partnern wie Mario del Monaco, Renata Tebaldi, Giulietta Simionato und Cesare Siepi eine Schallplatten-Ära prägten (u.a. La Bohème, La Gioconda), wenn ich den letztgenannten heute den Vorzug gebe. Vieles was nach dem Tod des Sängers auf dem sogenannten „grauen Markt“ erschienen ist, wurde später von großen Firmen wie Deutsche Grammophon, EMI und Orfeo technisch restauriert ganz offiziell veröffentlicht. Darunter befinden sich einige wirkliche Sternstunden der Oper, die in keiner Sammlung fehlen dürfen. Dazu zählen Don Carlo (1958) und Il Trovatore (1962) aus Salzburg unter Herbert von Karajan (Deutsche Grammophon), La Traviata (1955) und Poliuto (1960) aus der Mailänder Scala mit Maria Callas (EMI). Zwei Wiener Sternstunden, Andrea Chenier unter Lovro von Matacic und La forza del destino unter Dimitri Mitropoulos (beide 1960, Orfeo), konkurrieren mit den Studio-Aufnahmen bei Decca, und sind für diejenigen Stimmenfreunde von besonderem Interesse, die in diesen Opern lieber Corelli und di Stefano hören als del Monaco.

Zu den „Unverzichtbaren“ rechne ich aber auch Ernani (Florenz 1957) unter Mitropoulos und natürlich Adriana Lecouvreur aus Neapel (1959), wo Bastianini sich mit Magda Olivero, Giulietta Simionato und Franco Corelli zu einem unübertrefflichen Quartett verbindet. Bei Un ballo in maschera hat man die Qual der Wahl. Renato war seine absolute Glanzrolle. Kein anderer Bariton der Nachkriegszeit hat die Arie „Eri tu“, ein Prüfstein für jeden echten Verdi-Bariton, mit solcher Hingabe, solcher Tonfülle und solcher Imaginationskraft („O dolcezze perdute“) gesungen wie er. In meiner Sammlung befinden sich drei Aufnahmen aus der Mailänder Scala, die Studio-Aufnahme der DG und die vorangegangenen Mitschnitte mit Maria Callas und Antonietta Stella. Daneben der spätere Auftritt an der Covent Garden Opera mit Jon Vickers und Amy Shuard (eine interessante Kombination!) und schließlich – meine Favoritin – die Produktion aus Florenz (1957), da hier nicht nur Bastianini, sondern auch Anita Cerquetti als Amelia in ihren Arien in den siebenten Verdi-Himmel führen. Da muß man den penetranten Gianni Poggi (wie auch in der Studio-Aufnahme) in Kauf nehmen.

Ettore Bastianini als Riccardo in „La Forza del Destino“ in Japan/ youtube

Erfreulicherweise sind auch die frühen Aufnahmen des Sängers, die ihn in einem erweiterten Repertoire präsentieren, unterdessen auf CD erschienen. Zunächst eine Aida von Remington (Naxos) und Il tabarro vom NDR. Dann die erwähnten drei russischen Opern aus Florenz, aber auch französische Opern, wobei besonders Athanael in Thais den Möglichkeiten Bastianinis sehr gut entspricht, Méphisto in Berlioz‘ La damnation de Faust vielleicht etwas weniger, aber da ist die Kombination mit der Marguérite Giulietta Simionatos sehr reizvoll. Valentin in Faust ist eine sichere Bank, auch Escamillo in der Arena-Carmen aus Verona mit den Partnern Corelli und Simionato, denn diese Rolle verlangt einen echten Bassbariton mit sicherer Höhe. Im italienischen Rand-Repertoire ist noch Leoncavallos La Bohème, die ich persönlich sehr mag, von einigem Interesse, vor allem wegen Bastianinis Rodolfo. Dass der auch ein fabelhafter und stimmkräftiger Scarpia sein konnte, habe ich erst jetzt bei youtube in einer Brüsseler Tosca von 1958 (Scala-Gastspiel mit Tebaldi und di Stefano) entdeckt.

Der Autor: Der Musikwissenschaftler und Theatermann Ekkehard Pluta/ epubli/ zu biographischen Angaben s. epubli

Ein privater Sammler hat die Rundfunkübertragung von Bastianinis letztem Auftritt an der Metropolitan Opera (Don Carlo am 11. Dezember 1965) mitgeschnitten und ins Netz gestellt. Der todkranke Sänger zeigt sich da vokal in kaum merklich reduzierter Form, allenfalls bemerkt man, dass ihn das Singen anstrengt. Im gleichen Jahr hat er in Japan eine Platte aufgenommen, die ich bisher nicht kannte: „Ettore Bastianini sings Songs of Italy“, begleitet von einem Philharmonia Orchestra unter Hiroyuki Iwaki. Das Programm reicht von Di Capuas O sole mio über Cardillos Core n’grato bis zu Tostis Marechiare, La Serenata und L’ultima canzone – das ganze Repertoire also, das seit Carusos Tagen vor allem eine Domäne der italienischen Tenöre geworden ist. Dieses populäre Recital läßt noch einmal die Qualitäten dieses Ausnahme-Sängers erkennen, der sich mühelos von bassigen Tiefen bis zu glänzenden Tenorfermaten aufschwingt, und darf als ein würdiges Testament. Ekkehard Pluta

Chansons und Canzoni von Cherubini

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Mit nicht weniger als 68 unterschiedlichen Ave Maria auf fünf CDs vereint erregte die Sopranistin und Produzentin Andrea Chudak vor einiger Zeit Aufsehen, aber auch selten Aufgeführtes von Carl Maria von Weber oder Giacomo Meyerbeer hat sie zu Aufmerksamkeit verholfen und legt nun zwei  CDs mit Chansons und Canzoni von Luigi Cherubini vor, die der Komponist selbst in einer Sammlung zusammenfügte, obwohl sie weder zeitlich noch thematisch einer wahrnehmbaren Ordnung unterworfen wurden. Die CD trägt den Titel The Cracovian Album, weil die Partitur in der polnischen Stadt zu verorten ist, obwohl sie bis 1945 in Berlin beheimatet war. Die Lieder entstanden zwischen 1782 und 1834, sind für ein, zwei oder drei Stimmen und/oder Cembalo, Klavier und Violine geschrieben.

Sämtliche Kompositionen für Solostimme werden von Andrea Chudak gesungen, die auch als Produzentin auftritt, deren solide Gesangsausbildung unter anderem auf Magdalena Hajossyova, einst Primadonna der Lindenoper, zurückzuführen ist. Sie beginnt mit „Blessé par noire perfidie“ in volksliedhaftem Ton, die Stimme verfügt über Farben, die man einem jungen Mädchen zuordnen könnte, eine leichte Melancholie passt gut zum Text. Mit feiner Leichtigkeit wird das Chanson pour une fete vorgetragen, als sanftes Wiegenlied entpuppt sich „Dors, mon enfant“, in dem eine verlassene Mutter fein verschleiert, mit vielen Schattierungen   und doch für manchen Hörergeschmack etwas langatmig an der Wiege singt. Für einen starken Kontrast dazu sorgt die Romance du Phenix mit ihrer hüpfenden Leichtigkeit, ein eher verwaschen klingendes Italienisch offeriert die erste Canzonetta italiana, entschädigend durch feine Koloraturen. In schöner Tristesse wird das Schicksal im Exil beklagt, die folgenden recht umfangreichen Stücke werden vom Sopran so nuancenreich dargeboten, dass beim Hörer keine Ermüdungserscheinungen auftreten. Es folgen drei italienische Duette, in denen sich neben dem Sopran auch die Altstimme von Irene Schneider äußern darf und sich  als schöne Ergänzung des Klangbildes erweist. Den Abschluss der ersten der beiden CDs bildet das Trio pour une Fete, für das der Mezzosopran von Yuri Mizubuchi der Dritte im Bunde der Sängerinnen ist, die von Violine (Liv Migdal) und Klavier (Yuki Inagawa) begleitet werden.

Den gleichen Titel trägt und die gleiche Besetzung erfordert das erste Stück auf der zweiten CD, das mit einem sehr schönen Vorspiel beginnt. Perfekt ist der Zusammenklang der drei Stimmen, die fein instrumental geführt werden. Dann wird die CD erst einmal wieder eine Angelegenheit nur für Andrea Chudak, die auf anmutige Weise dem Chanson aus dem Jahre 1801 viele Nuancen abzugewinnen weiß.  In reizvoller Verschränkung der  Solistinnenstimmen erklingt die Canzone Italiana, für die vier Ottave gibt sich Andrea Chudak einen kokettierend schmachtenden Anstrich,  reizvolle Koloraturen sind für das Notturno aus dem Jahre 1782 gefragt und werden auch geliefert.  Eine umfangreich Ottava del Tasso, von Violine und Klavier begleitet, beschließt die CD, die für angenehme Unterhaltung sorgen kann (Thorofon CTH26732). Ingrid Wanja