Archiv für den Monat: März 2017

Roberta Knie

 

Die amerikanische Sopranistin Roberta Knie (* 13.5.1938 Cordell/ Oklahoma, USA) starb am 16. März 2017, wie wir mit Betroffenheit hörten. Als treue Anhänger der Deutschen Oper Berlin erlebten wir sie dort oft neben ihrem häufigen Bühnenpartner Jon Vickers, namentlich als Isolde, aber sie war hier auch in anderen Partien wie der Chrysothemis zu erleben. Ihr Tod kam nicht überraschend, denn die letzten Jahres ihres Lebens waren von ihrem tapferen Kampf gegen den Krebs gezeichnet, dem sie nun erlag.  G. H. 

Roberta Knie/ Isolde mit Jon Vickers an der Opéra de Quebec 1976/ Foto Isoldes Liebestod

Roberta Knie begann ihre Ausbildung an der Oklahoma University bei Norman und war dann Schülerin von Elisabeth Parham, Judy Bounds-Coleman und von der berühmten Eva Turner, die während dieser Zeit eine Professur an der Oklahoma University bekleidete. 1964 kam es zu ihrem Bühnendebüt am Stadttheater von Hagen (Westfalen) in der Rolle der Elisabeth im »Tannhäuser«. 1966-69 war sie am Stadttheater von Freiburg i. Br. engagiert. 1969 ging sie von dort aus an das Opernhaus von Graz, dem sie 1969-74 angehörte. Sie erregte 1969 am Theater von Graz in Partien wie der Salome von R. Strauss, der Tosca und der Leonore im »Fidelio« Aufsehen, dann auch am Opernhaus von Köln. Sie kam jetzt zu einer großen Karriere im hochdramatischen wie im Wagner- Fach. 1972-73 trat sie am Opernhaus von Zürich, 1973-74 am Opernhaus von Lyon als Brünnhilde im Nibelungenring auf, 1973-74 war sie am Teatro San Carlo Neapel zu Gast. 1974 sprang sie bei den Bayreuther Festspielen für eine erkrankte Kollegin als Brünnhilde ein und hatte einen sensationellen Erfolg. 1975 kam es zu ihrem USA-Debüt, als sie an der Oper von Dallas die Isolde im »Tristan« sang. 1976 gastierte sie bei den Festspielen von Bayreuth nochmals als Brünhilde im Nibelungenring. 1975 sang am Teatro San Carlos Lissabon die Salome von R. Strauss, 1976 die Brünnhilde im Nibelungenring und 1977 die Leonore im »Fidelio«, am Opernhaus von Montreal 1975 die Isolde im »Tristan«, an der New Jersey Opera 1975 die Chrysothemis in »Elektra« von R. Strauss, 1975 in Toulouse die Brünnhilde in der »Walküre« und 1977 die Isolde, 1975 in Dallas ebenfalls die Isolde, dort 1977 die Salome, 1978 die Lady Macbeth in Verdis »Macbeth«, 1980 die Turandot von Puccini. Am Teatro Colón Buenos Aires gastierte sie 1975 und 1976 als Salome, 1976 auch als Chrysothemis, an der San Francisco Opera 1976 in der »Walküre«, an der Oper von Rom 1977 als Leonore im »Fidelio« und 1980 als Brünnhilde in der »Götterdämmerung«, am Théâtre de la Monnaie Brüssel 1974 als Salome, an der Covent Garden Oper London 1978 als Isolde (mit Jon Vickers als Tristan), an der Grand Opéra Paris 1977 als Brünnhilde in der »Walküre«, an der Oper von Monte Carlo 1977 als Leonore im »Fidelio«, 1979 in der »Walküre«, an der Staatsoper Wien 1971-75 (u.a. als Leonore und als Sieglinde in der »Walküre«), 1972 an der Oper von Stockholm, 1979 am Opernhaus von Rouen, an der Chicago Opera 1977 einmal mehr als Isolde, ebenso 1980 in Washington, an der Oper von New Orleans 1981 als Salome. 1976 debütierte sie an der Metropolitan Oper New York als Chrysothemis, 1981 sang sie dort (einmal) ihre Glanzrolle, die Isolde.

Roberta Knie/ Isolde mit Gerd Brenneis an der Oéra de Lyon 1975/ Foto Isoldes Liebestod

Sie gastierte an den Staatsopern von Wien, Hamburg, München und Stuttgart, an der Deutschen Oper am Rhein Düsseldorf-Duisburg, an der Deutschen Oper Berlin, an den Opernhäusern von Mannheim, Kassel, Nürnberg und Straßburg, am Théâtre de la Monnaie Brüssel, in Bologna, Parma und Lissabon, an der Welsh Opera Cardiff, an der Königlichen Oper Stockholm, in Montreal und am Reatro Colón Buenos Aires. 1975 trat sie an der Metropolitan Oper New York auf, an der sie als Isolde erfolgreich war. Höhepunkte in ihrem Bühnenrepertoire waren die Senta im »Fliegenden Holländer«, die Elsa im »Lohengrin«, die Isolde im »Tristan«, die Sieglinde in der »Walküre«, die Brünnhilde im Ring-Zyklus, die Donna Anna im »Don Giovanni«, die Elettra in »Idomeneo« von Mozart, die Salome von Richard Strauss, die Marschallin im »Rosenkavalier«, die Leonore im »Fidelio«, die Lisa in »Pique Dame« von Tschaikowsky, die Leonore in den Verdi-Opern »La forza del destino« und »Troubadour« und die Tosca. Auch im Konzertsaal erschien sie in einem umfassenden Repertoire. 1981 kam es bei der Sängerin zu einer Stimmbanderkrankung. Sie trat 1982 nochmals am Teatro Liceo Barcelona als Salome auf, sagte aber einen Auftritt als Turandot an der Oper von Dallas ab und gab dann ihre Kariere auf (und Wikipedia.org ergänzt: Her career was disrupted by illness several times – by viral pneumonia from 1981 to 1984, by a detached retina in 1991, and by colon cancer in 2000. She died on 16 March 2017 at the age of 79, survived by her partner of 24 years, Deborah Karner.)

Schallplatten: CBC (Isolde in vollständigem »Tristan«); VAI (weitere komplette »Tristan«-Aufnahme aus Kanada, 1965). Privataufnahmen aus der Metropolitan Oper. (Quelle: Isoldes Liebestod mit Dank; auch die hier gezeigten Fotos stammen von diesem wunderbaren Blog)

 

„Singen muasst können!“

 

„Stimm‘ brauchst kane, singen muasst können.“ Dieses Bonmot ist von Julis Patzak überliefert. Er galt als kluger Mann, wirkte als Professor an der Wiener Musikakademie. Bis in sein achtundsechzigstes Lebensjahr war als sängerisch tätig. Das wundert nicht, denn Patzak hatte sein Stimme auf ein solides technisches Fundament gebaut. Genau darauf zielt sein Spruch. Stimmlich ist er nach wie vor Geschmackssache. An Ihm scheiden sich die Geister. Sein Tenor ist sehr individuell und eigensinnig, ziemlich klein, wenn nicht gar dünn. Immerhin hat er damit Floresten, Palestrina sowie den Mime gesungen. Und – als sei es nicht nur ein Bedürfnis, sondern auch eine ständige Pflichtübung – Lieder ohne Ende. Zu Schubert, Schumann und Wolf kamen Lieder aus seiner Geburtsstadt – von Grinzing, Fiakern und dem Stephansdom. Womit das Thema einer CD erreicht ist, die bei Naxos erschien: Viennese Operetta Gems (8.110292). Keine Frage, dass auch Patzak zu den Mitwirkenden gehört. Er singt den so genannten Lagunenwalzer „Ach, wie so herrlich zu schaun“ aus der Nacht in Venedig von Johann Strauß und aus Boccaccio von Franz von Suppé die Romanze „Hab ich nur deine Liebe“, die eigentlich Fiametta zugedacht ist. Dieser Geschlechtertausch ist insofern typisch für Patzak, als er sich dem berühmten Stück ausschließlich aus der Perspektive des Sängers annähert und nicht der Figur. Der Gedanke an einen Irrtum kommt so gar nicht erst auf. Schade, dass der Auftritt des Adam aus der in Wien uraufgeführten Operette Der Vogelhändler nicht auch noch einbezogen wurde. Sie ist für mich wie ein Brennspiegel der unverwechselbaren Gesangskunst von Patzak, in die er alles hinein gelegt hat, mehr noch als in die genannten Titel.

Dafür sind aber auch noch viele andere berühmte Namen aufgeboten: Elisabeth Schumann („Mein Herr Marquis“ aus der Fledermaus), Walther Ludwig und die selten auf Tonträgern anzutreffende Lillie Claus („Schenkt man sich Rosen in Tirol“ aus dem Vogelhändler), Franz Völker „Ich hab‘ kein Geld“ aus dem Bettelstudent), Marcel Wittrisch („Komm‘, Zigan“ aus der Gräfin Mariza) oder Richard Tauber („Gehen wir ins Chambre séparée“ aus dem Opernball). Bei einem Ausflug in die Operette ist die international gefeierte Opernsängerin Dusolina Giannini mit Wittrisch in dem Duett „Lippen schweigen“ aus der Lustigen Witwe dokumentiert. Tief anzurühren versteht Joseph Schmidt mit dem Lied „Ich bin ein Zigeunerkind“ aus Lehárs Zigeunerliebe. „Vem oss har vigt?“ Das ist Schwedisch und heißt „Wer uns getraut?“ Zwei muttersprachliche Opernstars, der Tenor Jussi Björling und die Sopranistin Hjördis Schymberg, garnieren mit diesem Duett aus dem Zigeunerbaron die köstliche Wiener Melange. Rüdiger Winter

Frühes im Studio

 

Wer Bellinis Erstling Adelson e Salvini von 1825 hören will, musste bislang auf die zweiaktige Fassung einer Live-Aufnahme von 1992 aus dem Teatro Bellini Catania zurückgreifen (oder auf die noch ältere von 1985 mit dem Drottningholms Barockensemble). Nun legt Opera Rara eine Neueinspielung vor, die in den Londoner  BBC Maida Vale Studios im Mai 2016 in Verbindung mit einer konzertanten Aufführung im Barbican Center am 11. 5. 2016 entstand und auf die Version in drei Akten zurückgreift (ORC56, 3 CD).

Bellini hatte 1819 mit dem Studium am Königlichen Konservatorium in Neapel begonnen (u.a. bei Zingarelli, dem Direktor des Institutes) und 1824 sein Examen abgelegt. Er bekam die Chance, eine komplette Oper zu schreiben – Adelson e Salvini mit dem Libretto von Andrea Leone Tottola, das vor ihm bereits Valentino Fioravanti vertont hatte und das 1816 in Neapel mit Giovanni Battista Rubini, Bellinis späterem Lieblingstenor, herauskam.

Die Geschichte der beiden Freunde Salvini und Adelson, dessen Verlobte Nelly vor Beginn der Handlung von seinem Feind Lord Struley entführt wurde, dann aber zurückkehrt und auch von Salvini begehrt wird, spielt in Irland und behandelt den Konflikt zwischen der Loyalität gegenüber dem Freund und der Leidenschaft für die Geliebte. Das ergibt turbulente Verwicklungen, gipfelnd in Salvinis Selbstmordversuch, den Adelson verhindert, und dem Anschlag auf Nelly als Folge seiner Sinnesverwirrung. Nelly aber ist unverletzt und kann mit Adelson, der Salvini verzeiht und ihn zurück schickt nach Italien, Hochzeit feiern.

Die Musik dieser Opera semiseria steht ganz in der Tradition Rossinis – jenes Komponisten, der mit seinen Werken in dieser Zeit das Teatro San Carlo in Neapel dominierte. Mit Salvinis Diener Bonifacio hat Bellini seinen einzigen echten Buffo-Charakter geschaffen, der an entsprechende Figuren aus Rossinis Barbiere und der Cenerentola erinnert. Die Einteilung in Gesangsnummern und gesprochene Dialoge spiegelt wiederum den Einfluss der opéra comique wider (stand Neapel von 1806 bis 181 doch unter französischer Herrschaft).

Für die Besetzung waren drei männliche Altisten, ein Tenor und vier Baritone bzw. Bässe vorgesehen. Die zentrale Partie der Nelly, Adelsons Verlobte und auch von Salvini geliebt, übernahm der 14jährige Giacinto Marras, der später eine erfolgreiche Karriere in ganz Europa machen sollte. In der Neuaufnahme gibt es natürlich keine Travestie-Besetzung, hier singt Daniela Barcellona, deren Timbre bekanntermaßen nicht jedermanns Geschmack ist (auch meiner nicht), aber als Nelly gelingt ihr ein sehr kultivierter Vortrag. Die Auftrittsromanze „Dopo l’oscuro nembo“ (später Giuliettas „Oh quante volte“ aus den Capuleti von 1830) singt sie mit schlanker Tongebung, kontrolliertem Vibrato und geschmackvoll verziertem Da capo. Nur im Finale des Werkes stellt sich in der Höhe wieder der maskulin-strenge Ton ein.

Der erste der beiden Titelhelden, der sich im Finale des 1. Aktes mit einem kantablen Thema einführt, ist Simone Alberghini mit einem Bassbariton von schöner Farbe. Seine Stimme ist leichtfüßig genug, um die flinken Nummern seiner Partie, so das muntere Duett mit Salvini im 2. Akt oder das gleichfalls lebhafte mit Bonifacio zu Beginn des letzten Aufzugs, mühelos zu absolvieren.

Schon in diesem Frühwerk gibt es mit dem Salvini eine heikle Tenorpartie in exponierter Terssitura, die bereits den Arturo der Puritani vorwegnimmt. Dafür besitzt Enea Scala die passende Stimme mit sinnlich-jugendlichem Klang und schwärmerischer Emphase. Ihm fällt die letzte Arie der Oper zu, in der in der er seine ewige Liebe zu Nelly beteuert und in der auch der Opera Rara Chorus (Eamonn Dougan) mitwirkt. Es ist ein schmachtendes, reich ornamentiertes Solo, in welchem der junge Sänger seine hohe Kunstfertigkeit demonstriert. Salvinis  Diener Bonifacio lässt mit seinem munteren Geplapper an Rossinis buffoneske Charaktere denken, und Maurizio Muraro ist mit seinem eloquenten Bass dafür der ideale Interpret. Souverän meistert er das zungenbrecherische Tempo seiner Kavatine „Bonifacio Voccafrola?“, das sich in einem typisch rossinianischen accelerando immer mehr steigert. Nicht weniger Gewandtheit verlangt seine Arie im 2. Akt „Taci, attendi“, und auch hier erweist sich Muraro als Meister.  Als Colonel Struley, Adelsons Feind, lässt Rodion Pogossov einen virilen Bassbariton mit grimmigem Ausdruck hören, der dennoch auch eine vollendete Kantilene zu formulieren versteht. Mit seinem Freund Geronio eröffnet er den 2. Akt mit einem Duett, in welchem David Soar mit seinem Bass die Besetzung solide ergänzt.

Zu Lord Adelsons Personal gehören noch die junge Bedienstete Fanny (Kathryn Rudge mit feinem Sopran in der melancholischen Introduzione) und die Gouvernante Madama Rivers (Leah-Marian Jones gebührend resolut).

Die Sinfonia nimmt die zum Pirata vorweg und stellt eines jener dramatisch bewegten Motive vor, wie man es später auch in der Norma vernimmt. Und Bellini leitet mit diesem Thema auch das ausgedehnte Finale 1 seines Erstlings ein. Dessen Bausteine sind ein erregter Dialog zwischen Nelly und Salvini, während Bonifacio gemäß seiner buffonesken Anlage den Charakter der Szene zum Heiteren verändert. Fanny, Geronio und Madama Rivers stoßen hinzu und machen das Ganze zu einem wirbelnden Ensemble, dessen Schlussteil „Di piacer la voce“ fast ein Zitat aus der Cenerentola darstellt. Daniele Rustioni findet mit dem BBC Symphony Orchestra die richtige Balance zwischen den elegischen und quirligen Teilen der Komposition, sorgt in den drei Finali für wirkungsvolle Steigerungen und ist den Solisten jederzeit ein einfühlsamer Begleiter.

Die von Opera Rara verwendete kritische Edition der Casa Ricordi berücksichtigt den aktuellen Stand der Erkenntnisse, ist Bellinis Autograph doch nur unvollständig erhalten. Die vier Nummern des Anhangs stellen jene Revisionen und Zusätze vor, welche Bellini 1828 für eine geplante Wiederaufführung seines Werkes, das nach Bianca e Fernando (1826) und vor allem Il pirata (1827) in Vergessenheit geraten war, vorgenommen hatte. Da gibt es eine kürzere Variante von Nelly Arie „Dopo l’oscuro nembo“ und ein verändertes Duett von Salvini und Bonifacio, in welchem der Tenor Töne in der Extremlage zu bewältigen hat, welche schon auf die Puritani verweisen. Überhaupt kann sich Scala in den Tracks des Anhangs erst richtig profilieren, denn auch in einer Version des ersten Finales, kann man ihn in dieser Region hören, während Barcellona hier wieder mit ihren Verzerrungen in der Höhe aufwartet.

Die Ausstattung der Opera Rara-Ausgaben gibt sich inzwischen bescheidener – ein schlichter Schuber statt einer schmucken Konfektschachtel und weniger historische Abbildungen mit den berühmten Interpreten jener Zeit. Aber der Sammler freut sich über jede Neuveröffentlichung aus dem vergessenen Repertoire des 19. Jahrhunderts, was die Firma zu weiteren Taten ermuntern sollte. Bernd Hoppe

Ma che coraggio!

 

Alle Frühwerke  Giuseppe Verdis bis hin zum Macbetto wollen die Heidenheimer Festspiele unter ihrem Leiter Marcus Bosch in den kommenden Jahren aufführen und haben 2016 zwangsläufig mit dem ersten überlieferten, nämlich Oberto (eigentlich mit dem Zusatz Conte di San Bonifacio) begonnen. Eine Aufzeichnung davon liegt jetzt auf zwei CDs vor. Das Cover kündet von einer halbszenischen Aufführung mit vielen Stühlen, auf denen die Solisten offensichtlich auch ab und zu balancieren mussten, was dem Gesang wahrscheinlich nicht zuträglich war, aber selbst bei Halbszenischem und bei ansonst trauten Festspielen ist man offensichtlich als Sänger nicht mehr vor eigentlich Unzumutbarem sicher.

Die Oper jedenfalls ist unverkennbarer Verdi, und sowohl die Capella Aquilea wie der Chzech Philharmonic Choir Brno stellen sich mit viel feinsinnigem Brio kultiviert federnd darauf ein und machen unter Marcus Bosch einen guten Eindruck, wirken insbesondere bei den Finali mitreißend.

Erfreut ist man über das Textbuch in drei Sprachen, auch wenn die Trackliste nicht ganz zutreffend ist und auch mal Sätze, die es im Italienischen gibt, im Deutschen und Englischen weggefallen sind. Eine Besetzungsliste am Anfang des Booklets gibt es nicht, man muss sich Namen und dazu gehörende Rolle aus den Biographien zusammensuchen, wenn man nicht zufällig auf die Angaben nach einem Aufsatz über das Werk gestoßen ist, wo aber der Tenor irreführend als Bariton geführt wird.

Dass die Oper nicht zum gängigen Repertoire gehört, mag auch an der spröden Handlung liegen. Ein in seiner und der Tochter  Ehre gekränkter Vater schreitet unbeirrt zur Rache, obwohl die neue Verlobte auf den Ungetreuen verzichten und die beiden einst Verlobten wieder zusammen führen will. Er fordert den zum Rücktausch Bereiten heraus, wird getötet, die Tochter geht ins Kloster, der siegreiche Duellant flieht ins Ausland und die edelmütige Zweitbraut bleibt betreten zurück.

Für die Titelpartie hat man mit Woong-Jo Choi einen der typischen machtvoll-weichen Bässe eingesetzt, die angenehm samtig klingen können und von schönem Ebenmaß sind. In der Cabaletta im zweiten Akt entwickelt der Bass auch den bis dahin etwas fehlenden Furor, den man für die Rolle haben sollte. Adrian Dimitru, der den ungetreuen Riccardo singt, ist zweifelsfrei ein Tenor, wenn auch einer der eher wehleidig als melancholisch klingen, leicht meckernden Art, dessen Stimme manchmal zu eng klingt, der aber eine achtbare Cabaletta singt und im Duett mit dem Mezzosopran an Stimmschönheit gewinnt. Die verlassene Braut Leonora hat mit dem Sopran von Anna Princeva ein apartes Timbre, singt mit schönem Legato und findet besonders in der Mittellage zu innigen Tönen, während die Höhen oft nur angetippt werden. Anrührend wird die Schlussarie gesungen, wenn auch mit beachtlichen Einschwingzeiten. Die schönste Stimme hat der Mezzosopran Katerina Hebelkova als verzichtsbereite Cuniza mit viel Leuchtkraft, schöner Agogik und sehr spritzig in der Cabaletta.

Auf die weiteren Projekte der Festspiele darf man gespannt sein, so auch darauf, ob es gelingt, die richtigen Soprane für die in dieser Hinsicht schwer zu besetzenden Frühwerke zu engagieren (Coviello 2 CD COV 91702), Ingrid Wanja      

Eine Oper, zwei Dirigenten

 

Gut Ding will Weile haben. Dies gilt dieser Tage für die russische Melodia, die dankenswerterweise ihre Archive öffnet, eine fast fünfzig Jahre alte Einspielung der Oper Der goldene Hahn von Nikolai Rimski-Korsakow ausgräbt und erstmals auf CD herausbringt (MEL CD 10 02331). In mancherlei Hinsicht ist diese letzte Oper Rimskis Meisterwerk. Komponiert in den Jahren 1906 und 1907, erfolgte ihre Uraufführung erst am 24. September 1909 (jul.) in Moskau. Zu diesem Zeitpunkt war der Komponist schon über ein Jahr lang tot. Die Gründe für die späte Erstaufführung liegen in der russischen Zensur begründet, die eine implizite Systemkritik vermutete. Obschon von Rimski-Korsakow nicht intendiert, konnte man den ausschweifenden und zügellosen König Dodon doch auf das seinerzeit in seinen letzten Zügen liegende Zarentum beziehen, so wenig Kaiser Nikolaus II. auch mit dem Dargestellten gemein haben mochte.

Als Grundlage für das von Wladimir Bjelski entworfene Libretto diente das gleichnamige Märchen von Alexander Puschkin (1834), welches seinerseits wiederum auf der „Sage vom arabischen Astrologen“ des amerikanischen Schriftstellers Washington Irving von 1832 beruhte. Tatsächlich muss Rimski-Korsakows Oper Der goldene Hahn neben Der unsterbliche Kaschtschei und Die Legende von der unsichtbaren Stadt Kitesch zu den tiefgründigsten seiner Werke gezählt werden. Ihnen gemein ist die späte Entstehungszeit im letzten Lebensjahrzehnt des Komponisten, als Rimski auf dem Höhepunkt seines Schaffens stand. Den Rahmen der Oper stellt der mysteriöse Astrologe dar, der im Prolog zunächst die nachfolgende Handlung ankündigt und im abschließenden Epilog davor warnt, das düstere Finale allzu ernst zu nehmen. Das markante Astrologenthema sollte ein halbes Jahrhundert später in Prokofjews siebter und letzter Sinfonie abermals auftauchen und wohl für dessen noch unbeschwerte Jugendzeit vor der dem Ersten Weltkrieg und der Oktoberrevolution mit all ihren Folgen stehen.

Nikolai Rimski-Korsakow auf einem Gemälde von Walentin Serow, das 1898 entstand. Foto: Wikipedia 

Der sichtlich überforderte und regierungsmüde König Dodon vertraut sich und sein Reich dem Rat des Astrologen an, der absurderweise einen goldenen Hahn, der bei jeder Gefahr mit den Schwingen schlägt und lauthals kräht, als Lösung für alle Probleme vorschlägt. Die Belohnung Dodons schlägt der gewitzte Mann zunächst aus. Des Königs Söhne, die sich als nicht minder unfähig erweisen, ziehen beim ersten Alarmruf in den Krieg, während sich Dodon nach der geheimnisumwitterten Königin von Schemacha sehnt. Nur widerwillig rückt auch der König schließlich ins Feld aus, wo er seine geschlagene Armee und seine toten Söhne vorfindet. Tatsächlich stößt er auch auf die von ihm begehrte Königin, und in der Folge stellt sich heraus, dass sich die beiden Prinzen im Streit um sie gegenseitig umbrachten. Dodon, der der Königin vollends verfällt, will sie zur Frau nehmen und ihr sein Reich vermachen. Jetzt tritt abermals der Astrologe in Erscheinung, der nun unverhofft eben jene Königin als seine Belohnung einfordert. Dies kostet ihm das Leben, erschlägt ihn Dodon doch wutentbrannt, worauf sich freilich die Szene verdunkelt und er nun seinerseits vom goldenen Hahn zu Tode gehackt wird. Die Königin von Schemacha sucht mit dem Hahn ihr Heil in der Flucht, während sich das Volk mit der neuartigen Situation abfindet.

Wie so häufig, erweist sich die sowjetische Einspielung von Melodia als mustergültig. Es handelt sich um die CD-Premiere der 1968 entstandenen ersten Studioeinspielung dieses Werkes mit dem Rundfunk-Symphonieorchester der UdSSR. Merkwürdig ist die Nennung zweier Dirigenten, nämlich Alexei Kowalew und Jewgeni Akulow. Eine mögliche Erklärung hierfür — das Booklet liefert keinerlei Informationen — ist die separat erschienene Schallplatteneinspielung des zweiten Aktes mit Galina Oleinitschenko, angeblich ebenfalls unter der Stabführung der genannten Orchesterleiter. Womöglich kam es hier zu einer später nicht mehr aufzuklärenden Verwechselung, so dass man vorsichtshalber beide Dirigenten aufführte. In der Gesamtaufnahme jedenfalls singt Klara Kadinskaja die Rolle der Königin und wird dieser durch kraftvolle Höhe und mädchenhafte, verführerische Tongebung absolut gerecht. Alexei Korolew weiß gerade durch seine nicht mehr ganz auf ihrem Zenit befindliche Stimme und durch überlegene Gestaltung als alternder König zu überzeugen. Gennadi Pischtschajew kommt als Astrologe dem Rimski-Korsakow vorschwebenden Ideal eines „tenore altino“ sehr nahe und berührt mit typisch östlich-slawischem Timbre. Die Nebenrollen sind ebenso hochkarätig besetzt: Der Bassist Leonid Ktitorow gibt den umsichtigen General Polkan und die charakteristische Altistin Antonina Kleschewa die Aufseherin Amelfa. Auch die Prinzen Gwidon und Afron werden durch den Tenor Juri Jelnikow und den Bariton Alexander Poljakow vorzüglich ausgefüllt und bestechen durch geschmeidige Stimmführung. Schließlich verleiht Nina Poljakowas teils schneidender Sopran der Titelrolle eindringliche Präsenz. Der Große Rundfunkchor der Sowjetunion fügt sich tadellos ins Gesamtbild ein, während das Dirigentenduo Kowalew/Akulow das Ensemble zu Höchstleistungen anfeuert. Die von G. Braginski und N. Andrejewa verantwortete Tontechnik mit ihrem vollen Stereoklang rundet den sehr gelungenen Eindruck dieser Produktion ab.

Die nicht eben umfangreiche Diskographie des „Goldenen Hahns“ wird durch diese nunmehr wieder greifbare Einspielung ganz ohne Frage bereichert. Sie kann sich gut neben den beiden Aufnahmen Jewgeni Swetlanows (CD: Melodia 1988; DVD: NHK 1989) behaupten, ergänzt diese um eine weitere Facette und repräsentiert das sowjetische staatliche Plattenlabel zu seinen Glanzzeiten.Daniel Hauser

PS.: Eine Nachfrage bei Melodia konnte das Geheimnis um die zwei Dirigenten lüften: Tatsächlich begann Alexei Kowalew die Einspielung bereits im Jahre 1962, wurde aber nach einem Konflikt entlassen. Erst sechs Jahre später gelang die Vollendung der Aufnahme dann in einem zweiten Anlauf unter Jewgeni Akulow. Interessanterweise wurde Kowalews Name, entgegen den damals gängigen sowjetischen Gepflogenheiten, nicht unterdrückt und bereits auf der LP-Ausgabe ausdrücklich genannt. 

Nymphisches

 

Die Reihe der Einspielungen von Werken Johann Simon Mayrs setzt Naxos mit dem Dramma per musica Telemaco nell’isola di Calipso fort, das 1797 in turbulenten politischen Zeiten im von Napoleons Truppen besetzten Venedig zur Uraufführung kam (8.660388-89). Viele Komponisten haben die mythologische Geschichte von Telemaco vertont. Der Sohn Ulisses strandet auf einer Insel und begegnet dort der Göttin Calipso, die einst von seinem Vater verlassen wurde, wofür sie sich am Sohn rächen will. Für diesen empfindet die Nymphe Eucari Zuneigung, was Calipsos Zorn hervorruft, denn auch sie schwankt zwischen Liebeshoffnung auf Telemaco und Zorn. Mentore, Telemacos Freund und Begleiter, der zunächst vermisst wird, später aber erscheint und von Calipso umgarnt wird, gemahnt seinen Schützling zur Abreise von der Insel. Statt Liebesabenteuern soll er sich für Heimat und Ehre entscheiden.

Spiritus rector des Unternehmens ist der Dirigent Franz Hauk, der 2003 den Simon Mayr Chor gründete und viele Produktionen der Serie verantwortete. Auch hier steht er am Pult, diesmal des Concerto de Bassus – einem Ensemble, das sich aus Studenten und Absolventen der Münchner Universität für Musik und Darstellende Künste zusammensetzt. Dem Dirigenten gelingt eine solide Einspielung, die vor einer konzertanten Aufführung des Werkes am 5. September 2015 in Neuburg an der Donau entstand.

Die Besetzung wird dominiert von vier Sopranen, die sich in ihren Timbres nicht sonderlich voneinander abheben, was das Klangbild etwas einförmig macht. Siri Karoline Thornhill in der Titelrolle singt kultiviert und hat in einer Kavatine von mozartscher Gefühlstiefe („Bella Dea“) Gelegenheit für empfindsamen Gesang. Auch ihr Solo im 2. Akt („La bella età d’amore“) gefällt mit den lieblich getupften Tönen. Für die Calipso setzt Andrea Lauren Brown eine gleichfalls gepflegte Stimme ein, die in der Arie „Amore è un Nume“ im 2. Akt Contessa-Töne vernehmen lässt und im Finale mit „Furie spietate“ ihre Unsterblichkeit verflucht. Mit einem Furor gleich der Elettra gelingen der Sängerin hier die stärksten Momente. Jaewon Yun als Nymphe Eucari äußert sich mit gebührend lieblichen Klängen; Katharina Ruckgaber als Sacerdote di Venere komplettiert mit beherzten Koloraturen das Sopran-Quartett.

Eine zentrale Partie des Werkes, Telemacos Freund Mentore, fällt dem Tenor zu. Hier ist es der in diesem Genre versierte Markus Schäfer, dessen Timbre freilich hin und wieder einen buffonesken Anflug nicht verhehlen kann. Das steht der Tito-nahen Figur, die sich im 1. Akt mit „Vivo ancor“ energisch auftrumpfend einführt, im Wege. Immerhin gelingt es dem Interpreten, das erste Finale zu dominieren und im 2. Akt sein von Bläsern martialisch eingeleitetes Solo „L’alloro guerriero“ mit Nachdruck zu formulieren. Nach der Mitwirkung in zwei mehrstimmigen Gesängen – einem Quartett und dem stürmischen Sextett im 2. Akt – ist der tiefsten Männerstimme der Besetzung, dem Sacerdote di Bacco, mit „Quell’orgogliosa fronte“ dann doch noch eine Arie zugeteilt. Niklas Mallmann singt sie mit energischem Zugriff in Figaro-Nähe.

Der Simon Mayr Chorus kann in der erregten Szene des 3. Aktes („Ah, che fai!“). die deutlich an die dramatisch aufgewühlte Situation in Idomeneo erinnert, Wohlklang und Expressivität vereinen. Mit den verzweifelten Einwürfen des Telemaco beweist Thornhill auch ihr dramatisches Potential. Mayrs Musik zwischen Mozart und Rossini ist zumeist leichtfüßig und von großem Liebreiz, hat aber durchaus ihre Sturm und Drang-Momente. Von heiterer Munterkeit gleich einem Menuett tönt der Ballo des 1., von transparenter Zartheit der des 2. Aktes. Eine Tempesta in der Tradition Rossinis lässt aufgewühlte Turbulenzen vernehmen. Hauk hat für all diese Stimmungen das richtige Gespür und erweitert seine Mayr-Serie um einen gewichtigen Baustein. Bernd Hoppe

Vivaldi mit Rätseln

 

Reizvoll ist das Programm einer neuen CD bei Ëvoe Records mit dem Titel Carnevale di Venezia (ËVOE 003). Zu hören sind Arien und Instrumentalstücke aus fünf Opern und drei geistlichen Werken Vivaldis, die von der Cappella dell’Ospedale della Pietà Venezia unter Leitung von Stefan Plewniak musiziert werden – einem Klangkörper, der nach dem venezianischen Vorbild im 18. Jahrhundert nur mit jungen Musikerinnen besetzt ist. Damals waren es Waisen, die in diesem Orchester, das von Vivaldi selbst gefördert wurde, Zuflucht fanden. 2013 hatte Plewniak die Initiative, ein Ensemble nach dem historischen Modell zu gründen, um diese Tradition wieder zu beleben. Die Gesangssolisten sind die Mezzosoprane Miriam Albano und Natalia Kawalek sowie der Counter Jakub Józef Orlinski. Leider sind im Booklet die einzelnen Arien den beiden Interpretinnen nicht zugeordnet, so dass nur eine pauschale Beurteilung der zwei Sängerinnen möglich ist. Die Beiträge des Countertenors sind dagegen auf Grund des Stimmtyps eindeutig auszumachen, obwohl auch sie nicht ausgewiesen sind. Er beginnt mit „Vedrò con mio diletto“ aus Il Giustino, einer sehr getragenen, empfindsamen Arie, die er klangvoll und mit großer Kultur vorträgt. Auch im folgenden „Sento in seno“ aus derselben Oper, sehr delikat mit pizzicato-Tupfern eingeleitet, weiß er mit subtiler Stimmführung zu beeindrucken. Mit virtuosen Koloraturläufen unterstreicht er sein technisches Niveau im rhythmisch energischen  „Longe mala“ aus der Motette RV 629 sowie in der letzten Nummer der Programmfolge, dem furiosen „Fara la mia spada“ aus Il Tigrane, in welchem sich der Sänger fulminant behauptet.

Die Mezzosoprane singen Arien aus L’Olimpiade (das Gleichnis vom Schiff in den Wellen „Siam navi all’onde“ mit beeindruckendem Fluss der Koloraturen), Griselda („Ombre vane“), dem Oratorium Juditha Triumphans („Armate facae“) und Il Farnace (das klirrend frostige „Gelido in ogni veno“). Die beiden Stimmen unterscheiden sich im Timbre nicht wesentlich und haben gelegentlich einen etwas strengen Beiklang, zeichnen sich aber durch hohe Virtuosität aus.

Die Cappella erhöht den musikalischen Gesamteindruck der Platte mit den drei Sinfonie beträchtlich. Die zu L’Olimpiade eröffnet in stürmisch aufgewühltem Duktus das Programm und lässt sogleich das hohe künstlerische Niveau des Klangkörpers erkennen, der mit vitaler Energie und reicher Agogik aufwartet. Später folgen noch die Ouvertüren zu Il Farnace und Il Giustino, auch diese kontrastreich im Wechsel von bewegten und kantablen Sätzen. Die Ausgabe begleitet ein aufwändig gestaltetes Booklet in fünf (!) Sprachen. Bernd Hoppe

 

Kurt Atterberg: „Aladin“ zum zweiten

Seit Generalintendant Joachim Klement und Operndirektor Philipp Kochheim beim Staatstheater das Sagen haben, gab und gibt es in Braunschweig immer wieder Ausgrabungen unbekannter und fast vergessener Opern, wie neben der kleinen Reihe amerikanischen Musiktheaters (Hexenjagd von Robert Ward, Mansfield Park von Jonathan Dove, Argentos Reise des Edgar Allan Poe u.a.) Falena von Antonio Smareglia, Sturmhöhe von Bernard Herrmann oder Jeno Hubays fulminante Anna Karenina, um nur einige zu nennen. In der für Intendanten und Operndirektor zu Ende gehenden Braunschweiger Zeit – Klement wird Schauspielchef in Dresden, Kochheim ab Mai 2017 General Manager und Artistic Director des Opernhauses Aarhus – gibt es noch zwei absolute Raritäten, ab Ende April Riccardo Zandonais Giulietta e Romèo und nun (am 11. März 2017) Aladin von Kurt Atterberg (1887-1974). Nun also die Kritik zur Aufführung am 11. März, ein ausführlicher Artikel zu Atterberg selbst und seiner Beschäftigung mit dem Sujet von von Christian Steinbock und Stig Jacobsson folgt.

Kurt Atterberg/ youtube

Der schwedische Komponist wurde in Stockholm zum Ingenieur ausgebildet und arbeitete dort von 1912 bis 1968 am Königlichen Patentamt, ab 1936 in leitender Position. Trotz weniger musikalischer Studien in Stockholm und in Deutschland war Atterberg weitgehend Autodidakt. In den Jahren 1916 bis 1922 dirigierte er am Stockholmer Schauspielhaus, von 1919 bis 1957 war er als Musikkritiker für eine überregionale schwedische Morgenzeitung tätig; außerdem leitete er von 1924 bis 1947 die schwedische Komponistenvereinigung. Neben neun Sinfonien, die ab und zu noch zu hören sind, zahlreichen weiteren Orchesterwerken und einiger Kammermusik komponierte er etliche Schauspielmusiken sowie fünf Opern, die inzwischen alle in Vergessenheit geraten sind (eine Aufführung von Fanal aus der Stockholmer Oper von 1957 mit Ingvar Wixel und Barbro Ericson ist Sammlern nicht fremd). 1922 wurde Atterberg mit der Aufführung seiner 3. und 4. Sinfonie in Deutschland weiteren Kreisen bekannt; besonderen Erfolg hatte er mit der 1929 in Köln uraufgeführten 6. Sinfonie, mit der er den Internationalen Schubert-Wettbewerb der Plattenfirma Columbia gewann. Atterberg gilt als einer der führenden Komponisten der zweiten Generation schwedischer Spätromantiker. Er befürwortete die Idee, dass romantische Musik die nationale Identität stärken sollte, während seine Gegner den Charakter moderner Musik als übernational definierten. Ab 1933 intensivierte sich Atterbergs Zusammenarbeit mit deutschen Komponisten und Librettisten. Er verteidigte stets die nationalsozialistische Kulturpolitik, was sich auch darin zeigte, dass er von 1935-38 als Generalsekretär des „Ständigen Rats für die internationale Zusammenarbeit der Komponisten“, einer Organisation der Reichsmusikkammer, tätig war.

Zu Atterbergs „Aladdin“: die Königliche Oper Stockholm/ Wikipedia

Dazu auch ein Einschub von Wikipedia: Während der Zeit des Nationalsozialismus wurde die Zusammenarbeit mit deutschen Komponisten und Librettisten noch intensiviert. Seine Symphonien wurden von bedeutenden Dirigenten wie Wilhelm Furtwängler oder Arturo Toscanini aufgeführt. Insbesondere seine Opern Fanal und Aladdin wurden in deutschen Opernhäusern aufgeführt, allerdings nur in regionalen Opernhäusern, nicht in den Metropolen. Seine standhafte Befürwortung der nationalsozialistischen Kulturpolitik wird dadurch unterstrichen, dass er von 1935-1938 als Generalsekretär des Ständigen Rats für die internationale Zusammenarbeit der Komponisten, einer Organisation der Reichsmusikkammer, fungierte. Nach dem 2. Weltkrieg wurde Atterberg, auch wegen antisemitischer Äußerungen in seiner Korrespondenz, als Nazi-Sympathisant beschuldigt. Eine von ihm beantragte Untersuchung durch die Kungliga Musikaliska Akademien entlastete ihn allerdings formal. In der Folge wurde Atterberg allerdings von vielen Kollegen gemieden und wurde zu einer Randfigur. Zum Beispiel musste 1952 seine überarbeitete erste Oper Härvards Heimkehr nach der Premiere abgesetzt werden, da für die nächste Aufführung zu wenige Karten verkauft wurden. (…) Zusammen mit Ture Rangström war Atterberg der führende Tonsetzer der zweiten Generation schwedischer Spätromantiker und damit mit diesem zusammen gleichsam Fortsetzer der durch Wilhelm Peterson-Berger, Wilhelm Stenhammar und Hugo Alfvén begründeten Tradition. Er war ein Befürworter der Idee, dass romantische Musik die nationale Identität stärken sollten, während seine Gegner den Charakter moderner Musik als übernational und kosmopolitisch definierten.  Während seine fünf Opern in Vergessenheit gerieten, sind seine neun Sinfonien wieder häufiger zu hören. Zu seinen Opern gehören Härvard der Harfner 1916- 18/ 1952, Wogenross 1923- 24, Fanal 1929 – 32, Aladdin (sic!) 1936 – 41 und Der Sturm 1946 – 47; dazu die Ballette Per Schweinehirt 1914 – 15, Ballettskizzen 1919 und Die törichten Jungfrauen 1920. (Wikipedia)

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Nach 1945 wurde Atterberg – auch wegen antisemitischer Äußerungen in seiner Korrespondenz – als Nazi-Sympathisant beschuldigt. Eine von ihm beantragte Untersuchung durch die Königliche Musikalische Akademie entlastete ihn jedoch nur formal. In der Folgezeit geriet er auch infolge seines konsequenten Festhaltens am romantischen Kompositionsstil weitgehend in Vergessenheit.

„Aladin“ von Kurt Atterberg am Staatstheater Braunschweig/ Szene/ Foto Volker Beinhorn

Wie der Regisseur Andrej Woron im Interview im NDR zu Aladin sagte: „Die Musik hat manchmal sehr wagnerianische Züge, Rhythmus, manchmal Riesen-Pathetik, aber sie hat auch gleichzeitig sehr lyrische, fast melancholische Momente und musikalische Feinheiten. Das ist romantische Musik, großer symphonischer Klang. Dieses Werk ist interessant! 1941 ist das geschrieben worden. Diese Zeit steht immer ein bisschen unter einer Art Zensur. Ich glaube, sie ist in eine Art von Vergessenheit geraten. So etwas muss man schon ausgraben, finden. Und für mich ist diese Oper ein solches Fundstück.“

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Die Oper Aladdin (im schwedischen Original mit -dd-) wurde am 18. März 1941 an der Königlichen Oper uraufgeführt. Dazu hatten Atterberg und seine Frau Margareta den Text ins Schwedische übertragen. Bei der Uraufführung sangen Einar Andersson (Aladdin), Ruth Moberg (Yasmine), Joël Berglund (Muluk), Björn Forsell, Arne Wirén, Leon Björker und Folke Johnson. S. A. Axelson dirigierte. Die deutsche Erstaufführung fand am 18. Oktober 1941 in Chemnitz statt.  Obwohl der Intendant euphorisch urteilte: „Schon nach der Ouvertüre starker Beifall, der sich von Bild zu Bild steigerte und zum Schluss zu lebhaften Ovationen anwuchs. Glaube an den bleibenden Erfolg dieses publikumswirksamen Werkes.“, war der Erfolg allerdings bescheiden, und es kam seither zu keiner weiteren Aufführung. (Wikipedia). Was natürlich auch an dem fortschreitenden Weltkrieg gelegen haben dürfte.

Dass die Oper danach bis zur Braunschweiger Premiere niemals mehr aufgeführt wurde, könnte sich in der Sympathie des Komponisten zum Nationalsozialismus gründen. Denn das Werk hat eigentlich alles, was eine „Märchenoper für Erwachsene“ aus Tausendundeiner Nacht haben muss: Aladin ist ein junger Held, der die schöne, aber anfangs verschleierte Prinzessin Laila liebt, die Tochter des Sultans von Samarkand. Sein Gegenspieler ist der böse Großwesir Muluk, der mit Laila auch die Macht in Samarkand erringen will. Es gibt eine Höhle voller Schätze, in der mit Hilfe des gutmütigen Geistes Dschababirah eine Wunderlampe errungen wird, mittels derer alles auf das selbstverständliche Happy End zuläuft.

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„Aladin“ von Kurt Atterberg am Staatstheater Braunschweig/ Szene/ Foto Volker Beinhorn

Regisseur und Ausstatter Andrej Woron hatte es sich versagt, abgesehen von wenigen Andeutungen, eine orientalische Märchenwelt auf die Bühne zu stellen. Vielmehr ging er bei den Kostümen durch alle Jahrhunderte vom Mittelalter bis zur Gegenwart; das sollte wohl zeigen, dass zu allen Zeiten im Märchen das Gute über das Böse siegt. Die Höhle voller Juwelen und Kostbarkeiten war ein eher nüchterner Bank-Tresorraum, an dessen Boden die Choristen mit schwarzen Umhängen wie griechische Klageweiber wirkten. So blieben die zum Stoff aus Tausendundeiner Nacht gehörenden Orientalismen allein der schwelgerischen Musik überlassen, wo sie allerdings in reichlichem Maß zu hören waren. Im Übrigen stand auf der Drehbühne ein riesiger, zunächst mit einem schwarzen Schleier verhängter Würfel (wie die Kaaba in Mekka), der mit aufklappbaren Gitter-Wänden auf verschiedenen Ebenen bespielbar war. Das Personal im Sultans-Palast war schließlich zum Vergnügen des Publikums satirisch aufgepeppt, indem der Sultan selbst dem jetzigen Herrscher vom Bosporus bis zum Kaukasus ähnelte; dort trafen sich Politiker vom neuen amerikanischen Präsidenten über die deutsche Bundeskanzlerin im Blazer mit Rautenzeichen bis zur wie immer auffällig gekleideten Grünen-Politikerin. Manch andere Bezüge zur Gegenwart wie die Diskussion über die Verschleierung von Frauen oder die Zerstörung von Kulturgütern durch den so genannten „Islamischen Staat“ wirkten dagegen etwas krampfhaft. Befremdlich war in diesem Zusammenhang auch teilweise die Kostümierung, wie beispielsweise die des guten Geistes Dschababirah, der u.a. mit Transparent-Anzug über der Unterhose aufzutreten hatte (Künstlerische Mitarbeiterin Kostüme: Hanna Sibilsiki).

Insgesamt gelang allen Mitwirkenden eine eindrucksvolle Umsetzung des Märchenstoffes, wenn auch die Diktion teilweise zu wünschen übrig ließ; da mussten die Obertitel dem Verständnis aufhelfen. Michael Ha gestaltete den reichlich naiven Aladin gut nachvollziehbar; sein charakteristischer Tenor gefiel vor allem in den wenigen lyrischen Teilen der Partie; die Höhen klangen hin und wieder angestrengt. Eine ansehnliche Laila war Solen Mainguené, die mit ihrem in allen Lagen abgerundeten, durchschlagskräftigen Sopran begeisterte. Mit wie immer großvolumigem Bass gab Selçuk Hakan Tiraşoğlu den guten Geist, der zunächst als blinder Bettler auftrat. Aladins Gegenspieler, der machtgeile Großwesir Muluk in Parade-Uniform, war Oleksandr Pushniak, der erst im zweiten Teil zeigte, zu welch dramatischer Attacke sein Bariton fähig ist. Sultan Nazzedrin war mit schütterem Bassbariton Frank Blees, während in Nebenrollen die stimmstarken Chor-Solisten Justin Moore, Patrick Ruyters, Yuedong Guan und  Franz Reichetseder ausgesprochen positiv auffielen.

„Aladin“ von Kurt Atterberg am Staatstheater Braunschweig/ Szene/ Foto Volker Beinhorn

Der von Georg Menskes einstudierte Chor erfüllte klangausgewogen seine auch darstellerisch anspruchsvollen zahlreichen Aufgaben. Das aufmerksame Staatsorchester ließ unter der sicheren Leitung seines früheren Chefs Jonas Alber die leuchtenden Klangfarben, die weit gefassten melodischen Aufschwünge und nicht zuletzt die aparten folkloristischen Orientalismen der spätromantischen Komposition mit beeindruckender Souveränität erklingen.

Nachdem das Premierenpublikum zur Pause noch zurückhaltend reagierte, steigerte sich der Beifall am Schluss deutlich und war bei Sängern und Orchester einschließlich Dirigent mit Bravos durchsetzt. Die Firme cpo will die auch im Radio übertragene Oper als CD-Ausgabe herausbringen (Foto oben: „Aladin“ von Kurt Atterberg am Staatstheater Braunschweig/ Szene/ Foto Volker Beinhorn). Gerhard Eckels/ Zusätze Wikipedia/ Redaktion G. H.

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Bisherige Beiträge in unserer Serie Die vergessene Oper finden Sie hier.

Miro Belamarić

 

Am Sonntag, dem 5. März 2017 starb der kroatisch-österreichische Dirigent und Komponist Miro Belamarić kurz nach Vollendung seines 82. Geburtstags in Wien. Er galt als einer der bedeutendsten Dirigenten und Komponisten Kroatiens.

Miro Belamarić wurde 1935 in Šibenik, Kroatien, geboren, studierte Komposition bei Stjepan Šulek und erhielt seine Dirigierausbildung bei Milan Horvat, außerdem bei Lovro von Matačić und Sergiu Celibidache. In Salzburg war er Assistent von Herbert von Karajan und Karl Böhm. Zuerst war er als Dirigent des RTV – Symphonieorchesters Zagreb tätig, dann als künstlerischer Leiter des Zagreber Komedia-Theaters, danach an der Oper des kroatischen Nationaltheaters Zagreb, dessen Chefdirigent er von 1978 – 1990 war. Neben seiner Tätigkeit in seiner Heimat war er auch an zahlreichen bedeutenden Opernhäusern und Konzertsälen tätig, unter anderem in Wien, bei den Salzburger Festspielen, in München, Berlin, Zürich, Venedig,  Prag, Moskau, Sankt Petersburg, New Orleans, Mexico City, um nur die allerwichtigsten zu nennen.

Als Komponist schuf er zahlreiche symphonische, Chor- und Kammerwerke, unter anderem die provokanten Variationen für Klavier und Orchester „Wie man Mozart tötet“. Von der Öffentlichkeit und der Kritik wurden besonders seine Opernwerke beachtet: Die Liebe von Don Perlimplin (Oper nach Lorca), Uraufführung 1975 in Zagreb, danach Osijek, Prag und Kassel. Don Juan – Ein Rebell für alle Zeiten (nach de Molina), Fragment; 1. Preis beim Opernwettbewerb der Wiener Staatsoper 1983. Geschichten aus dem Wiener Wald (nach Horváth) Uraufführung 1993 in Karlsruhe, danach Zagreb. Kritikerpreis J.F. Slavenski als bester kroatischer Komponist des Jahres 1993, Staatspreis der Kroatischen Republik, V. NAZOR Preis als bester kroatischer Komponist des Jahres 1997. Symphonische Dichtungen: Croatia, Uraufführung Zagreb 1994, danach Wien. Spectrum, valses symphoniques viennoises en couleurs, Uraufführung Zagreb 1996. Von Zeit zu Zeit war Miro Belamarić auch erfolgreich als Opernregisseur tätig.

 

Miro Belamaric/ teatar.hr

 

Und unsere Wiener Freundin und  Übersetzerin Ingrid Englitsch widmet ihrem langjährigen Lebensgefährten diese Zeilen: Leb wohl, Miro! „Pflegeleicht“ warst du nie. Du warst vielmehr als ausgesprochen schwierig bekannt. Aber was heißt schwierig? Du warst immer kompromisslos. Kompromisslos in deiner Arbeit, deinen Urteilen und Meinungen (Diplomatische Formulierungen waren deine Sache nicht, was dir nicht nur Sympathien eingebracht hat.) und in deinem privaten Leben (wodurch du mir das Leben mit dir nicht gerade immer einfach gemacht hast). Doch muss ein Künstler nicht ein Unbequemer sein? Muss er nicht konsequent seinen Weg gehen? Ist Ehrlichkeit, künstlerische und menschliche, nicht oberstes Gebot für einen kreativen Menschen wie dich? Ich denke, es ist die einzige Möglichkeit, wenn man nicht in der gefälligen Mittelmäßigkeit versinken will. Du warst alles Mögliche. Ein unendlich charismatischer Mensch und Künstler, ein Visionär, ein mühsamer Mensch im Alltag, manchmal ein Monster, nur eines warst du nie: mittelmäßig.

Du warst widersprüchlich. Im realen Leben warst du nie verankert, beim Öffnen einer Sardinendose hast du dich verletzt, das habe besser ich gemacht. Mit Geld konntest du nicht umgehen,  da musste ich höllisch auf dich aufpassen. Zwei und zwei war bei dir nie vier, immer so etwas in der Art von 3,92 oder 4, 9. Dass das durchaus zu Problemen führen kann, hast du nie verstanden. Aber Dinge, die sonst niemand schafft, hast du auf die Beine gestellt. Du hast trotz schwerer Erkrankung deine letzte Oper in einem Tempo fertiggestellt, in dem das wohl sonst niemand geschafft hätte. Du hast den ersten „Ring“ von Wagner in Kroatien zur Aufführung gebracht (Leider kam für die beiden letzten Teile der Krieg dazwischen), du hast trotz chronischen Geldmangels in Kroatien phantastische Aufführungen von „Elektra“ und „Salome“ in Zagreb auf die Bühne gebracht.

Mein Leben wäre zweifellos ruhiger verlaufen, wenn ich damals vor fast 40 Jahren an diesem Sonntag, an dem ich dich kennen gelernt habe, nicht in die Staatsoper gegangen wäre, sondern schwimmen, wie ich es eigentlich vorhatte. Oh ja, wesentlich ruhiger und problemloser. Aber ist es das, was das Leben ausmacht? Ruhe, keine Probleme, ein mittelmäßiges Einerlei. Manchmal habe ich es mir gewünscht, wenn es besonders „rund ging“. Aber ich will keinen Moment mit dir missen, die schönen Momente nicht, aber auch nicht die weniger schönen, denn all das warst du. Und es sollte so sein. Leb wohl, Miro, vergessen werde ich dich nicht.  

Kurt Atterbergs „Aladin“

Als sich der Vorhang nach der deutschen Erstaufführung von Kurt Atterbergs Oper »Aladin« 1941 am Theater Chemnitz schloss, kannte der Jubel keine Grenzen mehr und der sichtlich hocherfreute Intendant Dr. Schaffner telegrafierte umgehend: »Schon nach der Ouvertüre starker Beifall, der sich von Bild zu Bild steigerte und zum Schluss zu lebhaften Ovationen anwuchs. Glaube an bleibenden Erfolg dieses publikumswirk­samen Werkes. Gratuliere Verlag und Autoren.« Tatsächlich hat »Aladin« alles, was eine Märchenoper nach den Geschichten aus Tausendundeiner Nacht haben muss: Einen jungen Helden, die Liebe zu einer schönen aber verschleierten Prinzessin, einen bösen Großwesir als Gegenspieler, eine Höhle voller Schätze, eine Wunderlampe samt gut­mütigem Geist und ein Happy End. Doch wer war dieser schwedische Komponist, der mit einer durch und durch romantischen Musik und den darin integrierten orientalischen Einsprengseln die Herzen der Opern- und Märchenfreunde höher schlagen ließ? Zur jüngsten Aufführung der Oper am 11. März 2017 am Staatstheater Braunschweig wirft der nachfolgende Artikel (aus dem Programmheft des Staatstheaters Braunschweig) von Christian Steinbock und Stig Jacobsson Licht auf einen hochinteressanten Komponisten, dessen tragische Faszination vom Faschismus ihm seinen (Nach-)Ruhm und auch seine Lebenskraft raubte.

Kurt Atterberg/ youtube

Vor 1945: Der komponierende Ingenieur. »Musik war für Atterberg […] mehr als jede andere die Kunst der Sinne, der Sinn­lichkeit, des Gefühls, der Romantik […]«, schreibt die Musikwissenschaftlerin Carola Finkel in ihrer 2013 erschienenen Monographie über die Sinfonien des schwedischen Komponisten. Seine Musik wurde immer wieder mit der von Richard Strauss verglichen, er selbst sogar hie und da als »Strauss des Nordens« bezeichnet. Mit solchen Vergleichen konnte Atterberg jedoch wenig anfangen: »Obwohl ich selbst ein unver­besserlicher Romantiker bin, […] findet sich kaum etwas in der Musikgeschichte, was ich mehr hasse als die Musik, die wirklich das ›Schimpfwort‹ romantisch verdient.« Und damit war nicht zuletzt auch Strauss gemeint. Einerseits lehnte Atterberg die Komponisten der Spätromantik ab (oder zweifelte sie zumindest an), deren Kunstfer­tigkeit seiner Meinung nach »mit Weltanschauungen belastet« war – dies traf neben Strauss auch auf Mahler, Wagner, Bruckner und den frühen Schönberg zu. Ande­rerseits beklagte er den »Verfall der Melodie« (dies war auch der Titel einer seiner publizierten Schriften) und ging stets auf Distanz zu allem, was einen rein intellektu­ellen Zugang zur Musik zuließ, so auch die von ihm als unschön-modernistisch emp­fundene Zwölftonmusik. Der Begriff der »Romantik« war für Atterberg immer mit dem unbedingten Drang nach der Melodie verbunden, mit reiner Musik, frei von jedweder Kunstreligion oder außermusikalischer Programmatik. So ist es nicht verwunderlich, dass er sich stilistisch eher Komponisten der so genannten »absoluten Musik« ver­bunden sah, zu denen auch Johannes Brahms oder Antonín Dvořák zählen. Für sei­ne künstlerische Zielsetzung fand Atterberg schließlich in einem Brief vom Oktober 1926 an seinen Freund Fritz Tutenberg die passenden Worte: »Das [H]öchste […] wäre also [,] Stücke zu schreiben, die solche einen melodischen, harmonischen und sinnlichen Reiz und überzeugender Form hatten, dass alle Hörer gefesselt werden.«

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„Aladin“ von Kurt Atterberg am Staatstheater Braunschweig/ Szene/ Foto Volker Beinhorn

Kurt Magnus Atterberg erblickt als jüngstes von insgesamt fünf Kindern der Eheleute Anders Johann Atterberg und Elvira Uddman am 12. Dezember 1887 im schwedi­schen Göteborg das Licht der Welt. Obgleich er nicht aus einem durch und durch musikalischen Elternhaus stammte (der Vater war Ingenieur und Erfinder, der Groß­vater mütterlicherseits immerhin Opernsänger), erhielt er schon als Kind den ersten Klavierunterricht. Sein musikalisches Interesse wuchs, als er vierzehnjährig ein Kon­zert des Leipziger Gewandhausorchesters in Göteborg besuchte, dessen Resultat es war, dass er nunmehr auch Cello-Unterricht nahm. 1905 unternahm Atterberg auch die ersten Kompositionsversuche. Nach dem Abitur wollte er unbedingt Musik studieren, doch gab er schließlich dem Drängen des Vaters nach, der den Stand des Berufsmusikers eher skeptisch beäugte. (Sicherlich auch aus dem Grunde, da die Möglichkeiten, sich als Musiker in Schweden einen gewissen Lebensstandard leisten und halten zu können, eher überschaubar waren.) So studierte Atterberg et­was »Vernünftiges« und schrieb sich 1907 für das Studium der Elektrotechnik an der Technischen Hochschule Stockholm ein. Die Musik ließ ihn aber dennoch nicht los. Nebenbei besuchte Atterberg Vorlesungen und Seminare an der Musikakademie und erwies sich als wissbegieriger und geduldiger Autodidakt, indem er sich durch beharrliches Zuhören von Konzerten und durch das intensive Studium von Partituren die Kunst des Komponierens nach und nach selbst beibrachte.

„Aladin“ von Kurt Atterberg am Staatstheater Braunschweig/ Szene/ Foto Volker Beinhorn

1910 begann Atterberg mit der Komposition der ersten von insgesamt neun Sinfo­nien, die er zwei Jahre später zur Uraufführung brachte und dabei auch erstmals als Dirigent in Erscheinung trat. (Das Einmaleins des Dirigierens hatte er sich ebenfalls selbst beigebracht, indem er namhaften Dirigenten bei ihrer Arbeit zusah.) Schon seit 1911 reiste Atterberg oft nach Deutschland, um das vielfältige Konzertleben genau­estens zu studieren. Erste Auftragswerke entstanden für das Stockholmer Schau­spielhaus, dem er von 1913 bis 1922 als Kapellmeister verpflichtet blieb. Von 1919 bis 1957 schrieb er Musikkritiken für die Zeitung »Stockholms-Tidningen«. von 1924 bis 1947 war er Präsident der Vereinigung schwedischer Komponisten. Im In- und Ausland verkehrte Atterberg mit zahlreichen Dirigenten, Musikern und Künstlern von Rang wie Eugen Ormandy, Richard Strauss, Wilhelm Furtwängler, Leopold Stokow­ski, Arturo Toscanini und Greta Garbo, die es sich nicht nehmen ließen, seine Werke zu interpretierten. Mit seiner 3. Sinfonie schaffte Atterberg den endgültigen künst­lerischen Durchbruch in Deutschland – hier hatte er bereits mit seiner 1. Sinfonie 1917 sein Debüt als Dirigent bei den Berliner Philharmonikern gegeben – mit der 6. Sinfonie gewann er 1928 den hochdotierten »Schubert-Wettbewerb« und damit ein Preisgeld von 10.000 US-Dollar, was dem Werk den Beinamen »Dollar-Sinfonie« ein­brachte. Atterberg komponierte mit anhaltendem internationalen Erfolg, fühlte sich in fast allen musikalischen Gattungen zuhause und war zweifellos ein vielbeschäftigter und vielgefragter Mann. Bei dieser Aufgabenfülle könnte man meinen, dass die Musik allein im Zentrum seines Schaffens stand. Doch weit gefehlt. Seinen regulären Le­bensunterhalt verdiente Atterberg in einem ganz anderen Gewerbe: Von 1912 bis zu seiner Zwangspensionierung 1968 – er hatte die Achtzig bereits überschritten – als Ingenieur (ab 1936 in leitender Position) beim Schwedischen Patentamt.

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Zu Atterbergs „Aladdin“: Auch Carl Nielsen schrieb eine „Aladdin“-Oper, hier Johannes Poulsen in der Titelrolle der Uraufführung in Kopenhagen Fwebruar 1919/ Wiki

Nach 1945: Die lebende Leiche: Auch in den 1930er und 40er Jahren riss der gute Kontakt, den Atterberg nach Deutschland geknüpft hatte, nicht ab, was seiner Reputation nach Ende des Zweiten Weltkrieges erheblichen Schaden zufügen sollte. Auch wenn Atterberg immer wieder betonte, dass seine Auftritte im kulturverwöhnten Deutschland mit seinen zahlreichen Orchestern und Konzertsälen nichts mit Politik zu tun gehabt und primär dazu gedient hätten, die international vernachlässigte schwedische Musik populär zu machen, so blieb sein Verhältnis zu den Nationalsozialisten stets ambivalent. Billigend und mehr oder weniger kritiklos nahm er das NS-Regime für den eigenen Erfolg in Kauf; er traf mit musikalischen Größen wie Richard Strauss oder Wilhelm Furtwängler zusammen; er wurde hofiert und ließ dies auch gerne zu, zum einen, weil er als nationalkonserva­tiver Komponist galt und avantgardistische Strömungen ablehnte, zum anderen, weil man generell eine Vorliebe für einen »nordischen-romantischen« Tonfall hegte, den Atterberg bieten konnte.

Auf der anderen Seite war er nie Mitglied einer dem Nationalsozialismus nahestehen­den schwedischen Partei oder Organisation. Und es lässt sich zweifellos nachweisen, dass er sich sogar persönlich bei Joseph Goebbels für einzelne vom NS-Regime ver­folgte Künstler eingesetzt hat. Doch der lapidare Hinweis darauf, in einer ideologisch brisanten Zeit doch nur der Kunst und nicht der Politik gedient bzw. von dieser und ihren menschenverachtenden Auswüchsen keine Ahnung gehabt zu haben, schützt vor Verantwortung nicht. Atterberg wurde für seine Deutschlandfreundlichkeit heftig kritisiert, was den Komponisten wiederum zu unüberlegten Kommentaren hinriss wie zum Beispiel jenem in einem Bericht der Musikalischen Akademie für internationale Zusammenarbeit, der er als Sekretär seit 1940 vorstand. Darin schrieb er, dass das schwedische Publikum »[…] in Ekstase über [eine] importierte Musikfrucht fällt, vor allem dafür, dass deren Haut vielleicht schwarz und haarig ist, und die Einheimische verschmäht, deren Äußeres vielleicht mehr blond und glatt ist […]«. Obgleich sich Atterberg nur für die Bevorzugung arbeitsloser schwedischer Musiker gegenüber ausländischen Künstlern stark machen wollte, manövriert ihn hier allein schon die Wortwahl vollends ins Abseits. Nach 1945 wurde die Kritik an Atterberg so massiv, dass er zwei Jahre später seinen Sekretärsposten niederlegte. Auch wurde eine offi­zielle Untersuchung eingeleitet, die sich mit seinen Kontakten nach Nazi-Deutschland beschäftigte. Am Ende wurde er zwar von allen Vorwürfen diesbezüglich freigespro­chen, doch den Makel, ein Kollaborateur zu sein, wurde er zeitlebens nicht mehr los.

Zu Atterbergs Oper „Aladdin“: Illustration von Walter Crane (Liverpool 1845–1915 Horsham)/ Wiki

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Da Atterberg über mehrere Jahrzehnte das schwedische Musikleben maßgeblich geprägt und viele einflussreiche Posten innegehabt hatte, wurde ihm zurecht eine große Machtfülle nachgesagt, die seine Kritiker und Neider, besonders die der jün­geren Komponisten- und Musikergeneration, nicht mehr hinnehmen wollten. Wenn es um schwierige Fragen oder Entscheidungen ging, so hatte es bislang geheißen: »Das wissen nur Gott und Atterberg.« Doch Atterberg, der bislang Unüberwindliche, taumelte, und viele seiner Gegner sahen ihre Chance kommen. Der Druck wurde zu groß: Scheibchenweise trat Atterberg von seinen Ämtern zurück (obgleich dies schon früh gefordert worden war). Bei den jungen Musikern wie beim Publikum galt sein Stil nunmehr als veraltet, was dazu führte, dass er immer weniger gespielt wurde und er mit seinen neuesten Kompositionen auch keine Erfolge mehr verbuchen konnte. 1957 erfolgte seine Entlassung als Kritiker bei der Zeitung »Stockholms-Tidningen«, nicht zuletzt deshalb, da er in seinen Kritiken die junge Komponistengeneration scharf an­gegriffen hatte und somit nicht mehr als zeitgemäß galt.

Zu Atterbergs „Aladdin“: Während sich historische Dokumente zu dieser Oper kaum finden lassen, ist sein „Falun“ gut belegt – hier ein Zeitschriften-Cover zur Uraufführung/ Wiki

Atterberg vereinsamte und verbitterte mehr und mehr, zumal seine zweite Frau Marga­reta vor ihm starb. Bereits 1947 hatte er begonnen, seine Memoiren zu schreiben, die am Ende acht Bände und über 2500 Manuskriptseiten umfasste. 1967 brachte er mit seinem »Adagio amoroso« seine letzte Komposition zu Papier, im Jahr darauf erfolgte seine Zwangspensionierung beim Schwedischen Patentamt, die er sarkastisch als »vorzeitiges Begräbnis« kommentierte. Der letzte Teil seiner Memoiren mit dem Titel »Die lebende Leiche« wurde nicht mehr fertig gestellt, das Gesamtwerk ebenfalls nie veröffentlicht. Am 15. Februar 1974 starb Atterberg in Stockholm. Lange Zeit wur­de seiner nicht mehr gedacht. Erst in den letzten Jahren erinnerte man sich wieder an diesen international vielfach ausgezeichneten und geehrten Komponisten: Seine neun Sinfonien wurden mittlerweile zweimal auf CD eingespielt – wichtige Beiträge zur Ehrenrettung dieses umstrittenen Künstlers, dessen Musik auch heute noch die Zuhörer packt und ins Mark trifft.

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1936: Erste Ideen für die Oper »Aladin«: Atterberg war auch als Opernkomponist in Deutschland bei Leibe kein Unbekannter mehr: Sein Opernerstling »Härvard, der Harfner«, komponiert in den Jahren 1917 / 1918 war bereits früh in Chemnitz zur deutschen Erstaufführung gelangt und seitdem viel an deutschen Bühnen gespielt worden. Und 1936 – unmittelbar vor der ersten Aus­einandersetzung des Komponisten mit dem »Aladin«-Stoff – fanden auch die ersten Aufführungen seiner dritten Oper »Fanal« (dt. »Flammendes Land«), 1932 uraufge­führt, an den Theatern Braunschweig, Lübeck, Chemnitz und Dortmund statt. Nun also sollte »Aladin« folgen. Das erste Mal, dass Atterberg dieses Projekt erwähnte, war im August 1936, als er sich in den bayerischen Städtchen Farchant und Garmisch aufhielt. Hier traf er mit Ignaz Michael Welleminsky (1882 – 1942 ?), dem Librettisten von »Fanal«, zusammen und lernte bei dieser Gelegenheit auch Bruno Hardt-Warden (1883 – 1954) kennen, der sich vor allem durch zahlreiche Libretti für Operetten, Singspiele und Revuen sowie als Drehbuchautor einen Namen geschaffen und mit so bedeutenden Komponisten wie Robert Stolz und Walter Kollo gearbeitet hatte. Wel­leminky und Hardt-Warden, die sich bereits seit ihrer ersten gemeinsamen Arbeit an der komischen Oper »Glockenspiel« von Jan Brandts-Buys aus dem Jahre 1913 gut kannten und seitdem immer wieder als Autorengespann erfolgreich waren, eröffneten Atterberg, dass sie bereits an einem neuen Libretto säßen, das, wie der Komponist schrieb, »später zu meinem »Aladin« werden sollte«.

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Zu Atterbergs „Aladdin“: Während sich historische Dokumente zu Atterbergs Oper kaum finden lassen, ist sein „Falun“ gut belegt – hier Jussi Björling und Helga Görlin in der Uraufführung/ Wiki

Atterberg erinnerte sich in seinen Memoiren: »Als die Berliner Philharmoniker in Oslo eine Konzert gaben, bei dem die Nocturnes aus ›Fanal‹ gespielt wurden, hatte ich einige Auseinandersetzungen wegen Welleminsky mit den hohen Tieren des [deut­schen] Propagandaministeriums. Da Welleminsky, ein Jude, der Librettist sowohl von ›Fanal‹ als auch von ›Aladin‹ war, wäre man dankbar, wenn sein Name auf den Pro­grammen nicht mehr genannt würde. Welleminsky sagte mir später, als die Urauf­führung von ›Aladin‹ näher rückte, dass er gerne jedwede Öffentlichkeit vermeiden möchte, wenn er nur die armseligen Tantiemen kassieren könne.« Da Atterberg laut eigenen Aussagen »am 15. Juli [1937] begann, die Klavierfassung zu komponieren«, muss das Libretto zu diesem Zeitpunkt bereits fertig vorgelegen haben und kann so­mit zweifellos als gemeinschaftliche Arbeit zwischen beiden Librettisten angesehen werden. Bis heute aber findet der Name Welleminsky in Bezug auf »Aladin« keine Er­wähnung mehr. So ist es längst überfällig, ihn wieder gleichberechtigt neben dem von Hardt-Warden zu stellen. In einer der Ausgaben der »Theaternachrichten« von 1941 des Bühnen- und Musikverlages Sikorski, der die Oper bis heute verlegt, war dies tatsächlich bereits geschehen: mit Schreibmaschine nachträglich ergänzt, wann und von wem ist jedoch nicht mehr zu eruieren, möglicherweise war es Atterberg selbst gewesen, da diese Ausgabe aus seinem Nachlass stammt.

Als sich Atterberg im Oktober 1941 in Wien aufhielt, erreichte ihn die Nachricht, dass Welleminsky in Richtung Böhmen deportiert worden war. Sofort startete der Schwede große Anstrengungen, sowohl Welleminsky als auch Hardt-Warden (ob dieser Repressalien furch die Nationalsozialisten zu befürchten hatte ist nicht be­legt) ausfindig zu machen und sie über das Rote Kreuz nach Schweden in Sicherheit zu bringen, jedoch ohne Erfolg. Während Hardt-Warden die Nazi-Diktatur und den Zweiten Weltkrieg allem Anschein nach unbeschadet überstand, gibt es über Welleminskys Verbleib zwei unterschiedliche Versionen: Atterberg berichtet, dass der Librettist seinem Leben im Dezember 1941 ein Ende gesetzt habe. Andere Quellen hingegen gehen davon aus, dass dem jüdischen Autor die Flucht vor den National­sozialisten gelang und er die USA erreichte, wo er im Juli 1942 in Poland Springs / Maine verstarb. Nach dem derzeitigen Informationsstand ist schwer zu sagen, welche Ver­sion die richtige ist.

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Zu Atterbergs „Aladdin“: das Opernhaus in Chemnitz/ Wiki

1941: »Aladin« in Stockholm und Chemnitz. Mit »Aladin« hatten sich Atterberg und seine Librettisten zweifellos eines überaus bühnenwirksamen Stoffes bedient. Im Laufe der Jahrhunderte hat dieser orientalische Held immer wieder die Kunstwelt inspiriert: Ob in der bildenden Kunst, im Film, im Buch oder auf der Bühne, ob als Schauspiel, Ballett oder Musiktheater: An dieser Stelle wären u. a. die Opern »Aladin« (1822) von Nicolo Isouard, »Aladdin« (1888) von Christian Frederik Hornemann, »Aladino e la lampada magica« (1965) von Nino Rota oder das Disney-Musical »Aladdin« (2015) zu nennen, das Alan Menken für den Broadway schrieb. Die Geschichte selbst ist zwar arabischen Ursprungs und geht auf den maronitischen Christen Hanna Diab aus dem syrischen Aleppo zurück. Doch es war wohl der französische Orientalist Antoine Galland (1646 – 1715), der den My­thos – wie übrigens auch den von »Ali Baba und den vierzig Räubern« – Jahrhunderte später in die Märchenwelt von Tausendundeiner Nacht eingefügt hat. Welleminsky und Hardt-Warden näherten sich dem Stoff, indem sie einzelne Motive herauslösten (u. a. wurden die in der Sage vorkommenden Figuren des bösen Zauberers und des neidischen Wesirs zur Figur des Muluk zusammengelegt) und neu montierten.

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Zu Atterbergs Oper „Aladdin“: Auch der dänische Komponist C. F. E. Hornemann ( 17. Dezember 1840 in Kopenhagen; † 8. Juni 1906) komponierte zeitnah eine Oper gleichen Names, wozu sich beim Eintrag bei youtube folgendes findet: An abridged studio recording of C.F.E. Horneman’s only opera, Aladdin (1888). C.F.E. Horneman studied in Leipzig, and the Overture was performed by the Gewandhaus orchestra in 1867. He worked on the opera project for decades. The first performance in Copenhagen included many cuts and was badly sung. A 1902 revival didn’t work out much better. The complete opera has not been staged professionally since then and has never been recorded. This radio recording (1953) contains around half of the music. Singers: Ruth Guldbæk, soprano (Gulnare), Else Brems, mezzosoprano (Morgiane), Thyge Thygesen, tenor (Aladdin)
Volmer Holbøll, baritone (Genie of the Ring)
Einar Nørby, bass (Genie of the Lamp) Georg Leicht, bass (The Sultan) Holger Byrding, bass (Noureddin) Holger Nørgaard, bass (The Vizier) Conductor: Launy Grøndahl

Dass sich für Atterberg die Entstehungszeit von »Aladin« am Ende über fünf Jahre zog, mag einerseits mit dem immensen Arbeitsaufkommen zu tun haben, das der Komponist innerhalb und außerhalb des schwedischen Musiklebens bewältigen zu hatte. Andererseits dürfte auch der Beginn des Zweiten Weltkrieges eine Rolle ge­spielt haben, mit dem sich Atterberg in seinen Memoiren intensiv auseinandersetzt und der ihn in seiner Schaffenskraft vielleicht auch ein wenig gelähmt hat. Doch dann ging plötzlich alles rasend schnell: Am 24. August 1940 hatte er den Klavierpart zu seiner nunmehr vierten Oper fertig gestellt, so dass er an die Orchestration gehen konnte, die – entgegen seinem gängigen sinfonischen Stil, der dramatische Aus­brüche, nordische Düsterkeit und geisterhafte Episoden mit einschließt – ungemein farbenfroh und orientalisch-folkloristisch ausfiel. Dieser Wechsel von Dunkelheit hin zum Licht mag dem Sujet aus Tausendundeiner Nacht geschuldet sein. »Ich been­dete die Partitur am 28. Januar 1941«, schrieb Atterberg schließlich und kündigte die Uraufführung in der Zeitung »Stockholms-Tidningen« für das kommende Frühjahr an. Am 1. März dirigierte er noch seine 1. Sinfonie in Braunschweig, dann wandte er sich den Nordischen Musiktagen in der schwedischen Hauptstadt zu, die am 18. März mit der Uraufführung von »Aladin« eröffneten. Doch der durchschlagende Erfolg blieb hier aus. (Ob die Tatsache, dass das Werk ursprünglich in deutscher Sprache ge­schrieben und erst für die Uraufführung von Atterberg selbst und seiner Frau Marga­reta ins Schwedische übersetzt worden war, dabei eine Rolle gespielt hat, muss offen bleiben.) »Aladin« wurde in Stockholm nur elf Mal gegeben und danach in Schweden bis heute nicht nachgespielt. Nichtsdestotrotz war Atterberg mit der Aufführung zu­frieden gewesen. Die Tänze waren seiner Meinung nach zwar schlecht umgesetzt worden, doch das Dirigat unter Sten-Åke Axelson und die Leistung der Sängerinnen und Sänger hatten ihn überzeugt.

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Zu Atterbergs Oper „Aladdin“: Illustration von Walter Crane (Liverpool 1845–1915 Horsham)/ Wiki

Anders verhielt es sich mit der deutschen Erstaufführung von »Aladin« am 18. Okto­ber 1941 in Chemnitz, die von starken Ovationen von Seiten des Publikums und von überregionalem und einhellig positivem Presseecho begleitet wurde. Die Wahl auf das Opernhaus Chemnitz war vermutlich nicht zufällig gefallen, schließlich hatte Atterberg – neben seinen Opern »Fanal« und »Härvard, der Harfner« – mit dem hiesigen Orches­ter mehrfach eigene Werke zur Aufführung bringen und somit auch enge Kontakte zum kulturellen Leben in der Stadt knüpfen können. Die Kritiker betonten in ihren Rezensio­nen immer wieder, dass es sich beim »Aladin«-Stoff um eine ausgezeichnete Wahl für eine Oper handle und dass Atterbergs Musik (inklusive einer Ouvertüre, die für Chem­nitz nachkomponiert worden war) den nötigen Melodienreichtum und die orientalisch-koloristische Färbung liefere, den die Vertonung eines solchen Märchens benötige. So war im »Hamburger Fremdenblatt« zu lesen: »Die […] Märchenoper ›Aladin‹ von Kurt Atterberg beansprucht besonderes Interesse, da der Komponist sich hier erstmalig mit dem Orient auseinandersetzt und dabei – das lehrt die interessante Aufführung – ein feinnerviges Einfühlungsvermögen in die sinnenfreudige, klangüppige Musik offenbart.« Das »Chemnitzer Tageblatt« wusste zu berichten: »Mit den klug angewandten Mitteln übermäßiger Intervalle, ungewöhnlicher Tonfolgen, leiterfremder Gegenstimmen, grel­ler Quarten- und Quintengänge, bizarr gemischter Orchesterklänge zaubert uns Atter­berg eine Welt aus Tausendundeiner Nacht vor. Aber Atterberg erschöpft sich nicht im Tonmalerischen. Immer wieder lässt er schöne melodische Linien aufblühen, erfreut das Ohr durch geschlossene Sätze wie das zündende Vorspiel, die […] Zwischen­spiele und charakteristischen Tänze […]. Das ganze Werk hat Fluss […]. Die Besucher standen im Bann der fesselnden Neuheit und bezeugten ihre Freude durch lebhaften Beifall.« Und das »Neue Wiener Tageblatt« konstatierte: »Die Märchenwelt zaubert At­terberg mit üppig blühender, leuchtender Orchestersprache vor den Zuhörer hin. Seine Musik hält auf große melodische Linie […].«

Trotz dieses einhelligen Erfolges war auch in Deutschland an Folgeaufführungen nicht zu denken: Zunächst wegen des fortschreitenden Krieges und nach 1945 wegen der rapide sinkenden Reputation des Komponisten. So ist die nun nachfolgende Aufführung am Staatstheater Braunschweig im März 2017 der erste Versuch, dieses märchenhaft-romantische Werk wieder aus der Versenkung zu heben und als Bereicherung der Opernspielplä­ne auf die Bühne zu bringen. Christian Steinbock und Stig Jacobsson

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Wir danken dem Staatstheater Braunschweig und den beiden Autoren für die Erlaubnis zum „Nachdruck“ des Artikels aus dem Programmheft zur Oper Aladin. Christian Steinbock ist Dramaturg für das Musiktheater in Braunschweig, Stig Jacobsson ist ein renommierter schwedischer Musikjournalist sowie Autor zahlreicher Biografien und wichtiger Artikel zum schwedischen Musikleben. mehr zu ihm bei Wikipedia. Die Rezension zum Aladin am Staatstheater Braunschweig findet sich ebenfalls auf operalounge.de. Foto oben: Kurt Atterberg/ youtube. Zur Schreibweise: Im schwedischen Original wird Aladdin mit -dd- geschrieben, für die deutsche Version verwenden die Autoren und das Staatstheater Braunschweig die eingedeutschte Version mit einem – d-. 

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.Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Karl Richter zeitlos

 

Wer sich für Karl Richter interessiert, hat die Qual der Wahl. Gleich mehrere Firmen und Labels pflegen und verwalten sein akustisches und filmisches Erbe mit Sorgfalt und Tüchtigkeit. Jetzt liegt Profil Edition Günter Hänssler in diesem Bemühen aktuell vorn. Und zwar mit einer neuen Edition, die aus einunddreißig CDs (LC 13287) besteht. Die Aufmachung ist schlicht und einzig auf den Maestro abgestellt. Beschwörend hebt er die feingliedrigen Hände. Hände, die nicht nur Chor und Orchester leiten konnten, sondern auch am Cembalo oder an der Orgel meisterhaft in die Tasten griffen. Richter war ein Allroundtalent. Für seine vielseitige Begabung hatte er sich das Rüstzeug zunächst in Dresden und später in Leipzig erworben. Als Kind sang er im Kreuzchor. Thomaskantor Karl Straube, der noch mit Max Reger befreundet war, erkannte seine Begabung und holte ihn nach Leipzig, wo er auch auf dessen Nachfolger, Günther Ramin, traf. 1950 wurde er Thomasorganist. Schon bei etlichen Aufnahmen von Bachkantaten durch Ramin saß er am Cembalo. Faktisch gehören sie zu seiner Diskographie, die aber auch ohne diese frühen Zeugnisse umfassend genug ist. Gemessen an der Vielzahl der Titel müsste er über hundert geworden sein. Richter wurde aber nur vierundfünfzig Jahre alt – am 15. Oktober 1926 in Plauen geboren, starb er am 15. Februar 1981 in einem Münchener Hotel an Herzversagen. Kein Alter.

Spürte er, dass ihm nicht viel Zeit bleiben würde? Unrast war seine Lebensform. Er brannte. Nach seiner Übersiedlung in den Westen des geteilten Deutschland wurde München zum Zentrum seines Wirkens, wo er Bach-Chor und Bach-Orchester zu internationalem Ansehen verhalf und an der Musikhochschule lehrte. In der bayerischen Landeshauptstadt absolvierte er mit beiden Ensembles ein strenges Programm und trat auch als Solist in Erscheinung. Nebenher wurden Platten produziert – und ständig gereist. Immer wieder um den Erdball. Johann Sebastian Bach war, einem Markenzeichen gleich, der beherrschende Name auf den Programmzetteln. Diese Vorliebe hatte er aus Sachsen mitgebracht und sich sein ganzes Leben lang bewahrt. Seine eigene Klangvorstellung verfeinerte er immer mehr und trug sie in die Welt hinaus. Allein von der H-moll-Messe sind gut neunzig Aufführungen im In- und Ausland belegt. Und doch wollte er nicht auf Bach festgelegt werden. In seinem Repertoire finden sich auch Mozart, Haydn, Händel, Dvorak, Brahms und Bruckner. Beim Gedenkkonzert für seinen verstorbenen Freund Rudolf Kempe 1976 in München leitete er die vierte Sinfonie von Schumann. Hingezogen fühlte sich Richter zu Verdis Requiem. Ein Mitschnitt von 1969 mit Ingrid Bjoner, Hertha Töpper, Waldemar Kmentt und Gottlob Frick ist 2008 bei Altus erschienen. Ausflüge ins Reich der Oper sind ehr selten gewesen. Händels Giulio Cesare hat er 1968 in Buenos Aires dirigiert und für die Deutsche Grammophon eingespielt, wo auch Glucks Orfeo ed Euridice als Studioproduktion erschien.

Hänssler ist mit seiner Zusammenstellung um Vielseitigkeit bemüht ist. Also nicht nur Bach. Die Musikalischen Exequien von Heinrich Schütz haben nach einer langen Wanderung durch die Kataloge nun einen neuen Platz in dieser Box gefunden. Sie werden ehr beiläufig, wenn nicht gar willkürlich auf einer CD mit Ausschnitten aus Haydns Schöpfung und Jahreszeiten sowie Mendelssohns Elias verknüpft. Dabei hat diese Einspielung in der Richterschen Diskographie einen ganz besonderen Stellenwert. Sie ist nämlich noch mit dem Münchener Heinrich Schütz Kreis entstanden, einem nach dem Zweiten Weltkrieg gegründeten Ensemble, aus dem 1954 der Bach-Chor hervorgegangen ist. Richter hatte die Leitung dieses Kreises 1951 kurz nach seiner Niederlassung in München übernommen. Die Exequien sind die erste offizielle Plattenaufnahme des Chores für die Deutsche Grammophon, Ende November 1953 im Herkulessaal der Münchner Residenz realisiert. Beteiligt ist Prominenz der Münchner Bach-Pflege dieser Jahre wie die Sopranistin Elisabeth Lindermeier, die mit Rudolf Kempe verheiratet war und als Taumännchen in der berühmten Hänsel-und-Gretel-Aufnahme unter Fritz Lehmann in kaum einem Plattenschrank fehlt. Nach dem Ende ihrer Kariere als Opern- und Konzertsängerin verschlug es die Altistin Ruth Michaelis als Professorin an die Opernschule in Istanbul, wo sie türkische Volkslieder sammelte und herausgab. Später ging sie in die USA, wo sie auch starb. Der Tenor Friedrich Brückner-Rüggeberg galt als Experte für alte Musik mit Schwerpunkt Schütz und Monteverdi. Nicht verwundern muss die Mitwirkung des Bassisten Max Proebstl, der ehr mit Kaspar, Bartolo oder Falstaff in Verbindung gebracht wird denn mit Schütz oder dem Baron Starhemberg in der Uraufführung von Hindemiths Harmonie der Welt. Diese Spezis ist sehr selten geworden, wenn nicht gar ausgestroben.

Als Führer durch die Edition bieten sich die siebenbändigen Zeitdokumente über Karl Richter von Johannes Martin, Conventus Musiccus, an – hier Band 2 (ISBN 978-3-00-032826-8).

Die mehrer als sechzig Jahre Aufnahme der Exequien muss die Konkurrenz mit den vielen neueren Produktionen nicht scheuen. Richter gelingt es, die hochindividuellen Stimmen zusammenzuführen und zusammenzuhalten. Niemand schert aus. Hinter den Dienst an der Kunst hat das eigene Profil zurückzustehen. Chor und Solisten sind so positioniert, dass es wie frühes Stereo klingt. Richter hebt das Werk aus einer gewissen Erdenschwere ins Lichte und Klare empor. Es gibt also viele Gründe, diese Aufnahme besonders herauszustellen. Sie erschien zunächst im Rahmen der so genannten Archiv Produktion der Deutschen Grammophon. Deren Ursprung reicht in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg zurück. Es sollte zunächst versucht werden, Orgeln und wertvolle Instrumente, die nicht den Zerstörungen anheim gefallen waren, akustisch zu dokumentieren. Daraus wurde mit den Jahren eine monumentale Sammlung, die immer weiter über das ursprüngliche Ziel hinaus wuchs. Die ersten Aufnahmen erschienen noch auf Schelllack, die Hülle am Rand vernäht. So waren sie unverwechselbar und sehr haltbar zugleich. Beigegeben waren umfängliche, musikwissenschaftlich fundierte Informationsblätter. Ein großer Teil des Plattenbestands wurde im Laufe der auf CD übernommen. Im schmalen Booklet der Edition wird zwar auf die „symbiotische Beziehung“ Richters zu dem verdienstvollen Label ganz allgemein verwiesen, der Zusammenhang mit konkreten Aufnahmen wird aber nicht hergestellt. Ja, es wird nicht einmal – wie übrigens bei allen Werken – das Aufnahmejahr genannt. Das ist schwach, sehr schwach und schränkt Nutzen und Bedeutung der Sammlung ein. Schließlich will eine Edition, die diesen Namen verdient, mehr sein als ein Sammelsurium. Literatur, mit deren Hilfe Ordnung in das Chaos gebracht werden kann, gibt es reichlich. Roland Wörner, der an der Betreuung des Nachlasses des Dirigenten beteiligt war, hat in seinem Buch „Karl Richter – Musik mit dem Herzen“, 2001 im Panisken Verlag erschienen, Aufnahmedaten in einer Diskographie akribisch aufgelistet. Auf die Platteneinspielungen geht auch Johannes Martin in seinen siebenbändigen, reich bebilderten und mit Faksimiles versehenen Zeitdokumenten zu Richter ein, die bei Conventus Musicus herausgekommen sind.

Das Buch von Roland Wörner (Panisken-Verlag ISBN 3-935965-01-X) ist als Ergänzung hilfreich, weil es die Aufnahmedaten nennt, die in der Edition weggelassen wurden.

Zurück zur Edition. Flötenkonzerte gibt es von Mozart und Haydn. Sie sind – wie andere Titel auch – bereits separat erschienen Die Flöte bei den Konzerten spielt der Schweizer Aurèle Nicolet, der oft mit Richter zusammengearbeitet hat. Zwischen beiden stimmte die Chemie. Ihr Zusammenspiel ist von gegenseitiger Zurückhaltung geprägt, der Solist bekommt immer den Vorrang, kann sein virtuoses Können voll entfalten und trägt die grundsolide Interpretation durch Richter mit. Er reißt nie aus. Es ist viel Heiterkeit in diesen Aufnahmen, zumal die Flöte immer eine gewisse Naturnähe schafft. Mit dabei ist auch das berühmte Konzert KV 314, das ursprünglich als Oboenkonzert komponiert wurde. Ein Einfall jagt den nächsten. Es lohnt sich, die Aufnahmen mehrfach zu hören, also nicht gleich wieder in die Schachtel einzuordnen. Sie verbreitet viel Ruhe und Ausgeglichenheit. Dramatisch kommt Mozarts Requiem daher. Mit Maria Stader (Sopran) und Hertha Töpper (Alt) sind zwei gestandene Sängerinnen mit entsprechender Erfahrung in diesem Genre aufgeboten. Der gradlinige holländische Tenor John van Kestern ist nicht so oft auf Platten anzutreffen. Insofern ist seine Mitwirkung auch eine diskographische Bereicherung. Er hat nach wie vor seine Anhänger. Etwas aus der Rolle fällt Karl Christian Kohn mit seinem robusten Bass, der mit Kaspar oder Geisterbote besser bedient wäre denn mit Mozart. Sein „Tuba Mirum“ lässt tatsächlich aufschrecken, auch aus dem Quartett ragt er zu stark heraus. Richter war bei der Auswahl seiner Solisten oft sehr eigenwillig. Nicht alle Entscheidungen sind nachzuvollziehen. Er geht das Requiem groß an. Es klingt wuchtig. Als sollten die Toten aufgeweckt werden. Nicht umsonst ist Franz Eder an der Posaune extra erwähnt. Händel bringt es mit acht Orgelkonzerten, bei denen Richter selbst das Instrument bedient, und vier Concertos auf drei CDs. Die Tempi sind in Teilen sehr gedehnt, was den Vorteil hat, dass das Zusammenspiel zwischen Orgel und Orchester plastisch wird und auch schon mal an ein Pingpong-Spiel denken lässt. Richter zelebriert diese prachtvoll und festlich klingenden Konzerte. Er überträgt die eigene Freude an der Musik auf seine Hörer. Kompakt und schwungvoll zugleich ist Joseph Haydn mit seiner Paukenschlag-Sinfonie und der Uhr-Sinfonie angelegt. Richter zeigte sich von der schon in seiner Zeit aufkommenden historisch informierten Aufführungspraxis (HIP) unbeeindruckt und unangefochten.

Maria Stader, Hertha Töpper, Ernst Haefliger, Keith Engen, Dietrich Fischer-Dieskau: Die Sänger dieser H-moll-Messe aus der Archiv Produktion Deutsche Grammophon werden in der Edition nicht genannt. 

Was nun die großen Chorwerke von Johann Sebastian Bach, anbelangt, werden – so vorhanden – die frühen Einspielungen angeboten. Dem Booklet ist – wie schon gesagt – die zeitliche Verortung jedoch nicht zu entnehmen. Im Falle der H-moll-Messe von 1964 ist auch gleich noch die Besetzung weggelassen worden. Wo die Namen stehen sollten findet sich der lediglich der Eintrag „Solisten/soloists“. Wer sich einigermaßen auskennt und gut zuhört, weiß, dass an dieser Stelle Maria Stader (Sopran), Hertha Töpper (Alt), Ernst Haefliger (Tenor), Dietrich Fischer-Dieskau (Bariton) und Kieth Engen (Bass) genannt werden müssten. Richter besetzte üppig. Für die inhaltliche und musikalische Botschaft der Messe wollte er eine angemessene Form finden. „Et exspecto resurrectionem mortuorum, et vitam venturi saeculi.“ (Wir erwarten die Auferstehung der Toten und das Leben der kommenden Welt.) Die grandiose Steigerung am Ende des Credo und den fast nahtlosen Übergang ins Sanctus trieb er – unterstützt von Adolf Scherbaum mit seiner Trompete – regelrecht auf die Spitze. Auferstehung wird bei Richter zur Schreckensvision. Haefliger wirkte auch in der Matthäus-Passion von 1958 als Evangelist und Sänger der Tenor-Arien mit. Er ging auf die vierzig zu und war auf dem Höhepunkt seines Könnens. Kein Wunder, dass Richter ihn schätzte und oft einsetzte. Haefliger war hochmusikalisch, dabei unverwechselbar und absolut sicher im Text, den er bis ins Kleinste auslotetet und auskostet. Sein Evangelist ist kein neutraler Berichterstatter, er nimmt Anteil an dem, was zu verkünden ist. Als gehe es ihn selbst an. Die Töpper, deren Vornamen im Booklet mal mit und mal ohne „h“ geschrieben wird, fällt wieder durch sichere Stimmführung und weniger durch Ausdruckstiefe auf, wie sie die Höffgen oder die Ludwig beherrschten. Für Irmgard Seefried, die als Sopran besetzt ist, kam die Aufnahme etwas spät. Das Herrenensemble komplettieren zuverlässig Engen (Jesus), Fischer-Dieskau (Arien) und Proebstl (Judas, Petrus, Pilatus, Hohepriester). Verzichtet wurde auf die Johannes-Passion, die Richter 1964 ebenfalls für die Deutsche Grammophon einspielte. Warum? Sie liegt bei dieser Firma – wie auch die Matthäus-Passion und die H-moll-Messe – auch in einer alternaiven Filmversion vor.

Die Edition wird ohne die Johannes-Passion von 1964 mit Evelyn Lear, Hertha Töpfer, Ernst Haefliger, Hermann Prey und Kieth Engen angeboten. Warum?

Richters erstes Weihnachtsoratorium von 1955 für die Decca muss nicht mit der späteren verglichen werden, die allein durch die Mitwerkung von Fritz Wunderlich Kultstatus hat. Sie ist in ihrer schlichten Würde eigenständig genug und stellt eine achtenswerte Alternative dar. Wieder ist unverwüstliche, inzwischen 92jährihge Hertha Töpper dabei, diesmal ohne „h“. Der Sopran, besetzt mit der Amerikanerin Chloë Owen, hat nicht sehr viel zu tun. Und das auch gut so, denn die Sängerin, deren verfügbare Aufnahmen neben dem Weihnachtsoratorium mit der Micaela in einem Telefunken-Carmen-Querschnitt und den Sieben frühen Liedern von Berg unter Ansermet schnell ausgemacht sind, fügt sich stilistisch nicht ein. Den Evangelistischen und die Tenorarien singt Gert Lutze, der 1960 nach Westdeutschland übersiedelte, alsbald den Sängerberuf aufgab und sich nach dem Medizinstudium als Hautarzt betätigte. 2007 ist er mit neunzig Jahren gestorben. Richter kannte ihn noch aus Leipzig, wo Lutze im Thomanerchor sang, 1946 für den erkrankten Tenor in der Matthäus-Passion einsprang und fortan sehr erfolgreich als Solist wirkte. Er ist schon an Plattenaufnahmen von Günther Ramin beteiligt. Ein Jahr nach seinem Tod hat ihn der legendäre österreichische Rundfunkmoderator Gottfried Cervenka in einer seiner Apropos-Oper-Sendungen wiederentdeckt. Natürlich kannte Cervenka „die eine oder andere Platte mit Lutze, doch die große Sensation kam erst mit der Übernahme der DDR-Rundfunkbestände in das Deutsche Rundfunkarchiv. Nicht weniger als 365 Einträge finden sich dort mit Gert Lutze, dazu noch weitere 121 unter dem Pseudonym Charles Geerd, denn Unterhaltungsmusik wollte der renommierte Bach-Interpret offenbar nicht unter seinem wirklichen Namen aufnehmen. Grob geschätzt hat Lutze in nur 14 Jahren – zwischen 1946 und 1960 – also annähernd genau so viele Aufnahmen eingespielt wie zum Beispiel der etwa gleichaltrige Rudolf Schock in vier Karrierejahrzehnten“, so Cervenka. „Neben vielen Bach-Einspielungen gibt es da eine ganze Reihe von kompletten Opern und Operetten, Oratorien, Lieder, Schlager – die Vielseitigkeit dieses Künstlers scheint geradezu unglaublich.“ Lutze hat eine leicht geführte helle Stimme, klingt jungenhaft. Am ehesten ist er mit Gerhard Unger vergleichbar. Horst Günter und Keith Engen teilen sich bei diesem Weihnachtsoratorium, das auch in anderen Ausgaben auf den Markt gekommen ist, in den Bass bzw. Bariton. Was noch? Die Goldberg-Variationen, Partiten, die Brandenburgischen Konzerte, die Orchester-Suiten, reichlich Kantaten und das Magnificat. Einunddreißig CDs wollen gefüllt sein. Obwohl an den Informationen sträflich gespart wurde, erweist sich die Edition als letztlich doch Fundgrube für gut informierten Musikfreunde und solche, die es werden wollen. Rüdiger Winter

Karl Richter bei der Arbeit: Das große Foto oben ist ein Ausschnitt aus dem Titelbild der neuen Edition von Profil Günter Hänssler.

Frühes Barock aus Frankfurt

 

Schon eine Tradition ist die Zusammenarbeit der Oper Frankfurt mit OEHMS CLASSICS, verschiedene Produktionen des Hauses als Live-Mitschnitte auf CD zu veröffentlichen. Oft  handelt es sich dabei um Neuschöpfungen, Ausgrabungen oder Raritäten. Aktuelles Beispiel ist die Oper L’Orontea des 1623 in Arezzo geborenen Komponisten Antonio Cesti, die 1656 in Innsbruck am Hof des Erzherzogs von Tirol uraufgeführt wurde. So ist denn auch die von René Jacobs geleitete Aufführung im Sommer 1982 in Innsbruck eine der ersten in moderner Zeit gewesen, die bei harmonia mundi france auf LP/ CD festgehalten wurde (Bierbaum, Müller-Molinari, Reinhart) und die noch immer überzeugend ist. Die nun bei Oehms Classics dokumentierte aus Frankfurt fand im Februar/März 2015 in der Inszenierung von Walter Sutcliffe und der Ausstattung von Gideon Davey statt.

Wahrscheinlich wirkten berühmte Sänger der Zeit, die zum Ensemble am Innsbrucker Hof zählten, in der Uraufführung mit – so die Altistin Anna Renzi (die Ottavia in der Premiere von Monteverdis Poppea in Venedig) und der Bass Giulio Cesare Donati (der Giove in Cavallis La Calisto in Venedig). Sie waren auch für die ein Jahr zuvor herausgekommene L’Argiria Cestis engagiert worden. Donatis komisches Talent und seine Gabe, im Falsett zu singen, lassen vermuten, dass Cesti ihn als Oronteas skurrilen und meist betrunkenen Diener Gelone besetzt hatte.

Das Stück erzählt von der ägyptischen Königin Orontea, die nicht bereit ist, sich der Liebe zu unterwerfen, dann aber doch Zuneigung zu dem Maler Alidoro empfindet, der nach einem Liebesabenteuer mit der Prinzessin Arnea in Begleitung seiner vermeintlichen Mutter Aristea erscheint und auch von der Hofdame Silandra geliebt wird, die wiederum der Höfling Corindo begehrt. Später stellt sich Alidoro nach den üblichen Verwirrungen nicht als Maler, sondern als Prinz Floridano von Phönizien heraus, was die Standesunterschiede zwischen ihm und der Königin aufhebt, so dass einer glücklichen Vermählung mit Orontea nichts mehr im Wege steht.

Dem Bedürfnis des venezianischen Publikums nach Unterhaltung entsprach auch die Notierung der alten Aristea für einen Tenor als Rockrolle. L’Orontea darf als ein Vorläufer der Buffo-Oper gelten. Die Musik ist lebendig, von anmutiger Leichtigkeit und sprühender Vitalität. Mit Ivor Bolton steht ein Spezialist der Alte-Musik-Szene am Pult des Frankfurter Opern- und Museumsorchester, der alle Stimmungen und Affekte der Musik sachkundig ausreizt und für schöne Kontraste zwischen komischen Episoden und solchen mit lyrischem Melos sorgt.

Die Besetzung setzt sich aus Mitgliedern des Frankfurter Institutes und aus speziell für diese Produktion engagierten Gästen zusammen. Zur ersteren Gruppe gehört die Interpretin der Titelrolle, die irische Mezzosopranistin Paula Murrihy, in deren Gesang man sich mehr Energie und Charakter wünschte. Die Tongebung klingt etwas verwaschen und larmoyant. Deshalb hinterlassen die klagenden Passagen den stärkeren Eindruck. Auch die britische Sopranistin Louise Alder zählt zum Frankfurter Ensemble. Als Silandra wartet sie mit jugendlich-lieblichem Sopran und fließenden Koloraturen auf.

Prominentester Gast ist der katalanische Countertenor Xavier Sabata, der mit dem Alidoro sein Frankfurter Debüt gibt. Seine Stimme klingt weich, resonant und sinnlich, vereint sich im Duett mit Salandra zu ausgewogenem Wohlklang. Ein weiterer Vertreter dieser Stimmgattung ist Matthias Rexrodt, gleichfalls renommiert und als Corindo zum vierten Mal in einer Barockpartie in Frankfurt zu erleben. Sein bekannt weinerliches Timbre ist auch hier zu vernehmen und dürfte nicht auf jedermanns Zustimmung stoßen. International ein Begriff in diesem Genre ist der belgische Tenor Guy de Mey, der als Aristea seine komödiantischen Fähigkeiten ausstellen kann, die Partie aber nicht zur Karikatur verzerrt und sie mit klangvollem Ton singt.

Simon Bailey, nach seinen Jahren als Ensemblemitglied des Hauses nunmehr fester Gast, gibt dem Gelone prallen Umriss, singt lustvoll und auftrumpfend, scheut dabei auch Vokalverfärbungen und lautmalerische Effekte nicht. Als Hofphilosoph Creonte komplettiert der Bariton Sebastian Geyer das Personal am Hof der ägyptischen Königin. Im Prolog, wie das aus vielen Werken des Frühbarock (Monteverdi, Cavalli etc.) bekannt ist, streiten Filosofia (Katharina Magiera) und Amore (Juanita Lascarro) darüber, wer die größere Macht über die Menschen habe. Und wieder einmal hat auch hier am Ende die Liebe den Sieg davon getragen (OC 965, 3 CD).  Bernd Hoppe

Opernquiz

 

 

Giacomo Puccinis Complete Songs for soprano and piano bei Naxos könnten auch unter dem Titel “Opernquiz” durchgehen, denn der  (wenn er nichts von Puccinis haushälterischem Tun wusste) erstaunte Hörer wird feststellen, dass der bulgarische Sopran Krassimira Stoyanova bestens bekannte Themen aus des Komponisten berühmten und weniger bekannten Opern singt, die der  zum Teil bereits in seinen frühesten Schaffensjahren, ja als Student, komponiert hatte und später in seinen Oper wieder aufleben ließ..

In dem englischen Booklet wird der Leser darüber informiert, dass einige der teilweise sehr kurzen Canzoni Auftragsarbeiten für Periodika waren, andere für Kirchengemeinden komponiert wurden (Puccinis Schwester war Nonne). Die Texte sind nicht wiedergegeben, aber dafür gibt es zu jedem Track eine kurze Einführung, gegebenenfalls auch mit dem Hinweis auf das Wiederauftauchen einer Melodie in einer der Opern Puccinis.

Es beginnt mit Canto d’anime, in dem der opernerfahrene Hörer sofort Rinuccios Preisen von Florenz erkennt, aber auch beglückt das wunderschöne Timbre von Krassimira Stoyanova, einen Sopran voller Leuchtkraft, sehr nobel und geschmeidig zwischen Ekstase und zarter Innigkeit balancierend. Mimis Abschied aus dem 3. At der Bohéme dominierte einmal in Sole e amore und bezaubert durch ein so raffiniertes chiaro-scuro, wie man es von dem Sopran auch aus der entsprechenden Oper gewöhnt ist. E l’ucellino zeigt, dass eine Stimme durchaus auch Humor haben kann, und in La primavera zeigt sich der Sopran  in besonders anmutiger Weise. Von einer guten Technik sprechen im Ave Maria Leopolda die sicheren Intervallsprünge ins Piano, während in Ad una morta! die obertonreiche Stimme bereits Typisches der beeeibtesten weiblichen Opernfiguren vernehmen lässt und von der Sängerin auch adäquat gestaltet wird. Sicher und ohne Schärfen auch in der Extremhöhen zeigt sich die Stimme in Morire?, bekannt als Arie des Ruggero aus der Rondine, und hier wie auch später bei Mentia l’avviso bemerkt der Hörer mit Vergnügen, dass die Melodie noch nichts über den Charakter eines Stückes aussagt, sondern erst die Interpretation, wenn aus „Donna non vidi mai“ auch der Gesang einer dem Grab Entstiegenen werden kann. Beinahe noch erstaunlicher ist, dass Tosca und Butterfly sich bereits in einem für eine Jagdgesellschaft komponierten Inno a Diana hören lassen. Feierlich getragen immerhin klingt das Salve Regina, auch aus Le Villi bekannt, ein Lächeln in der Stimme hat die Stoyanova für Casa mia, und schon ganz opernhaft ist Terra e mare, während man sich bei Inno a Roma fragt, ob sein recht früher Tod Puccini nicht davor bewahrt hat, unangenehm als Mussolini-Verehrer aufzufallen. In Storiella d’amore meldet sich Edgar, ist aber auch zu bewundern, wie fein die musikalischen Figuren von der Bulgarin herausgearbeitet werden. Zwei Stücke sind zweistimmig, zum Sopran gesellt sich ein Mezzosopran, der eher im Hintergrund bleibt. Da kein zweiter Name im Booklet genannt wird, kann man annehmen, dass die Sopranistin sich auch dieser Rolle angenommen hat. Die einfühlsame Begleiterin am Klavier ist Maria Prinz (Naxos 8.573501). Ingrid Wanja

Zurück wie neu

 

Händel komponierte das Oratorium La Resurrezione 1708 in Rom für ein ausgesuchtes und anspruchsvolles Publikum seines Mäzens Fürst Ruspoli. Bei Erato ist nun die 1990 entstandene Einspielung von Ton Koopman und The Amsterdam Baroque Orchestra wieder erschienen und besteht auch fast drei Jahrzehnte nach der Aufnahme den qualitativen Test der Zeit. Maßgebliche Konkurrenz existiert von Hogwood (1982, Decca), McGegan (1992, harmonia mundi), Minkowski (1996, Archiv), de Vriend (2003, Challenge) und Haïm (2009, ebenfalls bei Erato), doch den Vergleich muss Koopman mit niemandem scheuen. Überzeugend wirkt der orchestrale Farbenreichtum mit sehr gut wahrnehmbaren Instrumenten, bspw. das von Koopman selber gespielte Cembalo. Der Klang ist ausgesprochen schön, die Tempi sind nie überforsch oder stockend, sondern ausgeglichen und ohne Extreme. Und sängerisch gibt es berückend schöne Momente, wer sich einen Eindruck verschaffen will, der kann zwischen verschiedenen Höhepunkten wählen. Zu hören sind  Barbara Schlick als Angelo, Nancy Argenta, die als Maddalena bspw. ein in jedem Moment bemerkenswertes „Ferma, l’ali, e sui miei lumi“ singt, Guillemette Laurens, die als Cleofe ein nicht minder beeindruckendes „Naufrangando va per l’ondo“ präsentiert, dazu Guy de Mey (San Giovanni) mit elegantem Tenor, Klaus Mertens klingt als Lucifero durchaus bedrohlich und bleibt doch sanglich. Die Aufnahme wirkt frisch und unverbraucht, und das wahrscheinlich zum aktuell attraktivsten Preis/Leistungsverhältnis, nur ein Libretto sucht man bei der Neuauflage vergebens. (Erato 9591414)

Aufnahmen mit Musik von Antonio Caldara können heute noch als ungewöhnlich gelten. Als der Dirigent Lajos Rovátkay zwischen 1992 und 1994 mit der Capella Agostino Steffani (nachdem Rovátkay 1996 die Leitung des Ensembles niederlegte, gab man sich einen neuen Namen: Hannoverschen Hofkapelle) Werke des Venezianers einspielte, war das noch eine Pioniertat, die nun ebenfalls erneut bei Erato reeditiert wurde. Die Missa Sanctorum Cosmae et Damiani ist eine von rund 30 festlichen Messen Caldaras in großer Besetzung mit Streichern, Trompeten, Posaunen und Pauken, die für heutige Ohren allerdings kaum überraschungsvoll klingt und dem Anlaß entsprechend auch kaum innovativ gedacht sein konnte. Es singen Monika Frimmer (Sopran), Ralf Popken (Countertenor), Wilfried Jochens (Tenor/ was für eine verdienstvolle und lange Karriere) und Klaus Mertens (Bass) sowie die Westfälische Kantorei aus Herford. Weiterhin werden Pergolesis opernhaft dramatisches Stabat Mater für Sopran (Monika Frimmer) und Alt (Gloria Banditelli) und Caldaras Stabat Mater gegenüber gestellt, das etwas früher als Pergolesis entstand und bei dem die 12 Sätze gleichmäßig auf ein Sängerquartett verteilt werden. Caldaras für den Chor chromatisch ausdrucksvolles Werk ist durch eine abwechselnd kombinierte Zusammenstellungen von Sängern und Instrumenten geprägt und klingt in einem konventionellerem Ernst konzipiert als bei Pergolesi. Die beiden Sängerinnen werden ergänzt durch Gerd Türk (Tenor) und Peter Frank (Bass). Die drei großen geistlichen Werke werden ergänzt durch Caldaras Motette Caro mea vera est cibus und das Graduale Benedicta et venerabilis es sowie kurze Sonaten von Caldaras venezianischem Zeitgenossen Vivaldi und dem Tschechen František Tům. Wer eine abwechslungsreiche Einspielung geistlicher Barockmusik in guter Qualität sucht, der wird hier fündig. (Erato 9591428) Marcus Budwitius

Hart und zart

 

Mit animalischer Gefährlichkeit schaut Xavier Sabata vom Cover seiner neuen CD bei APARTE auf den Betrachter (AP143). Seine Stimme aber tönt ganz und gar nicht wild oder roh – im Gegenteil: Nie klang der Counter weicher, gerundeter, sanfter. Das Programm trägt den Titel Catharsis, was die sittliche Läuterung des Zuschauers durch die Tragödie mit ihren auslösenden Emotionen von Mitleid oder Furcht meint. Es vereint zehn Arien verschiedener Barockkomponisten, die alle von durch Hybris und Nemesis verursachten Gemütsbewegungen bestimmt sind. Nicht wenige Opernhelden zeigen sich in übermütigem Stolz oder frevelhafter Selbsterhebung. Stets zieht das tragische Folgen, oft den Tod des Protagonisten, oder eine den Übermut strafende und ausgleichende Gerechtigkeit nach sich, was auf die griechische Göttin der Vergeltung zurückgeht. Gleich beim Rezitativ der ersten Nummer (aus Giuseppe Maria Orlandinis Adelaide von 1729) betört die Stimme mit schwebendem Klang, während sie in der folgenden Arie „Alza al ciel“ mit energisch formulierten Koloraturen für sich einnimmt. Everardo sieht darin den Fall des Tyrannen voraus, der gleich einem vom Blitz getroffenen Baum stürzt. Die Partie wurde für den Altkastraten Antonio Baldi geschrieben; später folgt noch die für den Star Senesino komponierte Rolle des Ottone mit dessen virtuoser Arie „Già mi sembra“, womit in einem Werk die Affekte von Hybris und Nemesis vereint sind. Die begleitende Armonia Atenea unter George Petrou macht mit Affekt betontem, farbenreichem Spiel sofort auf sich aufmerksam und behauptet sich neben dem bravourösen Solisten, der sich mit seinem stupenden Gesang in eine Reihe mit Fagioli und Cencic stellt, imponierend.

Francesco Bartolomeo Contis Griselda kam 1725 in Wien zur Premiere; das Libretto von Apostolo Zeno hatte zwei Jahre zuvor auch Pietro Torri für den Münchner Hof vertont. Darin wird die Wandlung des Königs Gualtiero  von der Hybris zur Nemesis sehr deutlich gezeigt, denn der Herrscher will seine Gattin Griselda zugunsten einer jungen ausländischen Prinzessin verlassen, was die Arie „Vorresti col tuo pianto“ in Torris Version schildert. Die standhafte Liebe Griseldas bekehrt ihn jedoch am Ende, was „Cara sposa“ in Contis Vertonung beschreibt. Sabata weiß die gegensätzlichen Stimmungen sehr eindringlich zu kontrastieren, malt die Conti-Arie  mit schmerzlicher Empfindung aus, während er bei Torri mit vibrierender Erregung und auftrumpfender Attacke spannende Akzente setzt.

Eine der berühmtesten Arien dieser Sammlung ist die ombra-Arie „Gelido in ogni vento“ aus Vivaldis Il Farnace, ursprünglich für einen Tenor in seiner verschollenen Oper Siroe konzipiert, dann aber wegen des Erfolges dieser Nummer für einen Altkastraten umgeschrieben. Farnace, der sich am vermeintlichen Tod seines Sohnes schuldig fühlt, sieht in dieser beklemmenden Arie dessen leblosen Schatten wie ein Gespenst vor sich – ein typisch kathartischer Moment, der in der Interpretation durch Sabata und die Armonia Atenea mit frostig klirrenden Akkorden schaudern macht. Extrem ausgereizt werden die dynamischen Gegensätze von fast unhörbaren bis zu wie Donnerschläge hereinbrechenden Tönen. Man hat dieses Stück unzählige Male gehört – so eindringlich und anschaulich in der geisterhaften Atmosphäre aber gewiss nicht.

Der Reigen der italienischen Komponisten wird ergänzt durch Attilio Ariosti mit seiner Oper Caio Mazio Coriolano, 1723 in London mit Senesino in der Titelrolle herausgekommen. Auch hier findet sich mit einer Gefängnisszene eine typisch kathartische Situation, wenn der Eingekerkerte in „Voi, d’un figlio tanto misero“ die Götter um Gerechtigkeit anruft. Der  Counter berührt hier mit nicht nur mit seinem schmeichelnden Gesang, sondern auch dem gefühlstiefen Vortrag. Antonio Caldaras Temistocle von 1736 fußt auf einem Libretto von Metastasio als erste von über zwanzig weiteren Vertonungen. Der Titelheld, aus seiner Heimat Athen verbannt und beim persischen König Serse im Asyl, sieht einen Ausweg aus seinem Konflikt zwischen Dankbarkeit und Pflicht nur im Tod („Ah, frenate il pianto“). Diese existentielle Notlage vermittelt sich dem Hörer durch Sabatas Expressivität  bezwingend. Ein Auszug aus der recht unbekannten Oper Il Valdemaro von Domenico Natale Sarro markiert den Schluss der Anthologie und nochmals einen virtuosen Glanzpunkt. Als (fiktiver) Sohn des Königs Ricimero ist Valdemaro mit der (ungeliebten) norwegischen Prinzessin Rosmonda verheiratet, an die er seine spöttische Arie „Quando onor favella“ richtet.

Vorher gab es mit Händel und Hasse auch Beispiele von populären Barockkomponisten. Händels Admeto hatte 1727 in London mit Senesino in der Titelrolle Premiere, der für die Eingangsszene („Chiudetivi miei lumi“) mit ihrer dramatischen Instrumentaleinleitung besonders bejubelt wurde. Sie schildert die Situation des sterbenskranken Königs Admeto, der von schrecklichen Visionen und Albträumen heimgesucht wird. Hier können der Sänger und das Ensemble wiederum mit einem atmosphärischen Tongemälde aufwarten.

Zeugnisse von Hybris und Nemesis finden sich auch im Alten und Neuen Testament. Hasses Oratorium La conversione di Sant’Agostino – 170 in Dresden uraufgeführt und damit das „jüngste“ Beispiel der Auswahl – geht zurück auf Aurelius Augustinus’ Bekenntnisse. Die Arie „Or mi pento“ formuliert den Entschluss des Protagonisten, aller irdischen Freuden zu entsagen und sich total Gottes Willen zu unterwerfen. Innerer Aufruhr und Seelenfrieden werden vom Komponisten wie vom Interpreten sehr eindringlich geschildert. Xavier Sabata ist mit dieser CD ein großer Wurf gelungen – auch konzeptionell. Die Fotos des Sängers im Booklet mit Kopf und Händen unter der Dusche verweisen zwar auf die reinigende Kraft des Wassers, scheinen mir aber eine zu banale Illustration für das große Thema. Bernd Hoppe